Heinrich Schliemann – Selbstbiographie - Heinrich Schliemann - E-Book

Heinrich Schliemann – Selbstbiographie E-Book

Heinrich Schliemann

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Beschreibung

Mit zahlreichen Illustrationen Eine spannende und lehrreiche Autobiographie des Entdeckers von Troja, die auch Einblicke in seine Jugend und seine erfolgreichen Aktivitäten als Kaufmann vermittelt. Heinrich Schliemann (1822–1890) war ein deutscher Kaufmann, Archäologe und Pionier der Archäologie. 1873 erklärte Schliemann, Troja an der Westküste Anatoliens gefunden zu haben. Den eigentlichen Ruhm erlangte er allerdings durch den Fund des angeblichen Schatzes des Priamos im selben Jahr. Null Papier Verlag

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Heinrich Schliemann

Selbstbiographie

Heinrich Schliemann

Selbstbiographie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: F. A. Brockhaus, 1944 2. Auflage, ISBN 978-3-962818-67-8

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort zur ers­ten Auf­la­ge

1. Kind­heit und kauf­män­ni­sche Lauf­bahn

2. Ers­te Rei­se nach Itha­ka, dem Pe­lo­pon­nes und Tro­ja

3. Tro­ja

4. My­kenä

5. Tro­ja

6. Ti­ryns

7. Letz­te Le­bens­jah­re

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Vorwort zur ersten Auflage

Als we­ni­ge Wo­chen nach dem Tode mei­nes un­ver­ge­ss­li­chen Man­nes Herr F. A. Brock­haus mir den Wunsch äu­ßer­te, die im Bu­che »Ili­os« ent­hal­te­ne Selbst­bio­gra­phie zu­gäng­li­cher als bis­her zu ma­chen, glaub­te ich die­sen Plan nicht von der Hand wei­sen zu sol­len, schon um der Teil­nah­me zu dan­ken, wel­che der Le­bens­gang und das Le­bens­werk Hein­rich Sch­lie­manns und nun sein jä­hes Ende al­ler­or­ten und weit über die Krei­se sei­ner Fach­ge­nos­sen und Freun­de hin­aus er­regt hat. Es war mir eine weh­mü­ti­ge Freu­de, in schwe­ren Stun­den in die Erin­ne­rung zu­rück­zu­ru­fen, wie wir mit­ein­an­der tas­tend in Tro­ja und My­kenä das Werk be­gan­nen und wie un­serm Be­mü­hen der Er­folg güns­tig war. Aber es gibt Zei­ten, wo die Fe­der ver­sagt. Da­rum über­trug ich die Aus­füh­rung des Pla­nes des Herrn Brock­haus Herrn Dr. Al­fred Brück­ner, der bei ei­nem Auf­ent­hal­te in Tro­ja im ver­gan­ge­nen Jah­re mei­nem Man­ne na­he­ge­tre­ten war. Von ihm rührt die Ver­voll­stän­di­gung der Selbst­bio­gra­phie her.

Athen, 23. Sep­tem­ber 1891

So­phie Sch­lie­mann

1. Kindheit und kaufmännische Laufbahn

1822–1866

An­kers­ha­gen – Sa­gen von An­kers­ha­gen – Her­ku­la­num und Pom­pe­ji – Tro­ja – Min­na Mein­cke – Pe­ter Hüp­pert – Schul- und Lehr­lings­jah­re – Schiffs­jun­ge auf der Brigg Do­ro­thea – Lauf­bur­sche in Ams­ter­dam – Stu­di­um mo­der­ner Spra­chen – Agen­tur in Pe­ters­burg – Brand in Me­mel – Stu­di­um des Grie­chi­schen – Rei­se nach dem Ori­ent – Rei­se um die Erde

