Helliconia: Frühling - Brian W. Aldiss - E-Book
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Helliconia: Frühling E-Book

Brian W. Aldiss

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Beschreibung

Helliconia ist ein Planet in einem Doppelsternsystem, auf dem ein Jahr zweieinhalb Tausend irdische Jahre dauert. Nach mehr als tausend Jahren erbarmungslosem Winter beginnen die Gletscher auf Helliconia zurückzuweichen. Das erste Grün zeigt sich, die Tierwelt erwacht. Nun kehren auch die Menschen, Nachfahren der Forscher, die diese Welt einst entdeckten, an die Oberfläche ihres Planeten zurück – doch zuerst müssen sie die Fesseln der Barbarei abschütteln und sich von der Unterdrückung der einheimischen Phagoren befreien ...

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BRIAN W. ALDISS

 

 

 

HELLICONIA:

FRÜHLING

 

 

 

Die Helliconia-Trilogie

Band 1

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Helliconia ist ein Planet in einem Doppelsternsystem, auf dem ein Jahr zweieinhalb Tausend irdische Jahre dauert. Nach mehr als tausend Jahren erbarmungslosem Winter beginnen die Gletscher auf Helliconia zurückzuweichen. Das erste Grün zeigt sich, die Tierwelt erwacht. Nun kehren auch die Menschen, Nachfahren der Forscher, die diese Welt einst entdeckten, an die Oberfläche ihres Planeten zurück – doch zuerst müssen sie die Fesseln der Barbarei abschütteln und sich von der Unterdrückung der einheimischen Phagoren befreien …

 

 

Die Helliconia-Trilogie von Brian W. Aldiss:

Helliconia: Frühling

Helliconia: Sommer

Helliconia: Winter

 

Der Autor

Brian Wilson Aldiss, OBE, wurde am 18. August 1925 in East Dereham, England, geboren. Nach seiner Ausbildung leistete er ab 1943 seinen Wehrdienst in Indien und Burma, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er bis 1947 auf Sumatra, ehe er nach England zurückkehrte, wo er zunächst als Buchhändler arbeitete. Dort begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, anfangs noch unter Pseudonym. Seinen Durchbruch hatte er mit Fahrt ohne Ende, einem Roman über ein Generationenraumschiff. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der lange Nachmittag der Erde, für das er 1962 mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Helliconia-Saga, mit der er den BSFA, den John W. Campbell Memorial Award und den Kurd Laßwitz Preis gewann. Brian Aldiss starb am 19. August 2017 im Alter von 92 Jahren in Oxford.

 

Erfahren Sie mehr über Brian W. Aldiss und seine Werke auf

www.diezukunft.de

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Titel der Originalausgabe

 

HELLICONIA SPRING

 

Aus dem Englischen von Walter Brumm

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1982 by Brian W. Aldiss

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-25657-9V001

INHALT

 

Das Buch

Der Autor

Inhalt

Zitat

Einleitung – YULI

EMBRUDDOCK

I – Tod eines Großvaters

II – Die Vergangenheit, die wie ein Traum war

III – Ein Sprung vom Turm

IV – Günstige Temperaturgradienten

V – Doppelter Sonnenuntergang

VI – »Als ich ganz benebelt war …«

VII – Ein kaltes Willkommen für Phagoren

VIII – In Obsidian

IX – Mit und ohne Hoxnerfell

X – Laintal Ays Leistung

XI – Als Shay Tal ging

XII – Herr der Insel

XIII – Herr des Geldes

XIV – Durch das Nadelöhr

XV – Brandgeruch

Zitat

Anhang mit Karten und Erläuterungen von Erhard Ringer

Karte Helliconia politisch

Karte Helliconia geographisch

1. Das Doppelsternsystem Freyr/Batalix

2. Helliconia

3. Der Einfluss der Sonnen auf Helliconia

4. Das Helico-Virus

 

 

 

 

Warum sind so viele heroische Taten immer wieder in Vergessenheit geraten und fanden keinen Schrein in überdauernden Monumenten des Ruhmes? Die Antwort ist, so glaube ich, dass diese Welt neu gemacht ist; ihr Ursprung ist ein jüngst vergangenes Ereignis, nicht eines aus ferner Vorzeit.

Dies erklärt, warum manche Künste noch jetzt vervollkommnet werden: der Prozess der Entwicklung dauert noch an. Ja, und es ist nicht lange her, seit die Wahrheit über die Natur zuerst entdeckt wurde, und ich selbst bin noch heute der erste, der sich fand, diese Erkenntnis in meine Muttersprache zu fassen …

 

Lukrez: De rerum natura

55 v. Chr.

EINLEITUNG

 

YULI

 

Wie Yuli, Sohn des Alehaw, zu einem Ort namens Oldorando kam, wo seine Nachfahren in besseren zukünftigen Zeiten leben und wirken sollten.

 

Yuli war neun Jahre alt, fast ein Erwachsener, als er neben seinem Vater in einem aus Häuten genähten Zelt kauerte und über die Wildnis eines Landes hinblickte, das schon damals als Campannlat bekannt war. Vom Ellbogen des Vaters aus seinem leichten Schlummer wachgestoßen, hörte er seine raue Stimme sagen: »Der Sturm lässt nach.«

Der Sturm blies seit drei Tagen aus dem Westen und führte Schnee und Eispartikel von der Barriere mit. Wie eine gewaltige Stimme, der kein Mensch standhalten konnte, füllte er die Welt mit heulender Energie und verwandelte sie in grauweiße Dunkelheit. Die Felsleiste, auf der sie biwakierten, bot wenig Schutz vor dem schlimmsten Toben des Schneesturmes; Vater und Sohn konnten nichts tun als in der Enge unter den Häuten liegen, schlafen und von Zeit zu Zeit an einem Stück Räucherfisch kauen, während das Unwetter über ihren Köpfen brauste.

Mit dem Nachlassen des Windes lockerten die Wolken auf, und der Schnee kam in Schauern, die als weiße Wolken über die öde Landschaft hinzogen. Obgleich Freyr hoch am Himmel stand – denn die Jäger befanden sich in den tropischen Breiten –, schien er wie gefroren dort zu hängen. Das Licht schimmerte in golden wallenden Bändern, deren Säume bisweilen den Boden zu berühren schienen, um sich zurückzuziehen, bis sie im bleiernen Zenit verschwanden. Trotz des prächtigen Schauspiels verbreitete das Licht wenig Helligkeit und keine Wärme.

Vater und Sohn erhoben sich, reckten sich, stampften mit den Füßen und schlugen sich die Arme um die tonnenförmigen Oberkörper. Keiner der beiden sprach. Es gab nichts zu sagen. Der Sturm war vorüber. Dennoch mussten sie warten. Bald, das wussten sie, würden die Yelke hier sein. Sie brauchten ihre Wache nun nicht viel länger aufrechtzuerhalten.

Obwohl das Gelände uneben und zerrissen war, zeigte es unter der Decke aus Eis und Schnee kaum auffällige Merkmale. Nur im Norden, wo eine Wolkenbank vor dem Bergland hing und gleich einem übermäßig gedehnten Arm auf die See herabhing, gab es kahle, dunkelgraue Felsabsätze. Hinter den beiden Männern lag höheres Hügelland, gleichfalls bedeckt mit eintönigem Weiß. Die Blicke der beiden gingen jedoch immer wieder nach Osten. Nach einer Weile des Herumstampfens und Mit-den-Armen-Schlagens, als sie die Luft mit dem nebligen Dampf ihres Atems angefüllt hatten, krochen sie wieder unter die Häute, um zu warten.

Alehaw legte sich auf den Bauch, einen pelzumhüllten Ellbogen auf den Felsboden gestützt, stemmte den Daumen in die Höhlung der Wange unter dem Jochbein und stützte so den Kopf, während er die Augen mit vier behandschuhten Fingern beschirmte.

Sein Sohn wartete mit weniger Geduld. Er wand und regte sich unruhig in seinen zusammengenähten Fellen. Weder er noch sein Vater waren für diese Art von Jagd geboren. Ihr Leben und das ihrer Vorväter war die Bärenjagd in den unwegsamen Hochländern entlang der Eisbarriere gewesen. Aber eine durchdringende, aus den hohen Sturmscharten der Barrieren fegende Kälte, begleitet von immer häufigeren Schneestürmen, hatte sie zusammen mit der kranken Onesa herunter in die Ebenen getrieben, wo milderes Wetter herrschte. So war Yuli unruhig und aufgeregt.

Seine leidende Mutter und seine Schwester waren mit der Familie seiner Mutter einige Meilen entfernt; die Onkel hatten sich mit dem Schlitten und ihren Speeren aus Knochen und Elfenbein hoffnungsvoll zur Küste aufgemacht, um ihr Glück auf der zugefrorenen See zu versuchen. Yuli überlegte, wie es ihnen in dem tagelangen Sturm ergangen sein könnte, und ob sie zu dieser Stunde fröhlich schmausten und Fisch und Brocken von Seehundfleisch im Bronzekessel seiner Mutter kochten. Er träumte vom Fleischgeschmack im Mund, wie die rauen Fasern sich vor dem Hinunterschlucken mit Speichel sättigten und glätteten, und in seinem hohlen Magen entstand ein unangenehm ziehendes Gefühl.

