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Liebe Sandra!
Frohe Weihnachten aus dem entfernten Schottland und einen guten Rutsch in 2017!
Jetzt bin ich schon seit einem Monat hier und passe auf den kleinen Ben auf – ich muss dir sagen, es gefällt mir einfach super! Genauso habe ich mir alles vorgestellt! Die Einsamkeit des alten Herrenhauses macht mir nichts aus, ich liebe die Natur und das Moor, das das Haus umgibt.
Doch irgendetwas stimmt hier nicht, ich kann mir nicht erklären, was es ist ...
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Wer sieht nicht Geister auf den Wolken beim Untergang der Sonne?
(Philipp Otto Runge)
Liebe Sandra!
Frohe Weihnachten aus dem entfernten Schottland und einen guten Rutsch in 2017!
Jetzt bin ich schon seit einem Monat hier und passe auf den kleinen Ben auf – ich muss dir sagen, es gefällt mir einfach super! Genauso habe ich mir alles vorgestellt!
Die Einsamkeit des alten Herrenhauses macht mir nichts aus, ich liebe die Natur und das Moor, das das Haus umgibt. Alles sieht aus wie auf einem alten Gemälde.
Haus ist vielleicht der falsche Ausdruck, es ist eher ein Gemäuer. Die Zimmer sind riesig und von den Wänden bröckelt der Putz. Ich brauche mir wirklich keinen Stress mit irgendwelcher Hausarbeit zu machen, wie ich anfänglich befürchtet hatte. Meine Gasteltern sehen das ganz locker, die vielen Spinnen stören uns nicht. Wieso auch? Es sind doch ganz harmlose Tiere. Ich mag sie inzwischen und habe keine Abneigung mehr gegen sie.
Dadurch, dass ich hier nicht putzen muss, habe ich mehr Zeit für mich und für das Schreiben meines Romans. Ja, du hast richtig gehört, ich schreibe einen Roman. Natürlich nur in meiner Freizeit, wenn Ben schläft.
Meine Gasteltern sind sehr herzlich und freundlich. Als sie mich vom Flughafen abgeholt hatten, überreichten sie mir gleich einen ganz großen Blumenstrauß. Ich durfte sie auch gleich duzen. Sie heißen Arthur und Samantha.
„Wenn du dich an unsere Regeln hältst, wird es dir gut gehen!“, hat Arthur feierlich erklärt. Zunächst bekam ich einen kleinen Schreck, doch bald musste ich feststellen, dass es fast gar keine Regeln gibt. Ich darf machen, was ich will. Ist das nicht toll? Die einzige Bedingung ist nur, dass ich nichts von alledem, was ich hier mitbekomme, nach außen trage. Aber wem außer dir sollte ich denn von meinem Leben hier berichten? Das interessiert doch sowieso keinen.
Es macht mir Spaß, mich mit Ben zu beschäftigen. Tagsüber spielen wir in dem riesigen verwilderten Garten, der das Anwesen umgibt. Ich muss nur wahnsinnig aufpassen, dass der Kleine nicht ins Moor rennt und einsackt, denn er reißt ganz gerne einmal aus, der kleine Racker! Beim Versteckenspielen wäre ich neulich fast versackt, aber da kam zum Glück der Gärtner zur Hilfe. Er hat sich furchtbar aufgeregt, dass ich angeblich einen Grenzzaun übersehen hätte und er faselte etwas von Gestalten, die nachts aus dem Moor aufsteigen und umhergeistern. Was für eine lebhafte Fantasie die Einheimischen haben ist schon bemerkenswert!
Stell dir vor, die Köchin hat erzählt, dass in meinem Zimmer genau vor einem Jahr am 24. Dezember das Kindermädchen von Ben tot auf ihrem Schreibtischstuhl aufgefunden worden ist. Sie ist irgendwie erstickt und keiner kann sich erklären, wie das passiert ist. Seitdem geht wohl ihr Geist hier um, weil er keine Ruhe findet! Was für einen Schwachsinn sich die Leute ausdenken, nur um sich irgendwie wichtig zu machen ...