Wenn ich die­ses Werk – so lei­tet Hein­rich Sch­lie­mann sein Buch »Ili­os« ein – mit ei­ner Ge­schich­te des eig­nen Le­bens be­gin­ne, so ist es nicht Ei­tel­keit, die dazu mich ver­an­lasst, wohl aber der Wunsch, klar dar­zu­le­gen, dass die gan­ze Ar­beit mei­nes spä­tern Le­bens durch die Ein­drücke mei­ner frü­he­s­ten Kind­heit be­stimmt wor­den, ja, dass sie die not­wen­di­ge Fol­ge der­sel­ben ge­we­sen ist; wur­den doch, so­zu­sa­gen, Ha­cke und Schau­fel für die Aus­gra­bung Tro­jas und der Kö­nigs­grä­ber von My­kenä schon in dem klei­nen deut­schen Dor­fe ge­schmie­det und ge­schärft, in dem ich acht Jah­re mei­ner ers­ten Ju­gend ver­brach­te. So er­scheint es mir auch nicht über­flüs­sig, zu er­zäh­len, wie ich all­mäh­lich in den Be­sitz der Mit­tel ge­langt bin, ver­mö­ge de­ren ich im Herbs­te des Le­bens die großen Plä­ne aus­füh­ren konn­te, die ich als ar­mer, klei­ner Kna­be ent­wor­fen hat­te. Ich wur­de am 6. Ja­nu­ar 1822 in dem Städt­chen Neu-Buc­kow in Meck­len­burg-Schwe­rin ge­bo­ren, wo mein Va­ter, Ernst Sch­lie­mann, pro­tes­tan­ti­scher Pre­di­ger war und von wo er im Jah­re 1823 in der­sel­ben Ei­gen­schaft an die Pfar­re von An­kers­ha­gen, ei­nem in dem­sel­ben Groß­her­zog­tum zwi­schen Wa­ren und Penz­lin be­le­ge­nen Dor­fe, be­ru­fen wur­de. In die­sem Dor­fe ver­brach­te ich die acht fol­gen­den Jah­re mei­nes Le­bens, und die in mei­ner Na­tur be­grün­de­te Nei­gung für al­les Ge­heim­nis­vol­le und Wun­der­ba­re wur­de durch die Wun­der, wel­che je­ner Ort ent­hielt, zu ei­ner wah­ren Lei­den­schaft ent­flammt. In un­serm Gar­ten­hau­se soll­te der Geist von mei­nes Va­ters Vor­gän­ger, dem Pas­tor von Ruß­dorf, »um­ge­hen«; und dicht hin­ter un­serm Gar­ten be­fand sich ein klei­ner Teich, das so­ge­nann­te »Sil­ber­schäl­chen«, dem um Mit­ter­nacht eine ge­spens­ti­sche Jung­frau, die eine sil­ber­ne Scha­le trug, ent­stei­gen soll­te. Au­ßer­dem hat­te das Dorf einen klei­nen, von ei­nem Gra­ben um­zo­ge­nen Hü­gel auf­zu­wei­sen, wahr­schein­lich ein Grab aus heid­nischer Vor­zeit, ein so­ge­nann­tes Hü­nen­grab, in dem der Sage nach ein al­ter Raub­rit­ter sein Lieb­lings­kind in ei­ner gol­de­nen Wie­ge be­gra­ben hat­te. Un­ge­heu­re Schät­ze aber soll­ten ne­ben den Rui­nen ei­nes al­ten run­den Tur­mes in dem Gar­ten des Gu­tei­gen­tü­mers ver­bor­gen lie­gen; mein Glau­be an das Vor­han­den­sein al­ler die­ser Schät­ze war so fest, dass ich je­des Mal, wenn ich mei­nen Va­ter über sei­ne Geld­ver­le­gen­hei­ten kla­gen hör­te, ver­wun­dert frag­te, wes­halb er denn nicht die sil­ber­ne Scha­le oder die gol­de­ne Wie­ge aus­gra­ben und sich da­durch reich ma­chen woll­te? Auch ein al­tes mit­tel­al­ter­li­ches Schloss be­fand sich in An­kers­ha­gen, mit ge­hei­men Gän­gen in sei­nen sechs Fuß star­ken Mau­ern und ei­nem un­ter­ir­di­schen Wege, der eine star­ke deut­sche Mei­le lang sein und un­ter dem tie­fen See bei Speck durch­füh­ren soll­te; es hieß, furcht­ba­re Ge­s­pens­ter gin­gen da um, und alle Dor­fleu­te spra­chen nur mit Zit­tern von die­sen Schreck­nis­sen. Ei­ner al­ten Sage nach war das Schloss einst von ei­nem Raub­rit­ter, na­mens Hen­ning von Hol­stein, be­wohnt wor­den, der, im Vol­ke »Hen­ning Bra­den­kirl« ge­nannt, weit und breit im Lan­de ge­fürch­tet wur­de, da er, wo er nur konn­te, zu rau­ben und zu plün­dern pfleg­te. So ver­dross es ihn denn auch nicht we­nig, dass der Her­zog von Meck­len­burg man­chen Kauf­mann, der an sei­nem Schlos­se vor­bei­zie­hen muss­te, durch einen Ge­leits­brief ge­gen sei­ne Ver­ge­wal­ti­gun­gen schütz­te, und um da­für an dem Her­zog Ra­che neh­men zu kön­nen, lud er ihn einst mit heuch­le­ri­scher De­mut auf sein Schloss zu Gas­te. Der Her­zog nahm die Ein­la­dung an und mach­te sich an dem be­stimm­ten Tage mit ei­nem großen Ge­fol­ge auf den Weg. Des Rit­ters Kuh­hir­te je­doch, der von sei­nes Herrn Ab­sicht, den Gast zu er­mor­den, Kun­de er­langt hal­te, ver­barg sich in dem Ge­büsch am Wege, er­war­te­te hier hin­ter ei­nem, etwa eine Vier­tel­mei­le von un­sern, Hau­se ge­le­ge­nen Hü­gel den Her­zog und ver­riet dem­sel­ben Hen­nings ver­bre­che­ri­schen Plan. Der Her­zog kehr­te au­gen­blick­lich um. Von die­sem Er­eig­nis soll­te der Hü­gel sei­nen jet­zi­gen Na­men »der War­tens­berg« er­hal­ten ha­ben. Als aber der Rit­ter ent­deck­te, dass der Kuh­hir­te sei­ne Plä­ne durch­kreuzt hat­te, ließ er den Mann bei le­ben­di­gem Lei­be lang­sam in ei­ner großen ei­ser­nen Pfan­ne bra­ten und gab dem Un­glück­li­chen, er­zählt die Sage wei­ter, als er in To­des­qua­len sich wand, noch einen letz­ten grau­sa­men Stoß mit dem lin­ken Fuße. Bald da­nach kam der Her­zog mit ei­nem Re­gi­ment Sol­da­ten, be­la­ger­te und stürm­te das Schloss, und als Rit­ter Hen­ning sah, dass an kein Ent­kom­men mehr für ihn zu den­ken sei, pack­te er alle sei­ne Schät­ze in einen großen Kas­ten und ver­grub den­sel­ben dicht ne­ben dem run­den Tur­me in sei­nem Gar­ten, des­sen Rui­nen heu­te noch zu se­hen sind. Dann gab er sich selbst den Tod. Eine lan­ge Rei­he fla­cher Stei­ne auf un­serm Kirch­ho­fe soll­te des Mis­se­tä­ters Grab be­zeich­nen, aus dem jahr­hun­der­te­lang sein lin­kes, mit ei­nem schwar­zen Sei­den­strump­fe be­klei­de­tes Bein im­mer wie­der her­aus­ge­wach­sen war. So­wohl der Küs­ter Pran­ge als auch der To­ten­grä­ber Wöl­lert be­schwo­ren hoch und teu­er, dass sie als Kna­ben selbst das Bein ab­ge­schnit­ten und mit dem Kno­chen Bir­nen von den Bäu­men ab­ge­schla­gen hät­ten, dass aber im An­fan­ge die­ses Jahr­hun­derts das Bein plötz­lich zu wach­sen auf­ge­hört habe. Na­tür­lich glaub­te ich auch all dies in kind­li­cher Ein­falt, ja bat so­gar oft ge­nug mei­nen Va­ter, dass er das Grab sel­ber öff­nen oder auch mir nur er­lau­ben möge, dies zu tun, um end­lich se­hen zu kön­nen, warum das Bein nicht mehr her­aus­wach­sen wol­le.