Sein Vater stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Da, sieh!«

Eine hohe, eisenfarbene Wolkenfront erhob sich rasch in den Himmel, verdunkelte Freyr und breitete Schatten über die Landschaft. Alles war ein verschwimmendes Weiß, ohne klare Konturen. Unter der Felsbank, auf der sie lagen, erstreckte sich ein mächtiger, zugefrorener Strom – der Vark, wie Yuli ihn nennen gehört hatte. So dick war der Fluss mit Schnee bedeckt, dass niemand ihn als einen solchen erkennen konnte, es sei denn, er ging hinüber. Bis zu den Knien im pulvrigen Schnee einherstapfend, hatten sie unter ihren Tritten ein leises Dröhnen vernommen; Alehaw war stehengeblieben, hatte das spitze Ende seines Speeres auf das Eis gesetzt, das stumpfe Ende ans Ohr gelegt und dem dunklen Fließen des Wassers irgendwo unter ihren Füßen gelauscht. Das jenseitige Ufer des Vark war undeutlich markiert von Hügeln und Böschungsstreifen, die hier und dort schwarze Abbruchstellen und gefallene Baumstämme zeigte, halb verborgen unter dem Schnee. Dahinter dehnte sich die Ebene eintönig unter ihrer weißen Decke bis zum östlichen Horizont, wo unter den tiefhängenden Wolken eine braune Linie zu erkennen war.

Yuli zwinkerte, spähte zu der Linie hin und strengte seine Augen an. Natürlich hatte sein Vater recht. Sein Vater wusste alles. Vor Stolz ging ihm das Herz auf, wenn er daran dachte, dass er Yuli war, Alehaws Sohn. Die Yelke kamen.

Wenige Minuten später waren die Leittiere auszumachen, die auf breiter Front der Herde vorausgingen und den Schnee mit ihren eleganten Hufen wie in einer Bugwelle aufwirbelten. Sie hatten die Köpfe gesenkt, und hinter ihnen kamen mehr und immer mehr von ihrer Art, ein Zug ohne Ende. Es schien Yuli, dass sie ihn und seinen Vater gesehen hatten und direkt auf sie zukamen. Besorgt blickte er zu Alehaw, der mit erhobenem Finger Vorsicht signalisierte.

»Warte!«

Yuli fröstelte in seinem Bärenfell. Was dort heranströmte, war genug Fleisch, um jeden Angehörigen eines jeden Stammes zu ernähren, auf den Freyr und Batalix jemals geschienen, oder Wutra gelächelt hatte.

Als die wandernde Herde näherkam, gleichmäßig mit dem Tempo eines schnellen Fußgängers dahinziehend, versuchte er zu begreifen, welch eine enorme Herde es war. Inzwischen war die halbe Landschaft angefüllt mit wandernden Tieren, mit den weißlichen und gelbbraunen Farben ihrer Felle, und noch immer erschienen weitere Tiere am östlichen Horizont. Wer konnte wissen, was dort lag, welche Geheimnisse, welche Schrecken? Aber nichts konnte schlimmer sein als die Barrieren mit ihrer vernichtenden Kälte und diesem riesigen roten Mund, den Yuli einmal flüchtig durch die dahinjagenden Wolkenfetzen erblickt hatte, der glühende Lava über den rauchenden Berghang spie …

Nun konnte man sehen, dass die riesige Herde nicht nur aus Yelken bestand, obgleich diese die Hauptmasse ausmachten. Inmitten der Herde waren Trupps größerer Tiere, die wie Ansammlungen von Steinblöcken auf einer in Bewegung befindlichen Ebene von ihrer Umgebung abstachen. Dieses größere Tier ähnelte einem Yelk, besaß den gleichen langschädligen Kopf mit dem eleganten Geweih, das auf beiden Seiten schützend vorgebogen war, der gleichen zottigen Mähne, die ein dickes, verfilztes Fell überdeckte, dem gleichen Rückenhöcker über den Schultern. Aber diese Tiere waren eineinhalbmal größer als die Yelke, die sie umringten. Es waren die gigantischen Biyelke, prachtvolle und zugleich furchterregende Tiere, die zwei Männer zugleich tragen konnten, wie einer seiner Onkel ihm berichtet hatte.

Und ein drittes Tier fand sich in der Herde. Es war das Gunnadu, dessen hocherhobenen Hals Yuli nun allenthalben entlang den Seiten des wandernden Zuges sehen konnte. Während die Masse der Yelke gleichmütig dahintrottete, rannten die Gunnadus auf beiden Seiten wie in ständiger Aufregung hin und her, dass die kleinen Köpfe auf den langen Hälsen zu tanzen schienen. Ihr auffälligstes Merkmal, ein Paar gigantischer Ohren, drehten sich hierhin und dorthin und lauschten den Geräuschen ungesehener Gefahr. Die Gunnadus waren die ersten zweibeinigen Tiere, die Yuli gesehen hatte; die langhaarigen Körper wurden von zwei kraftvollen, sehnigen Beinen getragen. Die Gunnadus bewegten sich mit der zweifachen Geschwindigkeit der übrigen Herde und legten die doppelte Strecke zurück, durch das ständige Hin- und Herlaufen aber blieb jedes Tier im Verhältnis zur Herde, wo es war.

Ein dumpfes Rumpeln wie fernes Donnergrollen begleitete die Annäherung der Herde. Von der Stelle, wo Yuli neben seinem Vater lag, konnten die drei Arten von Tieren nur unterschieden werden, weil er wusste, wonach er Ausschau zu halten hatte. Im trüben, ungewissen Licht verschmolzen alle miteinander. Die schwarze Wolkenfront war rascher vorangekommen als die Herde und bedeckte Batalix nun vollständig: dieser tapfere Wachtposten würde erst nach Tagen wieder zu sehen sein. Ein unordentlicher Teppich aus Tierleibern legte sich über das Land, und die individuellen Bewegungen waren so wenig auszumachen wie die Strömungen in einem turbulenten Fluss.

Über der Herde hing eine Dunstwolke, die sie weiter verhüllte. Sie bestand aus Schweiß, Wärme, Atemdampf und kleinen geflügelten Stechinsekten, die sich nur in der Körperwärme der Herde fortpflanzen konnten.

Staunend und erfüllt von einer rasch zunehmenden Erregung, sah Yuli die Tiere der vordersten Reihe auf das Ufer des zugeschneiten Flusses zukommen. Die Herde kam näher und näher, die Welt schien ein einziges unentrinnbares Tiergewimmel. Yuli wandte den Kopf und blickte in ungeduldiger Bitte zu seinem Vater. Obwohl er die Bewegung seines Sohnes bemerkte, starrte Alehaw unverwandt geradeaus, die Augen unter den knochig vorspringenden Brauenbogen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

»Still!«

Die Herde brandete zum Ufer heran, floss über und strömte über die Böschung herab auf das zugeschneite Eis. Einzelne Tiere, schwerfällige alte und übermütige junge, strauchelten über verborgene Baumstämme, kamen zu Fall und zappelten verzweifelt mit den zierlichen Läufen, bevor sie von der unaufhaltsam nachdrängenden Herde niedergetrampelt wurden.

Nun konnte Yuli Einzelheiten erkennen. Fast alle Tiere trugen die Köpfe gesenkt, und ihre Augen blickten stier, dass das Weiße darin sichtbar war. Von vielen Mäulern tropfte grünlich schaumiger Speichel. Die Kälte ließ den Dampf ihres Atems gefrieren, so dass er sich als Raureif auf Köpfen und Fellen niederschlug. Die Mehrzahl der Tiere schien erschöpft und in schlechtem Zustand, mühte sich keuchend und hustend dahin, die Felle verklebt von angetrocknetem Schlamm oder Blut, wo die Geweihstangen eines Nachbartieres sie verletzt hatten.

Die von ihren geringeren Brüdern umringten Biyelks, deren dichtes graues Fell zottig von den massigen Schultern hing, bewegten sich mit nervösem Unbehagen, rollten mit den Augen und warfen die Köpfe hoch, wenn sie die schrillen Todesschreie der gefallenen Tiere hörten und begriffen, dass vor ihnen eine Gefahr drohte, der sie nicht ausweichen konnten.

Nun überquerte die Herde auf breiter Front den zugefrorenen Fluss und wühlte den lockeren Schnee auf. Die Geräusche drangen in der Stille überdeutlich zu den zwei Beobachtern herüber, nicht allein das vieltausendfache Hufgetrappel, sondern auch das heisere Schnaufen und Keuchen, und ein unablässiger Chor von Grunzlauten, schnaufenden und hustenden Geräuschen, dem Klicken aneinanderschlagender Geweihstangen und dem Geraschel ständig geschüttelter Ohren, um die zudringlichen Stechfliegen zu verscheuchen.

Drei Biyelks kamen die Böschung herab und sprangen auf das Eis. Die Eisdecke knisterte und brach mit wiederholtem, weithin hallendem Bersten. Scharf gezackte Schollenränder von mehr als einem Fuß Stärke schoben sich steil aufwärts, als die schweren Tiere einbrachen. Panik ergriff die anderen. Diejenigen, die auf dem Eis waren, jagten in alle Richtungen auseinander. Viele kamen zu Fall und wurden von den Hufen der nachfolgenden in den Schnee getrampelt. Der Bruch erweiterte sich unter der Last der nachströmenden Herde. Graues Wasser spritzte in die Luft – unter der Eisdecke zog der wasserreiche Fluss noch immer rasch dahin. Nun rauschte und schäumte er zwischen dem aufgebrochenen Eis, als ob er sich über die unverhoffte Freiheit begeisterte, und die Tiere versanken zu Dutzenden.

Nichts konnte die Wanderung der Herde aufhalten; sie war ebenso sehr eine Naturgewalt wie der Fluss. Unaufhaltsam zog sie weiter, löschte die Tiere aus, die zu Fall kamen und im eisigen Wasser versanken, löschte auch die scharfe Wunde aus, die sich in der Eisdecke des Vark geöffnet hatte, füllte sie mit übereinandergefallenen Körpern, bis sie geschlossen war, zog weiter und brandete die diesseitige Uferböschung herauf.

