Herman Bang Romane und Novellen Band 3 -  - E-Book

Herman Bang Romane und Novellen Band 3 E-Book

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Beschreibung

Die Werke Herman Bangs (1857-1912) gehören zu den bedeutendsten der dänischen Literatur, teils wegen ihres tiefen Einblicks in die menschliche Seele, teils wegen ihres impressionistischen, filmischen Stils, der die Prosa seiner Zeit veränderte und noch immer die Literatur der Neuzeit prägt. Die auf zehn Bände angelegte Neuübersetzung der Romane und Novellen fußt auf der großen historisch-kritischen Gesamtausgabe der „Danske Sprog- og Litteraturselskab“, Kopenhagen 2008–2010.

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Manche Anmerkungen sind der dänischen Ausgabe entnommen (wörtlich oder sinngemäß), die meisten beruhen jedoch auf eigenen Nachforschungen (Näheres siehe Vorwort zu Band 6).

Der DSL und den dänischen Autoren der Werkausgabe sei hiermit ausdrücklich für die Überlassung der Rechte der Übersetzung ins Deutsche gedankt. Herrn Sten Rasmussen, Frau Esther Kielberg und Herrn Flemming Conrad sei für die Unterstützung bei sprachlichen und inhaltlichen Zweifelsfragen ebenfalls gedankt.

IN KAPITÄLCHEN GESETZTE TEXTE KENNZEICHNEN TEXTE, DIE HERMAN BANG AUF DEUTSCH GESCHRIEBEN HAT.

Inhaltsverzeichnis

Tine

Anmerkungen

Nachwort

Ludvigsbakke

Anmerkungen

Nachwort

Tine

… „Laß uns Deine Zeugnisse begreifen.“

… „Giv os at fatte dine Vidnesbyrd“

Zur Erinnerung an meine Mutter

Dieses Buch gehört dir.

Damals, als du noch stark und glücklich warst, gingen wir eines Tages, wie wir, als ich noch ein Junge war, so oft zu tun pflegten, wenn die Dämmerung sich herabsenkte, eine „Wunschwanderung“ durch die Straßen der Stadt1: In den Schaufenstern zeigten wir auf alles, was wir wünschten, was wir teilten, und wir stritten über die Herrlichkeiten, die uns nicht gehörten. An jenem Tag hielten wir auch vor dem Schaufenster des Buchhändlers, und du lasest alle Titel der Bände vor und sagtest: „Wenn du einmal ein Buch schreibst, sollst du meinen Namen darüber setzen.“

Und dann, als du bereits krank warst und wir so oft in der ausgedünnten Allee des Wäldchens2 gingen – du drängtest an die späte Septembersonne – nahmst du eines Tages meine Hand, und du sagtest mit deiner Stimme, die so voll Angst und Zärtlichkeit war: „Wenn ich gestorben bin und du, mein Junge, einmal ein Künstler geworden bist, wirst du dann darauf achten, mir versprechen, darauf zu achten, daß man mich nicht – mich nicht ganz vergißt?“

Und du weintest, Mutter, weil du sterben mußtest.

Um was du batest, habe ich nie vergessen.

Jetzt setze ich deinen Namen über dieses Buch. Ich weiß, es ist deiner Liebe so wenig wie deines Herzen oder deines Geistes würdig. Aber seine Erzählung ist in meinem Geist durch die Erinnerung an dich und die Stätte, wo du mich gebarst, erwachsen. Du nanntest sie bis zu deinem Tode deine Heimat.

Zeiten des Unfriedens und fremder Macht verheerten bald den lichten Fleck, der dir weich und warm war, den du in Freude und Sonne leben wolltest. Wie die Feinde zu unserer alten Heimstatt kam bald auch das Unglück zu uns.

Und jetzt, wo du längst gestorben bist, setze ich deinen Namen über dieses Buch über die Zeit der Niederlage und unseres verlorenen Heimes.

… … …

Diese Erzählung wird von den Erinnerungen an mein erstes Heim3 gespeist. Bis vor wenigen Jahren glaubte ich, nur drei klare und unvergängliche Erinnerungen aus dieser meiner ersten Zeit zu haben. Es waren drei Bilder, und meine Mutter war in allen der Mittelpunkt.

Ich sehe meine Mutter in der großen Wohnstube in Asserballe4 schwarzgekleidet am mittleren Fenster sitzen, stumm und unbeweglich und ganz blaß, die weißen Hände in ihrem Schoß. Sie sprach nicht und weinte nicht. Aber unsere Hände – wir Kinder hatten wohl Angst ob dieser ungewohnten Trauer, zupften an ihr und fragten – streichelte sie weg, als schmerzte es sie, daß sie nur ihr Kleid berührten.

Diese bildhafte Erinnerung war die erste meiner Kindheit. Ich glaube, die zweite muß von ungefähr einem Jahr später stammen. Mit meiner Mutter gingen wir – meine Schwester und ich – eilig, so daß ich kaum folgen konnte, einen Weg entlang und über ein Feld. Wir kamen zu einer grünen Anhöhe und gingen hinauf. Wir erblickten die Kirche zu Hause und andere Kirchen und viele Häuser, die ich noch im Grünen liegen sehe. Und Mutter nahm mich hoch, und sie zeigte uns Ort für Ort im Land, bis sie wieder schwieg und nur weinte und weinte. Mich setzte sie ins Gras, während sie weiter über das grüne Land starrte – seither glaubte ich als Kind, daß wir an jenem Tag über die ganze Insel hatten blicken können –: „Mutter, Mutter“, beharrte ich, „warum weinst du?“

„Weil wir wegmüssen“, antwortete sie.

Am nächsten Tag verließen wir unsere Heimat.

Die letzte Erinnerung steht in genauem Zusammenhang mit dieser. Wir waren in Horsens, wo ich als Junge glaubte, wir wären zu armen Schluckern geworden, weil die Zimmer in der Stadt so viel kleiner waren und niemand kam und uns besuchte.

Es war Abend oder Nacht, und es stürmte. Mutter kauerte sich zitternd an die Wiege meines Bruders Aage5 – und sie muß hastig aus ihrem Bett gesprungen sein, denn ich sehe sie im Nachthemd mit dem langen Haar – mit ihren Mädchen von Als6 um sich herum, die schrien.

Und die Mädchen zitterten, so daß sie uns kaum auf dem Arm halten konnten, und alle Türen standen offen und klapperten, und ein Fenster – obwohl wir fast nichts anhatten.

Auf der Straße dröhnten die trampelnden Tritte vieler eiliger Füße und die Signale angsterfüllter Hörner7.

„Was ist denn los – was ist los, Mutter?“ schrien wir.

