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Im Papageienhochhaus herrscht dicke Luft. Und das nicht nur, weil es in der Wohnung von Tom und Max nach Hausmüll riecht. »Wenn ihr aufs Maul haben wollt, müsst ihr es schon mit unserer ganzen Gang aufnehmen«, ereifert sich Otto. Denn Tom und Max haben das Geheimquartier der vierköpfigen Detektivbande leichtfertig an Albert und Kakerlaken-Kalle verraten, die gerade aus der Straf-anstalt in Butzbach ausgebrochen sind. (Zitat: Frankfurter Neue Presse) Die beiden entflohenen Häftlinge halten sich im Taunus versteckt und begehen Banküberfälle. Tivaros Großvater kommt unerwartet ins Krankenhaus und übergibt seinem Enkel ein paar merkwürdige silberne Schlüssel und ein altes Schachspiel. Tivaro entdeckt kurz darauf eine über siebzig alte Stollenkarte, die angeblich zu einem Nazi-Schatz führen soll, der im Taunus versteckt ist. Es soll nicht lange dauern, bis die vier jungen Detektive bei ihrer Suche nicht mehr allein sind, denn auch der habgierige Professor Raff würde sogar über Leichen gehen, um sich zu bereichern. An Sabrinas Ge-burtstag beginnen sich die Ereignisse plötzlich zu überschlagen, und die jungen Detektive beschließen, verdeckt im Frankfurter Drogenmilieu zu ermitteln. Als dann auch noch alte Bekannte auf-tauchen, schließt sich der Kreis, oder sollte man besser sagen: Die Schlinge? Drei spannende und heitere Krimis, die es in sich haben. Viel Spaß beim Nägelkauen!
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Seitenzahl: 383
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Merlin T. Salzburg Heißes Pflaster: Frankfurt Brennpunkt Main-Taunus - Jungdetektive auf Tour Drei o-vier Jugendkrimis
[email protected] Heißes Pflaster: Frankfurt Brennpunkt Main-Taunus - Jungdetektive auf Tour
Copyright© 2016 - 2022 by Merlin Thorkild Salzburg Originaltitel: Tivaro Trilogie
1. Auflage März 2016 Neuauflage: März 2022
Copyright© 2016 - 2022 by Bubans Buchwelten Verlag,
Germany Illustrationen: Hans Blaubard, Frankfurt am Main
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und
des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die
elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung sowie öffentliche Zugänglichmachung.
Erster Teil Tivaro in Gefahr
Es geht rund
Der Steckbrief
»Tivaro Kirchner, bitte schön!« Miss Körner, die dicke Klassenlehrerin der 7e, überreichte Tivaro das Zeugnis mit einem gönnerhaften Lächeln. »Gerade noch einmal so durchgerutscht, würde ich sagen.« Zeugnisausgabe, dritte Stunde. Miss Körner, die eigentlich Frau Korner hieß, hatten sie sonst in Englisch. Heute trug sie einen weißen Jogginganzug, der gerade noch so um ihren Bauchumfang passte. Auf ihrer gelben Jacke, die sie darüber trug, prangte ein ziemlich großer brauner Fleck, und in ihren dunklen, schmuddeligen Haaren hingen kleine Brötchenkrümel. Tivaros Banknachbar Freddy, der Klassenclown, erhielt als nächster sein Zeugnis. »Alfred Hoffmann, hier ist deine Quittung für Schludrigkeit, Faulheit und mangelnde Aufmerksamkeit. Bei dir sehe ich schwarz, ob du das nächste Jahr in diesem Stil durchhältst.« »Sie haben da einen Fleck, Miss Körner«, sagte Freddy bloß und zeigte auf ihren Busen. »Was gab’s denn da heute wieder Leckeres zum Frühstück?« Fragend grinste Freddy die Lehrerin an. »Das muss Pflaumenmus sein«, erwiderte Miss Körner säuerlich und wischte sich mit den übrigen Zeugnissen, die sie noch in der Hand hielt, flüchtig über ihre Jacke. »Ich wüsste aber nicht, was dich das angeht!« Freddy lachte ihr einfach ins Gesicht, und auch andere Kinder mussten kichern.
Miss Körner verteilte schnell die letzten Zeugnisse an die Schüler. Dann schritt sie zurück zum Lehrerpult und ergriff ihre füllige Handtasche. »Ich bin gleich wieder zurück. Verhaltet euch in der Zwischenzeit bitte ruhig!« »Jetzt geht sie wieder fressen«, entfuhr es Markus. »Oder kotzen«, meinte Ina, und die ganze Klasse brüllte vor Lachen. Als Miss Körner wieder zurück kam, hatte sie sich erneut bekleckert. Zum Glück beendete die Schulglocke nun die dritte Stunde und läutete damit endlich die Sommerferien ein. Johlend stürmten die Kinder aus dem Klassenraum. »Schöne Ferien, Kinder!«, rief ihnen Miss Körner hinterher. »Für die meisten jedenfalls.« Draußen an der Bushaltestelle traf Tivaro seinen besten Freund Otto Fröhlich aus der 6a. Otto war zwölf und damit ein Jahr jünger als er. »Na, wie sieht denn dein Zeugnis aus?«, fragte Tivaro. »Besser als Vanessas aus meiner Klasse. Da sind ’ne Menge Tränen drüber gelaufen.« »Meines ist auch nicht so besonders. In Englisch und Mathe gerade mal noch eine Vier. Für mich heißt es nun, dass ich jeden Samstag hierher zur Mathe-Nachhilfe muss. Mann, und das in den Ferien!« »Ich hab’ in Erdkunde ’ne Fünf gekriegt. Da gibt’s für mich leider keine Hilfe mehr. Ich weiß mal eben, dass die Erde eine Kugel mit Wetter ist. Und das war’s dann auch schon. Aber egal. Hauptsache, ich bin versetzt. Bleibt es bei Morgen Mittag?«
»Klar, Otto! Komm um eins. Dann bin ich von meiner Nachhilfe zurück. Ich habe Fluch der Karibik III zuhause. Den können wir ja gucken. Und das mit deiner Übernachtung bei mir ist mit meiner Mom auch geklärt. Wow, und ich freue mich schon auf das Taunus-Camp nächste Woche.« »Ich mich auch, Tivaro. Wird bestimmt ’ne coole Zeit.« Dann warf Otto sich seinen Schulranzen über die Schultern. »Fahren wir zusammen bis zu meiner U-Bahn?«, fragte er dann. »Okay!« Tivaro überlegte nicht lange. Die beiden Freunde besuchten sich häufig und fuhren mal Ottos Route über den Weißen Stein oder die andere Tour mit der Buslinie nach Nieder-Eschbach, wo Tivaro wohnte. Der Bus hielt soeben an. »Meine Eltern wollen heute mit mir Essen gehen«, erzählte Otto beim Einsteigen. »Zur Feier des Tages wegen deiner tollen Noten? Was gibt’s denn dafür? Zwiebelsuppe?« »Nee, ist wegen meinem Dad. Der hat heute Geburtstag.« Der Weiße Stein war die U-Bahn-Station, an der beide wieder ausstiegen und wo sich ihre Wege trennten. Von hier aus fuhr Tivaro mit der U2 nach Hause. Als er in Bonames Mitte ausstieg, war es ungefähr zwölf und damit Zeit zum Mittagessen. Zwei Straßen weiter lag die Pizzeria Da Angelo. Dort holte er sich drei Mal in der Woche eine Pizza oder ein Pasta-Gericht ab, das seine Mutter regelmäßig im Voraus bezahlte. Tivaros Mutter Elise arbeitete halbtags von zwölf bis vier im Tutti-Frutti, einem Bioladen in Nieder-Eschbach, und mixte dort Fruchtsäfte.