Ei­nen un­ge­mein tie­fen Ein­druck auf mein emp­fäng­li­ches Ge­müt mach­te auch ein Ton­re­li­ef an ei­ner der Hin­ter­mau­ern des Schlos­ses, das einen Mann dar­stell­te und nach dem Volks­glau­ben das Bild­nis des Hen­ning Bra­den­kirl war. Kei­ne Far­be woll­te auf dem­sel­ben haf­ten, und so hieß es denn, dass es mit dem Blu­te des Kuh­hir­ten be­deckt sei, das nicht weg­ge­tilgt wer­den kön­ne. Ein ver­mau­er­ter Ka­min im Saa­le wur­de als die Stel­le be­zeich­net, wo der Kuh­hir­te in der ei­ser­nen Pfan­ne ge­bra­ten wor­den war. Trotz al­ler Be­mü­hun­gen, die Fu­gen die­ses schreck­li­chen Ka­mins ver­schwin­den zu ma­chen, soll­ten die­sel­ben stets sicht­bar ge­blie­ben sein – und auch hier­in wur­de ein Zei­chen des Him­mels ge­se­hen, dass die teuf­li­sche Tat nie­mals ver­ges­sen wer­den soll­te. Noch ei­nem an­de­ren Mär­chen schenk­te ich da­mals un­be­denk­lich Glau­ben, wo­nach Herr von Gund­lach, der Be­sit­zer des be­nach­bar­ten Gu­tes Rums­ha­gen, einen Hü­gel ne­ben der Dorf­kir­che auf­ge­gra­ben und dar­in große höl­zer­ne Fäs­ser, die sehr star­kes alt­rö­mi­sches Bier ent­hiel­ten, vor­ge­fun­den hat­te.