Nun richtete sich Yuli auf, so dass er kniete, und hob seinen elfenbeinernen Speer. Jagdlust blitzte in seinen Augen. Sein Vater aber packte ihn beim Arm und zog ihn herunter.

»Phagoren, du Dummkopf, siehst du sie nicht?«, knurrte er mit einem zornigen, verächtlichen Seitenblick zu seinem Sohn. Dann nickte er zur Herde hin, um ihm die Gefahr zu weisen.

Yuli sank zurück, verwirrt und vom Zorn des Vaters ebenso in Furcht versetzt wie von dem Gedanken an die Phagoren.

Die Herde erreichte ihre Felsbank und teilte sich, um die vom Frost verwitterte Basis der alten Flussterrasse zu umgehen. Die Wolke von Stechfliegen, die im Dunst über den unablässig zuckenden Tierleibern summte, hüllte Yuli und Alehaw ein, und durch diesen Schleier spähte Yuli nun, um die Phagoren zu Gesicht zu bekommen. Zuerst konnte er keinen entdecken.

Vor ihnen war nichts zu sehen als die Lawine der zottigen Tierleiber, vorwärtsgetrieben von Zwängen, die ein Mensch nicht verstand. Sie bedeckte den gefrorenen Fluss, sie bedeckte beide Ufer, sie bedeckte die weißgraue Welt bis hin zum fernen Horizont, wo sie unter den dunkelfarbenen Wolken verschwanden wie ein Teppich unter einem Kissen. Hunderttausende von Tieren mussten an dieser Wanderung teilnehmen, und die Stechfliegen hingen wie schwärzlicher Rauch über ihnen.

Alehaw zog seinen Sohn herunter und deutete mit einer Bewegung der buschigen Brauen zur Linken. Halb versteckt unter den eingeschneiten Häuten, die ihnen als Zelt dienten, starrte Yuli in die heranströmende Herde. Zwei riesenhafte Biyelke trotteten schwerfällig auf ihr Versteck zu. Ihre massigen, pelzverhüllten Schultern waren beinahe in einer Ebene mit der Oberfläche der Felsbank. Als Yuli die Stechfliegen wegblies, die ihm vor den Augen tanzten, sah er plötzlich, dass der weiße Pelz nicht den Tieren gehörte, sondern ihren Reitern. Vier Phagoren, zwei auf jedem Biyelk, klammerten sich am zottigen Haar ihrer Reittiere fest.

Er wunderte sich, dass er sie zuvor übersehen hatte. Obwohl sie mit ihren mächtigen Reittieren beinahe verschmolzen, fielen sie als Reiter gegenüber denen, die zu Fuß gingen, naturgemäß mehr auf. Eng beisammen saßen sie auf den Schultern der Biyelke und wandten ihre grämlichen Stiergesichter dem höheren Gelände im Rücken der Flussterrassen zu, wo die Herde halten sollte, um abzuweiden, was unter der Schneedecke an Vegetation vorhanden war. Große Augen glänzten unter aufwärts gekrümmten Hörnern. Dann und wann streckte einer die lange biegsame Zunge heraus und leckte blitzschnell nach der Schlitzöffnung der Nasenlöcher, um lästige Stechfliegen zu entfernen.

Die schwerfälligen Köpfe drehten sich fast ohne Halsansatz auf den kräftigen Rümpfen, die ebenso wie die Gliedmaßen mit langem weißen Fell bedeckt waren. Bis auf ihre rosa- bis scharlachroten Augen waren sie ganz weiß. Sie ritten die majestätisch schreitenden Biyelks, als wären sie Teil von ihnen. Hinter ihnen baumelten grob gearbeitete Lederbehälter, die Keulen und andere Waffen enthielten.

Nun, da Yuli auf die Natur der Gefahr aufmerksam geworden war, machte er andere Phagoren aus. Nur die Privilegierten ritten; das gemeine Volk ging zu Fuß, in einem Schritt, der jenem der Tiere angepasst war. Yuli beobachtete sie so angespannt, dass er nicht einmal wagte, die Fliegen von seinen Augenlidern zu streifen. Eine Gruppe von vier Phagoren ging wenige Schritte an dem Versteck vorüber, wo er und sein Vater lagen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, dem Anführer seinen Speer zwischen die Schulterblätter zu stoßen, hätte Alehaw den Befehl gegeben.

Mit besonderem Interesse betrachtete Yuli die Hörner, die jeweils zu Paaren an ihm vorüberzogen. Obwohl sie im schlechten Licht glatt schienen, hatte jedes Horn scharfe Kanten, die innen und außen von der Basis bis zur Spitze verliefen.

Er begehrte eines von diesen Hörnern. In den abgelegenen Wildnissen der Barrieren wurden die Gehörne toter Phagoren als Waffen gebraucht. Ihrer Gehörne wegen wurden die Phagoren von gelehrten Männern in fernen Orten, die gegen Stürme geschützt in Höhlen eingebettet lagen, die Ancipitalen genannt: die Zweischneidigen.

Unerschrocken und gleichmütig schritten sie einher, doch ließ das Fehlen eines gewöhnlichen Kniegelenks ihre Gangart unnatürlich erscheinen. Entfernung war für diese zähen und abgehärteten Wanderer kein Hindernis.

Die langen, tief zwischen den Schultern sitzenden Schädel waren in typischer Haltung vorgereckt. An beiden Armen trugen sie Ledermanschetten, an denen auswärts weisende Hörner mit Metallspitzen befestigt waren. Mit diesen stießen sie jedes Tier zurück, das sie anzudrängen drohte, und bewahrten sich mitten im Strom der Herde eine gewisse Bewegungsfreiheit. Abgesehen davon gingen sie unbewaffnet; ihre Habseligkeiten wurden von Yelken getragen, die sie an geflochtenen Rohlederseilen führten. Yuli konnte sehen, dass die Bündel Jagdharpunen und Speere enthielten.

In einer Gruppe von vier Treibern entdeckte Yuli einen weiblichen Phagor. Sie war nur wenig schmächtiger als ihre männlichen Begleiter und hatte eine Art Beutel umgebunden. Unter dem langen weißen Deckhaar schwangen fellbewachsene rosa Zitzen. Auf ihren Schultern kauerte ein Phagorsäugling, der sich an das Nackenfell der Mutter klammerte und dessen lange Kinnlade auf ihrem Kopf ruhte. Er hatte die Augen geschlossen. Seine Mutter bewegte sich mechanisch, wie in einem Zustand von Benommenheit. Wie viele Tage sie und die anderen schon auf Wanderschaft waren und welche Strecke sie dabei zurückgelegt hatten, blieb der Mutmaßung überlassen.

Weitere Phagoren flankierten den breiten Strom der Herde in weit auseinandergezogenen Reihen. Die Tiere nahmen keine Notiz von ihnen, nahmen sie hin, wie sie die Fliegen duldeten, weil es keine Alternative dazu gab.

Ein weiteres Geräusch mischte sich in das dumpfe Getrommel der Hufe, das Husten und Keuchen, das Klappern der gegeneinanderschlagenden Geweihstangen. Ein Phagor, der eine kleine Gruppe führte, stieß eine Art Summen oder Knurren aus, ein raues, von der vibrierenden Zunge moduliertes, an- und abschwellendes Geräusch; vielleicht sollte es die drei Begleiter aufmuntern, Yuli aber entsetzte es. Das Geräusch verlor sich, als der Phagor sich entfernte, und wieder strömte die Herde vorüber, gehütet und geleitet von weiteren Phagoren. Yuli und sein Vater lagen bewegungslos, spuckten von Zeit zu Zeit Fliegen aus, die sich auf ihren Lippen niedergelassen hatten, und warteten geduldig auf den Augenblick, da sie ihr Versteck verlassen und das Fleisch gewinnen könnten, das sie so verzweifelt benötigten.

Vor Sonnenuntergang frischte der Wind wieder auf und blies wie vorher von den Eisfeldern der Barrieren herab, der wandernden Herde entgegen. Die Phagoren marschierten mit gesenkten Köpfen, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Lange Bahnen von Speichel zogen sich von ihren Mundwinkeln abwärts und gefroren im zottigen Brustfell, wie Fett gefriert, wenn es auf Eis geworfen wird.

Der Himmel war wie aus Eisen. Wutra, der Gott der himmlischen Gefilde, hatte seine wogenden Lichtbänder zurückgezogen und hüllte seine Domäne in Wolken. Vielleicht hatte er einen weiteren Kampf verloren.

Unter dieser dunklen Decke wurde Freyr erst sichtbar, als er den Horizont erreichte. Dort riss die Wolkendecke auf und zeigte den schwelenden Wachtposten in einer Aureole aus goldener Asche. Dennoch schien er hell über die verschneiten Einöden. Klein, aber von strahlender Leuchtkraft, mit einer Scheibe, die nicht mehr als ein Drittel so groß war wie diejenige seines Begleitsterns Batalix, besaß Freyr dennoch das stärkere, strahlendere Licht.

Er sank in die Eingeweide des Erdbodens und war verschwunden.

Nun war die Zeit der hellen Nächte, die im Sommer und Herbst vorherrschte und diese Jahreszeiten beinahe als einziges von noch unbarmherzigeren Perioden unterschied. Während der hellen Nächte erfüllte ein unbestimmtes Dämmerlicht den Himmel. Nur zur Jahreswende gingen Batalix und Freyr gleichzeitig auf und unter. Gegenwärtig führten sie ein einzelgängerisches Leben und waren oft verborgen hinter Wolkenmassen, die der wogende Rauch von Wutras Krieg waren.