Vor der Pizzeria parkte ein Polizeiwagen. Als er das Da Angelo betrat, bemerkte Tivaro im Lokal zwei Polizisten. Einer von ihnen war gerade damit beschäftigt, einen Zettel von innen an das große Glasfenster zu kleben. »Hallo Tivaro!«, grüßte ihn Angelo, der Wirt, fröhlich. Tivaro kannte den Wirt schon seit der Grundschule. »Hi Angelo!«, grüßte Tivaro zurück. »Was ist denn hier los?« »Es gab hier eine Überfall«, erklärte Angelo in seinem gewohnt gebrochenen Deutsch. »Drüben bei die Volksbanke. Die Polizia mackt hier eine Steckebrief an meine Scheibe.« Das waren ja aufregende Neuigkeiten. Ein Banküberfall gleich in der Nachbarschaft! So etwas hatte es hier noch nie gegeben. Die beiden Polizeibeamten waren nun offenbar mit ihrer Arbeit fertig, denn sie hoben noch kurz zum Abschied die Hand an ihre Uniformmützen und verließen dann die Pizzeria wieder. »Was möcktest du heute essen, Tivaro?«, fragte Angelo. »Pizza Salami mit extra Käse, bitte«, gab Tivaro zurück. »Ich schaue mir derweil mal den Steckbrief an.« Tivaro schritt an das Fenster, und neugierig las er:
Gesucht
Die Frankfurter Kriminalpolizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach zwei derzeit Unbekannten, die am Vormittag des 5. Juli eine Filiale der Frankfurter Volksbank überfallen hatten. Die beiden Männer betraten gegen 9:30 Uhr das Bankgebäude im Unteren Kalbacher Weg. Während ein maskierter Täter mit einer Waffe vor dem Tresen wartete, sprang der andere über diesen, legte eine Handgranate auf den Tisch und verlangte Geld. Der Räuber vor dem Tresen gab dabei einen Schuss in Richtung Decke ab. Anschließend flüchtete das Duo mit der Beute in einem elfenbeinfarbenen Taxi. Die Angestellten der Bank blieben unverletzt. Beide Täter werden wie folgt beschrieben:
zirka 25 – 30 Jahre alt, etwa 175 - 180 cm groß, der größere etwas untersetzt. Beide hatten dunkle mittellange Haare, dunkle Augen und waren mit Strumpfmasken bekleidet.Die Kriminalpolizei fragt: Wer kennt die Täter? Wer kann Hinweise auf den Fluchtwagen oder den Aufenthaltsort der Gesuchten geben? Zeugen werden gebeten, sich beim zuständigen Raubkommissariat der Polizeidirektion des 15. Reviers in der Homburger Landstraße in Bonames unter der Rufnummer (069) 110-4100 oder bei einer anderen Polizeidienststelle zu melden. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, ist eine hohe Belohnung in Höhe von € 5000,- ausgesetzt.
»Heute Zeugnis?«, wollte Angelo wissen. Tivaro nickte. »Ja, willst du es sehen?« »Sehr gerne«, sagte Angelo, und Tivaro kramte sein Zeugnis aus dem Schulranzen. Er legte es verkehrt herum vor sich auf die Theke, sodass es Angelo sehen konnte. Der Wirt betrachtete es neugierig und lobte dann: »Soso, Sport Vier, Englisch Vier, Mathe Vier. Sehr gutte Notten, Tivaro!«, sagte er und nickte respektvoll. Die wirklich guten Noten in Deutsch und Geschichte schien er einfach übersehen zu haben. Tivaro lächelte erst geschmeichelt, doch dann fiel ihm ein, dass in Italien die Noten genau umgekehrt vergeben wurden. Sein Lächeln verschwand wieder. Dann kam die Pizza. Mario, der Küchenchef, trat durch die Flügeltür und balancierte Tivaros Pizza tänzelnd durch den Raum. Mit einem galanten Schwung beförderte er die Pizza auf einen großen Teller, der bereits auf der Theke stand. Dabei spritzte etwas Tomatensoße auf Tivaros Zeugnis. »So, bitte sehr, der Herr!« »Mann, Mario, du hast mir mit der Soße mein Zeugnis versaut. Das sieht ja aus wie Blutflecken! Soll meine Mom jetzt etwa mit ihrem Fingerabdruck unterschreiben?« »Mi scusa, Tivaro! Entschuldigung! Du nächstes Mal Pizza umsonst, okay?« »Na ja. Vielleicht kriegt man die Flecken ja noch mal weg. Aber trotzdem, danke.« Tivaro ließ es sich nun schmecken. Dabei dachte er die ganze Zeit über den Banküberfall nach. Als er fertig gegessen hatte, stand er auf und trat noch einmal an das große Glasfenster. Aus seiner Jackentasche holte er sein Handy und hielt es dicht an den Steckbrief. Mit der Kamerataste knipste er dann zwei Fotos und überprüfte die Aufnahmen noch einmal im Display. Sehr gut, freute sich Tivaro. Nun konnte er Otto Morgen die Fahndungsmeldung zeigen. Er verabschiedete sich von Angelo, nahm seinen Schulranzen und machte sich auf den Heimweg. Bis nach Hause waren es noch etwa zehn Minuten zu Fuß. »Hallo Tivaro!«, begrüßte ihn seine elfjährige Schwester Sabrina an der Haustür. »Ich habe fünf Einser und sonst nur Zweier«, flötete sie und stolzierte zurück in die Küche. »Kunststück in der vierten Klasse«, meinte Tivaro und verzog gelangweilt seinen Mundwinkel. »Ich hatte in der Grundschule immer nur Einser.« »Stimmt ja gar nicht!«, widersprach Sabrina. »Und wenn schon. Wie viele Einser hast du jetzt?« »Gar keine«, gab Tivaro zu. »Gibt’s Nachtisch?« »Ja, Mama hat uns Schoko-Pudding gekocht. Ich habe extra auf dich gewartet.« Tivaro schnappte sich eine Schöpfkelle von der Wand, holte zwei Dessert-Schüsseln aus dem Küchenschrank und hob den Deckel des Pudding-Topfs. Als er mit der Kelle eine der Schalen befüllte, rief er angewidert: »Mann, Sabrina! Was für eine Plörre ist das denn?« »Ich hab’ gar nichts gemacht«, wehrte sich Sabrina.