„Das sind die Dänen, die fliehen“, sagte Mutter mit ihrer frierenden Stimme, und wir weinten laut los, während die Mädchen aus Als wie zwei Hunde jammerten; wir hörten dauernd, dauernd Leute, die durch die Straße liefen, und die Truppen, die dahineilten, und die Hörner nah und fern – durch den Sturm.

… Ich glaube, daß dieses eine Bild von Flucht und Hast und Schande reichte, um mein ganzes Leben zu durchdringen. Ich spüre noch die Angst dieser Minuten in meiner Feder, wenn ich Zusammenstürzen, Vernichtung, Tod, Ruinen schildern soll. Bereits in meinen frühesten Werken war der Eindruck stark genug geworden, eine Schilderung zu schaffen, die „steht“8. Und seither hat sich derselbe Eindruck Mal auf Mal in Bildern von Ruinen verkleidet – bis zu jenem Tag, wo er ganz die Macht übernahm und in diesem Buch ganz ausgeformt werden wollte.

Wie hat es sich wohl im Ganzen mit diesen drei Erinnerungen verhalten, die meinen Geist so fest ergriffen haben? Haben sie das nur gemacht, weil sie in drei ganz tiefe Schichten meines Temperamentes trafen. Oder haben sie – außergewöhnlich wie sie waren – es mit eigenmächtigen Händen selbst gebildet und die unlösbaren Knoten in das beginnende Leben geschlagen?

Sicher ist – als eine Art Leitmotiv finde ich sie in meinem Werk bis zu diesem Tag wieder. Es ist meine Überzeugung, daß die schwarzgekleidete Trauernde in der Stube zu Asserballe – wie eine schwarzgekleidete Alabasterstatue sah ich sie seither – die erste Mutter von Nina Høegh9 und Katinka Bai10 ist. Dieser Eindruck hat ihre stumme Trauer und ihre Resignation geboren.

Und jene erste Abreise hat tiefe Kerben geschlagen. Aufbruch, Auflösen des Heimes, Wegzug, Abschied nehmen melden sich schmerzlich in allen Schilderungen – in diesem Buch ist die Bitterkeit des Abschieds nur die Einleitung.

Aber vor allem finde ich immer wieder – in Themen, in der Darstellung, im Stil – überall, wie ich schrieb und was ich schrieb: den Lärm, das Tempo, den Schrecken in den Alarmsignalen, die die Truppen zur Flucht aus Horsens riefen.

… … …

Diese drei Erinnerungen waren, wie gesagt, bis vor ein paar Jahren die einzigen, die mein Gehirn von meiner allerfrühesten Kindheit bewahrt zu haben schien.

Aber im Ausland brachen mehr hervor. Dies war der Fall, als ich mich mit den Vorarbeiten von „Stuk“11 beschäftigte.

Jeder Künstler möchte wissen, wie viele Tricks das Hirn eines Künstlers, wenn er den Plan zu einem Werk entwirft oder damit beginnt, es auszuformen, findet, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Es ist dieses eigentümlichste Doppelspiel von Welt, dieses zwischen dem Künstler und seinen heuchlerischen Nerven, die vor Schreck, vor all den Anstrengungen, die sie erwartet, mit tausend Kunstgriffen seinen Plan hintertreiben. Es ist ein ewiges einander Überlisten wie bei zwei pfiffigen Spielern, wovon jeder von dem anderen weiß, daß er betrügt.

Das Hirn jagt nicht nur Wochen hindurch den unbezwingbaren Schrecken beim bloßen Anblick eines Pinsels, Modellierstabes oder Tinte ein.

Nein, es verwirrt ihn, indem es als Hilfstruppen Stürme fremder Erinnerungen und seinen Plan nicht betreffende Erinnerungen herbeiruft. Es belagert ihn mit anderen Ideen und plötzlichen Entwürfen, deren Fata Morgana selbst die sichere Küste der fernen Vollendung zu sein scheint.

Unter einem solchen Zweikampf zwischen dem Willen des Schaffenden und dem Widerwillen des Gehirns, sich unter das Joch eines künstlerischen Planes zu beugen – war es gerade, daß alle Erinnerungen an das Heim auf Als hervorbrachen.

Ich sah plötzlich Stätten und Gesichter und Personen mit Gestus und Gebärden und hörte Laut und Ton und vernahm es wie die Luft selbst. Ich eroberte – und das gegen meinen Willen, denn ich wünschte ja, ganz einer völlig anderen Sphäre, Luft und Plan anzugehören – wie aus einem Dunkel, das sich langsam lichtete, und wich in mein erstes Heim zurück.

Dieser Ort, den ich vor dem Krieg verließ, und den ich fünfundzwanzig Jahre lang nicht wieder gesehen habe, lag zuletzt mit jedem Weg, jedem Busch in unserem Garten, jedem Raum, jeder Tapete in unserem Haus vor mir. Und ich fand das Dorf mit den Höfen, wie sie da lagen, wieder und die Wege mit den lebenden Hecken und den Kirchplatz mit der Schmiede12 bei dem kleinen Weiher13 und die Schule14, deren Bewohner ich wieder sah.

Und seither wollten diese Erinnerungen mich nicht verlassen. Sie haben mehr hervorgerufen. Sie haben sich mit der Deutlichkeit und Macht des Lebens selbst gewappnet. Und die bei den ersten Malen plötzlich aus Schichten der Erinnerung, die das Bewußtsein nicht kannte, hervorbrachen; so haben sie sich auch in den Gegenden meines Sinnes, deren Leben mir dunkel, langsam ist, immer sicherer unwiderstehlich zu einem Bild des verlorenen und verheerten Heimes gesammelt. Die Melodie dieses Buches wurden wieder Alarmsignale und fliehende Schritte.

… … …

Lassen Sie mich hier eines sagen.

Die Entstehungsgeschichte eines Buches wird vielen ganz gleichgültig sein. Es wird auch die nicht ergreifen, die sagen werden, daß ich all dieses erzähle und daß das ganze Gerede nur dazu dient, nur noch einmal voller Selbstbehagen ein verehrtes Publikum mit meinem vortrefflichen Ich unterhalten zu können. Oder, daß ich versuche, mit der Deutlichkeit meiner Erinnerungen und vorgespiegelter Klarheit zu prahlen, um der aus diesen Erinnerungen erwachsenen Geschichte etwas Relief zu verleihen.

Das ist überhaupt nicht so.

Ich weiß sehr gut, daß die Deutlichkeit, die die Erinnerungen für mich haben, den Leser nicht im Geringsten betreffen. Er beurteilt das Kunstwerk nur nach der Fähigkeit dieser selben Erinnerungen, durch das Werk zu wirken und ihn zu überzeugen.

Es ist vielleicht sogar auf eine Weise sehr unklug, ein Buch auseinanderzunehmen, um zu zeigen, was in ihm und hinter ihm steckt. Jedes Stück Kunst muß am besten frei dastehen und für sich selber sprechen.

