Helikoptermoral - Wolfgang Schmidbauer - E-Book

Helikoptermoral E-Book

Wolfgang Schmidbauer

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Beschreibung

Moralin forte `Die globalisierte Konsumgesellschaft plagen chronische Ängste. Sie verschwendet mehr als nachwächst, sie weckt den Neid der Habenichtse und den Terror der Gekränkten. Diese Ängste münden in Hyperaktivität, sei es des Übereifers, sei es der unverhältnismäßigen, verschwenderischen Reaktion auf konstruierte Gefahren." Wie ihr Pendant, die Helikoptereltern, ist auch die Helikoptermoral immer schon da, immer bereit, Stellung zu beziehen. Das tut sie unter viel Getöse mit schnellen Urteilen, um so die schnellen Affekte von Angst und Wut zu bewältigen, die angesichts einer unsicheren Zukunft in einer komplexen Welt dominieren. Es geht nicht mehr um eine gut funktionierende Moral, die das Zusammenleben regelt, sondern um das endgültige Urteil, die zu Superlativen übersteigerten Werte jenseits aller Realität. Plakative Aussagen über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über Schwarz und Weiß sollen die Welt unserer lärmenden Eventkultur richten. Die kurzfristige Entlastung, die die Helikoptermoral emotional verschafft, bedeutet auf lange Sicht nicht nur, dass viel Energie für Verleugnungen vergeudet wird, sondern der Kontext, der Zusammenhang mit der Realität sich mehr und mehr verliert.

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Wolfgang Schmidbauer

Helikoptermoral

Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum

Inhalt

Einführung

1 / Lokal lachen, global hassen

2 / Die biografische Folie

3 / Helikoptermoral und Eventkultur

4 / Hypermoral in der Partnerschaft

5 / Das kleinere Übel

6 / Schnelle Urteile

7 / Im Banne des Propheten

8 / Warum wir den Hunger vermissen

9 / Schuldige Welt der Bilder

10 / Die Helikoptermoral und der Tod

11 / Gottesbund, Erdenschmerz

12 / Die Abschaffung der Tragödie

13 / Der Schaden durch die Schadensstrafe

14 / Das zwanghafte Bewerten

15 / Die Größenfantasie und der moralische Sieg

16 / Zusammenschau und Schluss

Über den Autor

Impressum

»Sobald wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen.«

Mark Twain 1

1 Der Satz »Having lost sight of our goals, we redouble our efforts« wird Mark Twain zugeschrieben. Ähnlich George Santayana: »Fanaticism consists in redoubling your effort when you have forgotten your aim.«

Einführung

Meine älteste Tochter war im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal alleine in der Münchner U-Bahn unterwegs. Eine ältere Dame beobachtete das Kind, das, stolz auf den eigenen Mut, zu einer Freundin reiste, und fragte dann: »So jung und ganz allein unterwegs? Ja weißt du nicht, wie gefährlich das ist?« Zu Hause berichtete meine Tochter, ihr habe die Fahrt Spaß gemacht und sie habe sich gut zurechtgefunden, aber diese Bemerkung habe sie verwirrt. »Was hätte ich ihr denn sagen sollen?«

Neben anderem verrät die Frage der besorgten Frau, wie leicht sich eine narzisstische Gratifikation gewinnen lässt, indem man quasi die Federchen der eigenen Bewertungen spreizt. Im Zugabteil einen erigierten Penis zu zeigen ist strafbar; der pädagogisch auftretende Exhibitionismus aber kommt nicht nur ungestraft davon, er führt auch zu einem guten Gewissen, selbst wenn die peinlichen Folgen für das Opfer nicht zu leugnen sind.

Gleichzeitig wird aus der Szene deutlich, wie die moralische Belehrung der Angstabwehr dient. Psychoanalytiker vermuten, dass auch die exhibitionistische Perversion der Abwehr von Ängsten dient, das eigene Genitale könnte nicht attraktiv genug sein und sich in der Weiblichkeit auflösen wie eine Träne im Ozean. Ähnlich überwindet die Frau, die das unternehmungslustige Kind ängstigt, ihre eigene Angst, indem sie dem Mädchen zu nahe tritt und es mit den geweckten Ängsten alleine lässt.

Weil ihr angesichts der Situation nichts Sinnvolles einfällt, sie die Angelegenheit aber auch nicht einfach unkommentiert ertragen kann, greift sie zur moralischen Ermahnung: Kind, was du tust, ist falsch, vermutlich hast du auch die falschen Eltern, hast dich ihnen gar entzogen. Da ich sonst nichts für dich tun kann, will ich dich wenigstens nicht unversorgt lassen mit meinen Bedenken.

Die innere Spannung, in die sie beim Anblick des »zu früh« selbständigen Kindes geraten ist, lässt sich nur erschließen.