»Nichts gemacht! Gib zu, du hast genascht und dann deinen Spucke-Löffel wieder in den Pudding gesteckt. Davon kommen dann nämlich die Klümpchen.« »Gar nicht wahr!«, widersprach Sabrina entrüstet. »Dann schau mal in den Spiegel! Dein Mund ist doch noch ganz mit Pudding verschmiert.« »Ah, der große Detektiv!« sagte Sabrina verächtlich. »Na und? Ich war halt hungrig, und ich kann ja nicht ewig warten, bis du mal kommst.« »Den Pudding kannst du jedenfalls alleine essen. Mir ist der Appetit vergangen«, meinte Tivaro. »Und was, wenn der Pudding schon vorher so komisch war?«, fragte Sabrina. »Das würde mich auch nicht wundern. Mom kann eben einfach nicht kochen. Ich wünschte, Dad wäre endlich wieder zu Hause.« »Ich auch. Der kocht nämlich ganz wunderbare Sachen«, schwärmte Sabrina. »Weißt du, wann Papa wiederkommt?« »Dad ist noch bis Ende des Monats in Skandinavien unterwegs und fliegt von einem Geschäftsessen zum anderen«, erklärte Tivaro. »Oh, da gibt es sicher jeden Tag Fischgerichte, und Papa bringt wieder leckere Rezepte mit und ...« »Ich hasse Fisch«, sagte Tivaro angeekelt. »Heute ist aber Freitag«, beharrte Sabrina. »Und ich hab’ mir vorhin bei den Mackies einen Fish-Burger geholt.« »Du nervst«, sagte Tivaro und verließ die Küche. »Ich geh’ jetzt chatten.« »Hallo Kinder!« Tivaros und Sabrinas Mutter Elise kam um halb fünf wie immer. »Habt ihr schön gespielt?« »Ich habe das dritte Level von Dragon Hunter geschafft«, sagte Tivaro stolz. »Du solltest dich lieber um deine Level in Mathe und Englisch kümmern und mit deiner Schwester etwas Richtiges spielen. Ständig hängst du am Computer herum!« Die Mutter legte ihre Tasche ab und ließ sich mit einem leichten Seufzer auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. »Sabrina hat sich den ganzen Nachmittag den Schwammkopf angesehen«, informierte Tivaro seine Mutter, um von sich abzulenken. In diesem Augenblick betrat Tivaros Schwester die Wohnstube und wedelte aufgeregt mit ihrem Zeugnis. »Mama, alles Einser und Zweier. Guck mal!«, rief sie und setzte sich mit vor Stolz gerötetem Gesicht neben ihre Mutter. »Sehr schön, Sabrina«, lobte sie und studierte interessiert die Noten ihrer Tochter. »Und wo ist dein Zeugnis, Tivaro?«, wollte sie dann wissen. »Im Ofen«, sagte Tivaro. »Ist gleich fertig.« Noch ehe die erstaunte Mutter weitere Fragen stellen konnte, war Tivaro schon in die Küche gerannt und kehrte nach kurzer Zeit wieder zurück. »Hier, Mom!«, sagte er nur und übergab seiner Mutter das Zeugnis. »Oh Gott, da klebt ja Blut dran! Habt ihr Euch um die Zeugnisse geprügelt?«, fragte Elise entsetzt. »Ach Mom, das ist nur Tomatensoße und gar nicht meine Schuld«, verteidigte sich Tivaro. »Das war Mario heute Mittag, als er mir die Pizza servierte. Dabei ist Soße drauf gekommen, und ich habe die Flecken eben im Ofen getrocknet.« »Wirklich toll, Tivaro. Ich habe dir heute Morgen extra eine Folie für das Zeugnis mitgegeben. Das ist doch ein wichtiges Dokument für’s ganze Leben«, tadelte sie. »Als ob das je einer sehen will«, begehrte Tivaro auf. »Meinen Kindern zeige ich das bestimmt nie.« »Denk dran, dass du morgen um elf Mathe-Nachhilfe hast. Frau Schneider kann aber leider wegen eines anderen Jobs nicht unterrichten. Sie hat mich vorhin auf dem Handy angerufen.« »Was?«, rief Tivaro enttäuscht, der Frau Schneider, die Referendarin an seiner Schule war, gerne mochte. »Wer macht denn dann Mathe mit mir?« »Das wird sich bis Morgen Vormittag schon klären«, antwortete Tivaros Mutter. »So ein Mist!«, schimpfte Tivaro. Er verschwand für den Rest des Tages oben in seinem Zimmer und spielte weiter Dragon Hunter. Auch nach dem Abendessen war seine Laune noch nicht besser geworden. Er verkrümelte sich in sein Bett und las noch in einem Jugendkrimi, bis es dunkel wurde.
Brrrrr! Brrrrr! Der Wecker klingelte. Schlaftrunken blickte Tivaro auf den Display und erschrak. Viertel vor acht, und ich muss doch zur Schule. Das schaffe ich ja nie! Doch da fiel ihm plötzlich ein, dass Samstag war. Und ich Idiot stelle mir den Wecker, dachte er verärgert. Müde ließ er sich auf sein Kopfkissen zurücksinken und schlief wieder ein. »Tivaro, aufstehen! Es ist schon nach zehn.« Elise stand in der Zimmertür. »Um elf musst du den Bus zur Mathe-Nachhilfe bekommen.« »Und das in den Ferien!«, maulte Tivaro gähnend. »Okay, ich bin ja schon unterwegs.« »Beeile dich, dann können wir zusammen losgehen«, sagte Elise und stieg die Treppe zum Wohnzimmer hinunter. Tivaro schlüpfte schnell in seine Sachen und nahm einen Block und sein Mäppchen vom Tisch. Seine Mutter stand am Küchenbuffet und rührte in ihrer Teetasse. Tivaros Schwester Sabrina war schon aus dem Haus zum Klavierunterricht. »Es gibt übrigens Neuigkeiten, Tivaro.« Elises Stimme klang vergnügt. »Was denn für Neuigkeiten, Mom?«, wollte Tivaro wissen. »Du wirst es nicht glauben. Ich war heute früh schon mit Sabrina unterwegs, und da haben wir uns etwas angesehen.« »Was denn?«, fragte Tivaro etwas gelangweilt. »Du wirst es nicht erraten«, spannte ihn seine Mutter weiter auf die Folter.
»Mom, was habt ihr euch denn angesehen?«, hakte Tivaro nach. Tivaros Mutter holte einen kleinen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Küchentisch. »Na?«, machte sie auffordernd und nippte an ihrem Tee. »Was, na? Ein paar Schlüssel halt. Wofür sollen die schon gut sein? Für den Nachhilferaum?« Elise lachte. »Nein, Tivaro. Dies ist der Schlüssel zu unserem neuen Garten.« »Das ist ja geil«, freute sich nun auch Tivaro. »Wo ist der denn?« »Gar nicht weit von hier. Dort wo die anderen Schrebergärten sind. Da war schon die ganze Zeit ein Grundstück frei. Aber es hieß, der Besitzer wollte es nur an kinderreiche Familien verpachten.« »Wir sind doch bloß zwei«, bemerkte Tivaro. »Mindestens zwei sollten es auch sein. Außerdem kennt der Besitzer den Roland. Und da waren wir uns schnell einig.« »Schön, wenn man gute Beziehungen zu seinem eigenen Vater hat«, grinste Tivaro. »Und ist das nun mein Schlüssel?« »Ich lasse gleich vor der Arbeit welche für uns alle nachmachen«, sagte Elise. »Und weißt du was?«, fügte sie hinzu. »Unser Garten ist wirklich sehr groß.« »Können wir da auch grillen?«, fragte Tivaro. »Aber sicher!«, sagte Elise. »Und Gemüse pflanzen und in der Sonne liegen. Es sind einige Bäume auf dem Grundstück, sodass es auch immer genug Schatten gibt.«
»Gibt’s auch eine Wiese? Ich meine einen Platz ohne Bäume oder Büsche, wo man vielleicht Fußball spielen kann oder so?«, fragte Tivaro. »Ich denke schon, soweit ich das bis jetzt beurteilen kann. Ich weiß nur nicht, ob es auch erlaubt ist«, meinte die Mutter. »Wieso sollte das nicht erlaubt sein. Es ist doch unser Garten!« sagte Tivaro bestimmt. »Wir haben aber auch Gartennachbarn, auf die man vielleicht Rücksicht nehmen muss«, wandte Elise ein. »Außerdem will Sabrina Erdbeeren pflanzen, und ...« »Ja sicher«, unterbrach Tivaro. »Aber dafür ist es ja dieses Jahr wohl leider schon zu spät.« Tivaro hatte sein Honigbrot aufgegessen. »Wir müssen jetzt los«, drängte Elise. »Blöde Nachhilfe! Ich würde mir viel lieber gleich den Garten ansehen.« »Dazu ist auch Morgen noch genug Zeit«, entschied die Mutter. »So, und nun mach schnell, Tivaro. Sonst kommst du noch zu spät.« Tivaro verabschiedete sich an der Tür und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, während Elise die Garage öffnete, in der ihr roter Fiat stand. Obwohl Ferien waren, fanden die Nachhilfestunden in einem Raum seiner Schule statt. Der Nachhilferaum befand sich in einem kleinen flachen Gebäude neben der Turnhalle. Noch bevor Tivaro die Tür öffnete, hätte er sich am liebsten umgedreht und wäre wieder nach Hause gefahren. Doch es war schon zu spät.