Ob­gleich mein Va­ter we­der Phi­lo­lo­ge noch Archäo­lo­ge war, hat­te er ein lei­den­schaft­li­ches In­ter­es­se für die Ge­schich­te des Al­ter­tums; oft er­zähl­te er mir mit war­mer Be­geis­te­rung von dem tra­gi­schen Un­ter­gan­ge von Her­ku­la­num und Pom­pe­ji und schi­en den­je­ni­gen für den glück­lichs­ten Men­schen zu hal­ten, der Mit­tel und Zeit ge­nug hät­te, die Aus­gra­bun­gen, die dort vor­ge­nom­men wur­den, zu be­su­chen. Oft auch er­zähl­te er mir be­wun­dernd die Ta­ten der Ho­me­ri­schen Hel­den und die Er­eig­nis­se des Tro­ja­ni­schen Krie­ges, und stets fand er dann in mir einen eif­ri­gen Ver­fech­ter der Sa­che Tro­jas. Mit Be­trüb­nis ver­nahm ich von ihm, dass Tro­ja so gänz­lich zer­stört wor­den, dass es ohne eine Spur zu hin­ter­las­sen vom Erd­bo­den ver­schwun­den sei. Aber als er mir, dem da­mals bei­na­he acht­jäh­ri­gen Kna­ben, zum Weih­nachts­fes­te 1829 Dr. Ge­org Lud­wig Jer­rers »Welt­ge­schich­te für Kin­der« schenk­te, und ich in dem Bu­che eine Ab­bil­dung des bren­nen­den Tro­ja fand, mit sei­nen un­ge­heu­ern Mau­ern und dem Skäi­schen Tore, dem flie­hen­den Äne­as, der den Va­ter An­chi­ses auf dem Rücken trägt und den klei­nen As­ka­ni­os an der Hand führt, da rief ich vol­ler Freu­de: »Va­ter, du hast dich ge­irrt! Jer­rer muss Tro­ja ge­se­hen ha­ben, er hät­te es ja sonst hier nicht ab­bil­den kön­nen.« »Mein Sohn«, ant­wor­te­te er, »das ist nur ein er­fun­de­nes Bild.« Aber auf mei­ne Fra­ge, ob denn das alte Tro­ja einst wirk­lich so star­ke Mau­ern ge­habt habe, wie sie auf je­nem Bil­de dar­ge­stellt wa­ren, be­jah­te er dies. »Va­ter«, sag­te ich dar­auf, »wenn sol­che Mau­ern ein­mal da­ge­we­sen sind, so kön­nen sie nicht ganz ver­nich­tet sein, son­dern sind wohl un­ter dem Staub und Schutt von Jahr­hun­der­ten ver­bor­gen.« Nun be­haup­te­te er wohl das Ge­gen­teil, aber ich blieb fest bei mei­ner An­sicht, und end­lich ka­men wir über­ein, dass ich der­einst Tro­ja aus­gra­ben soll­te.

