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Immer nur Krampfadern ziehen? Für den Rest des Lebens Patienten zunähen? Soll es das schon gewesen sein? Um der Alltagsödnis zu entkommen, tauscht Mambo seinen OP-Kittel gegen den Glitzeranzug und orgelt sich seither in die Herzen einer Kult-Gemeinde. Mit viel Bumm-Tschack und Punkrock gibt er die anarchistische Rampensau, zertrümmert als krassester Alleinunterhalter der Welt seine Orgeln und feiert mit Metal-Fans zu "Alle Mädchen wollen nur das eine". Geschichten eines charmanten Lebenskünstlers, voller Sex, Drugs und Bossa Nova.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Frau HagelweideVollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014ISBN 978-3-492-96844-7© Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: shutterstock/Jodi Baglien SparkesDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Te vagy a pasas az orgonával?«, fragte mich der kahlrasierte Roadie und schaute skeptisch auf meine Heimorgel.
»Bist du der Typ mit der Orgel?«
Ah, so wurde ich hier also angekündigt! Jetzt verstand ich. Genau, der bin ich. Mambo Kurt, mein Alter Ego, sollte heute die Mainstage des Sziget-Festivals in Budapest rocken, und ich baute gerade meine Heimorgel auf, als der Festivalmitarbeiter vorbeikam. Vor der Bühne tröpfelten so langsam die Zuschauer ein. Alles war wie immer.
Doch als ich nach einer Stunde aus dem Backstagebereich zurückkam – man muss sich vor dem großen Auftritt ja schließlich etwas erholen – blickte ich auf einen unfassbar riesigen Menschenteppich. 45000 Leute standen dort und wollten sehen, wie ein durchgeknallter Alleinunterhalter namens Mambo Kurt Heimorgel spielte.
Ich ging über die Bühnentreppe auf das Podium, zeigte mich dem Publikum und forderte es auf, zu klatschen und zu johlen. In meinem besten Glitzeranzug trat ich an meine Heimorgel und schaltete die leuchtende Discokugel an, die zu meinem Standardinventar auf der Bühne gehört. Alles war wie immer, und doch berührte mich etwas tief in meinem Inneren. Ich stand vor meiner Heimorgel, die linke Hand popstarmäßig in den Budapester Nachmittagshimmel gereckt, vor mir ein nicht enden wollendes waberndes Menschenmeer, und genoss die gespannte Erwartung der Massen vor dem ersten Ton.
Ab diesem Moment vergehen sonst etwa 0,4 Sekunden bis meine linke Hand den Schalter der Begleitautomatik von »SYNCHRO« auf »START« umstellt und meine Heimorgel zu spielen beginnt. Doch vor meinem geistigen Auge flackerten Bilder auf – ähnlich wie in schlechten amerikanischen Actionfilmen, wenn der Held in Super-Slomo auf eine Mine tritt und sein ganzes Leben noch einmal im Zeitraffer vor ihm abläuft. Am Ende macht es dann immer »zzzzt« und der Bildschirm wird schwarz, Held tot.
Glücklicherweise ging es hier nicht um Leben oder Tod, ich musste mich auch nicht in die Luft sprengen oder aus Zahnseide und einer Rasierklinge ein Spaceshuttle bauen – sondern lediglich 45000 Partypeople eine Stunde lang in Ekstase versetzen.
Und trotzdem weigerte sich mein Hirn, auf Normalbetrieb zu stellen.
Was mache ich hier? Warum trage ich diesen Anzug? Und wer zur Hölle hatte die Idee, mich mit einer Heimorgel auf 45000 Menschen loszulassen?
Mit einer HEIMORGEL!
Tja, um das zu erklären, muss ich wohl ein wenig ausholen. Ich fange am besten mal in der Mitte an.
Plock!
Ich hasse das Geräusch, mit dem ein menschlicher Kopf auf Fliesen aufschlägt. Noch dazu waren diese Sechzigerjahre-Fliesen wirklich schrecklich – wobei der grau-grün-gesprenkelte Bodenbelag für das unschöne Geräusch auch nichts konnte.