»Da ist ja mein Lieblingsschüler Tivaro!« hörte er hinter sich plötzlich eine wohlbekannte Stimme. Oh nein!, durchfuhr es den Jungen. Was sucht die denn hier? » Wohnen Sie hier vielleicht, Frau Korner?«, murmelte Tivaro leise. »Für dich immer noch Miss!« Auf ihrem Gesicht hatte die Lehrerin die übliche Überdosis Schminke verteilt. »Wie toll, dass ich sie als Vertretung habe!«, seufzte Tivaro und setzte ein etwas schiefes Lächeln auf. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Mathe unterrichten.« »Schön, dass du dich so freust«, entgegnete die dicke Lehrerin und schob Tivaro in den Nachhilferaum. »Setz dich irgendwo vorne hin, dann können wir gleich anfangen.« Sie nahm ein Stück Kreide und schrieb dann an die Tafel: »Present Perfect Progressive – Past Progressive«. »Äh, entschuldigen Sie, Frau Korner. Aber das hier ist doch kein Mathe«, stellte Tivaro fest. »Mathematik?« Miss Körner lächelte spöttisch. »Nein, Tivaro. Wir machen heute Englisch. Englisch ist doch auch viel wichtiger für dich.« Sie reichte Tivaro einen Stapel Blätter. »Hier sind alle Lektionen für die Nachhilfestunden in den Ferien. Wenn du zu Hause fleißig übst, brauchen wir samstags nur noch Tests machen.« Tivaro seufzte und blickte missmutig auf die vielen Arbeitsblätter. »Auf dem ersten Übungsblatt geht es um die Verlaufsformen der ‚regular verbs’. Lies dir die Tabellen gut durch. Danach sehen wir weiter.«
»Wie lange vertreten Sie denn Frau Schneider?« fragte Tivaro beiläufig. »Bis die Ferien zu Ende sind«, gab Miss Körner zurück. Na, das konnte heiter werden!, stöhnte Tivaro innerlich. »Und wann machen wir dann Mathe?«, wollte er nun wissen. »Wir machen überhaupt kein Mathe, Tivaro. Ich bin Lehrerin für Englisch und wir machen Englisch, Englisch, Englisch!« Miss Körner klimperte nervös mit den Augenwimpern. Dann wandte sie sich zur Tür. »Ich muss mal eben kurz telefonieren, während du die Tabellen durchgehst.« Tivaro kannte das schon. Entweder führte sie Endlosgespräche mit ihren Freundinnen oder sie genehmigte sich eine ihrer kleinen Zwischenmahlzeiten. Ja, stopf dich ruhig voll!, dachte Tivaro und beugte sich widerwillig über das Übungsblatt. Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis Miss Körner wieder in den Raum zurückkehrte. »Da bin ich schon wieder«, sagte sie kauend. »Ach, ich liebe diese Fleischbällchen«, schwärmte sie. Selber Fleischbällchen, dachte Tivaro angewidert. »Hast du denn kein Pausenbrot dabei?«, fragte Miss Körner. »Für eine Stunde?«, wunderte sich Tivaro. »Egal«, entschied die Lehrerin und steckte das Handy in ihre Handtasche. »Tja, Akku leer«, erläuterte sie kurz, leckte sich über den Daumen und schritt dann wieder an die Tafel. »Jetzt üben wir noch ein paar Beispielsätze, und in einer Viertelstunde ist auch schon wieder Schluss für heute. So wird das die nächsten sechs Wochen gehen. Ich bin sicher, wir zwei werden noch viel Spaß miteinander haben.«
Nach dem Unterricht machte Tivaro sich schleunigst auf den Heimweg, denn um eins wollte Otto da sein. Tivaro kam gegen halb eins zuhause an, als gerade das Telefon klingelte. Es war Otto. »Ich fahre jetzt los zu euch«, kündigte er sich an. »Ja, bis gleich«, freute sich Tivaro und legte den Hörer wieder auf. Sabrina kam in die Diele gehüpft. »Wer war denn dran?«, fragte sie neugierig. »Das war Otto. Der fährt jetzt los.« »Aha«, machte Sabrina nur. »Otto bleibt auch über Nacht«, ließ Tivaro wissen. »Also, ich finde den Otto ganz nett«, bekannte Sabrina. »Wollen wir dann auch Kniffel oder Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen?« »Du spielst mal besser mit deinen Freundinnen. Der Otto kommt heute nur mich besuchen. Mich ganz allein«, betonte Tivaro. »Männertreffen, kapiert?« »Ach übrigens, ich war heute Morgen schon in unserem neuen Garten«, fiel Sabrina plötzlich ein. »Im Garten«, äffte Tivaro seine Schwester nach. »Und? Erdbeeren gesät?«, fragte er scheinheilig. »Nö, noch nicht, aber unser Garten ist ganz schön groß«, schwärmte Sabrina. »Wie groß ist er denn so?«, wollte Tivaro wissen. »Groß genug für alles. Federball oder Tischtennis oder ...« »Basketball oder Fußball«, ergänzte Tivaro entzückt. »Und es gibt auch einen Brunnen und eine coole Hütte. Die hat sogar Beleuchtung.«
»Wasser und Strom – wie geil!«, freute sich Tivaro. »Und ich darf da auch Teeparties veranstalten«, bemerkte Sabrina. »Super!«, sagte Tivaro ironisch. Ihm gefiel es gar nicht, dass seine jüngere Schwester so viel mit dem neuen Garten zu tun haben wollte. »Und den Otto lade ich dann auch ein.« Sabrina lächelte vergnügt. »Ja, geht’s noch? Jetzt mal nur so unter uns, Schwesterchen. Magst du den Otto vielleicht?«, wollte Tivaro wissen. »Nun ja, nett ist er schon«, fand Sabrina. »Findest du ihn jetzt einfach nur ‚nett’?«, bohrte Tivaro weiter. Sabrina wurde rot. »Das geht dich gar nichts an!«, entschied sie. »Tja, ich wusste es doch!« frohlockte Tivaro. »Und ich weiß auch schon genau was du willst. Du willst, dass ich den Otto mit dir zusammenbringe, oder dass ich ihn frage, ob er dich auch ‚mag’ und so. Nee, das läuft nicht.« Tivaro machte eine ablehnende Handbewegung. Dann fügte er hinzu: »Außerdem ist Otto zwei Jahre älter als du.« »Na und, die Frau des Hausmeisters aus unserer Schule ist sogar zehn Jahre jünger als ihr Mann«, entgegnete Sabrina. Als sie gerade ihren Satz beendet hatte, klingelte es an der Haustür. Otto trat ein. »Hi, Otto!«, riefen Tivaro und Sabrina fast gleichzeitig. »Hi, Sabrina!« Die beiden konnten sich nur kurz grüßen.
»Na, Kumpel!«, sagte Tivaro und zog Otto sogleich an seiner Schwester vorbei und führte ihn über die Treppe in sein Zimmer. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte Tivaro. Als er die Tür geschlossen hatte, erzählte er seinem Freund von dem Überfall auf die Volksbank und der hohen Belohnung. Dann zeigte er Otto den Steckbrief auf seinem Computerbildschirm. »Das ist ja spannend, Mann. Und das steht schon im Internet?« fragte Otto interessiert. »Nein, das Bild kommt von meinem Smartphone. Das habe ich am PC angeschlossen«, sagte Tivaro nicht ganz ohne Stolz und setzte sich auf seinen Computerstuhl. »Wieso haben die Bankräuber denn ein Taxi genommen?« fragte Otto. »War das ein richtiges Taxi?« »Gute Frage, Otto«, warf Tivaro ein. »Vielleicht war es ja geklaut? Die Räuber werden damit sicher nicht lange herumfahren. Wahrscheinlich wissen die längst, dass die Polizei nach einem Taxi mit zwei Männern sucht.« »Schade, dass nicht gestern schon schulfrei war. Dann wären wir vielleicht zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen. Oder wie das heißt«, fügte Otto hinzu. »Ja, wir zwei wären ein gutes Team gewesen«, pflichtete Tivaro ihm bei. »Wir auf Verbrecherjagd!« Dann stand Tivaro auf und ging zur Tür. »Ich habe die DVD schon eingelegt. Der dritte Teil von Fluch der Karibik läuft gut zweieinhalb Stunden lang.« »Wie geil! Ist FSK 14, nicht?«, fragte Otto beiläufig.