Aber die Sache ist, daß ich glaube, es wäre für den Psychologen interessant und erhellender für das Wesen der Kunst als gewisse kürzlich wieder erneuerte ästhetische Diskussionen15 – ob die Schriftsteller immer wieder die Geburt ihrer Arbeit16 und ihre Wege erhellten und versuchten, die Prozesse des Gehirns zu kontrollieren, die ihr Vorbringen begleitet.

Vielleicht bekäme man so mehr als einen Wink, der hastige und ferne Lichter im Halbdunkel des Seelenlebens anzündete.

… … …

Sowohl Kritik als auch Publikum beklagten in „Stuk“ die unerträgliche Unruhe der Darstellung und die drangvolle Schar von Personen17. Ich habe versucht, in dieser Erzählung die Unruhe zu mindern und die Anzahl der Personen einzuschränken.

Aber wie weit mir das geglückt ist, weiß ich kaum. Diese Unruhe und Mannigfaltigkeit beruht, glaube ich, in der Sicht, die niemand verändern kann. Ich nehme nun einmal auf diese Weise wahr. Ich sehe meine Personen nur Bild auf Bild, und nur in Situation auf Situation höre ich sie reden. Ich muß oft stundenlang warten, bevor sie durch einen Blick, eine Bewegung, ein Wort mir ihre wirklichen Gedanken verraten, die ich ja nur erraten kann wie ich die anderer lebender Menschen erraten kann – derjenigen, mit denen ich umgehe und die ich kenne.

Wenn ich mich dann nicht anstrenge, die einzige und kurze Situation durchzuführen, in der ich sie sehe, die Bewegung, die kleine Bewegung, mit der sie sich verraten, den Ton der Worte, in dem sie sich entblößen, alles zusammen so lebend, so quicklebendig wie das Leben selbst zu machen – wie könnte ich dann hoffen zu überzeugen?

„Lebendig“ zu machen ist dann das schwere – und sicherlich oft mißglückte – Bestreben.

Aber das Lebendige ist ja Bewegung und Vielfalt.

Vielfalt muß werden. Denken Sie daran, wenn man jetzt diese Schule, in der Tine wohnt, schildern will, man sie nicht aus ihrer Nachbarschaft herausreißen kann. Die Stimmen der Nachbarn dringen durch ihre Fenster, durch ihre Türen. Ihr Leben vermischt sich mit dem Leben der Schule.

Wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird, schicken die Schicksale der Schule Dünungen über den Platz sowohl zum Gasthaus18 als auch zur Schmiede, und deren Begebenheiten wieder Dünungen zurück; um das Leben der Schule zu verstehen, muß das des Gasthauses und der Schmiede wohl dabeisein.

Selbst draußen über den Feldern, wo sich der Horizont schließt, selbst dort müssen wir wissen, daß das Leben sich fortsetzt und daß gelebt wird – ein rollender Wagen, ein Hund, der bellt, ein Gesang, der in der Ferne zu hören ist, müssen es uns erzählen und uns daran erinnern.

Wir müssen, damit diese Schule als Leben überzeugen kann, die Gegend spüren, wo sie liegt: Wir müssen die Insel Als bevölkern. Hat der Kreuzweg der Schule keine Wanderer – fahren nicht hundert Wagen an ihr vorbei zu hundert Heimen und hundert Leben?

Nun wohl – wir müssen diese Wanderer, ihr Kommen und Gehen, die Fragen, die Grüße, die Antworten erspüren – auch sie sind Teil des Daseins der Schule und müssen erwähnt werden.

Wie könnte dann bei all dieser Bewegung Unruhe vermieden werden? Malt nicht dagegen gerade die Unruhe all diese ewige Beweglichkeit, die man wünscht? Und dies: Daß der Leser nicht „sich an das Eine vor dem anderen erinnern kann“ – was macht dies, wenn der große Gesamteindruck sich nur in großen Linien aus der Unruhe, aus der er erschaffen ist, erheben könnte.

Nur Vielfalt und Bewegung können mir das Bild vom Leben geben. Sie sind meine Mittel, die ich nicht aufgeben kann. Hoffentlich kann ich in der Handhabung dieser Mittel Fortschritte machen. Aber tausendfaltig sind die Schwierigkeiten bei einer Kunst, die dem Leben starr in die Augen blickt, und deren große, deren ferner Ehrgeiz darin besteht, dieses Lebendige, dieses Unbegreifliche und Unbegriffene, dieses beständig veränderte Leben festzuhalten.

… … …

Du batest mich, Mutter, ich solle darauf achten, daß sie dich nicht ganz vergessen sollen.

Nun ist meine Jugend vorbei, und alles, was ich in zehn Jahren schrieb, schrieb ich, um zu leben und schrieb des Schreibens willen. Das scheint mir oft so unendlich fern zu liegen und so unendlich klar.

Zwei streiten sich – und der Streit wird wohl nie ganz enden – in all diesen Worten: mein altes Geschlecht 19 und du, die in es eintratst, neu und fremd. Du trugst dessen Name mit begeisterter Hingabe. Du liebtest es wie ich. In Laufe von einhundert Jahren hatte es Staatsmänner hervorgebracht, die das Land nicht vergessen wird, berühmte Ärzte20, die Generation auf Generation die größten und volkstümlichsten im Norden waren.

Aber dann wurden deren Söhne Pfarrer21, weil sie ohnmächtig wurden, wenn sie Blut sahen, und wirkungslose Nichtsnutze, deren leere Gehirne künstlich angefeuert werden mußten.

Du erzähltest mir oft von der Ehre unseres Geschlechts. Einer seiner großen Ärzte hinterließ mir die Erzählung22 über all dessen Irrwege und ihre Krankheiten: Er wollte – zur Belehrung – seine Fäden in die Geschlechtsgeschichte einfädeln.

Mein Geschlecht in mir schrieb wohl in meiner Jugend viel – viel.

Aber auch du, Mutter, schriebst das deinige.

Stella Høeg23 und Nina und Fräulein Agnes24 und Frau Katinka – das ist dein Blut. Ihre Gestalten spiegeln dich und dich allein. Sie sind Kinder deiner Freude und Kinder deiner Trauer. Sie tragen dein Antlitz und deine Stimme. Sie lieben und leiden mit deinem Herzen. Sie sanken jung ins Grab wie du, und aus dem gleichen Kummer.

Und wenn sie leben müssen – selbst nur die kurzen Jahre – so lange darfst du nicht vergessen werden.

Über dieses Buch setze ich deinen Namen als eine Erinnerung an die lichte Zeit und das Heim, das man wie hinter einer Türe erahnt, einer Tür, die schnell geschlossen wird. Als die Zeit des Unfriedens über unser altes Haus kam, kamen auch bald Unglück und Tod zu uns.