Das kurze, trockene »Plock« klang wie eine Mischung aus einem Skischuh, der auf Beton knallt, und dem Zuschlagen einer Autotür. Auch das Geräusch einer auf dem Boden aufplatzenden Kokosnuss gleicht dem »Plock«, doch Westeuropäer werfen zu selten Kokosnüsse auf den Boden, um mit diesem Vergleich etwas anfangen zu können.
Zum Glück gab es keine Zeugen für mein Tun. Denn zum einen war der Besitzer des aufschlagenden Kopfes bereits tot und zum anderen war ich ganz allein im Keller des Julius-Spitals Bochum. Ich hatte die Leiche gerade aus der Kardiologie in den Keller gebracht und sollte sie nun in die Leichenhalle schaffen. Und weil ich allein war und die Leiche nicht gerade handlich, entglitt sie mir beim Umbetten von der Bahre in die Zinkwanne und knallte auf die optisch wenig ansprechende Bodenfliese. Plock!
Im Keller des Julius-Spitals trieb ich mich herum, weil ich als Nachtspringer im Krankenhaus arbeitete. Ich studierte im 10. Semester Medizin in Bochum und konnte jede Mark gebrauchen, außerdem ist es nie schlecht, wenn man als angehender Arzt bereits im Krankenhaus gearbeitet hat. Solange später keiner fragte, was ich dort gemacht hatte, sah mein Studentenjob als Leichenschubser im Lebenslauf hervorragend aus.
Viele meiner Kommilitonen hingen natürlich nicht in irgendwelchen Krankhauskellern herum, sondern arbeiteten auf der Intensivstation, lernten dort sicherlich viel über Innere Medizin und machten ihre Eltern stolz. Ich aber wollte Chirurg werden und fand schnell heraus, dass man das Operieren als Aushilfe nirgends beigebracht bekam, auch nicht auf der Intensivstation.
Außerdem passte ich mit meiner generellen Lebenseinstellung sowieso nicht dorthin. Bis heute halte ich wenig davon, mich bis zur Selbstaufgabe zu schinden, außer ein Rennrad oder Wodka sind im Spiel. Intensivmedizin hingegen ist ein extrem anstrengender, nervlich und körperlich belastender Höchstleistungssport – da war ich doch lieber im Kellerkabuff mit den herumpurzelnden Toten. Wenn es gerade keinen Toten gab, der meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wuselte ich bei Bedarf durch das ganze Krankenhaus, um der Schwester zu helfen, wenn ein Patient aus dem Bett gefallen war, oder um Neuaufnahmen von der Notfallambulanz zum Röntgen zu bringen. Die Schwestern in der Notaufnahme und die diensthabende Oberärztin hatten die betreffenden Patienten zu diesem Zeitpunkt bereits komplett untersucht und behandelt. Sie hatten Blut abgenommen, Notfallmedikamente verabreicht und den Masterplan für die weitere Behandlung entworfen. Nur war bis jetzt kein einziger Mann im Spiel gewesen. Deshalb war es mir stets eine große Freude, als männlicher Hilfsknecht die Patienten im Rollstuhl oder im Krankenbett zum Röntgen zu fahren und jedes Mal den schönen Satz zu hören: »Endlich kommt hier mal ein Arzt!«
»Ja, Frau Sowieso, ich kümmer’ mich mal …«
»Danke, Herr Doktor!«
In besagter Nacht hatte die Kardiologie nach offizieller Verlautbarung mal wieder keine Zeit gehabt, ihre verstorbenen Patienten während der Früh- oder Spätschicht in die Leichenhalle zu befördern. In Wirklichkeit waren sie einfach zu faul dazu, denn einen Toten zu bewegen, aus dem alle Kraft gewichen ist, ist eine ziemliche Plackerei. Auch im Operationssaal bekommt man eine Ahnung von der materiellen Güte des menschlichen Körpers, wenn man zum Beispiel das amputierte Bein eines Diabetikers in den OP-Mülleimer werfen darf. Noch eindrucksvoller und vor allem gruseliger ist es, wenn man während eines Notfalleinsatzes den Kopf eines Enthaupteten – zum Beispiel eines Motorradfahrers, der mit 140 km/h in das nicht ordnungsgemäß eingefahrene Schneidwerkzeug eines Traktors im Gegenverkehr gebrettert ist – bergen muss. Wie schwer doch so ein Menschenkopf ist!