»Ja«, bestätigte Tivaro. »FSK 14. Was ist?« »Du weißt aber, dass ich zwöllf bin«, meinte Otto. »Zwinge ich dich denn, den Film bei mir zu sehen?«, fragte Tivaro listig. »Den guckst du doch sicher ganz freiwillig, und FSK ist doch freiwillige Selbstkontrolle. Das heißt, du kontrollierst selbst, ob du den Film nun sehen willst oder nicht, stimmt’s?« »Du hast ja Recht«, gab Otto zu. »Ich habe übrigens was zum Knabbern mitgebracht.« Aus seinem Rucksack kramte er zwei Tüten Paprikachips und ein Paket Schoko-Linsen hervor. »Und zu Trinken haben wir auch noch Cola in meiner Kiste«, fügte Tivaro hinzu. Im Wohnzimmer lümmelte Sabrina auf dem Sofa und sah sich wieder den Schwammkopf an. »Geh doch in dein Zimmer Teletubbies gucken!«, schlug Tivaro nicht sehr freundlich vor. »Otto und ich sehen uns jetzt was richtig Starkes an. Was für echte Kerle. FSK ab 16, stimmt’s Otto?« Otto nickte nur irgendwie bestätigend. »Glaub’ schon«, sagte er einfach. »Das sage ich Mama, wenn sie wieder da ist«, rief Sabrina. »Ja, komm du nur in unseren neuen Garten, du Petze! Da haben nämlich nur ich und meine Freunde Platz. Und deine Teeparties kannst du sowieso vergessen«, drohte Tivaro ernst. Sabrina setzte ein finsteres Gesicht auf und verschwand in ihrem Mädchenzimmer.
»Oh, jetzt schmollt Sie.« Tivaro verzog scheinbar traurig sein Gesicht. »Die sind wir erstmal los«, freute er sich dann, warf sich auf das Sofa und bot Otto den Platz in der Ecke ihm gegenüber an. »Setz dich doch!« Tivaro griff in eine Getränkekiste, die neben dem Sofa stand und angelte zwei Flaschen Cola heraus. »Hier!«, sagte er und reichte Otto eine davon. Der hatte es sich bereits in der Ecke bequem gemacht. »Erzähl doch, von was für einem Garten redet Sabrina da?«, fragte Otto. »Ach, das erkläre ich dir später«, lenkte Tivaro ab. »Hat doch Zeit. Du bist ja noch lange hier.« »Dann mal Film ab!«, orderte Otto vorfreudig. Tivaro nahm die Fernbedienung vom Tisch und richtete sie auf den großen, breiten Bildschirm. »Läuft!«, bestätigte er und sogleich startete der Film. Als Elise vom Tutti-Frutti zurückkehrte, war der Film bereits zu Ende. Doch die Jungen saßen noch immer auf der Wohnzimmercouch und spielten über die Konsole Fußball gegeneinander. »Hallo, Otto!«, begrüßte Elise den Gast freundlich und nickte auch Tivaro zu. »Was habt ihr Jungs denn heute Nachmittag Schönes gemacht. Nur Spielekonsole? Nicht vielleicht Tischtennis im Keller?« Etwas Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. »Wir haben ferngesehen«, erzählte Tivaro.
»Immer nur rumsitzen und glotzen ist doch nichts«, meinte Elise sanft. »Tischtennis macht euch doch auch Spaß. Oder Darts«, schlug sie vor. Tivaros Gesicht hellte sich auf. »Ja, dann lasst und jetzt Darts spielen. Die ganze Familie mit Otto.« Tivaro hatte wirklich plötzlich Lust dazu. Die Dartscheibe hing draußen auf der Terrasse an einer hohen Holzwand, die die Terrasse vom Nachbargrundstück abschirmte. Es wurde ein ausgelassener fröhlicher Spätnachmittag, auch wenn Tivaro und Sabrina sich hin und wieder prüfende Blicke zuwarfen. Elise brachte um halb Sieben Käsetoasts mit Ananas und Schinken, und alle setzten sich hungrig zum Essen an einen Tisch, der draußen stand. Plötzlich konnte Sabrina nicht mehr an sich halten: »Die beiden haben sich heute Schweinkram angeguckt«, rief sie in die Runde und rückte mit ihrem Korbstuhl etwas näher an Elise heran. »Mom, glaub das bloß nicht!«, ereiferte sich Tivaro und prustete los vor Lachen. »Schweinkram!«, wiederholte er. »Wir haben Fluch der Karibik gesehen. Ehrlich, Frau Kirchner«, gab Otto zu. »Fluch der Karibik. Soso. Den letzten Teil?« »Ja, Mom«, bestätigte Tivaro. »Der war gut, nicht?«, strahlte Elise plötzlich. »Ich weiß, den habe ich nämlich mit Roland schon vor zwei Monaten im Kino gesehen.« »Der ist zwar erst ab zwölf ...«, informierte Otto brav.
»Na und?«, sagte Elise. »Du bist ja bald zwölf. Und der Film war doch cool. Also ich fand den Film wirklich klasse und für euch durchaus altersgerecht. Auch wenn ich nichts von euren Plänen wusste, nicht wahr, Tivaro?« Dabei blickte sie ihren Sohn leicht tadelnd an. »Ja. War echt ein geiler Film«, nickte Tivaro dankbar. Dann wandte sich Elise ihrer Tochter Sabrina zu, die nur schweigend dasaß. »Es stimmt also nicht, was du gedacht hast, Sabrina. Die Jungs haben sich nur einen Abenteuerfilm angesehen. Nichts Schlimmes also. Nicht mal so schlimm wie so mancher Harry Potter-Film.« Tivaro und Otto waren froh, dass Elise keinen Zirkus aus dem heimlichen Fernsehnachmittag machte. »Elise ist echt großzügig«, stellte Otto bewundernd fest. »Mhm«, machte Tivaro und nickte. Später abends, als sie schon in ihren Betten lagen, erzählte Tivaro Otto noch von dem Garten, den sie gepachtet hatten. Tivaro meinte, dass er wohl ausreichend groß zum Fußballspielen sei, und dass es eine große Hütte gäbe, die sogar Licht hätte. Gleich am nächsten Morgen wollten sie den Garten besichtigen. Über den Bankraub in Bonames redeten sie nicht mehr.
Tivaro erwachte auch ohne Wecker um acht. Sofort weckte er Otto, der noch gemütlich träumte. »Los, wir wollen doch zum Garten«, trieb er Otto an und ließ den Gartenschlüssel vor Ottos Nase baumeln. Tivaro und Otto zogen sich schnell an und stiegen dann die Treppe zur Diele herunter. Als sie gerade das Haus verlassen wollten, liefen sie direkt Elise in die Arme. »Wo wollt ihr denn schon so früh hin?«, fragte sie erstaunt. »Äh, wir wollten nur mal den Garten besichtigen«, gab Tivaro zurück. »Da komme ich gerade her«, sagte Tivaros Mutter. »Ich habe das Schild ‚Zu verpachten’ entfernt und Herrn Schirmer zurückgebracht. Wie wäre es, wenn wir erst einmal gemeinsam frühstücken, bevor wir dann alle in den Garten gehen?« »Wer wir?«, fragte Tivaro leicht enttäuscht. »Na, wir alle, meine ich«, antwortete Tivaros Mutter. »Auch Sabrina?«, fragte Tivaro weiter. »Natürlich kommt Sabrina auch mit. Was hast du denn gedacht?«, fragte Elise zurück. Tivaro zog einen Schmollmund. »Die war doch gestern schon mal da. Sabrina stört doch nur.« »Der Garten ist für uns alle da, Tivaro«, sagte Elise bestimmt. »Außerdem waren wir gestern wegen der Übergabe dort und eigentlich nur am Gartentor.« »Aber was will Sabrina denn in unserem neuen Garten? Blümchen pflücken? Das kann sie doch auch woanders.«
»Schluss jetzt, Tivaro! Der Garten ist für uns alle groß genug«, entschied Elise. »Ich schlage vor, wir frühstücken jetzt, und dann mache ich uns ein Lunchpaket zurecht, bevor wir gemeinsam losgehen.« Nach dem Frühstück kochte Tivaros Mutter noch Tee und packte belegte Brötchen in eine Kühlbox. Gemeinsam spazierten sie dann alle zum neuen Garten. Der Garten gehörte zu einem Kleingartenviertel am Stadtrand, das von Getreide- und Rübenfeldern der ansässigen Bauern umgeben war. Zu Fuß waren es kaum zehn Minuten. Der Garten war wirklich groß. Linkerhand stand eine große Holzhütte, die allerdings schon bessere Tage gesehen hatte. Von außen wirkte sie jedenfalls ziemlich baufällig. »Superhütte«, stellte Tivaro etwas unzufrieden fest. »Ja, vermutlich für Ratten«, meinte auch Otto geringschätzig. »Ich dachte, es gäbe hier ein richtiges Gartenhaus?« »Das lässt sich sicher wieder herrichten«, meinte Tivaro schon optimistischer, nachdem er etwas an der Hütte herum geklopft und am Holz gerochen hatte. »Mit dem passenden Werkzeug kriegen wir das doch allemal hin, oder?« »Wenn du meinst. Ich würde schon gerne mit anpacken«, sagte Otto. »Prima!«, erwiderte Tivaro. »Aber nun lass uns erst einmal sehen, wie groß der Garten überhaupt ist.« Während Elise und Sabrina Taschen in den Garten trugen, durchmaßen Tivaro und Otto das Grundstück mit langen Schritten. Tivaro durchlief den Garten längs und Otto quer.