Wes das Herz voll ist, sei es nun Freu­de oder Schmerz, des geht der Mund über, und ei­nes Kin­des Mund vor­zugs­wei­se: so ge­sch­ah es denn, dass ich mei­nen Spiel­ka­me­ra­den bald von nichts an­derm mehr er­zähl­te, als von Tro­ja und den ge­heim­nis­vol­len wun­der­ba­ren Din­gen, de­ren es in un­serm Dor­fe eine sol­che Fül­le gab. Sie ver­lach­ten mich alle mit­ein­an­der, bis auf zwei jun­ge Mäd­chen, Lui­se und Min­na Mein­cke, die Töch­ter ei­nes Gut­späch­ters in Zah­ren, ei­nem etwa eine Vier­tel­mei­le von An­kers­ha­gen ent­fern­ten Dor­fe; die ers­te­re war sechs Jahr äl­ter, die zwei­te aber eben­so alt wie ich. Sie dach­ten nicht dar­an, mich zu ver­spot­ten: im Ge­gen­teil! stets lausch­ten sie mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit mei­nen wun­der­ba­ren Er­zäh­lun­gen. Min­na war es vor­zugs­wei­se, die das größ­te Ver­ständ­nis für mich zeig­te, und die be­reit­wil­lig und eif­rig auf alle mei­ne ge­wal­ti­gen Zu­kunfts­plä­ne ein­ging. So wuchs eine war­me Zu­nei­gung zwi­schen uns auf, und in kind­li­cher Ein­falt ge­lob­ten wir uns bald ewi­ge Lie­be und Treue. Im Win­ter 1829/30 ver­ein­te uns ein ge­mein­sa­mer Tanz­un­ter­richt ab­wech­selnd in dem Hau­se mei­ner klei­nen Braut, in un­se­rer Pfarr­woh­nung oder in dem al­ten Spuk­schlos­se, das da­mals von dem Gut­späch­ter Heldt be­wohnt wur­de, und in dem wir mit leb­haf­tem In­ter­es­se Hen­nings blu­ti­ges Stein­bild­nis, die ver­häng­nis­vol­len Fu­gen des schreck­li­chen Ka­mins, die ge­hei­men Gän­ge in den Mau­ern und den Zu­gang zu dem un­ter­ir­di­schen Wege be­trach­te­ten. Fand die Tanz­stun­de in un­serm Hau­se statt, so gin­gen wir wohl auf den Kirch­hof vor un­se­rer Tür, um zu se­hen, ob noch im­mer Hen­nings Fuß nicht wie­der aus der Erde wüch­se, oder wir staun­ten mit ehr­fürch­ti­ger Be­wun­de­rung die al­ten Kir­chen­bü­cher an, die von der Hand Jo­hann Chris­tians und Gott­frie­de­rich Hein­richs von Schrö­der (Va­ter und Sohn) ge­schrie­ben wor­den wa­ren, die vom Jah­re 1709 –1799 als mei­nes Va­ters Amts­vor­gän­ger ge­wirkt hat­ten; die äl­tes­ten Ge­burts-, Ehe- und To­ten­lis­ten hat­ten für uns einen ganz be­son­de­ren Reiz. Manch­mal auch be­such­ten wir des jün­gern Pas­tors von Schrö­der Toch­ter, die, da­mals vierun­dacht­zig Jahr alt, dicht ne­ben un­serm Hau­se wohn­te, um sie über die Ver­gan­gen­heit des Dor­fes zu be­fra­gen oder die Por­träts ih­rer Vor­fah­ren zu be­trach­ten, von de­nen das­je­ni­ge ih­rer Mut­ter, der im Jah­re 1795 ver­stor­be­nen Ol­gar­tha Chris­ti­ne von Schrö­der, uns vor al­len an­de­ren an­zog; ein­mal, weil es uns als ein Meis­ter­werk der Kunst er­schi­en, dann aber auch, weil es eine ge­wis­se Ähn­lich­keit mit Min­na zeig­te.