Es ist klar, dass sich die Intensität sozialer Regulierungen erheblich verändert hat, wenn wir etwa meine Kindheit (geboren 1941), die Kindheit meiner Ältesten (geboren 1967), die Kindheit meiner Jüngsten (geboren 1982) und die Kindheit meines ersten Enkels (geboren 2011) vergleichen. 1967 stellten wir die Tasche mit dem sechs Wochen alten Baby auf den Rücksitz unseres VW-Käfers und fuhren in die Toskana, um das Sommerhalbjahr dort zu verbringen. Später schlief unsere Tochter während der Fahrt auf der Rückbank. Heute würden Eltern, die mit ihren Kindern auf diese Art im Auto unterwegs sind, von der Polizei angehalten.

Eine Familie verreist über die Feiertage und vergisst den achtjährigen Sohn zu Hause. Das arme Kind? Im Gegenteil. Kevin, so die Hauptfigur des Films, genießt die Freiheit, alles tun zu können, was er sonst nicht darf, und verteidigt am Ende mit raffinierten Fallen das Eigentum der Eltern gegen zwei Einbrecher. Kinder lieben diesen Kevin; Erwachsene auch – solange ihre eigenen Kinder ihm nicht nacheifern!

Wohin ist das Vertrauen verschwunden, dass es mit den Kindern schon irgendwie gut gehen wird? Die Erwachsenen verklären ihre kindlichen Abenteuer – und nehmen sie den Kindern weg. Mareen Linnartz 1 hat sich zu diesem Thema in den Elternforen im Internet kundig gemacht: »›Anonym‹ schreibt: ›Ich habe gelesen, dass man Kinder ab elf Jahren auch mal zu Hause alleine lassen könnte. Ob das stimmt? Ich denke mal, dass man dann mit dem Jugendamt Ärger bekommen könnte.‹ ›Monilisa‹ antwortet mit Verve: ›Ich lass meine Kinder nie allein!!!! Es kann, glaube ich, keiner verantworten, wenn zu Hause etwas passiert …!!! Habt ihr daran mal gedacht?‹ Das empört dann ›Mida‹: ›Wann will man denn damit anfangen – vier Wochen vor dem Auszug, damit er die erste Nacht in der eigenen Wohnung nicht so ängstlich ist? … Übrigens: Den größten Mist hat mein Sohn angestellt, als wir alle zu Hause waren.‹«

Der Familientherapeut Haim G. Ginott beschrieb 1969 in einer Untersuchung zur Adoleszenz das Bedürfnis jüdischer Mütter, alles über ihre heranwachsenden Kinder zu wissen. Er zitiert einen Teenager: »Meine Mutter schwebt über mir wie ein Helikopter.« 2 Ausführlich und sehr kritisch hat die Familientherapeutin Wendy Mogel in ihrem in den USA intensiv rezipierten Buch The Blessings of a Skinned Knee3aus dem Jahr 2001 die Helikoptereltern aufs Korn genommen.

Die Hypertrophie von ängstlicher Aufmerksamkeit und hastigen Bewertungen ohne Empathie und ohne Blick auf Zusammenhänge betrifft nicht nur Eltern, sondern uns alle. Ihre Folge beschreibe ich als Helikoptermoral. Urteile werden nicht mehr so dosiert, dass Autonomie beschützt und kleine, unschädliche Abweichungen toleriert werden.

Entwicklungen werden verkannt, weil die Urteile so zwischen Überschätzung und Entwertung polarisiert sind, dass das Augenmaß verloren geht. Fantasien von Erlösung und Befreiung gewinnen eine Macht, die am Ende in Katastrophen führen muss. Demokratie erfordert vor allem Respekt vor Minderheiten und die Bereitschaft, Macht zu teilen und die damit verbundenen Kränkungen zu ertragen.

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass die Grundregeln des Völkerrechts und der professionellen Diplomatie jederzeit auf ähnliche Weise außer Kraft gesetzt werden können wie die Regeln der Strafprozessordnung. Beide gemeinsam verhindern Menschenopfer und Lynchjustiz. Der Angeklagte – auch der Terrorist, der Prominente, der Pädophile oder Vergewaltiger – muss als unschuldig gelten, solange seine Schuld nicht von einem ordentlichen Gericht nachgewiesen ist. Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten darf das Völkerrecht nicht verletzen.

Es geht nicht darum, die Moral zu tadeln. Es geht um ihren Missbrauch, um den Übereifer, die Grenzüberschreitung im Dienst narzisstischer Bedürfnisse der Eiferer. Moral kann missbraucht werden, ebenso wie eine Waffe oder Körperkraft. Sie kann der Sensationslust dienen oder dem pharisäischen Schauder angesichts der Minderwertigkeit Dritter. Dann führt sie zu destruktiven Folgen im Privaten wie in der Politik. Konflikte eskalieren, weil einer Seite ein Abgrund an moralischem Versagen zugeschrieben wird, der durch Verhandlungen nicht überbrückt werden kann.