Herman Bang

I

Tine lief neben dem Wagen, weiterweinend, während Frau Berg die letzten Worte laut in die Dunkelheit und den Sturm rief.

„Dann bringt ihr noch – in der blauen Kammer – heute abend … noch heute abend alles in Ordnung!“

„Ja – ja“, antwortete Tine und konnte vor lauter Tränen nicht sprechen.

„Und grüß – und grüß!“ rief Frau Berg durch das Weinen hindurch; der Wind verwehte ihre Worte. Noch ein letztes Mal lief Tine hinzu und griff nach ihrer ausgestreckten Hand, aber sie faßte sie nicht mehr. Dann blieb sie stehen; und wie ein großer Schatten verschwand der Wagen schnell im Dunkel. Nun war er nicht mehr zu hören.

Tine ging durch die Allee und den Hof nach Hause, wo die Jagdhunde leise winselten. Sie öffnete die Tür zum Flur: Es war so leer mit den unbenützten Haken und Herlufs Spielzeugecke, die nun ausgeräumt war. Sie ging in die Küche, wo das Talglicht mit blakendem Docht zwischen den Resten auf dem Teetisch brannte.

In der Gesindestube saßen die Leute still, mit Lars am Tischende.

„Ich soll grüßen“, sagte Tine mit leiser Stimme, und es wurde wieder still. Nur Maren, die mit der Schürze über dem Kopf wie ein wackelndes Bündel dasaß, jammerte drüben am Ofen mit langgezogenen Heultönen.

„Ja“, sagte Lars nach einer Weile bedächtig: „Nun sind sie weg“, sagte er, und der Kätner nickte zur Bekräftigung.

„Dann sollten wir das noch zum Oberförster umräumen“, sagte Tine, leise wie zuvor, und ging, gefolgt vom Hausmädchen Sofie, das helfen sollte.

Im Gang öffnete sie die Tür zur Wohnstube. Die Lampe brannte ruhig auf dem leeren Tisch, und die Türen zu den anderen Stuben, die offen standen, öffneten sich wie drei stille, dunkle Schlünde zu dem verlassenen Raum.

„Den Nähtisch hat sie mit“, sagte Sofie.

„Ja“, seufzte Tine. Der Platz auf dem Fenstertritt war leer.

„Und dann die Bilder“, sagte Sofie und wies auf sie.

Rund um den Spiegel glotzten die hellen Flecken auf der Tapete, Überbleibsel der Porträts, die abgenommen waren.

Das Weinen wollte auch bei Tine hochkommen, und sie drehte sich um: „Ja – laßt uns hineingehen“, sagte sie, und sie gingen mit dem Licht die Treppe hinauf in die Schlafkammer. Die beiden Betten standen nebeneinander, von derselben Decke bedeckt – es war die, die Tine zuletzt zu Weihnachten gestrickt hatte; am Fußende stand Herlufs Gitterbett, abgezogen.

Beim Anblick des leeren Bettes begann Sofie wieder wie ein Schloßhund zu heulen, das Talglicht in der Hand, während sie davon redete, als „der Junge“ klein war; sie war Herlufs erstes Kindermädchen gewesen, und für sie gab es auf der Welt keinen anderen Jungen als ihn.

„Er war kaum geboren, da wurde ich sein Kindermädchen“, sagte sie in ihrem Stadtjütländisch, einer sehr verklemmten Sprachweise: Sie schien Schwierigkeiten zu haben, den Mund richtig zu öffnen, und sie verschluckte die meisten „E“ der Sprache.

„Er wollte nie von anderen als mir getragen werden und dann der gnädigen Frau“ – sie schluchzte bei jedem Wort – „nein – er wollte nicht …“

„Ich habe ihn manches Mal hinüber zur gnädigen Frau getragen“, sagte sie, „morgens … Denn dorthin wollte er“ – sie lächelte plötzlich durch das Weinen hindurch – „und es warm haben, dieser Strick“, schloß sie und weinte wieder.

„Ja“, sagte Tine, die auf der Bettkante saß.

Sie dachte an die Wintermorgen, als sie mit dem Tuch um den Kopf hinablief, wenn es hell wurde – in der Schule war fast das halbe Tagewerk vollführt – und sie schlug mit den flachen Händen dreimal an die Schlafzimmertür, um Frau Berg und Herluf zu wecken, die in ihrem süßen Schlummer dort ruhten.

Frau Berg kam verschlafen im Bett hoch. „Es ist Tine, es ist Tine!“ rief sie, während sie mit den Händen auf die Decke klatschte.

„Kaffee – Kaffee!“, schrie sie mit ihrer fröhlichen Stimme, so daß man es bis unten in die Küche hören konnte, und Herluf begann vor Freude in seinem langen Nachthemd wie ein Eichhörnchen im Bett herumzutoben .

Während sie miteinander redeten, zog Tine die Schuhe aus und kam ans Fußende von Bergs Bett – die Scheiben waren vereist, so kalt war es – mit der Bettdecke über sich, um die Wärme zu halten.

Sie plauderten stundenlang. Herluf war „Chinese“ mit gespreizten Fingern, und Herluf schlug Salti mortali auf allen Bettdecken; Frau Berg und Tine lachten, so daß die Betten wackelten und schaukelten; und Sofie stellte sich mit einem Rest Kaffee in einer großen Tasse in die Tür, um an dem fröhlichen Treiben teilzuhaben.

Aber schließlich konnte Sofie wegen Herluf plötzlich eingeschnappt sein und sagte: „Das Kind soll dort nicht herumspringen und Theater spielen“, sagte sie und holte ihn vom Bett, um ihn in die Wohnstube zu tragen und ihn in der Wärme anzuziehen.

Frau Berg und Tine blieben in den Betten, über alles Mögliche schwatzend – Frau Bergs Mund stand nie still, wenn sie mit Küsters Tine zusammen war –, bis Tine plötzlich in einem Satz aus dem Bett sprang: Die Flurtüre war gegangen.

„Der Oberförster!“ rief sie und bekam vor lauter Eile kaum die Schuhe an.

„Schließ ab! Schließ ab!“ rief Frau Berg: Und Tine gelang es, den Schlüssel umzudrehen.

„Ja, ja, ich ziehe mich gerade an, ich ziehe mich an, Henrik!“ rief sie Berg zu, der anklopfte, und sie ließ Tine mit dem Waschgeschirr hantieren, so daß er glauben konnte, sie sei bereits aufgestanden.

… Sofie stand immer noch vor dem Gitterbett mit dem Licht und plauderte über ihren Herluf und vergoß Tränen über Gut und Böse.

„Aber ein boshafter Troll war er, das war er“, sagte sie.

„Ja, das war er“, wiederholte sie.