Nicht sel­ten stat­te­ten wir dann auch dem Dorf­schnei­der Wöl­lert, der ein­äu­gig war, nur ein Bein hat­te und des­halb all­ge­mein »Pe­ter Hüp­pert« ge­nannt wur­de, einen Be­such ab. Er war ohne jeg­li­che Bil­dung, hat­te aber ein so wun­der­ba­res Ge­dächt­nis, dass er, wenn er mei­nen Va­ter pre­di­gen ge­hört hat­te, die gan­ze Rede Wort für Wort wie­der­ho­len konn­te. Die­ser Mann, der, wenn ihm der Weg zu Schul- und Uni­ver­si­täts­bil­dung of­fen­ge­stan­den hät­te, ohne Zwei­fel ein be­deu­ten­der Ge­lehr­ter ge­wor­den wäre, war voll Witz und reg­te un­se­re Wiss­be­gier im höchs­ten Maße durch sei­nen un­er­schöpf­li­chen Vor­rat von An­ek­do­ten an, die er mit be­wun­derns­wer­tem ora­to­ri­schen Ge­schick zu er­zäh­len ver­stand. Ich gebe hier nur eine der­sel­ben wie­der: so er­zähl­te er uns, dass, da er im­mer ge­wünscht habe, zu er­fah­ren, wo­hin die Stör­che im Win­ter zö­gen, er ein­mal noch bei Leb­zei­ten des Vor­gän­gers mei­nes Va­ters, des Pas­tors von Ruß­dorf, einen der Stör­che, die auf un­se­rer Scheu­ne zu bau­en pfleg­ten, ein­ge­fan­gen und ihm ein Stück Per­ga­ment an den Fuß ge­bun­den habe, auf wel­ches der Küs­ter Pran­ge sei­nem Wun­sche ge­mäß nie­der­ge­schrie­ben hat­te, dass er, der Küs­ter, und Wöl­lert, der Schnei­der des Dor­fes An­kers­ha­gen in Meck­len­burg-Schwe­rin, hier­durch den Ei­gen­tü­mer des Hau­ses, auf dem der Storch sein Nest im Win­ter habe, freund­lich er­such­ten, ih­nen den Na­men sei­nes Lan­des mit­zu­tei­len. Als er im nächs­ten Früh­jahr den Storch wie­der ein­fing, fand sich ein an­de­res Stück Per­ga­ment an dem Fuße des Vo­gels be­fes­tigt mit fol­gen­der in schlech­ten deut­schen Ver­sen ab­ge­fass­ten Ant­wort:

Schwe­rin Meck­len­burg ist uns nicht be­kannt, Das Land, wo sich der Storch be­fand, Nennt sich Sankt-Jo­han­nes-Land.

Na­tür­lich glaub­ten wir dies al­les, und wür­den gern Jah­re un­se­res Le­bens dar­um ge­ge­ben ha­ben, nur um zu er­fah­ren, wo das ge­heim­nis­vol­le Sankt-Jo­han­nes-Land sich be­fän­de. Wenn die­se und ähn­li­che An­ek­do­ten un­se­re Kennt­nis der Geo­gra­phie auch nicht ge­ra­de be­rei­chern konn­ten, so reg­ten sie we­nigs­tens den Wunsch in uns an, die­sel­be zu ler­nen, und er­höh­ten noch un­se­re Lei­den­schaft für al­les Ge­heim­nis­vol­le.