Es ist eine Eigentümlichkeit der psychoanalytischen Sozialpsychologie, individuelle und politische Aspekte zu verknüpfen. Angesichts der Helikoptermoral geht es um die Frage nach den Ursachen und Folgen für das Individuum und für die Gesellschaft. Ein wichtiges Bindeglied ist die Orientierung der Konsumgesellschaften an Einzelereignissen, an Events, die sich besser fassen und bewerten lassen – mit dem Nachteil eines Verlustes von vorausschauendem und umfassendem Planen. Nicht nur in der Ethik, auch in Wirtschaft und Politik werden Verhältnismäßigkeit und Spätfolgen wenig beachtet. In dem Bestreben, tatkräftig, zupackend, vorausschauend zu scheinen, gehen diese Werte verloren.

Diese Entwicklung führt die modernen Gesellschaften mehr und mehr in eine dekontextualisierte Ethik. Dekontextualisiert heißt: Werte werden aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden zum Superlativ übersteigert, sobald sich Zweifel melden. Sie spalten den Blick auf die Welt. Sie verlieren den Bezug zur Realität und ersetzen ihn durch Hinweise auf festen Glauben und unbedingte Willenskraft. Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird diese Moral zu einem Mittel, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern und in der Folge Menschen zu zerstören.

Charakteristisch für die Helikoptermoral ist das schnelle, dramatische Urteil, das die klassische Gewaltenteilung völlig ignoriert: Anklage ist Schuldspruch. Der Beschuldigte verliert Stellung und Ansehen, ehe die Vorwürfe geklärt sind. Die Helikoptermoral steht für eine Art moralischer Punktlandung, die mächtig Wind macht, alles durcheinanderwirbelt und mit viel Getöse oft so schnell wieder abhebt, wie sie landete. Sie ist mit dem Terrorismus insofern verwandt, als auch sie viel Theatralisches hat und sich der Orientierung an einem stabilen Austausch, an Versöhnung und Toleranz entzieht.

Während in einem »ordentlichen« Prozess die Vermutung gilt, der Angeklagte sei so lange unschuldig, bis seine Schuld zweifelsfrei bewiesen ist, wird unter der Macht der Helikoptermoral dieses Rechtsgut geradezu umgedreht. Es geht nicht um einen Menschen, dessen Persönlichkeit so lange geschützt ist, bis die Schuldfrage geklärt werden kann, sondern es geht um die Interessen der Insassen in den Moralhelikoptern, die den Angeklagten missbrauchen, um ihre geltungsbedürftigen Urteile durchzusetzen. Gegenüber dem von den Helikopterflügeln aufgewirbelten Shitstorm ist der Gerichtssaal selbst für Menschen, deren Tätigkeit von der Öffentlichkeit geprägt ist, der reinste Fronturlaub.

So unfertig kann eine Ermittlung gar nicht sein, sie wird jemandem zugespielt und steht Stunden später im Internet. Sobald die Öffentlichkeit mit Vorverurteilungen getränkt ist, wird kaum ein Gericht noch wagen, ein Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen, weil die Beweislage für eine Anklage nicht ausreicht. Man will sich doch nicht dem Verdacht aussetzen, mit ungleichem Maß zu messen, und schon gar nicht den Sturm der Entrüstung auf sich selbst ziehen.

Die Schere zwischen einer gerechten Strafe für Verfehlungen und einem zerstörten Leben öffnet sich immer weiter. Das Moralgeschrei übertönt jede nüchterne Frage, was denn nun wirklich geschehen ist. In Zeiten der Helikoptermoral explodiert angesichts eines ersten Verdachts das bisher gesammelte Ansehen. Die Scherben treffen die Umstehenden, drohen ein paar weitere Karrieren zu ruinieren. Für die Schäden steht niemand gerade.

Nun ist Medienschelte selbst ein Teil der Helikoptermoral und bietet einen kommoden Platz für Rechthaberei. Interessanter sind die Bedürfnisse und vor allem die Ängste, die sich hier bemerkbar machen. Es geht in der Helikoptermoral um den Umgang mit eigenen Schwächen und um einen inneren Kampf, den der Theatermacher Thomas Ostermeier jüngst so zusammengefasst hat: »Entscheidet man sich für den selbstironischen Blick auf die eigenen Schwächen – oder entscheidet man sich für die manisch-depressive Form und schießt gegen andere, weil man die eigenen Schwächen nicht aushält?« 4

Die Helikoptermoral ist eine Moral, die gefährlich wird, weil sie reale Unsicherheit verleugnet und die Schwächen der Urteilenden nicht nur geräuschvoll abwehrt, sondern diesen im Beifall der Massen erlaubt, gleichzeitig Richter und Henker zu werden.

Anmerkungen

1 Mareen Linnartz: »Familie: Im Aufsichtsrat«, in: Süddeutsche Zeitung vom 03.01.2015.

2 Haim G. Ginott: Between Parent and Child. New York 1969, S. 18: »Mother hovers over me like a helicopter.«

3 Wendy Mogel: The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children. New York 2001.

4 »Das war meine Rettung: ›Humorvoll zu bleiben ist bis heute mein Überlebensmittel‹«, Interview mit Thomas Ostermeyer, in: Zeit-Magazin 4/2015, S.46.