Tine saß noch auf der Bettkante und lächelte: Ja, was Frau Berg doch für Einfälle hatte – so lustige Einfälle.

Sie dachte an den Morgen, als der Oberförster durch die Flurtür gekommen war, gerade als sie in den Betten in bester Unterhaltung saßen, und Frau Berg hatte plötzlich ihre beiden Beine ergriffen – der Oberförster war bereits auf der Treppe – und hatte sie unter die Bettdecke des Oberförsters gezogen – er war bereits an der Tür –: „Still! Still!“ flüsterte Frau Berg – –

Er war bereits drinnen – Tine lag wie eine Maus.

Und Frau Berg erzählte und redete mit dem Oberförster, der zuhörte und lachte und sich hinsetzte – mitten auf sein Bett.

„Du setzt sich auf Tine, du setzt dich auf Tine!“ schrie Frau Berg, vor Lachen ganz atemlos … Und Tine sprang aus dem Bett, mit hochrotem Kopf und unterdrücktem Weinen; sie lief aus der Stube, die Treppe hinab, bis zur Schule, und kam drei Tage lang nicht in den Oberförsterhof, so schämte sie sich.

… Tine erhob sich, und sie begannen das Bett des Oberförsters abzuziehen und legten das Bettzeug vor die Tür.

Sie trugen Bettdecken und Matratzen die Treppe hinunter durch die Stuben, wo hinter ihnen alle Türen offen blieben.

„Es ist so leer, als wären wir alle verreist“, sagte Sofie.

„Ja“, sagte Tine, die eine Matratze schleppte.

In der blauen Gästekammer war es kalt wie in einem Keller; dort hatte seit dem Sommer niemand mehr geschlafen. Das eine Gästebett sollte raus, und das andere wurde an die Wand gelehnt.

Während Tine und Sofie noch umhergingen und mit Laken und Waschgeschirr hantierten, kamen die alten Bøllings, um die Tochter zu holen. Als Madame Bølling in die Wohnstube trat, wo es aus allen Richtungen zog, blieb sie auf dem Läufer stehen und blickte sich mit Tränen in den Augen um: „Ja - jetzt sind sie fort“, sagte sie und faltete die Hände.

Die beiden Alten setzten sich still auf ihre gewohnten Plätze, zwei Stühlen am Sofatisch, etwas auf die Kante – sie wollten nie auf dem Sofa im Oberförsterhof sitzen, dort sollte Frau Berg bleiben – während Tine weiter aus und ein ging und Sofie schon Holzscheite zu dem blauen Kachelofen trug: Sie hatte inzwischen „die Schürze“ angelegt.

Die Schürze war das Zeichen, daß die Abreise „ihren Kopfschmerz“ ausgelöst hatte. Sie bekam ihn regelmäßig an fünf Tagen der Siebentagewoche und hatte keinerlei Lust, mehr als „Ja“ und „Nein“ zu sagen oder sich irgendetwas über das Notwendigste hinaus vorzunehmen. Nach einer Großwäsche hatte Sofie acht Tage lang Kopfschmerzen und schikanierte das ganze Haus.

Tine trat in die Tür zur Stube des Oberförsters: „Wollt ihr sehen“, sagte sie, „jetzt sind wir fertig.“

„Ja, lassen Sie uns das“, antwortete der alte Bølling, und sie gingen durch die Stube des Oberförsters in die blaue Kammer, wo das eine schmale Bett verlassen an der hellblauen Wand lehnte; es war so kalt, daß die beiden Alten schauderten.

Sie standen alle drei vor dem Bett – Tine hatte Frau Bergs Bild über das Kopfende gehängt.

„Na, hier liegt er ja recht stattlich“, sagte Bølling und versuchte, ein wenig zu lachen: Alle drei waren gerade dabei, in Trübsal zu versinken.

„Ja, wenn es nur schön warm wird“, sagte die Madam, „wenn es hier nur warm wird.“

Sie kehrten in die Wohnstube zurück und setzten sich wieder, Tine unten auf dem Fenstertritt, am alten Platz des Nähtisches. Sie sprachen nicht viel, nur dann und wann einen einzelnen Satz, während sie dasaßen, alle in denselben Gedanken.

Madam Bølling schüttelte den Kopf und blickte in die Stube hinein:

„Ja – das ist ein schönes Haus gewesen, ein richtig schönes Haus“, sagte sie. Beide alten Bøllings gebrauchten immer das Adverb „richtig“, das sie sozusagen, von Handwerks wegen, aus Bøllings häufigem Umgang mit der Bibel, sagten.

Die Madam verweilte wieder, bis ihre Gedanken einen anderen Weg nahmen: „Nun war wohl alles gut mitgekommen und gut verpackt?“ fragte sie. – Und die Brombeeren waren gut in der Kiste verstaut?“

Die Brombeeren waren zwei Krüge Eingemachtes, das Madam Bølling eingemacht hatte, damit Frau Berg sie mit nach Kopenhagen nehmen konnte:

„Denn das ist ihr bestes Eingemachtes, Tine“, sagte die Madam, „das ist es wirklich … und sie sagen, sie hätten dort drüben keine Brombeeren.

Der Oberförster selbst hat sie gut verpackt, Mutter“, sagt Tine.

„Ja, wir haben einige Male – Madam Bølling redete weiter in demselben leisen Ton – „hier Brombeeren bekommen – – und dann Eingemachtes … – für die Zwiebäcke“, schloß sie nach kurzem Schweigen.

„Das haben wir“, sagte Tine und blickte in die Luft.

Sie dachte an die Abende, wenn man sie aus der Schule holte – meist war der Oberförster weg – und sie zum Tee hinabgingen und die Krüge mit dem Eingemachten und die Zwiebäcke auf den Tisch kamen und sie aus Untertassen aßen, während sie plauderten, und Frau Berg und sie lachten und sangen.

„Ein Lied, Tine, ein Lied!“ rief Frau Berg und schlug an die Sofalehne; und sie setzten mit „Hr. Peder“25 und „Flieg, Vogel flieg über die Wellen des Furesøs“26 und „Im Königshain“27 ein, bis daraus ein Walzer wurde, so daß sie sich über den Teppich schwangen und Frau Berg außer Atem Milchpunsch verlangte, der in einem Steinkrug hereingebracht wurde.

„Ja, das reicht doch für einige Abende, Tine“, sagte Madam Bølling, die immer noch an die Brombeeren dachte – „Damit sie es dort drüben wie zu Hause haben können.“

Und der alte Bølling, der mit gefalteten Händen dasaß und nicht hörte, was die anderen sagten, sondern in seine eigenen Gedanken versunken war: Jetzt waren dreizehn aus der Gemeinde einberufen, hatte er zusammengezählt – der alte Bølling sagte:

„Ja, ja, Gottes Wille geschehe“, sagte er und erhob sich.