»Gut dreißig Meter lang«, meldete Otto, als sich die beiden Jungen wieder trafen. »Und etwas über fünfzehn breit. Das macht also etwa 450 Quadratmeter«, berechnete Tivaro. »Ein paar Bäume müssten vielleicht noch weg, wegen Fußball und so«, gab Otto zu bedenken. Tivaro tippte sich an die Stirn. »Das sind doch alles Obstbäume hier. Die darf man außerdem nicht mal einfach so wegmachen.« Tivaro durchschnitt sich mit der Hand die Kehle. Sie schlenderten beide gerade unter zwei der großen Laubbäume entlang, als Tivaro plötzlich stehen blieb. » Was ist das denn? Sieh mal!«, rief er und deutete nach oben. Hoch über ihnen türmte zwischen den mächtigen Ästen einer großen Eiche und einer benachbarten Erle ein gut befestigtes massives Baumhaus. Es war so platziert, dass es dem Garten eigentlich abgewandt war. Außerdem war es zwischen den zahlreichen Laubzweigen so gut verborgen, dass man es von außen unmöglich gleich bemerken konnte. »Wie cool!«, rief Otto aus. »Das ist ja wohl das geilste Baumhaus der Welt.« »Mann, Otto!«, sagte Tivaro aufgeregt. »Das ist unser Hauptquartier! Nur für uns und unsere Bande.« Otto sah Tivaro fragend an. »Was für eine Bande?« »Na, unsere Bande eben. Wir könnten doch eine richtige Detektiv-Bande gründen so wie die Drei Fragezeichen ...« »Oder wie TKKG«, ergänzte Otto.
»Nur, dass wir es hier mit echten Fällen zu tun haben und nicht mit ausgedachten Geschichten. Weißt du, Bankraub und so.« »Ja, Tivaro«, sagte Otto erfreut. »Wir gründen eine Gang, und nur wir beide sind die Chefs, okay?« »Ist klar, gib Check!«, sagte Tivaro und streckte seinem Freund die Hand entgegen, der auch sogleich darauf einschlug. »Kommt ihr jetzt endlich mal!«, drängte Sabrina plötzlich weiter hinten. »Wir kriegen die Hütte nicht auf.« »Klar, ist was für Männer«, rief Tivaro zurück. »Wir kommen.« Und zu Otto gewandt, sagte er schnell: »Du erzählst nichts von dem Baumhaus, klar?« »Alles klar, Ehrensache«, bestätigte Otto.
Tivaro und Otto schlenderten mit den Händen in der Tasche betont gelassen zur Holzhütte hinüber. Elise stand am Brunnen nicht weit von der Hütte entfernt und versuchte keuchend mit dem Schwengel Wasser in eine Gießkanne zu pumpen. Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Puh! Da unten ist zwar Wasser, aber nach oben kommt kein Tropfen. Wir müssen da wohl erst einmal selbst etwas Wasser hineinschütten, damit die Pumpe richtig funktioniert. Wir besorgen schnell ein paar Kanister Wasser von unseren Gartennachbarn nebenan. Okay, Jungs?« »Wird gemacht, Mom«, sagte Tivaro dienstwillig. »Und wer kümmert sich um die Hüttentür?«, rief Sabrina. »Otto, mach du das mit der Hüttentür, und ich helfe Mom«, sagte Tivaro. Otto war schon unterwegs. Sabrina lief ihm hinterher. »Meinst du, du kriegst die Tür auf?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Na ja, die Bruchbude hat ein Vorhängeschloss am Türriegel«, stellte Otto fachkundig fest. »Und keiner von unseren Schlüsseln passt«, fügte Sabrina hinzu. »Ich sehe mal nach, ob ich so etwas wie eine Brechstange finde«, schlug Otto vor. »Aber dann machst du ja alles kaputt. Geht das nicht auch mit so einem Heinrich?« Otto lachte. »Du meinst wohl einen Dietrich, Sabrina. Das ist ein Einbrecherwerkzeug, und so etwas habe ich natürlich nicht. Aber wenn ich ein Stück Draht hätte, könnte ich es ja mal damit versuchen.« »Ich weiß wo Blumendraht ist«, sagte Sabrina eifrig und verschwand um die Ecke. Kurz danach kam sie mit einer Drahtspule zurück. »Hier, Otto!«, sagte sie und reichte Otto die Spule. »Danke, Sabrina«, sagte Otto. Dann knickte er ein längeres Stück von dem Blumendraht ab und bog sich einen hakenförmigen Stil zurecht. Mit dem machte er sich am Vorhängeschloss der Holztür zu schaffen. Und tatsächlich – nach einer kleinen Weile hatte er das Türschloss geöffnet. »Geknackt!«, triumphierte er. »Echt? Was du alles kannst!«, staunte Sabrina. Otto lächelte geschmeichelt und wurde sogar ein bisschen rot dabei. »Och, war nur ’ne Kleinigkeit. Das hab’ ich mal so in einem Krimi gesehen.« »Du guckst wohl viele Krimis«, meinte Sabrina. »Ja, klar. Manchmal sogar welche ab 16 FSK«, gab Otto an. »Ich weiß, so wie gestern der Piratenfilm.« »Nun ähm, nicht ganz«, lächelte Otto verlegen. »Der war eigentlich ab 12.« »Soso«, sagte Sabrina nur. Da kamen Elise und Tivaro zurück in den Garten. Beide trugen 5-Liter-Kanister, die mit Wasser gefüllt waren und gingen damit zum Brunnen. »Ich habe die Tür aufgekriegt«, rief Otto stolz. Dann schob er den Riegel der Hüttentür zurück und zog sie nach außen auf. Innen war es ziemlich dunkel. Nur durch ein winziges verhängtes Fenster drang etwas Licht. Otto entdeckte eine Menge Holzbretter und Latten, die an die rechte Innenwand der Hütte gelehnt waren oder auf dem Boden herumlagen. An der linken Wand hingen zahlreiche Werkzeuge: verschiedene Sägen, Hämmer, Zangen und Seile. Auch ein Spaten, eine Schaufel und ein Rechen lehnten in einer Ecke. Und gleich vorne links stand ein Rasenmäher. »Die Hütte ist ein Geräteschuppen, und sie ist voller Bretter«, meldete Otto. Tivaro kam sofort gelaufen, während Elise noch das Wasser aus den Kanistern in den Brunnen schüttete. Auch Sabrina blickte in die Hütte. »Wie öde!«, meinte sie nur. »Da kann man ja gar nicht drin sitzen.« »Ja, aber die Werkzeuge sind schon praktisch«, gab Tivaro nach einem kurzen Blick ins Innere der Hütte zu bedenken. »Das ist ein guter Geräteschuppen.« »Und das Bauholz auch«, fand Otto. »Daraus lässt sich bestimmt allerhand zimmern.« »Ja, sogar zweistöckig«, meinte Tivaro. »Wieso denn zweistöckig?«, fragte Sabrina verwundert. »Tja, wieso nicht?« Tivaro und Otto sahen sich verstohlen an. Nun hatte auch Otto begriffen, dass Tivaro mit seiner Bemerkung gar nicht die alte Holzhütte meinte, sondern das soeben entdeckte Baumhaus. »Aber dann stürzt ja vielleicht alles ein«, ließ Sabrina nicht locker. »War doch nur ein Scherz«, sagte Tivaro dann. Elise kam nun auch hinzu. Nach einem prüfenden Blick sagte sie: »Also, das ganze Holz muss hier erst einmal raus, damit wir wenigstens Platz für einen Tisch und ein paar Stühle haben. Und das Werkzeug gehört eigentlich auch woanders hin.« »Genau!«, pflichtete Sabrina bei. »Wir wollen es doch auch gemütlich haben. Ich will, dass ihr die ganzen Bretter da rausholt«, verlangte sie und sah Tivaro und Otto bittend an. Tivaro nickte. »Komm Otto, wir schaffen das ganze Holz zu dem Bretterverschlag da hinten.