Aus den Erscheinungen, die mit dem Übergang vom Tag zur hellen Nacht verbunden waren, las Yuli das Wetteromen. Scharfe Winde beschworen Schnee herauf. Er erinnerte sich des Reimes, den sie in Altolonet gesungen hatten, der magischen Sprache, die von Vergangenem handelte, von roten Rubinen, schönen Frauen, Riesen und reichhaltiger Nahrung; der Sprache der Katastrophe, der Sprache eines unerreichbaren Gestern. Der Reim hatte in den krankheitsträchtigen Höhlen der Barrieren überdauert:

 

»Wutra in Klage

Bringt Freyr zu Grabe

Und uns nasse Tage.«

 

Wie in einer Reaktion auf das veränderte Licht ging etwas wie ein allgemeines Erschauern durch die Herde, und die Tiere machten halt. Stöhnend und mit knackenden Gelenken ließen sie sich auf den zertrampelten Schnee nieder, wo sie gerade standen, und zogen die Läufe unter ihre Leiber. Den riesenhaften Biyelken war dieses Manöver nicht möglich. Sie schliefen im Stehen, wo sie waren, und ließen dabei die Köpfe hängen, dass die Ohren ihnen über die Augen fielen. Einige der Phagorentrupps setzten sich gesellig zusammen, doch die meisten warfen sich gleichgültig vor Erschöpfung in den Schnee, wo sie standen, und schliefen, die Rücken an den warmen Flanken ruhender Yelke.

Alles schlief. Die zwei Gestalten auf der verschneiten Felsbank zogen sich das Felldach ihres Zeltes über die Köpfe und träumten mit leeren Mägen, die Gesichter in den Armbeugen vergraben. Alles schlief, bis auf die Wolke der beißenden und saugenden Insekten.

Lebewesen, die des Träumens fähig waren, mühten sich durch die quälenden, unbehaglichen Vorstellungsbilder, die die hellen Nächte mit sich brachten.

Mit ihrem arktischen Klima, den fehlenden Schatten und dem ständigen Leidensdruck wäre diese Welt wahrscheinlich jedem, der sie zum ersten Mal betrachtete, wie eine Vorhölle vorgekommen, oder ein Ort, der noch seiner eigentlichen Schöpfung harrte.

Der allgemeine Ruhezustand schien sich sogar dem Himmel mitzuteilen, dessen einförmige Wolkendecke wie bewegungslos war und das Spiel des Nordlichts verhüllte, das sich zuvor über dem Schauplatz entfaltet hatte. Aus der Richtung der See kam ein einzelner Childrim und flog in niedriger Höhe über die regungslos schlafende Erde hinweg. Dem Betrachter bot sich nur das Bild eines weit ausladenden riesigen Flügels, der rot wie die Glut eines erlöschenden Feuers glomm und mit gleichmäßiger Lethargie auf und nieder schlug. Als er die Herde überflog, zuckten und schnauften die Tiere unruhig im Schlaf. Er strich niedrig über die Felsbank hinweg, wo die zwei Menschen lagen, und Yuli und sein Vater zuckten und seufzten, und genau wie die Yelke hatten sie im Schlaf seltsame Gesichter. Dann war die Erscheinung fort, flog einsam weiter den Bergen im Süden zu, eine feine Spur roter Funken in der Atmosphäre zurücklassend, die wie ein Echo ihrer selbst wenig später erstarb.

Stunden darauf erhob sich die Herde und zog weiter. Die Tiere schüttelten ihre Ohren, die von den Angriffen der Stechfliegen bluteten, standen steifbeinig auf und setzten stumm und geduldig ihre Wanderung fort. Mit ihnen gingen die Phagoren. Yuli und sein Vater erwachten und beobachteten den Aufbruch der Herde.

Den ganzen folgenden Tag dauerte die große Wanderung an, während Schneestürme tobten und die Tiere mit Schnee bepflasterten. Gegen Abend, als der Wind aufgerissene Wolkenfetzen über den Himmel blies und die Kälte eine schneidende Schärfe gewann, sichtete Alehaw das Ende des Zuges.

Es war bei weitem nicht so geschlossen, wie die Vorhut es gewesen war. Nachzügler hingen mehrere Meilen zurück, hinkten, husteten mitleiderregend. Hinter und neben ihnen glitten lange, niedrig gebaute Pelztiere durch den aufgewühlten Schnee, die Bäuche nahe am Boden, und warteten auf die Gelegenheit, sich in ein Fesselgelenk zu verbeißen und ein geschwächtes Opfer zu Fall zu bringen.

Die letzten Phagoren wanderten an dem Versteck vorbei. Sie bildeten nicht den Schluss, entweder aus Respekt vor den niedriggebauten Raubtieren, oder weil das Vorankommen im zertrampelten und überall mit Kot verunreinigten Schnee schwierig war und sie die Nachzügler ohnehin aufgegeben hatten.

Und nun stand Alehaw auf und bedeutete dem Sohn, das gleiche zu tun. Sie standen, die Waffen umklammert, und ließen sich über die Felsbank auf ebeneren Boden hinuntergleiten.

»Gut!«, sagte Alehaw.

Der Schnee war übersät mit verendeten Tieren, insbesondere an den Ufern des Vark. Der Bruch in der Eisdecke war mit den Kadavern ertrunkener Tiere verstopft. Nicht wenige Tiere waren während der Nachtruhe an Unterkühlung gestorben und lagen nun wie schlafend, waren aber steinhart gefroren. Alle Tiere, die schon vor dem nächtlichen Schneesturm verendet waren, erhoben sich als kaum der Form nach erkenntliche Buckel aus dem Schnee.

Froh über die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit, rannte und hüpfte Yuli mit lautem Geschrei herum. Er sprang zum zugefrorenen Fluss, setzte in waghalsigen Sprüngen von einer nicht identifizierbaren Erhebung zur nächsten, fuchtelte mit den Armen und lachte. Sein Vater rief ihn scharf zur Ordnung und befahl ihn zu sich.

Als der Junge bei ihm anlangte, zeigte Alehaw durch die Eisdecke, wo er sie vom aufliegenden Schnee befreit hatte. Schwarze Schattengestalten bewegten sich dort unten, nur undeutlich sichtbar und bisweilen an feinen Blasenspuren auszumachen, die sie beim Schwimmen zurückließen. Sie streiften das dunkle Wasser, darin sie schwammen, mit Karmesinrot und versuchten sich durch die Eisdecke zu bohren, um das bereitliegende Festmahl in die Tiefe zu ziehen.

Andere Räuber kamen aus der Luft, große weiße Vögel, die mit schwerfällig klatschenden Flügelschlägen aus dem Osten und dem düsteren Norden anflogen und zwischen den weitverstreuten Kadavern niedergingen, um sich mit ihren großen scharfen Schnäbeln durch Schnee und Eis und Fell an das Fleisch heranzuarbeiten. Bald rissen sie Fleisch und Eingeweide in großen, halb gefrorenen Fetzen aus den Kadavern und verschlangen sie, dabei fixierten sie den Jäger und seinen Sohn mit ihren starren, kaltglänzenden Vogelaugen.

Aber Alehaw vergeudete keine Zeit auf sie. Er bedeutete Yuli, ihm zu folgen, und ging hinüber zum anderen Ufer, wo viele Herdentiere über umgestürzte Bäume gefallen und von den nachfolgenden Artgenossen zu Tode getrampelt worden waren. Während er über das Eis ging, schwenkte er den Speer und stieß gellende Rufe aus, um Raubtiere zu verscheuchen. Als sie an Ort und Stelle standen, begriff Yuli die kluge Überlegung seines Vaters. Hier waren die toten Tiere leicht zugänglich. Obschon übel zugerichtet, war ein Teil ihres Körpers durchweg intakt, nämlich der Schädel, und diesem wandte Alehaw seine Aufmerksamkeit zu. Mit der Klinge seines Jagdmessers brach er die Kiefer auf und schnitt geschickt die dicke Zunge heraus. Blut ergoss sich über seine Handgelenke auf den Schnee.

Unterdessen stieg Yuli zwischen den gefallenen Stämmen umher und sammelte Fallholz. Er befreite eine windgeschützte Stelle vom Schnee und trug Material für ein Feuer zusammen. Er schlang seine Bogensehne um einen zugespitzten Stock und rieb in hin und her. Bald begann das trockene, morsche Holz zu schwelen. Er blies behutsam, und eine winzige Flamme erhob sich aus dem Glimmen, wie er es häufig unter Onesas magischem Atem gesehen hatte. Als das Feuer gut brannte, stellte er seinen bronzenen Topf darüber, füllte ihn mit Schnee zum Schmelzen und fügte Salz aus einer Ledertasche in seinen Pelzen hinzu. Er war bereit, als sein Vater sieben schleimige Zungen auf den Armen herbeitrug und in den Topf gleiten ließ.

Vier von den Zungen waren für Alehaw, drei für Yuli. Sie aßen mit befriedigten Grunzlauten; Yuli versuchte einen Blick seines Vaters zu erhaschen und durch ein Lächeln Zufriedenheit zu zeigen, aber Alehaw kaute geistesabwesend und blickte stirnrunzelnd auf den zertrampelten Boden.

Es gab noch viel Arbeit zu tun. Kaum hatten sie gegessen, da stand Alehaw auf und griff zu seinem Gepäck. Die Aasvögel in der Nähe flogen träge von ihrer Beute auf, um sich gleich darauf wieder zum Mahl niederzulassen. Yuli leerte den Bronzetopf und befestigte ihn am Gürtel.