Die Alten wollten nach Hause: Tine würde ja doch bleiben und auf den Oberförster warten. Aber Tine ließ sie nicht gehen, sie mußten ihr zuerst helfen; sie ertrug es nicht, die glotzenden, hellen Flecken rund um den Spiegel zu sehen, sie mußte etwas anderes aufhängen – etwas, das sie verdecken konnte. Sie nahm „König Frederik“28 und „Die Schlacht bei Isted“29 und „Fredericia“30 im Wintergarten, und die beiden Alten brachten die Bilder, während sie den Spiegel abnahm.

Madam Bølling stand mit dem Bild „Die Helden von Isted“ da, die noch mit den weißen Bändern um die Stirn kämpften. Sie betrachtete sie, und ein paar Tränen fielen auf das Glas – sie dachte an die, die nun ihre Gesundheit und ihr Leben verlören.

„Komm, Mutter!“ sagte Bølling und ergriff das Bild, aber auch er behielt es so lange, daß Tine es aus seinen Händen nehmen mußte.

Die Bilder kamen auf ihren Platz, und die Alten, die bereits die Mäntel angezogen hatten, setzten sich wieder auf die beiden Stühle und blickten auf die Helden von Isted und auf den „König“.

Tine war hinausgegangen und kam mit einem vierten Bild. Es war ein Porträt von König Christian als Thronfolger in der Uniform der Kavallerie31, das in einer der Gästekammern gehängt hatte. Sie schlug unter König Friedrichs Bild einen Nagel ein und hängte das Porträt auf den leeren Platz.

Sie verharrten alle drei eine Weile still vor den vier Bildern.

„Ja, ja, das ist ganz richtig, Tine“, sagte dann Bølling, „es ist doch der König.“

Die Alten traten in den Gang, das Talglicht in der Küche war am Herunterbrennen. Tine stellte den Leuchter ins Fenster, so daß er für die Eltern ein wenig in den Hof hinaus leuchten konnte. Aus der Waschküche war großes Spektakel zu hören, es war Maren, die vor lauter Trauer umherrannte und mitten in der dunkelsten Nacht scheuerte, während sie auf die Melodie sang: „Wer weiß, wie nah mein Ende“32, so daß es bis zur Scheune zu hören war:

Es liegt nun Friedrich aufgebahret

Und schlummert sanft für ewge Zeit.

Rings trauernd kniet sein Volk gescharet,

Es weint um ihn aus Dankbarkeit.

Der kühn versprach: Ich kenn die Pflicht!

Käm höchste Not, ich laß euch nicht!33

Die Eltern waren aus dem Hof, aber Tine blieb auf der Treppe stehen. Sie lauschte nach den Jagdhunden, die aus ihrer Hütte knurrten.

Dann lächelte sie: Sie wollte sie mit hinübernehmen – das würde den Oberförster, wenn er heimkam, freuen. Sie waren doch etwas Lebendiges, das ihm entgegenkam.

Sie ging über den Hof und öffnete die Tür zur Tenne und zur Hundehütte. Ajax und Hektor sprangen unter leisem Bellen an ihr hoch und liefen dann vorneweg durch die offene Flurtür.

Drinnen in der Wohnstube setzte sich Tine auf den leeren Fenstertritt. Ihr deuchte, sie sei noch nie so traurig gewesen – so beklommen und betrübt wie jetzt, während sie in den öden Hof hinausstarrte. Das Licht im Küchenfenster flackerte noch einmal über das Weiß der Scheune – dann war es auch erloschen, und sie sah nur noch den Schatten des Nußbaumes mitten in dem dunklen Hof.

Es war gestern abend, als Frau Berg hier bei ihr auf dem Tritt saß und auf den blattlosen Baum blickte: „Ob ich wohl heimkomme, bis er wieder ausgesprungen ist?“ hatte sie gesagt, und sie hatte geweint und den Arm um Tines Hals gelegt.

Draußen in der Waschküche sang Maren weiter, so daß es schrill in den dunklen Hof scholl:

Drum Männer nun und Frauen weinen.

Erloschen ist der Freude Licht,

Und dankbar winden ihm die Seinen

Nun einen Kranz, der welket nicht.

Ein ewiges Erinnrungsband

Umflicht den König und sein Land34.

Tine hatte ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet, während Ajax und Hektor mit großen Augen auf dem Teppich zu ihren Füßen lagen.

… … …

Die Hunde sprangen auf, und der Wagen bog zur Außentreppe ab. Es war der Oberförster. Er trat in den Gang, wo Sofie das Licht hielt, und er brachte Grüße von Herluf und der gnädigen Frau.

„Und dann bin ich einberufen“, sagte er kurz.

Er ging in die Stube hinein, und Tine folgte. Sie ging langsam und löschte, eine nach der anderen, die Kerzen auf dem Klavier, die sie angezündet hatte.

„So kommt alles auf einmal“, sagte Berg.

Dies war Tines ganzer Gedanke gewesen: So kam alles auf einmal; und sie dachte nach und fragte: „Weiß das die gnädige Frau?“

„Ja – es war Jessen, der die Botschaft vom Dampfschiff brachte.“

Sie setzten sich an den Tisch, den Tine gedeckt hatte, und sie begannen, mit etwas langsamen, trägen Stimmen darüber zu reden, wie jetzt alles mit der Bewirtschaftung und der täglichen Arbeit werden würde: Mit der Arbeitskraft würde es schwierig. Lars kam vielleicht mit, und die meisten Kätner35 müßten auch weg.

Die Arbeit im Wald würde sicher ruhen, großenteils; für sie waren nicht genug Hände da.

„Nein“, sagte Tine.

Sie sprachen über die Einberufenen. Es war fast ein Mann aus jedem Ort in der Gemeinde. Sie holten sie jetzt jäh aus ihren Familien.

„Ja, bei Dachdecker Anders herrschte reiner Jammer.“ Ane war heute mit ihren beiden auf dem Arm in der Schule gewesen – und weinte und weinte … Denn nun war Anders fort – – deshalb weinte sie …

Als sie dieses Wort sagte, begann es um Tines Mund zu zucken.

„Ja“, sagte Berg, „dort sitzt ja der Bruder aus dem letzten Krieg – beide Beine weggeschossen …“

„Ja“, sagte Tine leiser, und nach einer kurzen Pause: „Das sind diese Krüppel, die den Leuten Angst machen.“

Sie schwiegen. Die Hunde strichen um ihre Beine, aber sie beachteten sie nicht. Berg sprach wieder von der Bewirtschaftung. Eines Stellvertreters war er sicher. Den einarmigen Baron Staub konnte er immer bekommen, er stand zur Verfügung.