« Nicht weit entfernt befand sich ein kleiner Holzverschlag, der nur wenig größer als eine Hundehütte war. »Ich helfe auch mit«, bot Sabrina an. »Das lass die Jungs mal lieber alleine machen, Sabrina«, empfahl Elise. »Solche Holzplatten sind viel zu schwer für dich.« »Wir sollten aber das ganze Werkzeug in der Hütte lassen«, meinte Tivaro. »Für den Bretterverschlag habe ich schon eine gute Verwendung«, meinte Elise. »Da kommt gleich Morgen nämlich eine Campingtoilette rein«, klärte sie die Jungen auf. »Ihr könnt ja meinetwegen heute schon mit dem Ausräumen beginnen und dann irgendwann aus den Brettern eine Kiste für das ganze Werkzeug zusammennageln. Aber bevor ihr loslegt, müsst ihr noch mindestens zwei Kanister Wasser holen. Es reicht nämlich noch nicht für die Brunnenpumpe.« Tivaro und Otto gingen zum Brunnen, griffen sich die leeren Kanister und verließen den Garten, um erneut Wasser vom Nachbarn zu holen. Unterwegs konnte Tivaro es sich nicht verkneifen, seinen Freund Otto etwas aufzuziehen: »Na, Otto. Habt ihr schön geknutscht, als wir Wasser holen waren?« »Was sagst du da?«, regte sich Otto auf. Er stieß Tivaro leicht mit dem Ellbogen in die Seite und machte dann einen Seitwärts-Check in Richtung Tivaros Nase. Leider bremste er nicht rechtzeitig ab, sodass er die Nase etwas streifte. Tivaro wich zurück. »Aua, Mann. Das hat echt weh getan, du Idiot!«, schimpfte er. »Das habe ich nicht gewollt, ehrlich«, entschuldigte sich Otto sofort. »Ist schon gut. Nichts passiert«, sagte Tivaro tapfer und versuchte ein Lächeln. »Hat mir mein Bruder mal beigebracht. Der kann nämlich Kickboxen.« »Ach, und ich soll jetzt froh sein, dass du mir nicht gegen die Nase gekickt hast, was?«, entgegnete Tivaro. »Wirklich gönnerhaft!« Es brauchte noch weitere drei Gänge zum Nachbarn, um genügend Wasser für den Brunnen zu besorgen. Doch dann jubelte Tivaros Mutter endlich: »Das Wasser kommt!« Aus dem Brunnenrohr sprudelte erst ziemlich braunes, und dann kam tatsächlich kühles, klares Wasser. Tivaro und Otto waren danach noch bis zum frühen Abend damit beschäftigt, Bretter aus dem Geräteschuppen zu schaffen. Als alle den Garten wieder verließen, brachten sie Otto noch an die Bonameser U-Bahn-Station. Dort verabredeten sich die beiden Freunde für den nächsten Morgen. Tivaro würde um halb neun in die U-Bahn nach Bad Homburg zusteigen. Von dort aus sollte es dann mit dem Bus zum Taunus-Camp gehen. »Ich sitze im ersten Wagen ganz hinten«, sagte Otto, als die U-Bahn einfuhr. »Okay, bis Morgen!«, verabschiedete er sich und winkte auch Sabrina noch einmal kurz zu. »Ja, mach’s gut, Otto. Bis Morgen!«, rief Tivaro. Tivaro ging heute schon um neun in sein Zimmer. Die gemeinsame Arbeit im Garten hatte ihm zwar ziemlich Spaß gemacht, aber auch sehr müde. Im Bett gingen ihm dann noch so einige Gedanken über die bevorstehenden Schnuppertage im Taunus-Camp durch den Kopf. Drei Wochen Zeltlager! Das wäre schon was. Es wurden hierfür zwei Termine angeboten. Einer gleich zu Beginn und der andere nach der ersten Hälfte der Sommerferien. Elise und Ottos Eltern wollten beide Jungen für die letzten drei Wochen anmelden. Tivaro und Otto sollten sich an drei Schnuppertagen einer der Gruppen dort anschließen und sich erst einmal alles ansehen. An einem der Tage sollte sogar eine Nachtwanderung stattfinden. Tivaro schlief ziemlich bald ein.
Tivaro brauchte heute keinen Wecker. Seine innere Uhr war auf halb acht eingestellt. Er zog sich schnell an und flitzte dann ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Seine Camp-Ausrüstung war längst gepackt und stand sozusagen zum Abmarsch bereit. Heute fuhr er endlich mit Otto ins Taunus-Camp! Elise stellte ihre Teetasse ab und sagte zu Tivaro: »Ich bringe dich erst einmal zur U-Bahn, und heute Abend hole ich euch vom Zeltlager wieder ab.« Nach dem Frühstück verließen Tivaro und Elise das Haus und machten sich auf den Weg zur U-Bahn. Als sich die Türen der Bahn öffneten, schob Elise noch Tivaros Rucksack in den Gang und gab ihrem Sohn einen Abschiedskuss. »Ach, Mom!«, wehrte sich Tivaro. »Ich verreise ja noch nicht wirklich.« Dann schloss die Wagentür automatisch, und die U-Bahn fuhr an. »Bis heute Abend, Mom.« Elise nickte und winkte kurz. Tivaro entdeckte Otto wie verabredet ganz hinten im ersten Wagen. Er erkannte ihn an seinen blonden abstehenden Haaren. »Hi!«, begrüßte Tivaro seinen Freund. »Ich bin schon ganz aufgeregt.« »Hi Tivaro! Endlich geht es ins Camp«, freute sich auch Otto. »Es sind zwar nur drei Tage, aber wenn’s uns gefällt, sind wir in zwei, drei Wochen mit dabei«, sagte Tivaro. Er machte es sich auf dem Sitzplatz neben Otto bequem.
Es störte die beiden ein wenig, dass sie nicht alleine waren, denn vor ihnen saß noch ein ziemlich unheimlicher, düster dreinblickender Mann mit zwei jungen Blondinen gegenüber, die sich kichernd mit ihm unterhielten. Der Mann war dunkel gekleidet und trug einen schwarzen Hut. Darunter klebten dunkle zerfranste Haare. Tivaro bemerkte sofort eine auffällige große Narbe, die über seiner linken Augenbraue nach oben zur Stirn verlief. Obwohl die Frauen immer wieder lachten, verzog der Mann in Schwarz keine Miene. »Guck mal der da!« Otto stieß Tivaro leicht mit dem Ellbogen an. »Schon gesehen«, sagte Tivaro unbekümmert. »Wieso die rosa Ladies auf so einen stehen?« »Vielleicht zahlt er ihnen ja was dafür«, flüsterte Otto und beide glucksten vor Lachen. "Wenn der so riecht wie er aussieht ... « Dann zog Otto eine Spielekonsole aus seiner Reisetasche und startete sein Lieblingsspiel. »Legends Of Orkland. Kennst du?” »Ja, schon gehört«, antwortete Tivaro. Das musikalische Intro des Spiels kreischte durch den U-Bahnwaggon. »Geiler Sound, oder?«, fragte Otto seinen Freund. »Könnt ihr das Ding nicht mal leiser machen?« Eine der beiden Frauen, die vor ihnen saßen, hatte sich zu ihnen umgedreht. »Oh, die dicken Barbies in Rosa wollen ungestört sein!«, lästerte Otto etwas lauter als er eigentlich beabsichtigte.
»Nur nicht frech werden!«, mahnte die Blondine. »Wer weiß, was aus euch beiden mal wird?«, fügte sie dann hinzu und erhob drohend ihren rot lackierten Zeigefingernagel. »Ich kann euch auch gleich ein paar Maulschellen verpassen, wenn ihr noch einen Mucks macht. Wollt ihr was? Ja?« Der Mann in Schwarz hatte sich plötzlich erhoben und wirkte ziemlich bedrohlich, doch er wurde von den beiden Frauen wieder sanft zurück auf seinen Sitz geschoben.