1 / Lokal lachen, global hassen

Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo gehörte zu den wenigen in der Welt, die im Februar 2006 die Mohammed-Karikaturen aus der größten dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten nachgedruckt hatten. Seit diesem Datum wissen auch die, die es bisher nicht wissen wollten, dass die Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts ungeeignet sind, Phänomene einer globalisierten Welt zu verstehen.

Ein Konzept wie Pressefreiheit ergibt Sinn, solange es kein Internet gibt und nur Menschen eine dänische Zeitschrift lesen, die in einem langen Entwicklungsprozess begriffen haben, dass in einer zivilisierten Gesellschaft die eigene Freiheit immer auch die des Andersdenkenden ist. Karikaturen sind in diesem Denkmodus Bilder, die man anschauen oder aber ignorieren kann. Sie sind geschmacklos, aber kein Sakrileg; wer sich über sie ärgert, kauft eine Zeitung nicht mehr oder schimpft in einem Leserbrief.

Heute reisen Bilder in kürzester Zeit um den Globus, werden gepostet, gebloggt, getwittert. So landen sie auch in Kulturen, in denen Emotionen mächtig sind und die Rechtssicherheit des Einzelnen minimal ist, in Gruppen, die sich nach dem Reichtum Europas sehnen, aber auch den Affekt nähren, von den entwickelten Gesellschaften ausgenützt worden zu sein. Das macht Spott unerträglich. Und wie es im Westen Karikaturisten gibt, die (fast) alles dafür tun, um aufzufallen, gibt es dort wütende Prediger, die ebenfalls (fast) alles tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die einen im Namen der Freiheit, die anderen im Namen Allahs, letztlich aber beide im Namen des Events, der narzisstischen Gratifikation. Die einen werben um Aufmerksamkeit unter den Anhängern der (Konsum-)Freiheit, die anderen unter den Gläubigen der Umma, der Gemeinschaft der Muslime. Beide Zuschreibungen, Sprecher einer Gruppe zu sein und deren Werte und Interessen zuzuspitzen und zu veröffentlichen, sind willkürlich.

Die Jyllands-Posten und ihr Karikaturist Kurt Westergaard waren im Jahr 2010 das Ziel von Anschlägen gewesen. Nachdem Charlie Hebdo im September 2012 weitere Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, wurde der Chefredakteur Stéphane Charbonnier in einem dem al-Qaida-Zweig im Jemen zugeschriebenen Web-Magazin Inspire »zur Fahndung« ausgeschrieben unter den Slogans »Eine Kugel am Tag schützt vor Ungläubigen« und »Verteidigt den Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm«.

Wer Inspire im Internet aufruft, blickt in eine perfide Ecke der Globalisierung. Modern aufgemacht und grafisch viel besser als alles, was ich jemals im Jemen an englischsprachigem Druckwerk gesehen habe, wird mit pseudotheologischen Argumenten der Mord an Zivilisten gerechtfertigt, weil er »wirkungsvoller« ist als die Tötung von Soldaten, mit der die soziale Umgebung ohnehin rechnet (dass es auch etwas gefährlicher ist, Soldaten umzubringen, verschweigt des Kämpfers Höflichkeit). Je mehr Schläge gegen Zivilisten, desto mehr Unsicherheit in den USA und in Europa, desto mehr Zweifel, ob es sich noch lohnt, Israel zu unterstützen.

Dann kommt die Anleitung zum Bau einer Autobombe aus sechs Haushaltsgasbehältern, einer Sauerstoffflasche, ein paar Ventilen, einem Druckmesser und Glühbirnchen, die mithilfe einer Autobatterie und etwas Epoxid-Kleber perfekte Zünder abgeben. Diese Bombe kann zwar keine Wolkenkratzer zum Einsturz bringen, aber an belebten Plätzen viele Menschen töten, den Feind schwächen, Allah zum Sieg verhelfen.

Wenn du, spricht der Autor weiter vertraulich zu seinen »Brüdern«, den einsamen Wölfen in den USA und anderswo, ein Märtyrer werden willst, bleibst du im Auto sitzen, wenn du die Zünderlämpchen kurzschließt. Und wenn du mit heiler Haut davonkommen möchtest, benutze eine Fernsteuerung, wie man sie für Spielzeugautos oder Modellflieger kaufen kann.

Nach der Lektüre bleibt ein Gefühl von Unwirklichkeit. Auf den Bildschirm des heimischen Computers in Mitteleuropa flattert ein Gemisch aus Frömmigkeit und Brutalität. Wer produziert das? Ist es wirklich al-Qaida, ist es die CIA, die Bauanleitungen für Bomben liefert, welche den Terroristen unter den Händen explodieren? Werde ich jetzt überwacht, weil ich so etwas aufrufe? Warum legen die Hacker der NSA nicht den Server lahm, der solche Nachrichten unter die Leute bringt? Darf man denn die Menschen so verhetzen? Darf ich es lesen? Ist das nicht genauso arg wie der Konsum von Kinderpornografie?