Vielleicht hatte das Pflegepersonal der Kardiologie aber auch ein wenig Schiss, ihre Toten wegzubringen, denn der Keller des Julius-Spitals war als einzige Ebene des Krankenhauses noch nicht nach den modischen Vorgaben der Neunzigerjahre in Helllila und Mintgrün aufgehübscht worden: Graugrün gesprenkelte Bodenfliesen, zahngelbe Wandfliesen und unter der Decke ein Gewirr an Kabeln, Rohren und Leitungen. Alle zwölf Meter erleuchtete eine schummerige Deckenlampe den Flur und erzeugte eine Atmosphäre, die wie eine Mischung aus dem Set von Shining und einer 1963 verlassenen Wurstfabrik wirkte.
Ich wusste, dass die Kardiologie an ihrem Ruf arbeitete, die meistbeschäftigte Station des Krankenhauses zu sein. Noch vor zwei Wochen hatte man mich gegen 23 Uhr angerufen, mit der dringlichen Bitte, am nächsten Morgen um 6 Uhr zur Frühschicht auf der Kardiologie zu erscheinen. Denn die Kardiologie hätte sooooo viel zu tun und der eingeteilte studentische Hilfspfleger sei mit dem Rad gestürzt.
Ich ließ mich von der Chefin der Pflegedienstleitung überreden, um dann bei der Stationsbesprechung auf der Kardiologie um 6.05 Uhr in der Früh festzustellen, dass es nichts für mich zu tun geben würde. Gar nichts. Die Station war überbesetzt mit Pflegepersonal, zudem gab es drei Pflegeschülerinnen, die die Drecksarbeit zu erledigen hatten. Also trank ich erst mal ausgiebig Kaffee, ging dann freiwillig einen Opa rasieren und half beim Austragen des Frühstücks. Den Rest des Morgens sah ich dann fern. Da nur die Patientenzimmer mit einem Fernseher ausgestattet waren, setzte ich mich dazu in das Zimmer mit zwei vor sich hin dämmernden Opas. Beide kamen nach heftigen Herzinfarkten in Verbindung mit knackigen Schlaganfällen nicht mehr so richtig in Tritt. Für die Intensivstation waren sie schon seit Langem zu gesund, trotzdem war an eine Entlassung nicht zu denken. Sie lagen einfach so herum und sagten nichts. Jeder Opa hatte eine Infusion laufen und einen Katheter liegen. Oben rein, unten raus. Verwandte kamen fast nie zu Besuch. Wahrscheinlich freuten sich die Opas, dass mal jemand zu ihnen zum Fernsehen kam. Natürlich habe ich beim Eintritt in ihr Zimmer höflich gefragt, ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich in ihrem Zimmer ein bisschen in die Glotze schaue. Da keine Antwort kam, habe ich das als schweigende Zustimmung interpretiert.
Während der Nachtschichten waren ich und die anderen Springer normalerweise auf der Station für Nierenkranke stationiert. Im Gegensatz zur Kardiologie gab es hier wirklich immer was zu tun, auch nachts. Nierenkranke machen im Krankenhaus scheißviel Arbeit. Das Personal muss dauernd Infusionen und Pipi-Beutel wechseln. Dazu kann eine handfeste Nierenschwäche den Charakter und die Intelligenz des Menschen nachhaltig beeinträchtigen. An manchen Tagen war ich mir nicht sicher, ob ich auf der Nierenstation oder in der Psychiatrie gelandet war. Es muss für die Familie des ehemaligen Bankdirektors schrecklich anzusehen gewesen sein, wie er aufgrund seiner massiven Elektrolytverschiebungen – verursacht durch die kaputten Nieren – andauernd blankzog, die Beine spreizte und sich einen Finger in den Popo steckte. Dazu ließ er immer die Beine baumeln und sang schmutzige Seemannslieder. Es dauerte mehrere Wochen, bis dieser Zustand durch die vom Krankenhaus begonnene Dialyse beendet werden konnte. Der Chefarzt war dagegen schon abgehärtet und bemerkte erst, dass seine Patienten etwas durch den Wind waren, wenn diese sich während der Visite mit der Klobürste in der Achselhöhle putzen. »Kann das sein, dass die Frau Sowieso heute ein bisschen verwirrter ist als sonst?«
Das Pflegepersonal hatte ganz andere Sorgen. Ein Großteil der Arbeitszeit ging dafür drauf, den Patienten zu erklären, dass sich in den riesigen mit Urin gefüllten Glasbehältern – den sogenannten »Bomben« – keinesfalls frisch aufgebrühter Tee befand. Ich weiß auch gar nicht, wie die Patienten auf die Idee kamen, dass es Tee sein könnte. Mir wäre eher der Gedanke an eine schöne Bowle gekommen, bei den ganzen teigigen und breiigen Inhaltsstoffen im Urin. Dazu diese schönen Farben von Lila über Grün und Gelb bis hin zu einem wirklich leuchtenden Rot.