Sie befanden sich am Rande des Gebietes, wo die Herde die Westgrenze ihrer Wanderung erreichte. Hier, in einem ausgedehnten Hügelland, das von hohen Gebirgszügen gegen die extrem kalten Nordwinde geschützt war, scharrten sie Rentierflechten unter der Schneedecke hervor und weideten die zottige Bartflechte von den Stämmen und tiefhängenden Ästen der Lärchenwälder ab. Hier wurden auch die Jungen zur Welt gebracht. In dieses weite, von Lößhügeln, Plateaus und tiefen Talsenken gegliederte Land, dessen Durchgang viele Tagesmärsche erforderte, drangen Alehaw und sein Sohn im diesigen grauen Licht des frühen Tages ein. In der Ferne sahen sie wiederholt Gruppen anderer Jäger, die in die gleiche Richtung zogen; jede Gruppe ignorierte die andere geflissentlich. Yuli bemerkte, dass keine andere Gruppe aus nur zwei Personen bestand; das war die Buße, die seine Familie dafür zahlte, dass sie nicht von der Ebene war, sondern von der Barriere. Für sie war alles mühseliger.

Gebeugt stapften sie das allmählich ansteigende Terrain aufwärts. Überall schauten glattgeschliffene Blöcke aus dem Schnee, stumme Zeugen einer vorzeitlichen Meeresküste, von der Brandung umspült, ehe die See sich angesichts des abkühlenden Klimas zurückgezogen hatte – doch von diesem Aspekt wussten sie nichts, und er kümmerte sie auch nicht; für Alehaw und seinen Sohn war nur die Gegenwart von Bedeutung.

Auf der Höhe angelangt, machten sie halt und spähten, die Augen gegen die beißende Kälte mit den behandschuhten Händen beschirmt, über die unebene, von Schichtstufen und Trockenbetten zerrissene Hochfläche hin. Das Gros der Herde war verschwunden. Zurückgeblieben waren neben zerstampftem Schnee, Kot und einem durchdringenden Geruch diejenigen Tiere, für welche die Stunde der Fortpflanzung gekommen war.

Unter diesen todgeweihten Tieren waren nicht nur Yelke, sondern auch die zierlichen Gunnadu und die massigen Leiber der riesigen Biyelke. Die Tiere lagen reglos, über eine weite Fläche verstreut, tot oder dem Tode nahe, bisweilen noch mit qualvoller Anstrengung und pumpenden Flanken atmend. Eine andere Gruppe von Jägern bewegte sich zwischen den sterbenden Tieren näher. Alehaw wies grunzend zur anderen Seite, und er und Yuli stapften auf ein unter Schnee und Frost niedergebrochenes Nadelgehölz zu, in dessen Nähe einige Yelke lagen. Yuli sah zu, wie sein Vater eines der hilflosen Tiere tötete, das schon auf dem Weg in die graue Welt ewigen Vergessens war.

Wie seine ungleichen Vettern, der Biyelk und das Gunnadu, war der Yelk nekrogen und brachte nur durch seinen Tod Junge zur Welt. Die Tiere waren überdies hermaphroditisch, wobei manchmal das männliche, manchmal das weibliche Element überwog. Sie befanden sich auf einer entwicklungsgeschichtlich zu primitiven Stufe, um komplizierte Fortpflanzungsorgane wie Gebärmutter und Eierstöcke zu bilden. Nach der Paarung entwickelten sich die Spermien im warmen Inneren zu kleinen madenartigen Lebewesen, die im Magen-Darmtrakt ihres mütterlichen Wirtstieres heranwuchsen und sich dabei nicht nur von Inhalt, sondern auch von den Organen selbst nährten.

Sobald sie Magen und Darm weitgehend aufgezehrt hatten, breiteten die Yelkmaden sich rasch durch den Körper des Wirtstieres aus und gelangten sogar in die Blutbahn, was binnen kurzem zum Tode führte. Dieses Geschehen ereignete sich unfehlbar dann, wenn die großen Herden diesen westlichen Teil ihres Lebensbereichs aufsuchten. So war es schon vor Zeitaltern gewesen, die kein Mensch überblicken, geschweige denn zählen konnte.

Das Tier, über dem Alehaw und Yuli standen, war abgemagert und ausgezehrt, dem Tode nahe, und dass Alehaw es mit seinem Speer durchbohrte, geschah mehr des Zeremoniells als der Notwendigkeit halber. Darauf knieten sie im Schnee nieder und schnitten mit ihren Jagdmessern den Tierleib auf.

Die Yelkmaden durchwimmelten den Bauch des Tieres, nicht größer als ein Fingernagel, beinahe zu klein, um sie zu unterscheiden, aber in der Masse von köstlichem Geschmack und hohem Nährwert. Sie würden Onesa helfen, von ihrer Krankheit zu genesen. Der frostkalten Luft ausgesetzt, starben sie sofort, sich selbst überlassen, lebten die Yelkmaden jedoch sicher in den Kadavern ihrer Wirte. In ihrem dunklen kleinen Universum, das sie heißhungrig durchwimmelten, zögerten sie nicht, einander aufzufressen, und zahlreich waren die Kämpfe um Leben und Tod, die in Arterien, Muskelfasern und Lungengewebe ausgefochten wurden. Die Überlebenden machten nacheinander mehrere Metamorphosen durch und nahmen in dem Maße an Größe zu, wie sie an Zahl abnahmen. Zuletzt drangen zwei oder vielleicht drei kleine, sehr lebendige und schnelle Yelke aus Kehle oder Anus des völlig ausgehöhlten Wirtstieres, um in der Unwirtlichkeit der äußeren Hungerleiderwelt zu bestehen. Dieses »Ausschlüpfen« ereignete sich mit der Präzision eines Uhrwerks kurz bevor die Herden sich zur Rückwanderung nach Nordosten zum fernen Chalce sammelten und bewahrte den Nachwuchs vor dem Schicksal, in den Wirtskadavern unter den Hufen der wandernden Herde zermalmt zu werden.

Über die Hochfläche verstreut, unter den Tieren, die gleichzeitig starben und sich fortpflanzten, standen dicke Steinsäulen. Diese Säulen waren dort von einer früheren Menschenrasse aufgerichtet worden. In jede dieser Säulen war eine einfache symbolische Darstellung gemeißelt: ein Kreis oder ein Rad mit einem kleineren Kreis in der Mitte. Vom mittleren Kreis gingen zwei gegenläufig gebogene Speichen aus, die ihn mit dem äußeren verbanden. Weder Jäger noch Tiere schenkten diesen geschmückten Säulen auch nur die geringste Beachtung.

Yuli war von ihrer Beute völlig in Anspruch genommen. Er schnitt Streifen aus einem Tierfell, flocht sie kunstlos zu einem Beutel, in den er dann die sterbenden Yelkmaden schabte. Unterdessen zerlegte sein Vater den Kadaver. Jedes Stück des toten Körpers wurde verwertet. Aus den längsten Knochen konnte man einen Schlitten bauen, dessen Teile von Fellstreifen zusammengehalten wurden. Gebogene Geweihstangen dienten als Kufen und erleichterten ihnen das mühselige Ziehen des Schlittens im unebenen Gelände. Denn sobald sie mit ihrer Arbeit fertig wären, würde der kleine Schlitten mit guten, soliden Fleischstücken von Schultern, Brust und Keulen schwer beladen sein, zugedeckt mit den Fellen der erbeuteten Tiere.

Beide arbeiteten zusammen, grunzend vor Anstrengung, die Hände rot von Blut, die Köpfe eingehüllt in dampfenden Atem, geplagt von zudringlichen Stechfliegen.

Auf einmal stieß Alehaw einen furchtbaren Schrei aus, fiel rücklings in den Schnee, raffte sich auf und versuchte davonzulaufen.

Yuli sah sich bestürzt um. Drei große weiße Phagoren waren aus einem Versteck zwischen den Nadelbäumen herangeschlichen und standen über ihnen. Zwei sprangen auf Alehaw zu, als er auf die Beine kam, und streckten ihn mit Keulenschlägen in den Schnee. Der dritte ließ seine Keule auf Yuli niedersausen, der sich mit einem entsetzten Hilferuf zur Seite warf.

Sie hatten die Gefahren, die von Phagoren drohten, vollständig vergessen und jede Wachsamkeit vernachlässigt. Als er sich durch den Schnee wälzte, aufsprang und der geschwungenen Keule auswich, bemerkte Yuli unweit von ihnen andere Jäger, die ruhig mit dem Zerlegen ihrer Jagdbeute fortfuhren, als sei nichts geschehen. So entschlossen waren sie, mit der Arbeit voranzukommen, ihre Schlitten zu bauen und die Heimreise anzutreten – so nahe war der Hungertod –, dass sie ihre Arbeit nicht unterbrachen und nur von Zeit zu Zeit aufblickten, um das Geschehen zu verfolgen. Anders hätte die Sache ausgesehen, wären sie Verwandte von Alehaw und Yuli gewesen. Aber diese Leute waren Bewohner der Ebene, gedrungene, unfreundliche Männer. Yuli schrie ihnen zu, dass sie kommen und ihm helfen sollten, doch ohne Erfolg. Ein Mann aus der benachbarten Gruppe, die kaum fünfzig Schritte entfernt einen Kadaver zerlegte, schleuderte einen blutigen Knochen nach den Phagoren. Das war alles.