Diese Fragen verdeutlichen, wie wenig ich aus meinen moralischen Traditionen heraus solchen Situationen gewachsen bin. Was die RAF in meiner Jugend an Unsinn über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes geschrieben hat, mutet gegenüber Inspire rational, nachvollziehbar und harmlos an.

Am 7. Januar 2015 zwangen zwei maskierte Männer eine Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, die durch einen Code gesicherte Tür zu den Redaktionsräumen für sie zu öffnen. Dort trafen sich zu dieser Zeit Zeichner, Redakteure, Kolumnisten. Ein Polizist sollte für Sicherheit sorgen, kam aber nicht einmal dazu, seine Waffe zu ziehen. Die Täter eröffneten sofort das Feuer; schon vor dem Eindringen in die Redaktionsräume hatten sie Frédéric Boisseau, den Hausmeister des Gebäudes, erschossen. In den Räumen selbst wurden zehn Menschen getötet, darunter der Herausgeber und Zeichner Stéphane Charbonnier (»Charb«), die Zeichner Jean Cabut (»Cabu«) und Bernard Verlhac (»Tignous«).

Auch eine Psychoanalytikerin war unter den Opfern: Elsa Cayat schrieb die zweiwöchentliche Kolumne »Charlies Couch« (Charlie Divan), in der sie sexuelle Probleme ebenso wie politischen und religiösen Fanatismus abhandelte. Sie arbeitete normalerweise in ihrer Praxis, war aber zur Redaktionskonferenz gekommen. Die Attentäter kannten den Terminplan und wollten möglichst viele »Ziele« treffen.

Die Täter, zwei Brüder, wurden später gestellt und erschossen. Sie stammten von algerischen Migranten, hatten zerrüttete Familienverhältnisse, eine Heimkindheit, Arbeitslosigkeit und Kleinkriminalität hinter sich. Der Terror von al-Qaida weckte ihre Aufmerksamkeit für den Islam, der sie bis dahin kaum interessiert hatte. In einer Moschee und im Gefängnis festigte sich ihr Islamismus.

In den Reaktionen auf das Attentat lassen sich einige Themenblöcke bilden:

1. Moralische Empörung: sehr brutale, sehr verbrecherische, sehr feige Tat, unvereinbar mit Menschenwürde und Menschenrecht, der schlimmste Anschlag auf die Werte des Westens. So die Rede praktisch aller in den Medien zitierten Politiker, von Obama bis Putin. Sprachlich ist so etwas wie ein neuer Kolonialismus gegen neue Wilde entstanden. Seit dem Angriff auf die Twin Towers hat sich die Redeweise der »zivilisierten Welt« verändert. Wo früher militärische Ausbildungslager waren, sprechen wir jetzt von »Terrorcamps«, wo sich Terrorismus früher gegen die staatliche Ordnung richtete, gibt es inzwischen einen »Terrorstaat«. Geprägt vom eigenen Standpunkt werden die Selbstzuschreibungen der Bezeichneten in diesem neuen Sprachgebrauch ignoriert. Während ältere kolonialistische Begriffe wie Neger, Zigeuner, Eskimos, Kanaken als politisch unkorrekt zurückgenommen wurden, erleben wir hier die Einführung von neuen Bezeichnungen. 2. Gefühl der Bedrohung: Anschlag auf die Pressefreiheit und die Freiheit von Satire, Anlass zur Stärkung des Rechtsextremismus, zu Religionskriegen im zivilisierten Europa. Tatsächlich hat die extreme Rechte in Frankreich die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert. Die Aktienkurse fallen. 3. Solidarität: Plakate und Unterschriftenaktionen mit dem Slogan »Je suis Charlie« verbreiten sich überall. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Mohammed-Karikaturen sind noch nie so oft nachgedruckt worden wie nach diesem Attentat. Charlie Hebdo steigert die Auflage von normal höchstens 60 000 auf fünf Millionen. Im Münchner Hauptbahnhof stehen Menschen, die bis vor ein paar Tagen niemals auf den Gedanken gekommen wären, ein solches Blatt zu lesen, in einer langen Schlange, um ein Exemplar zu bekommen.

Wer die Szene jetzt nicht verlässt, sondern das Schicksal von Charlie Hebdo weiterverfolgt, begegnet Überraschungen. Eine davon ist der immense finanzielle Erfolg, den die Attentäter den Kapitaleignern bescherten, die nun plötzlich viele Millionen verdienten. Die Auflage verließ zwar schnell wieder den Gipfel, ist aber ein halbes Jahr später immer noch zehnmal so hoch wie vor dem Massenmord in der Redaktion.

Aber es gibt auch Streit. Am 18. Juni 2015 titelte die Zeit: »Keiner will mehr Charlie sein«; ihr Dossier rankt sich um die junge Journalistin Solène Chalvon, die nach dem Attentat engagiert wurde, um die Proteste über die ungerechte Verteilung des »Blutgeldes«, um den Streit in der Redaktion, wie es weitergehen soll, die Kündigung einer arabischen Mitarbeiterin wegen Unzuverlässigkeit – und endlich auch um die Frage: Dient es der Sache des säkularen Staates, Menschen zu provozieren, die keine Ahnung haben, was dieser Fortschritt an Respekt für die Meinung des Andersdenkenden für sie bedeuten könnte? Die Zeitung plant jetzt einen Neustart, die Chefredakteure klagen über einen Mangel an talentierten Zeichnern, die Frage, ob die Millionen den bisherigen Aktionären gehören oder eine Stiftung gegründet wird, an der die Verwundeten, die Angehörigen der Opfer und die aktiven Journalisten beteiligt sind, ist nicht entschieden.