Doch die Krankenschwestern in der Nephrologie hatten beschlossen, nicht zu jammern, sondern einfach zu arbeiten. Ein Fehler! Denn das Rad, das am lautesten quietscht, wird zuerst geölt.
Auf meiner Nierenstation arbeiteten nachts zwei Krankenschwestern im Wechsel. Beide waren wirklich gute Menschen und hatten das Herz am rechten Fleck. Sie liebten ihre Patienten. Doch abgesehen davon hatten die beiden Damen überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Moment, doch: Beide rauchten.
Die eine Krankenschwester, Ilse, stand kurz vor ihrer Pensionierung und war das klassische Beispiel dafür, dass manche Menschen ihr Leben lang ausgenutzt werden. Ihr Mann trank und machte ihr zu Hause das Leben zur Hölle. Aber sie hatte es nie geschafft, sich von ihm zu trennen. Ilses Rücken war von 35 Jahren Arbeit als Krankenschwester ein einziges Wrack. Trotzdem schuftete sie jede Nacht wie eine Verrückte. Sie kontrollierte den kompletten Papierkram, putzte alle Medikamentenschränke und wusch in der letzten Stunde der Nachtschicht auch noch zwei Patienten, damit die Frühschicht nicht so viel Arbeit hatte.
Die andere Dame war Schmusi. Schmusi hieß eigentlich Mandy und kam – wie der Name schon vermuten lässt – aus der ehemaligen DDR. Sie war zierlich und hatte kurze blonde Haare, die dünn waren wie Glasfaserkabel aus chinesischem Reispapier. Sie hatte einen wirklich gut geformten Körper mit echter Wespentaille. Leider hatte sie aber auch eine total piepsige Stimme und war ein bisschen blöd. Insgesamt bestand keine Chance, dass zwischen uns beiden je ein sexueller Funke überspringen könnte. Wäre sie im Supermarkt an der Kasse gesessen, hätte ich mich schon für ihre Kassenreihe entschieden, so ist es nicht. Aber dass ich wegen ihr nachts nicht mehr in meinen Büchern gelesen oder auf mein heiliges Schläfchen zwischen 3.00 und 5.00 Uhr verzichtet hätte, das konnte nicht passieren. Dummerweise war Schmusi am sexuellen Funken aber sehr interessiert. Sie war sozusagen der sexuelle Funke an sich. Schmusi war nymphoman. Sie holte mich unter irgendeinem dummen Vorwand ins Bettenlager, wo sie dann die Tür hinter mir schloss und sich in meine Arme warf. Ich wollte aber nicht, schließlich war es in den schmalen Krankenhausbetten allein viel gemütlicher.
Ein anderes Mal saß ich schön bequem auf einem Stuhl und las ein medizinisches Fachbuch, als sie plötzlich auf meinen Schoß hüpfte und den Kittel ihrer Krankenschwesteruniform öffnete. Sie fragte mich, was ich zu ihrer neuen Unterwäsche sagen würde. Und da sie einen blauen BH mit Elefanten drauf anhatte, konnte ich nur sagen: »Oh, Elefanten!«
Irgendwann musste sie einsehen, dass zwischen uns einfach nichts laufen würde. Bei den anderen Nachtpflegern hatte sie wohl mehr Glück, zumindest wenn ich ihren Erzählungen Glauben schenken durfte. In der Zeit, in der wir zusammengearbeitet haben, musste ich fünfmal einen Schwangerschaftstest in der Ambulanz für sie besorgen. Jedes Mal hatte sie ein paar Tage zuvor mit irgendwelchen Typen rumgeknattert. Die beste Geschichte war, als sie im Gebüsch vorm Mandragora am Ende des Bochumer Bermudadreiecks morgens um 7 Uhr mit einem Fensterreiniger gepoppt hatte, den sie beim Nachhausegehen von der Disko aufgelesen hatte.