Von dem Tanz­un­ter­richt hat­ten we­der Min­na noch ich den ge­rings­ten Nut­zen, wir lern­ten bei­de nichts: sei es nun, dass uns die na­tür­li­che An­la­ge für die­se Kunst fehl­te, oder dass wir durch un­se­re wich­ti­gen ar­chäo­lo­gi­schen Stu­di­en und un­se­re Zu­kunfts­plä­ne zu sehr in An­spruch ge­nom­men wur­den.

Es stand zwi­schen uns schon fest, dass wir, so­bald wir er­wach­sen wä­ren, uns hei­ra­ten wür­den, und dass wir dann un­ver­züg­lich alle Ge­heim­nis­se von An­kers­ha­gen er­for­schen, die gol­de­ne Wie­ge, die sil­ber­ne Scha­le, Hen­nings un­ge­heu­re Schät­ze und sein Grab, zu­letzt aber die Stadt Tro­ja aus­gra­ben woll­ten; nichts Schö­ne­res konn­ten wir uns vor­stel­len, als so un­ser gan­zes Le­ben mit dem Su­chen nach den Res­ten der Ver­gan­gen­heit zu­zu­brin­gen.

Gott sei es ge­dankt, dass mich der fes­te Glau­be an das Vor­han­den­sein je­nes Tro­ja in al­len Wech­sel­fäl­len mei­ner er­eig­nis­rei­chen Lauf­bahn nie ver­las­sen hat! – aber erst im Herbs­te mei­nes Le­bens und dann auch ohne Min­na – und weit, weit von ihr ent­fernt – soll­te ich un­se­re Kin­der­träu­me von vor fünf­zig Jah­ren aus­füh­ren dür­fen.

Mein Va­ter konn­te nicht grie­chisch, aber er war im La­tei­ni­schen gut be­wan­dert und be­nutz­te je­den frei­en Au­gen­blick, auch mich dar­in zu un­ter­rich­ten. Als ich kaum neun Jah­re alt war, starb mei­ne ge­lieb­te Mut­ter: es war dies ein un­er­setz­li­cher Ver­lust und wohl das größ­te Un­glück, das mich und mei­ne sechs Ge­schwis­ter tref­fen konn­te.