Ich liebe diese Stille hier. Das einzige, das ich gerade höre, ist das Pfeifen des Windes und das Klappern der Dachrinne. Ich mag diese Geräusche, und wenn es dann draußen dicke Flocken schneit, kommt ein echtes Weihnachtsgefühl in mir hoch.
Außerdem habe ich unzählige Ideen für meinen Roman im Kopf. Ich schreibe sie alle auf, wenn ich nachts nicht schlafen kann und diese Stimmen höre. Es sind eigentlich keine richtigen Stimmen, es ist ein leies Säuseln. Wahrscheinlich sind es nur die Stromleitungen, die vibrieren, aber mit viel Vorstellungskraft höre ich Stimmen sagen:"Pass auf, Sally, pass auf!"
Aber auf was sollte ich schon aufpassen? Hier ist doch nichts, was mir gefährlich werden könnte. Vielleicht meinen die Stimmen auch einfach nur, dass ich auf den kleinen Ben aufpassen soll und das tue ich ja auch. Das mache ich sogar richtig gerne, oft stelle ich mir vor, dass er mein eigenes Kind ist. Ich finde, dass er sogar ein bisschen Ähnlichkeit mit mir hat. Wenn ich gleich noch ein Foto finde, werde ich es dir schicken.
Ach, Sandra, jetzt muss ich doch wieder weinen. Weihnachten ohne meine Eltern und Geschwister in einer fremden Umgebung zu feiern, ist schon sehr traurig. Meine Gastfamilie hat zwar einen Weihnachtsbaum, doch er steht ganz ungeschmückt im Kaminzimmer. Arthur und Samantha halten nichts von Weihnachten und so war es heute ein Tag wie jeder andere.
"Weihnachten ist nur etwas für sentimentale Spinner!", hat Arthur gesagt. Er ist irgendwie verbittert, vielleicht ist in seinem Leben etwas Schlimmes passiert und der Arme hat es nicht verarbeitet. Doch ich wäre sicher die Letzte, die ihm raten könnte, einen Psychologen aufzusuchen.
Obwohl mein Arthur eine negative Einstellung zu Weihnachten hat, habe ich dem kleinen Ben ein Geschenk gekauft. Von meinem ersten ersparten Geld. Es war ein kleines Auto, das ich im Spielwarengeschäft in dem Dorf gesehen habe. Ben war so glücklich – du hättest seine strahlenden Augen sehen sollen. Wie zwei Sterne haben sie geleuchtet.
Eben wollte ich mir noch schnell eine Wärmflasche machen, doch irgendwie funktioniert der Boiler nicht. Sowieso scheint wieder einmal eine Sicherung durchgeknallt zu sein, aber zum Glück habe ich immer meine Kerzen im Nachtschrank. Kerzenlicht ist viel romantischer als elektrisches Licht.
Witzig, gerade habe ich dir von den Stimmen geschrieben und jetzt höre ich sie schon wieder.
"Pass auf, Sally, pass auf!"
Seltsam ist nur, dass ich die Stimmen heute so früh höre. Normalerweise höre ich sie erst nach Mitternacht.
Sandra, ich vermisse dich. Wie schön wäre es, wenn du jetzt bei mir sein könntest!
Ich höre Schritte, jemand geht den Flur entlang. Wer kann das sein?
Meine Gasteltern sind heute Abend bei Freunden eingeladen. Das hat mich überrascht, denn ich dachte, dass sie gar keine Freunde hätten, sondern nur Geschäftspartner. Aber warum sollten sie mich anlügen?
Die Köchin ist nach Dienstschluss um 18 Uhr mit ihrem alten Fahrrad ins Dorf zurückgefahren. Ich habe das Gefühl, dass es ihr nicht schnell genug gehen kann, diesen Ort zu verlassen. Oft macht sie eine halbe Stunde früher Schluss und schleicht sich heimlich davon. Aber ich werde sie nicht verraten, so etwas mache ich nicht.