Ansonsten telefonierte Schmusi gern die halbe Nacht mit ihren Freundinnen über das Diensttelefon. Alle Gespräche wurden von der Verwaltung dokumentiert und aus einem mit Plexiglas gesicherten Drucker kamen endlos lange Listen mit Telefonnummern heraus. Natürlich telefonierte auch ich über das Diensttelefon, nachdem ich in stundenlanger Friemelarbeit herausgefunden hatte, wie man das Siemens ISDN-Telefon so in seiner Menüführung manipulierte, dass der Drucker offline ging. Während ich noch herumprogrammierte, schaute sie mir erst neugierig zu, schob sich dann Kaugummi kauend an mir vorbei und sagte: »Mach mal Platz, Doktorchen!«, kroch unter den Schreibtisch und zog den Stecker des Druckers raus. Danke Schmusi, für diese Lektion in No-Tech!
Ich habe sehr gerne mit Schmusi gearbeitet und seit sie eingesehen hatte, dass ich sie nicht anfassen würde, war unser Arbeitsverhältnis regelrecht entspannt: Sie ließ mich lesen und schlafen, ich ließ sie telefonieren, rauchen und vögeln.
Schmusi war genau zehn Jahre jünger als ich. Sie war 1977 geboren und fand es wahnsinnig originell, T-Shirts mit einem »1977«-Aufdruck zu tragen, und auch das Nummernschild ihres Autos endete mit 1977. Manche Jahre bleiben im Gedächtnis der Menschen eben eher hängen als andere. Bei 1986 zum Beispiel denken viele Menschen an Tschernobyl. Ich hingegen denke daran, wie ich genau in der Nacht, als die radioaktive Wolke über Bayern einschwebte, mit der attraktivsten Frau aus meiner Gymnasialklasse auf dem Laken gelandet bin. Sie war eine Göttin. Deswegen denke ich bei Tschernobyl grundsätzlich zuerst an meinen schönsten One-Night-Stand.
Auch Schmusis Geburtsjahr 1977 hat für mich seit jeher eine besondere Bedeutung. Nicht nur, dass 1977 einer der besten Jahrgänge von Fix und Foxi war, auch LEGO brachte 1977 die erste großartige LEGO-Technic-Serie heraus. Aber das wichtigste Ereignis von 1977 war ein ganz anderes.
Für meinen Vater war 1977 ein Scheißjahr. Trotzdem hat er sich damals zwei coole Sachen gekauft. Zum einen ein orangefarbenes Surfbrett Marke »Ostermann Windglider« – ein auf dem Wasser gleitendes und nicht etwa im Wasser schwimmendes Surfbrett – damals eine Sensation. Es hängt noch heute bei meinem Vater in der Garage, sehr gut erhalten. Wenn uns jemand ein anständiges Preisangebot macht, rede ich mal mit ihm.
Zum anderen kaufte sich mein Vater eine elektronische Heimorgel. Ein kleines Modell eines namhaften japanischen Herstellers, Kostenpunkt 2500 Mark. Wie ich damals noch nicht ahnen konnte, würde die Heimorgel in meinem Leben eine sehr bestimmende Rolle einnehmen. Vorher sollte ich aber vielleicht erst mal erklären, was eine Heimorgel ist.
Eine Heimorgel sieht auf den ersten Blick aus wie ein Klavier. Sie ist auch so groß und so schwer wie ein Klavier. Das Gehäuse sollte aus braunem Holz bestehen, da bin ich Purist. Aber anders als bei einem Klavier kommt aus einer Heimorgel kein einziger Ton heraus, solange sie nicht ans 220V-Stromnetz angeschlossen wird. Heimorgelkonzerte »unplugged« funktionieren also nicht – genauso wie »Kraftwerk unplugged« sicherlich das leiseste Konzert aller Zeiten wäre.