„Er hat ja sein Teil abbekommen“, sagte er, „durch eine verirrte Kugel …“ Und fast ohne Übergang, sich an die Wand zurücklehnend und zum Licht schauend, sagte er: „Nun sind sie weit draußen zur See.“

Tine schien es, als folgte er ihnen mit den Augen über das Wasser, während er dies sagte; und sie wollte etwas darauf erwidern, was ihn aufmuntern könnte, seiner Stimmung helfen. „Deswegen sitzt du wohl hier“, sagte sie zu sich selbst, „es fehlte bloß, daß du selbst noch heulen müßtest.“ Aber sie fand nichts. Es wurden ja auch nicht so viele Worte zwischen dem Oberförster und ihr gewechselt; sie hatte nie gewagt, mit ihm frei zu reden, als wäre es ein anderer, der Landrat36 oder der Kaplan bei Gøtsches oder jemand, vor dem man nicht so den Respekt hatte:

Es war ja Frau Berg, mit der man im Oberförsterhof redete. Schließlich sagte sie in einem Ton, der fröhlich sein sollte:

„Und wir, die wir uns mit der blauen Kammer abgerackert haben – das hätten wir uns sparen können, Sofie und ich!“ Sie erhob sich.

„Ist sie schon fertig? Sie bekommen ja alles gemacht, Tine.“ Berg ergriff ihre Hand, und das Blut schoß in Tines Gesicht – das tat es zumindest, wenn sie im Oberförsterhof war. – „Der Oberförster sollte es sehen“, sagte sie und öffnete die Tür; aber auf einmal blieb sie im Amtszimmer stehen, und er ging alleine in die Gästekammer.

„Wie schön und warm ist es dort!“ sagte Berg, als er zurückkam.

Tine wollte jetzt gehen. Ihr schien, es sei so ungewohnt beklemmend, als wären sie in dem ganzen Haus allein – dem verlassenen Haus. Aber der Oberförster ging zum Tisch und sagte:

„In den neuen Zeitungen steht etwas über die Beisetzung37. Sollen wir das nicht zuerst lesen?“

Es war eines der Feste Tines, wenn der Oberförster laut las, aus den Zeitungen, wenn sie kamen, Mittwoch- und Samstagabend, oder aus einem Buch aus dem Bücherschrank – alle Tragödien Oehlenschlägers38.

„Danke“, sagte sie. Aber Sophie wollte auch sehr gerne zuhören. Und sie ging hinaus, um das Mädchen zu holen, das mit verbundenem Kopf neben dem Schornstein schlief und mit hineinkam, um sich in die Ecke beim Bücherschrank zu setzen, wo sie so oft zugehört hatte, wenn sie vorlasen.

Berg öffnete langsam das schwarzumrandete Blatt39 und legte einen Augenblick die Hände darauf: „Nun ist er zur Ruhe gekommen“, sagte er bewegt und still.

Er begann halblaut den Bericht über „Die letzte Fahrt des Königs“ vorzulesen. In dem stillen Haus hörte man nirgendwo einen Laut – außer seiner gedämpften Stimme.

Tine folgte den Worten nicht; sie hörte nur die Stimme, die sie von so vielen stillen Abenden kannte, und sie blickte wieder auf Frau Berg, wie sie dort unter der Lampe saß, und sie hörte sie lachen, wie sie über Tines strömende Tränen lachte – Tine, die das Leben so fröhlich nahm, weinte über Büchern wie ein Schloßhund – die Tränen, die nun wieder und wieder hervorbrachen …

… „Bald wurden Lampen und Fackeln angezündet, die auf der letzten Reise des Königs brannten, und die Einwohner entlang des Weges nahmen die Mützen ab, um dem Dahingegangenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Glocken läuteten von allen Türmen, und jeder Hof und jedes Haus – bis zu dem ärmsten – hatten Kerzen in allen Fenstern. Vielerorts hatten sich in der dunklen Nacht Gruppen schweigender Zuschauer versammelt …“

Drüben in der Ecke ging Sofies Schluchzen in halblautes Weinen über, aber der Oberförster las weiter:

… „Dicht am Bahnhof hielt der Wagen; die acht schwarz verhüllten Pferde wurden abgespannt und von den Stallbediensteten weggeführt, die zu Fuß ihrem hohen Herrn gefolgt waren; ein Segeltuch wurde über den Wagen gespannt, um ihn und den Sarg gegen den leichten Regen, der zu fallen begonnen hatte, zu schützen. Husaren hielten die letzte Nachtwache für König Frederik VII.“ …

Berg hielt kurz inne – seine Stimme begann heiser zu werden.

Tine starrte vor sich hin: sie dachte an die Tragödien, die sie wieder und wieder gelesen hatte, die von Axel40 und dann die von Königin Zoë 41 … Beim fünften Akt begann immer auch Frau Berg zu weinen und, kam etwas richtig Schönes, drückten sie sich die Hände unter dem Tisch.

Berg fuhr mit dem Lesen fort, von der letzten Prozession und der Rede. Seine Stimme wurde gefühlvoll, so daß man sie kaum hörte:

… „Er wurde nun von seinem Volk hinweggerufen, aber dessen Liebe begleitet ihn mit einem inniglichen ‚Auf Wiedersehen‘ zu Grabe. Es erklingt aus allen Kreisen der Bürgerschaft, vom Krieger, der für ihn und das Vaterland auf der Walstatt kämpfte, von dem, der beim Wirken für den Frieden erkennt, daß Geschäftigkeit und Wohlstand unter ihm gestiegen sind; vom ehrenvollen Stand der Bauern, für die Frederik VII. vollendet hat, was Friedrich VI. begann“42 … …

„Ja“, sagte Berg, „das ist wahr.“

Tine fuhr zusammen, als sie stehenblieb, und als er fortfuhr, lauschte sie den Worten: Es war ja der letzte Abend, an dem sie lasen – für so lange, für wie lange …

… „Wieder wurde nun der Sarg von seinem Platz gehoben und zur Kapelle getragen, an deren Aufgang die Herolde43 und ein Teil des Gefolges sich aufgestellt hatten.

Mit der Geistlichkeit an der Spitze schritt die Prozession durch den Eingang der Kapelle. Der Sarg wurde auf seinen Platz gesetzt. Der Bischof von Seeland sprach auf einem schwarz verhüllten Rednerpult ein Gebet, die letzte Beerdigungszeremonie fand statt, und die Salutschüsse außerhalb der Kirche verkündeten, daß König Frederik nun beigesetzt war.“

Sofie hielt die Hände vor ihr Gesicht, Tine blickte nur auf Berg, der weiterlas:

… „Während des Orgelspiels verließ das Gefolge schweigend die Kirche, und ihre Majestäten kehrten nach Kopenhagen zurück.“

Berg faltete die Zeitung zusammen; ohne daß irgendjemand etwas sagte, erhob Tine sich zum Abschied.