Um sich den sausenden Keulenschlägen zu entziehen, ergriff Yuli schließlich die Flucht, glitt aber nach wenigen Schritten aus und fiel. Der Phagor setzte ihm nach, und Yuli erhob sich in instinktiver Abwehrhaltung auf ein Knie, den linken Arm schützend über den Kopf erhoben. Dann warf er sich dem Angreifer entgegen, um die Keule zu unterlaufen, und stieß sein Jagdmesser aufwärts in den breiten Leib seines Gegners. Mit erschrockener Verblüffung sah er seinen Arm in den strähnigen steifen Deckhaaren verschwinden und einen Schwall gelblich-schleimiger Flüssigkeit aus diesem Fell hervorquellen. Dann fiel der schwere Körper auf ihn, und er wälzte sich mit keuchender Kraftanstrengung frei und hinter die nächstbeste Deckung, die sich ihm bot – die aufragende Schulter eines toten Yelk, von wo er eine Welt erblickte, die ihm plötzlich zum Feind geworden war.

Sein Angreifer war gefallen. Nun erhob er sich mit Mühe, die enormen hornigen Hände an seinen Leib gedrückt. Er taumelte ziellos umher, stöhnte mit tiefer, rauer Stimme: »Aoh, aoh, aohh, aohhhh …« Dann fiel er vornüber auf das Gesicht und regte sich nicht mehr.

Hinter dem gefallenen Phagor lag der zu Boden geschlagene Alehaw. Er schien bewusstlos, aber die zwei anderen Phagoren hoben ihn sofort auf, und einer von ihnen legte ihn sich über die Schultern. Darauf sahen die beiden sich um, als rechneten sie mit einem Angriff, blickten zu ihrem gefallenen Kameraden zurück, sahen einander an, grunzten, kehrten Yuli den Rücken und gingen.

Yuli stand auf. Er merkte, dass seine Beine, umwickelt in den Pelzhosen, heftig zitterten. Er wusste nicht, was er tun sollte. Von einer quälenden Unruhe erfasst, lief er um den Körper des Phagoren, den er getötet hatte – wie würde er sich mit dieser Tat vor seiner Mutter und den Onkeln brüsten! – und eilte zum Schauplatz des Überfalls zurück. Er nahm seinen Speer auf und dann, nach kurzem Zögern, auch den Speer seines Vaters. Schließlich folgte er den Phagoren.

Sie stapften nebeneinander dahin und fanden es offenbar mühselig, mit ihrer Last bergauf zu gehen. Bald fühlten sie, dass der Junge ihnen folgte, und wandten sich hin und wieder nach ihm um und versuchten ihn halbherzig mit Drohungen und Gesten fortzujagen. Anscheinend meinten sie, dass es sich nicht lohne, einen Speer an ihn zu vergeuden.

Als Alehaw zu sich kam, machten die zwei Phagoren halt, stellten ihn auf die Beine und zwangen ihn, zwischen ihnen weiterzugehen, indem sie ihn mit Schlägen vorwärtstrieben. Yuli stieß eine Anzahl von Pfiffen aus und gab seinem Vater damit zu verstehen, dass er in der Nähe war; aber wann immer der ältere Mann über die Schulter zurückblicken wollte, erhielt er von einem der Phagoren einen Schlag gegen den Kopf, der ihn taumeln machte.

Langsam holten die Phagoren eine andere Gruppe ihrer Artgenossen ein, die aus einem weiblichen und zwei männlichen Exemplaren bestand; einer der letzteren war alt und ging mit einem Stab, der so lang war wie er selbst und auf den er sich beim Gehen schwer stützte. Dann und wann strauchelte er über die Kothaufen der Yelke.

Nach einiger Zeit wurden diese verstreuten Überbleibsel der Herde seltener, und der Geruch verlor sich aus ihren Nasen. Sie folgten einem hügelauf ziehenden Pfad, den die wandernde Herde nicht genommen hatte. Der Wind hatte sich gelegt, und an den Hängen wuchsen Lärchen und Arven. Inzwischen waren mehrere kleine Gruppen von Phagoren in Sicht gekommen, die alle demselben Ziel zuzustreben schienen, viele von ihnen gebeugt unter ganzen Yelkkadavern. Und hinter ihnen folgte ein neunjähriger Junge, Angst im Herzen, der offensichtlich versuchte, seinen Vater nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Luft wurde schwer und drückend, als stünde sie unter einem Zauber. Der Schritt der Phagoren verlangsamte sich, die Lärchen standen dichter und zwangen die Wanderer, sich enger zusammenzuschließen. Ihr rauer Gesang, untermalt mit kratzenden Schnalzlauten ihrer hornigen Zungen, ertönte laut, ein Summen, das von Zeit zu Zeit zu einem furchterregenden Crescendo anschwoll und dann wieder erstarb. Yuli blieb schreckerfüllt weiter zurück und suchte instinktiv die Deckung der Baumstämme.

Er konnte nicht verstehen, warum Alehaw sich nicht von seinen Bewachern losriss und zurückrannte; dann könnte er seinen Speer wieder aufnehmen, und gemeinsam würden sie Seite an Seite die zottigen Phagoren abwehren und töten. Doch stattdessen blieb sein Vater in Gefangenschaft, und nun verlor sich seine schmächtigere Gestalt im Dämmerlicht unter den Bäumen zwischen den zusammengedrängten Phagoren.

Das summende Lied brandete ein letztes Mal in rauer Kadenz auf und erstarb. Voraus glomm ein rauchig grünliches Licht und verhieß Yuli eine neue Krise. Er rannte geduckt von Baum zu Baum weiter vorwärts. Eine Art von Gebäude stand dort, mit einem zweiflügeligen Tor, das sich ein wenig öffnete. Der schwache Feuerschein drang aus dem Inneren. Die Phagoren riefen mit lauten Stimmen, und das Tor öffnete sich weit. Sie drängten hinein. Das Licht erwies sich als eine Fackel, die einer ihrer Artgenossen in die Höhe hielt.

»Vater, Vater!«, schrie Yuli. »Lauf, Vater! Ich bin hier.«

Er blieb ohne Antwort. In dem dämmrigen Licht, das vom Fackelschein kaum aufgehellt wurde, war es unmöglich zu sehen, ob Alehaw bereits durch das Tor gestoßen worden war oder nicht. Ein paar Phagoren wandten sich auf seine Rufe gleichgültig um und scheuchten Yuli ohne wirkliche Feindseligkeit fort.

»Geh und zzhrei in den Wind!«, rief einer auf Olonet. Sie wollten nur völlig ausgewachsene menschliche Sklaven.

Die letzte stämmige Gestalt verschwand in dem Gebäude. Unter weiterem Rufen und Lärmen wurde das Tor geschlossen. Yuli rannte weinend näher und schlug mit den Fäusten gegen das rohe Holz, dann hörte er, wie auf der anderen Seite ein Riegel vorgeschoben wurde. Lange stand er da, die Stirn gegen die Planken des Torflügels gedrückt, und konnte nicht begreifen noch hinnehmen, was geschehen war.

Die Torflügel waren in eine Mauer aus großen, unregelmäßigen Blöcken eingelassen, die ohne Mörtel zusammengefügt waren. Die Ritzen hatte man mit Moosen und Bartflechten zugestopft. Das Gebäude schien nur als Eingang zu einer der unterirdischen Höhlen zu dienen, in denen, wie Yuli wusste, die Phagoren lebten. Sie waren träge Geschöpfe und zogen es vor, Menschen für sich arbeiten zu lassen.

Eine Weile lungerte er bei dem Tor herum, dann erkletterte er die steinige Hügelkuppe hinter dem Eingang, bis er fand, was er zu finden erwartet hatte: einen Rauchabzug, dessen Höhe das Dreifache seiner Körperlänge ausmachte und der außerdem von eindrucksvollem Umfang war. Er konnte den Schornstein leicht erklettern, weil dieser sich nach oben zu verjüngte und weil die Steinblöcke, aus denen er erbaut war, kunstlos aufeinandergeschichtet waren und reichlich Griffe und Tritte boten. Überdies waren die Steine nicht so eisig kalt, wie man hätte erwarten können, und frei von Schnee.

Oben angelangt, steckte er unvorsichtig den Kopf über die Öffnung, um hinunterzuschauen, und prallte augenblicklich zurück, so dass er den Halt verlor, rücklings hinunterfiel und auf der Schulter im Schnee landete.

Ein Schwall heißer, stinkender Luft, vermischt mit Holzrauch und ranzigen Ausdünstungen, war ihm entgegengeschlagen. Der Abzug diente als Entlüftung für die unterirdischen Baue der Phagoren. Er begriff, dass er auf diesem Weg nicht hineinklettern konnte. Er war ausgesperrt, der Vater ihm für immer verloren.

Er setzte sich in den Schnee, elend und ratlos. Seine Füße steckten in Fellschuhen, die mit kreuzweise gebundenen Rohlederstreifen an den Beinen befestigt waren. Er trug eine Hose und eine Jacke aus Bärenfell, die seine Mutter ihm angemessen und zusammengenäht hatte, mit dem Pelz nach innen. Als zusätzlichen Wetterschutz hatte er eine Parka mit einer Pelzkapuze an. Als es Onesa noch besser gegangen war, hatte sie die Parka um die Schultern mit den weißen Schwänzen des Schneehasen geschmückt, drei auf jeder Schulter, und hatte den Halsausschnitt mit roten und blauen Perlen bestickt. Trotzdem bot Yuli einen traurigen Anblick, denn die Parka war fleckig von Essensresten und herabgetropftem Fett, während Schmutz das Fell seiner Kleidung verklebte; sie roch stark nach Yuli. Sein Gesicht, von einem hellen Olivgelb oder Beige, wenn es sauber war, wies bräunliche und schwärzliche, von feinen Runzeln durchbrochene Schmutzverfärbungen auf, und sein Haar hing ihm in fettigen Strähnen um Schläfen und Kragen. Er hatte eine Plattnase, die er zu reiben begann, und einen breiten, gefühlvollen Mund, der nun zuckte und bebte und einen abgebrochenen Schneidezahn zwischen seinen weißen Nachbarn zeigte, als er anfing zu weinen und mit der Faust in den Schnee zu schlagen.