»Bleib ruhig, Süßer«, beschwichtigte ihn die eine.
»Die Kids peilen doch nichts«, meinte die andere.
Tivaro und Otto sahen sich verstohlen an. Beide wussten instinktiv, dass dieser Mann ihnen sicherlich Gewalt angetan hätte, wenn die beiden Blondinen nicht eingesprungen wären.
Die Bahn fuhr in Gonzenheim ein. Hier war Endstation. Tivaro und Otto schulterten ihre Rucksäcke und verließen die Bahnstation so schnell sie konnten. Glücklicherweise stand der Reisebus zum Camp schon wie erwartet an der U-Bahn-Station bereit, sodass sie dem unangenehmen Narbengesicht nicht noch in die Quere kamen. Im Bus saßen bereits eine Menge anderer Kinder.
»Na, steigt schon ein, Jungs. In drei Minuten fahren wir los«, sagte der Busfahrer hinter dem Steuer. »Und das Rauchen bitte einstellen.«
»Der will wohl sehr witzig sein«, meinte Tivaro. Der Bus fuhr an. Die Landschaft, durch die sie schon bald fuhren, sah nicht wirklich sehr einladend aus. Ein lichter Wald, mal hier ein Baum, mal da einer.
»Hier gibt’s ja kaum Bäume. Was ist denn mit dem Wald passiert?«, wollte ein Mädchen wissen, das ganz vorne hinter dem Busfahrer saß.
»Hier gab es schon einmal mehr Bäume«, ließ der Fahrer wissen. »Doch in dieser Gegend ist vor Jahren wohl einiges dem sauren Regen zum Opfer gefallen«, erklärte er. »Eigentlich weiß man gar nicht wirklich warum. Richtig viel Wald gibt’s aber wieder in den höheren Lagen.«
Nach einer Weile ging es hoch hinauf in den Taunuswald, und Tivaro spürte einen unangenehmen Druck in den Ohren. Die Fahrt dauerte etwas über eine dreiviertel Stunde, dann waren sie bereits am Ziel. Oberreifenberg hieß der Ort, und das Camp lag in einer umwaldeten Lichtung. Der Bus kam zum Stehen, die Kinder stiegen aus und wurden von zwei Betreuern empfangen, die sich als Christian und Ernst vorstellten. Sie halfen dabei, die Rucksäcke und Taschen der Kinder zu entladen. »Willkommen im Taunus-Camp!«, rief Ernst und machte eine einladende Handbewegung. »Na, alles frisch? Am besten, ihr kommt jetzt erst mal mit, damit ich euch die ganze Einrichtung hier zeigen kann«, schlug er vor.
Er führte die Kinder durch das Ferienlager, zeigte ihnen die verschiedenen Zelte, die Grillplätze und Duschanlagen. Es gab auch feststehende Häuser in der Umgebung und einen Allzweck-Sportplatz. Nach der Besichtigung versammelten sich alle wieder im Freien.
Nun wurde ein Wochenplan über die anstehenden Aktivitäten im Lager aufgestellt. Es ging um eine Nachtwanderung gleich am nächsten Tag, um Schnitzeljagden, Feten und Liederabende. Dann wurden Gruppen eingeteilt und die ersten Ausflugsziele bestimmt. Heute war für die Gruppe, der Tivaro und Otto zugeteilt wurden, eine Wanderung zum Elisabethenstein an der Reihe.
»Ich hoffe ihr habt alle eure Rucksäcke dabei«, sagte Christian, der Betreuer, dann. »Wir treffen uns in einer viertel Stunde am Trimmpfad.«
Zur verabredeten Zeit versammelten sich die Kinder der Gruppe am vereinbarten Treffpunkt.
»Auf geht’s!« Christian und Ernst liefen voran. Hinter ihnen folgten Tivaro, Otto und die anderen Kinder der Gruppe. Der Elisabethenstein war ein kleiner freistehender Felsen, der einfach aus dem Waldboden gewachsen zu sein schien. Er war leicht zu erklettern und bot Platz für etwa acht bis zehn Kinder gleichzeitig. Die Betreuer erzählten, dass dieser Felsen einmal voller grün schimmernder Pyro-Kristalle gewesen war, die man natürlich abgebaut hatte, weil sie sehr selten und vermutlich sogar wertvoll waren.
»Ah, Schätze!«, stellte Otto fest und nickte Tivaro bedeutungsvoll zu.
»Gibt’s hier noch mehr Kristallfelsen?«, wollte ein Junge wissen.
»Nur dass euch das klar ist«, fing Christian an. »Hammer und Meißel bleiben natürlich zu Hause. Den Stein zu beschädigen ist absolut verboten. Stellt euch vor, wenn das jeder machen würde. Dann würden hier im Taunus bald überhaupt keine Kristalle mehr zu bewundern sein. Also wie ich schon sagte, Hammer und Meißel hübsch zu Hause lassen.«
Mittags wurde im Zeltlager gegrillt. Danach wurden weitere kleinere Ausflüge unternommen. Am frühen Abend trafen sich alle Gruppen wieder im Camp, wo bereits die Busse für die Heimfahrt bereit standen. Nach und nach lösten sich die Gruppen auf. Immer mehr Kinder fuhren in den Autos ihrer Eltern oder mit den Reisebussen zurück. Auch Tivaro und Otto wurden von Elise mit ihrem Fiat abgeholt, die es sich nicht nehmen ließ, sich selbst ein Bild von der Lagerumgebung zu machen.
»Die Betreuer machen einen ganz guten Eindruck auf mich«, ließ sie während der Heimfahrt wissen. »Aber sind das nicht zu wenig für über achtzig Kinder?«, gab sie zu bedenken.
»Ach, Mom!«, klärte Tivaro seine Mutter auf. »Jedes Zelt hat einen eigenen Betreuer. Und Ernst und Christian sind unsere Gruppenführer.«
»Soso«, gab Elise zurück. Sie ließ Otto später an der U-Bahn-Station »Weißer Stein« aussteigen. Von dort aus hatte er es nicht mehr weit nach Hause.
»Freut mich, dass ihr heute soviel Spaß hattet«, sagte Elise zu Tivaro gewandt.
»Ich würde jetzt gerne noch etwas einkaufen. Hast du Lust. Ich hätte da Hosen gesehen. Sicher gut für’s Klettern.«
Einkaufen? Das klang unangenehm. Tivaro mochte Einkäufe nicht sehr.
»Lass mich raus!«, rief Tivaro plötzlich. »Ich muss mit Otto unbedingt noch etwas bereden.«
Elise sah Tivaro an. »Na, das nenne ich spontan«, sagte sie dann. »Um was geht es denn?«
Tivaro stieg an der Beifahrerseite aus. »Es ist wegen der Nachtwanderung Morgen«, gab er vor. »Lagebesprechung. Also, tschüss, Mom!«, sagte er noch.
»Komm aber nicht später als neun!«, rief Elise aus dem Fenster, während sie den Wagen aus der Parklücke kurbelte. »Und ich sehe dich heute Abend noch in der Badewanne, okay?«
»Ist gut, Mom«, versprach Tivaro. Er mochte auch Badewannen nicht sehr. Dann begann er zu rennen, denn er sah schon, wie sich von weitem die nächste U-Bahn näherte. Otto stand noch auf dem Bahnsteig.
»Mom wollte noch einkaufen«, erklärte Tivaro außer Atem. »Ich glaube, bei dir bin ich besser aufgehoben.«
»Verstehe«, nickte Otto.
Die beiden Freunde verbrachten die nächste Stunde bei Otto und schmiedeten Schlachtpläne für den nächsten Tag. Sie wollten mittags das Camp heimlich verlassen, um am Elisabethenstein nach Kristallen zu suchen.
»Ich bringe Werkzeug mit«, versprach Tivaro.
»Und ich eine richtig geile helle Taschenlampe für die Nachtwanderung«, erwiderte Otto.
Tivaro kam pünktlich um neun zu Hause an und merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Sabrina war schon im Bett und las noch.