Als Freud vom Unbehagen in der Kultur sprach und zweifelte, dass der im 19. Jahrhundert gefeierte Fortschritt die Lage der Menschen bessern werde, hielten ihn viele für einen Pessimisten. Aber viele Beobachtungen geben ihm nachträglich recht. Die Abschaffung der Sklaverei und eine Gesetzgebung, die der Emanzipation bisher ausgeschlossener Gruppen (wie der Juden) diente, hatten nach dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs intolerante, reaktionäre Gruppen geweckt, die in Deutschland und Italien besonders viel Schaden angerichtet haben. Sie sind nicht ausgelöscht, im Gegenteil. Und als sei das nicht genug, sind in einer lange für friedlich und träumerisch gehaltenen Weltreligion bösartige Extreme entstanden, die das faschistische Modell globalisieren.

Wenn ein Grieche oder Römer der heidnischen Zeit in Ägypten, auf der Krim oder in Großbritannien landete – an keinem Ort dachte er, er würde einen wahren Gott zu Götzendienern bringen. Er fand in den Tempeln der Eingeborenen die eigenen Götter unter anderen Namen. Seit der Reisende Christ ist oder Muslim, behauptet er, nur der eigene Gott sei wahr, der Gott des Eingeborenen aber ein armseliger Götze, wenn nicht der Teufel selbst.

Das hier als Helikoptermoral beschriebene Phänomen entspricht einer hektischen Wiederaufnahme der missionarischen Geste in der Eventgesellschaft. Je weniger die Allgemeingültigkeit eines Wertes gesichert ist, desto lauter wird er wiederholt und unterstrichen. Die Moral reguliert nicht mehr das Urteil über die Ereignisse, sondern die Ereignisse prägen die Äußerungen der Moral.

Für die meisten Muslime ist die Karikatur des Propheten nicht akzeptabel. Nur eine winzige Minderheit reagiert mit Gewalt. Muslime distanzieren sich nach jedem Anschlag von den Terroristen, die im Namen ihres heiligen Buches morden. Aber es nützt ihnen nicht. Sie werden mit den Terroristen zusammen gesehen.

Als die Akteure des Islamischen Staates ihre ersten Kopfabschneider-Videos ins Netz stellten, schufen Muslime im Internet den Hashtag #notinmyname, nicht in meinem Namen. Er fand viele Tausend Anhänger – aber gleichzeitig wuchs die Zahl von #killallmuslims, tötet alle Muslime.

Wer Angst hat, wünscht sich tausendmal mehr als Einsicht in die Hintergründe seiner Angst eine schnelle Lösung. Diese Lösung lässt sich nach dem Diktat der Angst in zwei Richtungen finden. Die eine ist der Angriff auf das Bedrohliche und seine Symbole; die andere ist die Flucht an einen sicheren Ort. Nach einem uralten Erlebnismodell ist der Mitmensch, der sich mit mir über die Bedrohung einig ist, ein solcher sicherer Ort. Solange ich in den Schwarm der gleich mir über die Zukunft Besorgten hineinfliehen kann, fühle ich mich sicher vor der Bedrohung und tue das mir Mögliche, sie zu bekämpfen.

Wenn Fanatiker angefeindet werden, wird ihnen das nicht zu Reue und besserer Einsicht verhelfen. Es wird sie vielmehr darin bestärken und gleichzeitig weiter ihre Ängste schüren. Was sie tun, hat Wirkung, sie sind auf dem richtigen Weg. Aber sie finden auch Feinde, die Medien hetzen gegen sie, das Abendland ist bedroht wie zu Zeiten, als die Griechen gegen die Perser oder der tapfere Bischof Ulrich auf dem Lechfeld gegen die Hunnen kämpfte!

In einem Internetmagazin hat nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo ein französischer Muslim geschrieben: »Ihr seid einen Tag Charlie, wir aber sind jeden Tag Gaza.« 1

Ironie und Satire haben mehrere Schichten: Indem sie beleidigen, wollen sie auch aufklären; der seelische und soziale Gewinn kann in einem befreienden Lachen liegen, in einer Stimmung gegen bedrückende Moral und totalitaristischen Druck, wie er sich ja in jeder Religion entwickeln kann, die an einen Gott glaubt und die Dynamik des privilegierten Sprechers dieses Gottes fördert.