Nach einiger Zeit stand er auf und ging einsam unter den Lärchen umher, den Speer des Vaters nachschleifend. Es blieb ihm nichts übrig als seiner Fährte in umgekehrter Richtung zu folgen und zu seiner kranken Mutter zurückzukehren, falls es ihm gelänge, den Heimweg durch die verschneiten Ödländer zu finden.

Er merkte auch, dass er hungrig war.

In seiner verzweifelten Verlassenheit fing er an, vor dem verschlossenen Tor zu lärmen. Niemand reagierte. Es begann zu schneien, leicht, aber ohne Unterlass. Er hob die Fäuste über den Kopf und spuckte gegen das Tor. Das für seinen Vater. Er hasste ihn, weil er ein Schwächling war. Er erinnerte sich an alle Prügel, die er von seinem Vater bezogen hatte – warum hatte Alehaw sich nicht gegen die Phagoren gewehrt, nicht sie geschlagen?

Endlich wandte er sich entmutigt und erbittert vom Tor ab und ging durch den fallenden Schnee den Hügel hinab.

Den Speer seines Vaters schleuderte er zornig in einen Busch.

 

Der Hunger war stärker als seine Müdigkeit und führte ihn bis an den Vark zurück. Die unterwegs genährten Hoffnungen wurden augenblicklich zunichte: keiner der gefallenen Yelke war unversehrt geblieben. Nur ausgefleischte Kadaver und abgenagte Knochen erwarteten ihn am Fluss. Er heulte vor Zorn und Enttäuschung.

Die aufgebrochene Stelle war übergefroren, und Schnee lag auf dem festen Eis. Yuli scharrte ihn mit dem Stiefel fort und spähte durch das frisch gebildete glasige Eis. Die Körper einiger ertrunkener Tiere waren noch zu sehen; offenbar waren sie teilweise festgefroren und konnten von der Strömung nicht fortgetrieben werden. Er sah eine Stelle, wo der Kopf eines Yelk dicht unter dem neuen Eis in die dunkle Strömung hing. Große Fische rissen an der Zunge und fraßen an den Augen.

Mit seinem Speer und einem scharfen Horn bohrte Yuli in mühsamer Arbeit ein Loch ins Eis, vergrößerte es und wartete mit stoßbereitem Speer. Nicht lange, und die Fische stellten sich wieder ein. Flossen und Schuppen blitzten im Wasser. Er stieß zu. Ein silbriger Fisch mit bläulichen Flecken, das Maul in Verblüffung aufgesperrt, glänzte an der Speerspitze, als er sie tropfend herauszog. Das Tier war so lang wie seine beiden gespreizten und mit den Daumennägeln aneinandergelegten Hände. Er briet ihn über einem kleinen Feuer, und es schmeckte köstlich. Er rülpste befriedigt und schlief eine Stunde zwischen morschen umgestürzten Stämmen. Dann machte er sich auf den Weg nach Süden, einer Wegspur folgend, die von der wandernden Herde so gut wie völlig ausgelöscht worden war.

Freyr und Batalix wechselten sich im Wachdienst am Himmel ab, und noch immer wanderte er dahin, die einzige Gestalt, die sich bewegte, in der weiten Wildnis.

 

»Mutter«, rief der alte Hasele zu seiner Frau, noch ehe er seine Hütte erreichte, »Mutter, sieh nur, was ich bei den Drei Harlekinen gefunden habe!«

Und seine alte Vettel von einer Frau, Lorel mit Namen und seit ihrer Kindheit lahm, humpelte zur Tür, steckte die Nase hinaus in die beißend kalte Luft und sagte: »Lass gut sein, was du gefunden hast. Da sind Herren aus Pannoval, die dir was abkaufen wollen.«

»Aus Pannoval, eh? Warte, bis sie sehen, was ich bei den Drei Harlekinen gefunden habe! Ich brauche hier Hilfe, Mutter. Komm, so kalt ist es nicht! Du verschwendest dein Leben, so wie du in diesem Haus festsitzt.«

Das Haus war außerordentlich roh und kunstlos. Es bestand aus aufeinandergelegten Blöcken, von denen mehrere Mannshöhe überschritten, ergänzt durch Planken und Rundstämme und überdacht mit Tierhäuten, die eine Schicht mit Gräsern und Moosen bewachsener Erde trugen. Die Ritzen und Fugen zwischen Blöcken und Stämmen waren mit Lehm und Flechten verstopft, um ein Eindringen des eisigen Windes zu verhindern. Sparren und Baumäste stützten das Dach und die Wände des Gebäudes an vielen Punkten, so dass das Ganze einem dahingeschiedenen Stachelschwein ähnelte. Dem Hauptgebäude waren mit demselben Improvisationstalent, das bei seiner Errichtung Pate gestanden hatte, zusätzliche Räume hinzugefügt worden. Zwei Kamine entragten dem Dach und schickten sanft gekräuselten Rauch in den wolkenverhangenen Himmel; in einigen Räumen wurden Pelze und Häute getrocknet, in anderen verkauft. Hasele war Fallensteller und Händler und hatte es so weit gebracht, dass er sich nun, da sein Leben sich dem Ende zuneigte, eine Frau und einen von drei Hunden gezogenen Schlitten leisten konnte.

Haseles Haus stand auf einer niedrigen Schichtstufe aus stark verwittertem Urgestein, die sich mehrere Meilen weit nach Osten hinzog. Diese Schichtstufe war voll von natürlichen Verwitterungsspalten, Erosionshöhlen, Schutt und teils ganzen, teils gespaltenen und aufeinandergetürmten Blöcken. Diese Oberflächenformen boten kleineren Tieren reichlich Schutz und Unterschlupf und gaben für den alten Fallensteller, der keine Neigung mehr verspürte, so weite Wanderungen zu unternehmen, wie er es in den Tagen seiner Jugend getan hatte, gute Jagdgründe ab. Einigen auffallenden Steingebilden hatte er Namen beigelegt, von denen einer die Drei Harlekine waren. Bei den Drei Harlekinen pflegte er in Salzablagerungen nach dem Mineral zu graben, das er zum Haltbarmachen seiner Felle und Häute benötigte.

Alle Blöcke und größeren Steine trugen auf den Ostseiten vom Wind modellierte Schneemützen die genau von der Richtung fortzustreben schienen, aus welcher der Westwind von den fernen Barrieren pfiff. Diese Schichtstufe war einst vom Meer freigelegt worden, das die lockeren aufliegenden Schichten abgetragen und vor dem Kliff nur die rundgeschliffenen Felsen, Blöcke und Geröllhalden der Strandplatte zurückgelassen hatte. Der Uferstreifen war in jenen fernen Tagen Teil einer längst verschwundenen Meeresküste gewesen, die Nordküste des Kontinents Campannlat.

Östlich von den Drei Harlekinen gab es im Schutz der verwitterten Gneis- und Granitgesteine ein kleines Dickicht von Dornbüschen, die in der Sommerzeit ein bescheidenes Grün hervorbrachten. Der alte Hasele schätzte ihre Blätter als Gemüse und stellte Fallen rings um das Buschdickicht, um pflanzenfressende Tiere fernzuhalten. Dort in den spitzigen, ineinander verwachsenen Zweigen hatte er den bewusstlosen Jungen entdeckt, den er nun mit Lorels Hilfe in das verräucherte Heiligtum seiner Hütte schleifte.

»Er ist kein Wilder«, sagte Lorel bewundernd. »Sieh nur, wie seine Parka mit roten und blauen Perlen geschmückt ist. Hübsch, nicht wahr?«

»Das hat Zeit. Gib ihm einen Mundvoll Suppe, Mutter!«

Sie tat es und strich dem Jungen über die Kehle, bis die Suppe ihren Weg in den Magen fand. Gleich darauf regte sich ihr Patient, hustete, setzte sich auf und bat mit schwacher Flüsterstimme um mehr. Während sie ihn fütterte, betrachtete sie mit geschürzten Lippen die geschwollenen Augenlider, Wangen und Ohren, wo ungezählte Insektenstiche Blut zum Vorschein gebracht hatten, das da und dort unter seinen Kragen geronnen war. Er schluckte mehr Suppe, dann sank er stöhnend zurück in Bewusstlosigkeit. Die alte Frau hielt seinen Oberkörper im Arm, als wäre er ein Säugling, schaukelte ihn sanft und einschläfernd und erinnerte sich längst vergangenen Glücks, für das sie keinen Namen mehr hatte.

Als sie sich etwas später schuldbewusst nach Hasele umsah, bemerkte sie, dass er schon hinausgegangen war, um mit den Herren aus Pannoval zu verhandeln.

Sie ließ den dunklen Kopf des Jungen sanft auf das Felllager gleiten, seufzte und folgte ihrem Mann in den Nebenraum. Er trank Schnaps mit den beiden großen, schwergebauten Händlern, deren Parkas in der Wärme dampften. Lorel hinkte näher und zupfte Hasele am Ärmel.

»Vielleicht können diese zwei Herren den kranken Jungen, den du gefunden hast, mit nach Pannoval nehmen. Wir können ihn hier nicht durchfüttern. Wir sind schon so am Verhungern. Pannoval ist reich und fett.«

»Lass uns allein, Mutter! Wir verhandeln«, erwiderte Hasele in gebieterischem Ton.