Eine richtige Heimorgel hat immer zwei Tastenreihen für die Finger und eine Pedalreihe für den Fuß. Wenn man Heimorgel spielt, ist man also mit Händen und Füßen zugange, genau wie beim Schlagzeugspielen, nur mit Melodie. In einer Heimorgel sind immer Lautsprecher verbaut, denn der Heimorgler will ohne weiteres Zubehör laut spielen können. Zudem gehört ein integriertes Rhythmusgerät zwingend zu jeder echten Heimorgel dazu. Um-tscha-um-tscha-um-tschatscha-um-um. Die meisten Menschen benutzen den Begriff »Hammond-Orgel« als Synonym für Heimorgel. Doch das ist so, als würde man zu jedem Auto »Golf« oder zu jedem Smartphone »iPhone« sagen.
Mein Vater konnte ein Surfbrett und eine Heimorgel erwerben, weil er 4000 Mark geerbt hatte. Denn leider waren seine Eltern 1977 gestorben. Beide. Und deswegen nehme ich mal an, dass 1977 ein echtes Scheißjahr für meinen Vater war. Opa Heinrich war schon lange bettlägerig und für alle Erwachsenen war abzusehen, dass er nicht mehr gesund werden und demnächst sterben würde. Für meinen Bruder und mich natürlich nicht. Ich war zehn Jahre alt, für mich kam der Tod meines Opas aus heiterem Himmel. Zehnjährige Kinder denken sich nichts dabei, wenn der Opa schon seit zwei Jahren im Bett liegt und es zum Waschen und Kacken nur mithilfe der pflegenden Mitmenschen und eines selbst geschweißten Haltegriffes über dem Bett verlassen kann. Denn natürlich hatte mein Vater als begeisterter Bastler dem Opa einen tipptopp Haltegriff gebaut, dessen dreieckiges Handstück nicht einfach mit einem Seil an einem verchromten Metallausleger über dem Kopfteil angebracht war. Nein, das Seil klemmte an einem kleinen Schlitten mit Kugellagern, welcher auf einem etwa drei Meter langen Querträger nach links und rechts rutschen konnte. Ähnlich wie die großen Containerkräne im Hamburger Hafen ihre Container absetzen, brauchte sich mein Opa lediglich am Griff festzuhalten und meine Mutter oder die Oma konnten den Opa seitlich aus dem Bett bugsieren. Für mich und meinen Bruder hatte die geniale Konstruktion meines Vaters einen weiteren großen Vorteil: Mit etwas Übung konnten wir auf der einen Seite des Bettes Anlauf nehmen, an den Griff springen, uns über den Opa hinwegschwingen und auf der anderen Seite des Bettes in einer perfekten »Ich-spring-jetzt-mal-von-meiner-Liane-runter«-Pose landen. Tarzan war nichts dagegen.
Die Pflege des Opas oblag selbstverständlich, genau wie die Aufzucht des Nachwuchses, den Frauen der Familie, es war ja schließlich Mitte der Siebzigerjahre. Damals hat kein Mann die Alten versorgt oder die Windeln der Kinder gewechselt. Ich glaube, mein Vater hat noch nie im Leben eine volle Windel gesehen. Männer waren damals dazu da, das Geld zu verdienen, über das Fernsehprogramm zu bestimmen, unangeschnallte Kleinkinder in einem orangefarbenen BMW 2002 mit 183 km/h in den Urlaub zu fahren und sich selbst Spielzeug zu kaufen – in Form von Surfbrettern und Heimorgeln.
Irgendwann im Frühjahr 1977 verschlechterte sich der Zustand meines Opas dann und er musste ins Krankenhaus. Das Evangelische Krankenhaus lag nur zwei Minuten Fußweg von seinem Haus entfernt, aber für meinen erzkatholischen Opa kam nichts anderes infrage, als sich in das nächstgelegene katholische Krankenhaus einliefern zu lassen. Und das, obwohl jeder wusste, dass das Evangelische Krankenhaus besser ausgestattet und größer war. Tja, da ist er dann auch relativ schnell gestorben, zwischen seinen Katholiken.