Mei­ner Mut­ter Tod fiel noch mit ei­nem an­de­ren schwe­ren Miss­ge­schick zu­sam­men, in­fol­ge­des­sen alle un­se­re Be­kann­ten uns plötz­lich den Rücken wand­ten und den Ver­kehr mit uns auf­ga­ben. Ich gräm­te mich nicht sehr um die üb­ri­gen: aber, dass ich die Fa­mi­lie Mein­cke nicht mehr se­hen, dass ich mich ganz von Min­na tren­nen, sie nie wie­der­se­hen soll­te – das war mir tau­send­mal schmerz­li­cher als mei­ner Mut­ter Tod, den ich dann auch bald in dem über­wäl­ti­gen­den Kum­mer um Min­nas Ver­lust ver­gaß. In Trä­nen ge­ba­det stand ich täg­lich stun­den­lang al­lein vor dem Bil­de Ol­gar­thas von Schrö­der und ge­dach­te voll Trau­er der glück­li­chen Tage, die ich in Min­nas Ge­sell­schaft ver­lebt hal­te. Die gan­ze Zu­kunft er­schi­en mir fins­ter und trü­be, alle ge­heim­nis­vol­len Wun­der von An­kers­ha­gen, ja Tro­ja selbst hat­te eine Zeit lang kei­nen Reiz mehr für mich. Mein Va­ter, dem mei­ne tie­fe Nie­der­ge­schla­gen­heit nicht ent­ging, schick­te mich nun auf zwei Jah­re zu sei­nem Bru­der, dem Pre­di­ger Fried­rich Sch­lie­mann, der die Pfar­re des Dor­fes Kalk­horst in Meck­len­burg in­ne­hat­te. Hier wur­de mir ein Jahr lang das Glück zu­teil, den Kan­di­da­ten Carl Andres aus Neu­stre­litz zum Leh­rer zu ha­ben; un­ter der Lei­tung die­ses vor­treff­li­chen Phi­lo­lo­gen mach­te ich so be­deu­ten­de Fort­schrit­te, dass ich schon zu Weih­nach­ten 1832 mei­nem Va­ter einen, wenn auch nicht kor­rek­ten, la­tei­ni­schen Auf­satz über die Haup­ter­eig­nis­se des Tro­ja­ni­schen Krie­ges und die Aben­teu­er des Odys­seus und Aga­mem­non als Ge­schenk über­rei­chen konn­te. Im Al­ter von elf Jah­ren kam ich auf das Gym­na­si­um von Neu­stre­litz, wo ich nach Ter­tia ge­setzt wur­de. Aber ge­ra­de zu je­ner Zeit traf un­se­re Fa­mi­lie ein sehr schwe­res Un­glück, und da ich fürch­te­te, dass mei­nes Va­ters Mit­tel nicht aus­rei­chen wür­den, um mich noch eine Rei­he von Jah­ren auf dem Gym­na­si­um und dann auf der Uni­ver­si­tät zu un­ter­hal­ten, ver­ließ ich ers­te­res nach drei Mo­na­ten schon wie­der, um in die Real­schu­le der Stadt über­zu­ge­hen, wo ich so­gleich in die zwei­te Klas­se auf­ge­nom­men wur­de. Zu Os­tern 1835 in die ers­te Klas­se ver­setzt, ver­ließ ich im Früh­jahr 1836 im Al­ter von vier­zehn Jah­ren die An­stalt, um in dem Städt­chen Fürs­ten­berg in Meck­len­burg-Stre­litz als Lehr­ling in den klei­nen Krä­mer­la­den von Ernst Lud­wig Holtz ein­zu­tre­ten.

Ei­ni­ge Tage vor mei­ner Abrei­se von Neu­stre­litz, am Kar­frei­tag 1836, traf ich in dem Hau­se des Hof­mu­si­kus C. E. Laue zu­fäl­lig mit Min­na Mein­cke zu­sam­men, die ich seit mehr denn fünf Jah­ren nicht ge­se­hen hat­te. Nie wer­de ich die­ses, das letz­te Zu­sam­men­tref­fen, das uns über­haupt wer­den soll­te, je ver­ges­sen! Sie war jetzt vier­zehn Jah­re alt und, seit­dem ich sie zu­letzt ge­se­hen, sehr ge­wach­sen. Sie war ein­fach schwarz ge­klei­det, und ge­ra­de die­se Ein­fach­heit ih­rer Klei­dung schi­en ihre be­stri­cken­de Schön­heit noch zu er­hö­hen. Als wir ein­an­der in die Au­gen sa­hen, bra­chen wir bei­de in einen Strom von Trä­nen aus und fie­len, kei­nes Wor­tes mäch­tig, ein­an­der in die Arme. Mehr­mals ver­such­ten wir zu spre­chen, aber un­se­re Auf­re­gung war zu groß; wir konn­ten kein Wort her­vor­brin­gen. Bald je­doch tra­ten Min­nas El­tern in das Zim­mer, und so muss­ten wir uns tren­nen – aber es währ­te eine ge­rau­me Zeit, ehe ich mich von mei­ner Auf­re­gung wie­der er­holt hat­te. Jetzt war ich si­cher, dass Min­na mich noch lieb­te, und die­ser Ge­dan­ke feu­er­te mei­nen Ehr­geiz an: von je­nem Au­gen­blick an fühl­te ich eine gren­zen­lo­se Ener­gie und das fes­te Ver­trau­en in mir, dass ich durch un­er­müd­li­chen Ei­fer in der Welt vor­wärts­kom­men und mich Min­nas wür­dig zei­gen wer­de. Das ein­zi­ge, was ich da­mals von Gott er­fleh­te, war, dass sie nicht hei­ra­ten möch­te, be­vor ich mir eine un­ab­hän­gi­ge Stel­lung er­run­gen ha­ben wür­de.