Wie in den Mohammed-Karikaturen deutlich geworden ist, wird dieser Prophet zum Scharnier. Gott ist ungreifbar und unangreifbar, Allah lässt sich nicht karikieren, wohl aber sein Sprecher auf Erden – und gerade deshalb erregt diese Karikatur auch so viel Zorn, Abscheu und in extremen Reaktionen auch den Impuls zur Blutrache. Dieser wiederum kann in kühlem politischem Kalkül missbraucht und eingesetzt werden. Den modernen Organisatoren des Terrors ist wohlbekannt (und sie berufen sich auch darauf), was es die Industrienationen kostet, zu verhindern, dass beispielsweise auf den ersten Blick bizarr anmutende Anschläge nicht ein zweites Mal doch gelingen.

Der als »Schuhbomber« bekannte Richard Reid war im März 2003 in den USA wegen des versuchten Anschlags auf ein Flugzeug zu insgesamt mehreren Hundert Jahren Haft verurteilt worden. Passagiere und Besatzung überwältigten Reid, als er am 22. Dezember 2001 versuchte, einen in seiner Schuhsohle versteckten Sprengsatz mit Streichhölzern zu zünden. Das Flugzeug mit 197 Insassen landete außerplanmäßig, aber sicher in Boston. Die westlichen Medien machten sich über den Amateur lustig; in der al-Qaida-Propaganda wurde ausgerechnet, um wie viel die jetzt verschärften Sicherheitsbestimmungen die »Feinde« schwächen. Wer seither fliegt, muss Reid ein paar Minuten opfern; in der Bilanz sind das viele Milliarden Dollar.

Inzwischen gibt es in den europäischen Karikaturen auch einen selbstironischen Gott, der sagt, er brauche keine Kämpfer; wenn ihm etwas nicht passe, werde er sich selbst darum kümmern. Aber leider gibt es eben auch die manischen Krieger, die auf gar keinen Fall auf Gottes Namen verzichten können, um sich über die eigenen Schwächen zu erheben.

Als sich die Psychoanalyse 2003 zum ersten Mal mit dem »explosiven Narzissmus« der Attentate beschäftigte, wurde auch die Verführungskraft der Rolle des Glaubenskämpfers für europäische Konvertiten beschrieben, die sich selbst und anderen aus Unsicherheit, Angst und Verwirrung heraus Mut zu radikaler Entschlossenheit machten.2 Die Ereignisse seither bestätigen das auf dramatische Weise.

Nach terroristischen Morden von Islamisten richten sich drängende Bitten an die Gemeinden der großen Moscheen in Europa. Die große Mehrheit der Gläubigen stehe für einen Islam, der Dschihad als »frommes Bemühen« und »Glaubenseifer« übersetzt, nicht als wahllosen Mord. Könnt ihr nicht eure jungen Männer in den Griff bekommen?

Wie schwer das ist, schildert Hakan Tanriverdi 3 in einem Essay über einen bekannten Imam in Berlin. Taha Sabri wurde jüngst von einem Trupp junger Salafisten bewusstlos geschlagen, weil er in seiner Predigt deutliche Worte gegen den Terror fand, der dem Propheten noch weit mehr schade als jede Karikatur. Sabri nennt die Dschihadisten geradeheraus Verbrecher, was andere Vorbeter gerne vermeiden, weil sie die Rache der Fanatiker fürchten.

Das waren kleine Jungs, die meisten arbeitslos. Die haben sich plötzlich das islamische Glaubensbekenntnis auf ihre T-Shirts gedruckt. Aber sie waren so ungebildet, dass sie damit auf die Toilette gegangen sind. So spricht der ehemalige Vorstand einer Moschee in Dinslaken-Lohberg über die Dschihadisten, die aus seiner Stadt in den Krieg nach Syrien gezogen sind. Er versucht, seine Welt vor der Infektion durch die IS-Kämpfer auf eine Weise zu schützen, die mich an die bildungsbürgerliche Reaktion auf Hitler erinnert: Wie kann jemand, der so »primitiv« ist, eine ernsthafte Auseinandersetzung erwarten? Diese jungen Männer kennen ja nicht einmal die einfachsten Reinheitsgebote des Islam!

Auch die Fanatiker beten in der Moschee, aber sie wollen nichts lernen, sie glauben, es schon besser zu wissen. Die Moschee der Entwurzelten ist das Internet. Dort finden sie auf vielen, gut gemachten Seiten genau die Botschaft, die sie hören wollen. Gläubige, die sich differenziert mit dem Koran auseinandersetzen wollen, haben keine Chance gegen die Vereinfachungen dort.

Es gibt kein Rezept gegen den schlechten Gebrauch guter Lehren

Die Botschaft Christi wurde benutzt, um Kreuzzüge zu führen, Ketzer und Hexen zu verbrennen, den Mord an Gynäkologen zu rechtfertigen. Der Koran legitimiert den Massenmord an Unschuldigen, selbst an »ungläubigen« Muslimen.