Sie humpelte zur rückwärtigen Tür hinaus und beobachtete, wie ihr gefangener Phagor, dem seine Ketten nur einen schlurfenden Gang erlaubten, die Hunde im Schneezwinger festmachte. Ihr Blick schweifte über seinen gebeugten Rücken hinaus zu der griesigen grauen Landschaft, die sich meilenweit in Verlassenheit erstreckte, um fast übergangslos in einen trüben und ebenso trostlosen Himmel überging. Von irgendwo in dieser öden Wildnis war der Junge gekommen. Einmal oder zweimal im Jahr kam es vor, dass Leute, allein oder in Paaren, sich sterbend von den Eiswüsten hierherschleppten. Lorel vermochte nie einen klaren Eindruck davon zu gewinnen, woher sie kamen, und wusste nicht viel mehr, als dass jenseits der Schneewüsten noch kältere Gebirge ragten. Ein Flüchtling hatte von einem zugefrorenen Meer geschwätzt, das überquert werden könne. Sie hob die Rechte und machte das heilige Kreiszeichen vor ihren ausgetrockneten Brüsten.

In ihren jüngeren Tagen hatte sie ihre Unkenntnis quälend empfunden. Oft hatte sie sich in ihre Pelzkleidung gewickelt, war den oberen Rand des Kliffs entlang gewandert und hatte immer wieder nach Norden gestarrt. Und bisweilen waren Childrim über sie hinweggeflogen, mit ihren einsamen Flügelschlägen, und sie war auf die Knie gefallen, benommen von einer seltsamen Vision vieler heiliger Männer, die das riesige flache Rad der Welt zu einem Ort ruderten, wo der Schnee nicht immer fiel und der Wind nicht immer blies. Mehr als einmal war sie weinend ins Haus zurückgekehrt, zornig auf die Hoffnung, welche die Childrim ihr gebracht hatten.

Obgleich der alte Hasele seine Frau in herrischer Art hinausgeschickt hatte, von ihren Worten hatte er Notiz genommen, wie er es immer tat. Als er mit den zwei Herren aus Pannoval handelseinig geworden war und ein kleiner Stapel wertvoller Kräuter und Gewürze, Wollfasern und Mehl im Austausch gegen die Felle, welche die Männer auf ihren Schlitten laden würden, übergeben worden war, brachte Hasele den Fall des kranken Jungen zur Sprache und schlug vor, dass sie ihn in die Stadt mitnehmen sollten. Er erwähnte, dass der Bursche eine gute, mit Perlenstickerei verzierte Parka trage und daher möglicherweise jemand von Rang sein könnte, oder zumindest der Sohn einer Persönlichkeit von Rang.

Zu seiner Überraschung stimmten die beiden Herren zu und erklärten, dass sie den jungen Mann sehr gern mitnehmen würden. Freilich müssten sie eine kleine Gebühr in Gestalt einer zusätzlichen Yelkhaut erheben, um die Ausgaben abzudecken, die ihnen aus der Beköstigung ihres Schützlings erwüchsen. Hasele murrte ein wenig, gab aber bald nach; er konnte es sich nicht leisten, den Jungen durchzufüttern, wenn er am Leben bliebe, und wenn er stürbe – es bereitete ihm kein Vergnügen, seine Hunde mit den Überresten eines Menschen zu füttern, und der heimische Brauch der Mumifizierung durch Luftbegräbnis war nicht nach seinem Geschmack.

»Gemacht«, sagte er und ging die am wenigsten gute Tierhaut holen, die er zur Hand hatte.

Der Junge war jetzt wach. Er hatte mehr Suppe bekommen und das aufgewärmte Bein eines Schneehasen. Als er die Männer kommen hörte, ließ er sich zurücksinken und schloss die Augen, eine Hand in der Parka.

Sie musterten ihn nur beiläufig und wandten sich wieder ab. Ihr Plan war, den Schlitten mit ihren Erwerbungen zu beladen, noch ein paar Stunden mit Hasele und seiner Frau zu verbringen, sich zu betrinken, den Rausch auszuschlafen und dann die lange und anstrengende Reise nach Pannoval anzutreten.

So geschah es, und ein gewaltiger Lärm erhob sich, als es an Haseles Schnaps ging, und als die Herren auf einem Fellstapel schliefen, war ihr Schnarchen laut und dröhnend. Lorel nahm sich insgeheim Yulis an, setzte ihm Leckerbissen vor, wusch ihm das Gesicht, kämmte sein dichtes Haar und streichelte ihn.

Früh am Morgen des nächsten grauen Tages wurde er ihr genommen. Er täuschte noch immer Bewusstlosigkeit vor, als die Herren ihn auf ihren Schlitten hoben, mit den Peitschen knallten und finstere Mienen schnitten, um eine Befestigung zwischen ihrem Katzenjammer und der beißenden Kälte zu schaffen, und fuhren davon.

Die zwei Herren, deren Leben hart war, beraubten Hasele und jeden anderen Fallensteller, den sie besuchten, bis zum Maximum dessen, wessen jene sich berauben ließen, wussten sie doch nur zu gut, dass auch sie beraubt und betrogen würden, wenn sie die Felle weiterverkauften. Betrügerei war eine ihrer Überlebensmethoden, wie das Anlegen warmer Kleidung. Ihr einfacher Plan bestand darin, dass sie, sobald sie außer Sichtweite von Haseles zusammengeflickter Behausung wären, ihrem neuerworbenen Invaliden die Luftröhre aufschlitzen, seinen Leichnam in die nächste Schneewehe werfen und so dafür Sorge tragen wollten, dass nur die gute, verzierte Parka – vielleicht zusammen mit der übrigen Fellbekleidung – den Markt in Pannoval erreichten.

Sie hielten die Hunde an und bremsten den Schlitten. Einer von ihnen zog einen blitzenden Metalldolch und wandte sich zu der regungslos liegenden Gestalt zurück.

In diesem Augenblick sprang letztere mit einem Schrei auf, warf das Fell, das sie bedeckt hatte, dem Herrn über den Kopf, trat ihn hart in den Magen, sprang vom Schlitten und rannte im Zickzack davon, um nachgeschleuderten Speeren zu entgehen.

Als er sich in Sicherheit wähnte, kauerte er hinter einem grauen Steinblock nieder und spähte zurück, um zu sehen, ob sie ihn verfolgten. Die verschneite Landschaft lag erstorben im trüben Licht. Der Schlitten war bereits außer Sicht gekommen, von den zwei Herren war weit und breit nichts zu sehen. Bis auf das raschelnde Säuseln des Westwindes war alles still. Er war allein in der gefrorenen Einöde, mehrere Stunden vor Freyraufgang.

Ein großer Schrecken kam über Yuli. Nachdem die Phagoren seinen Vater in ihren unterirdischen Bau geschleppt hatten, war er mehr Tage, als er zählen konnte, durch die Wildnis gewandert, benommen von Kälte und Schlafmangel, gepeinigt von blutdürstigen Insekten, die sich in seiner Pelzkleidung eingenistet hatten. Er hatte sich hoffnungslos verirrt und war dem Tod nahe gewesen, als er sich in das Gesträuch geschleppt und die Besinnung verloren hatte.

Ein wenig Ruhe, Wärme und Nahrung hatte seine Gesundheit rasch wiederhergestellt. Er hatte sich widerstandslos auf den Schlitten laden lassen, nicht weil er auch nur das mindeste Zutrauen zu den zwei Herren aus Pannoval – die ihm ganz und gar nicht geheuer waren – gehabt hätte, sondern weil er die alte Vettel nicht ertragen konnte, die ihn in einer Weise bemutterte und streichelte, die ihm zuwider war.

Nun war er nach diesem kurzen Zwischenspiel wieder in der Wildnis, und ein frostkalter Wind zupfte ihn an den Ohren. Er dachte an seine Mutter Onesa und an ihre Krankheit. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie Blut gehustet. Und sie hatte ihn so totenbleich und schrecklich angesehen, als er mit Alehaw aufgebrochen war. Erst jetzt wurde Yuli klar, was dieser Blick bedeutet hatte: sie hatte nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Selbst wenn er gewusst hätte, in welche Richtung er sich wenden sollte, wäre es nutzlos, den Rückweg zu seiner Mutter zu suchen, wenn sie inzwischen ein Leichnam war.

Was also war zu tun?

Wenn er überleben wollte, gab es nur eine Möglichkeit.

Er stand auf und trottete dem Schlitten nach.

 

Sieben große gehörnte Hunde von der Art, die als Asokin bekannt waren, zogen den Schlitten. Das Rudel wurde von einer Hündin namens Gripsy geführt, und sie alle waren kollektiv als Gripsys Gespann bekannt. In jeder Stunde rasteten sie zehn Minuten lang; bei jeder zweiten Ruhepause wurden sie mit faulig riechendem Trockenfisch aus einem Sack gefüttert. Die zwei Herren wechselten sich ab im Dahinstapfen neben dem Schlitten und dem Liegen darauf.

Dies war ein gewohnheitsmäßiges Verfahren, das Yuli bald verstand. Er folgte den Reisenden in sicherem Abstand, und selbst wenn sie außer Sicht waren, hatte er die frische Fährte und, solange es windstill war, den ranzigen Gestank der Männer und Hunde in der Nase. Bisweilen schloss er auf, um zu sehen, wie Hunde und Schlitten gehandhabt wurden. Er wollte lernen, wie man ein Hundegespann lenkte.