Oma Änne war bis zum Tod ihres Mannes das blühende Leben – aber sechs Monate später war auch sie tot. Urplötzlich war irgendein Krebs ausgebrochen. Medizinstudium hin oder her, bis heute ist das für mich das eindrücklichste Beispiel dafür, wie wichtig es für das Wohlbefinden eines Menschen ist, sich einen Sinn im Leben zu suchen, Freude zu haben und es sich gut gehen zu lassen. Der Sinn im Leben von Oma Änne verschwand mit ihrem Mann, denn sie waren über 50 Jahre verheiratet und haben sich bis zum Ende wirklich geliebt.
Bei der Beerdigung von Opa Heinrich beschloss ich zum ersten Mal, dass ich in meinem Leben etwas erreichen wollte. Zwei Dinge erschienen mir als Zehnjährigem wichtig: Zum einen wollte ich – wie Opa Heinrich – mindestens 80 Jahre alt werden. Zum anderen wollte ich herausfinden, weshalb Menschen in den Krieg ziehen. Denn das war das größte Paradoxon meiner Kindheit: Meine beiden Opas waren die liebsten Menschen der Welt, echte Softies. Opa Hans hat 1984 seinen sterbenden Wellensittich zwei Tage und Nächte in den Händen gehalten, bis der Vogel tot war. Trotzdem waren beide Opas im Krieg gewesen und haben sicher auch Menschen erschossen.
Dass ich zur Umsetzung zumindest eines meiner Ziele eine Heimorgel brauchen würde, ahnte ich damals natürlich noch nicht. Deswegen nahm auch erst mal nur mein Vater Unterricht an einer Orgelschule und war mit Feuereifer dabei. Jede Woche brachte er neue Musikstücke mit. Ich liebte den Sound der Orgel und da ich rudimentär Noten lesen konnte, übte ich einfach mit. Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass ich die Stücke wesentlich schneller und ein bisschen virtuoser spielen konnte als mein Vater, und ich wurde ebenfalls bei der Orgelschule angemeldet.
Aus vielen Gesprächen mit Fans, Veranstaltern und Journalisten weiß ich heute, dass ich einer der ganz wenigen Menschen bin, die in den späten Siebzigern freiwillig zur Heimorgel kamen. Fast alle anderen Heimorgelspieler wurden von ihren Eltern mehr oder weniger gezwungen. Meine Eltern waren zwar sehr an Musik interessiert, aber wirkliche Musiker sind sie nie gewesen und haben mich nie zu etwas gedrängt. Mein Vater spielt heute noch wunderbar mit den Händen Stille Nacht in G-Dur und tritt unten im Bass F-Dur – purer Punkrock. Besser als Stockhausen.
Mein größtes Talent aber ist, dass ich Musik schon immer fühlen konnte. Wenn beim Grandprix der Volksmusik ein berührendes Stück kam, haben meine Eltern geweint, ganz egal, wie kitschig es war, oder was der Opa gestänkert hat. Auch mich lassen schöne Melodien selten kalt. Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, dass mich meine eigenen Arrangements zu Tränen rühren. Bei Creep von Radiohead zum Beispiel. Das Publikum interessiert es nicht, ob du Viertel, Achtel, oder Vierundsechzigstel spielst – Hauptsache, das Feeling stimmt. Und bloß keinen falschen Ton, das tötet jede Stimmung.
Meine musikalische Laufbahn begann aber eigentlich schon vor dem Kauf unserer Heimorgel und zwar 1973, meinem ersten Jahr an der Grundschule. Alle Kinder mussten im Schulchor singen. Weil mir klar war, dass ich eine miserable Stimme habe, ging ich möglicher Kritik aus dem Weg, indem ich bei allen Aufführungen unseres Schulchores nur den Mund auf und zu machte, ohne jemals einen Ton zu singen. Ist nie aufgeflogen. Im zweiten Jahr wurde ich, wie alle Kinder, in den Blockflötenunterricht gesteckt. Ich glaube, jedes Kind hat die Blockflöte gehasst. Blockflöte war damals out, ist heute noch out und wird so lange out sein, wie sich die Erde um die Sonne dreht. Aber zumindest hat die Blockflöten-Challenge dafür gesorgt, dass ich einigermaßen Noten lesen lernte. Später wollte ich Gitarre spielen, E-Gitarre natürlich.