Wenn sich heute Populisten und Terroristen geistig aus dem Internet ernähren, weckt das Zweifel an dem frommen Glauben, dass Menschen sich der Demokratie nähern und Verständnis für Gedankenfreiheit entwickeln, wenn sie unzensierten Zugang zu allem Wissen der Welt haben. Dieser Aberglaube tauchte während des Arabischen Frühlings in vielen Berichten auf: Wo die Jugend twittert, haben Diktaturen keine Chance. Die Ereignisse bestätigen aber: Demokratie beruht auf der Haltung, den Andersdenkenden zu respektieren, nicht auf dem Wissen (und der Rhetorik) über Volk, Verfassung und Freiheit.

Jan-Werner Müller hat darauf hingewiesen, dass Populismus der Schatten einer repräsentativen Demokratie ist, weil er demokratische Sprachformen missbraucht, um einen moralischen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen.4 Populisten behaupten, für das Volk zu sprechen – und zwar für das ganze Volk, nicht für die Menschen, die ihnen zujubeln. Wer anders denkt, egal ob er ein Gegendemonstrant ist oder ein Abgeordneter, der 20 000 Wählerstimmen für sich gewann, spricht nicht für das Volk, ist nicht das Volk.

Populisten schaffen durch die grandiose Ausweitung des eigenen Ich-Ideals ein wahres und moralisch überlegenes Volk, das von korrupten Eliten nicht wahrgenommen und unterdrückt wurde. Eine verbreitete Floskel in diesem Zusammenhang ist die »schweigende Mehrheit« 5 – wenn sie nicht schwiege, sondern ihm ihre Stimme gäbe, hätte der Populist längst die Macht.

»Diese Diskrepanz zwischen gefühlter moralischer Mehrheit und empirischer Marginal-Existenz muss erklärt werden. Deshalb die Anfälligkeit von Populisten für Verschwörungstheorien«, sagt Müller dazu.6 »Wir sind das Volk« kann so gerade in Deutschland zu einer gefährlichen Formel werden; was in einer Diktatur die eindrucksvolle Geste großer Demonstrationen ist, wird in einer repräsentativen Demokratie zum Popanz. Müller hält es für einen Fehler, das populistische Spezifikum des moralischen Alleinvertretungsanspruchs zu psychologisieren, es auf die Ängste vor Globalisierung und Modernisierung zurückzuführen. Er fordert, die Populisten an ihren Ausgrenzungen zu erkennen, nicht an ihren Gefühlen; wer von Sorgen, Ressentiments und Ängsten spricht, gerät in die Nähe einer Gruppentherapie und behandelt Menschen von oben herab, die er auf Augenhöhe bekämpfen sollte.

Ich teile diese Abneigung gegen eine Reduktion mithilfe der Psychologie, in der ein Gegenüber zum Opfer irrationaler Mächte erklärt wird, welche dem Urteilenden bekannt sind, dem Opfer aber nicht plausibel gemacht werden können. Psychologische Fragen im öffentlichen Raum sollten in einer Weise gestellt werden, die den Befragten nicht zum Patienten macht. Patienten müssen sich erst einmal selbst als solche bestimmen, sonst gerät die Psychologie in die Nähe des taktlosen Übergriffs.

Wer aber nicht die triviale Überschätzung der Psychologie kritisiert, sondern den ganzen Ansatz zurückweist, beraubt sich einer wichtigen Möglichkeit, komplexe Situationen besser zu verstehen. Ohne das Wissen über Ängste, Idealisierungen, Geborgenheits- und Größenwünsche bleibt die Eilfertigkeit und Radikalisierung moderner Bewegungen unerklärlicher, als sie sein muss. Die manische Abwehr ist das Bindeglied zwischen der Helikoptermoral und den Verschwörungstheorien.

Nach psychologischen Studien neigen Personen, die politisch extreme Ansichten vertreten, auch weit mehr zu fantastischen Konstruktionen, in denen hinter dramatischen Ereignissen oder unliebsamen Problemen geheime Mächte stecken, die nur wenigen bekannt sind. Ein Team der Universität Amsterdam hat insgesamt mehr als 2000 Holländer befragt und herausgefunden, dass sowohl Rechtsradikale wie Linksradikale öfter an Verschwörungen glauben.7

Wer vor der Einsicht erschrickt, dass die moderne Gesellschaft komplex ist und einzelne Menschen viele ihrer Entwicklungen nicht verstehen, geschweige denn beeinflussen können, sucht nach plakativen Lösungen, die er in Schwarz und Weiß ausmalt. Wer beispielsweise glaubt, dass die Selbstmordattentate auf die Twin Towers in New York nicht von islamistischen Desperados organisiert und ausgeführt wurden, presst diesem grausamen und überraschenden Ereignis den narzisstischen Gewinn ab, es »wirklich« zu verstehen. Es beruhigt ihn darüber hinaus, nicht unberechenbare Fanatiker, sondern eine vorausschauend planende, wenngleich rücksichtslose Organisation – in der Regel die CIA – am Werk zu sehen. Mit der CIA leben wir schon lange, sie ist nicht neu, und sie wird sich zufriedengeben, wenn sie ein Fanal gesetzt und dadurch den Amerikanern einen Vorwand geliefert hat, die Ölquellen zu besetzen, die diese schon immer haben wollten.