Dann sagte Berg, den Kopf an die Wand lehnend und lange in die Stube blickend – wie schon zuvor:

„Wie der Junge doch weinte, als er ins Boot kam.“

Sofie sollte Tine folgen, und sie zündeten die Lampe an. Ihr flackerndes Licht fiel unregelmäßig über Hecke und Weide. Sofie redete von Vorzeichen und Zeichen:

„Es gab genügend davon – es war nicht so schön im Oberförsterhof gewesen, jetzt im Sommer – als es zu Nachtzeit spukte.

– „Den Wagen“44 hatte sie allein dreimal gehört – ganz laut war er beim letzten Mal bei der Treppe vorgefahren. Und als sie hinaus kamen, war keine Spur mehr von einem Wagen – – keine einzige Spur mehr, das hat auch die gnädige Frau gesehen.

„Und das weiß man ja,“ schloß Sofie und schniefte, was solch eine Fahrt bedeutet … wenn man sie dreimal hört“ …

Tine sagte nichts, und sie gingen weiter in die Dunkelheit. Der Hund in Pér Eriksens Hof fuhr hoch, und drinnen bei den Jungfern Jessen erwachte der Mops.

„Ja, Gott halte seine Hand über den Herrn und die gnädige Frau!“ sagte Sofie in einem Ton, als würfe sie Erde auf beide.

Tine atmete wie eine, die frierend erwacht.

„Wie kalt es beim Danewerk wird“, sagte sie.

Sie waren bei der Kurve zum Gasthaus angelangt, und Tine wußte, daß Sofie große Angst hatte, in den Nachtstunden dem Friedhof allzu nahe zu kommen.

„Jetzt kann ich alleine weiter, Sofie“, sagte sie: „Vielen Dank – Sofie. Und dann kümmerst du dich um den Tee des Oberförsters, daß er wird, wie immer – nicht wahr?“

„Ja – auf Wiedersehen, Jungfer Tine!“

„Auf Wiedersehen!“

Tine hörte die Hunde, die wieder auf Sofies Weg hinaufjagten

– während sie langsam zur Schule heimging.

… … …

Tine klopfte und hörte zuerst Dagge, der losbellte, und dann die Mutter, die aus dem Bett aufstand:

„Ich bin’s, Mutter!“ Sagte sie.

Madam Bølling schloß – im Nachthemd und einer gestreiften Kappe – auf: „Der Oberförster ist einberufen“, sagte Tine nur, als sie in den Flur trat.

„Ach Gott, ach Gott!“ klagte die Madam, und sie ließ die Türen zu Bølling offen, während sie ging; „Ach Gott – ach Gott!“

„Das war ja zu erwarten“, sagte Bølling, der sich im Bett aufrecht hinsetzte.

Tine mußte erklären, wie es war, als Jessen die Botschaft vom Dampfschiff überbracht hatte. Nun, so hat sie es erfahren, nun, so hat sie es erfahren“, sagte Madam dieselben Worte immer wieder:

„Nun, dann hat sie es erfahren, die Arme …“

„Ja, Gott sei mit uns“, sagte Bølling mit gefalteten Händen, als es schließlich still wurde.

Tine war müde; sie sagte gute Nacht. Sie zog an der Türe zur „Schule“, um zu prüfen, ob sie verschlossen war, bevor sie die Treppe hinaufging; und im Speicher hielt sie die Lampe vorsichtig wegen des Strohs, wo die Gravensteiner 45 verteilt lagen.

Drinnen in der Kammer stellte sie den Wecker und nahm den Goldlack vom Fenster auf den Boden.

Unten unterhielten sich die Eltern noch etwas, es klang, als wäre es fast in derselben Stube.

„Ja, Gott bewahre uns alle“, sagte der Vater noch einmal unten: „Nun sind es hier aus der Gemeinde vierzehn.“

Dann schliefen sie nach und nach ein, und Tine vernahm ihre gewohnten Atemzüge, ruhig und fast im Takt, durch das Haus.

Sie konnte nicht schlafen. Sie dachte an einen Tag im Herbst – den letzten, wo sie, Oberförsters und sie, im Wald gewesen waren …

Sie mußten hin, die gerichteten Brote in einem Korb, zum Lilleskoven46, um den Oberförster beim ersten Hellwerden zu treffen. Die Pächters von Rønhave47 trafen sie in der Kalesche48, sie wollten zu Bischofs, und es entwickelte sich eine Unterhaltung mitten auf dem Weg, bevor sie sich trennten.

Sie gingen weiter. Herluf suchte an jeder Hecke nach Brombeeren. In allen Hecken hingen unzählige Nüsse. Tine schnappte sie, während sie weiterging.

Sie wollten den Weg über das Feld einschlagen, aber Herluf kreischte hinter ihnen: er saß in den Ranken gefangen und heulte, sein ganzes Gesicht von Brombeeren schwarz verschmiert:

„Seht den Jungen, seht den Jungen!“ rief Frau Berg und hieß Tine, ihn loszubekommen; selbst lief sie auf dem Feld nach oben.

„Kommt, kommt!“ rief sie von oben. „Wie herrlich es hier ist!“

Es war, als sähe man die ganze Insel heute in der klaren Luft – Berg und Tal – so grün und mild. Weit draußen verschwanden die Wälder in bläulichen Wolken, lächelten die Häuser aus dem mannigfaltigen Grün hervor. Und der Himmel hatte keinen Grund.

„So wunderschön, so wunderschön ist es hier!“ sagte Frau Berg.

Aber Herluf gab keine Ruhe; er wollte Fangen spielen; und sie liefen, sprangen alle drei um die Anhöhe.

„Ja – hier ist das wunderbarste Land!“ rief Tine, die den abgeklatschten Herluf auf die Arme hob. Und alle drei ließen sich in den späten Klee hinein plumpsen.

Sie gingen weiter über das Feld Richtung Wald, wo sie sich an den Holzstoß vor der kleinen Lichtung setzten; hier schien die Sonne noch hin, und es war ganz warm.

Das Häkelzeug kam aus der Tasche, und sie sie plauderten leise:

„Allerhand, daß die aus Rønhave jetzt zu Bischofs fuhren – es war das zweite Mal …“

„Zum dritten Mal war es – in zwei Wochen.

Und dann saß der Landrat hinten – als vierter Mann zum L’Hombre49.“

Sie schwatzten weiter; Herluf gab altklug seinen Senf dazu. Und gut unterrichtet waren sie, denn in der Schule wußten sie, wohin die Kaleschen rollten: Die Wege kreuzten sich ja direkt vor der Tür; und dort wurden Nicken oder „Guten Tag“ gewechselt oder Halt gemacht, während Bølling oder die Madam oder Tine auf die Treppe traten.

So schwiegen Frau Berg und Tine wieder kurz und arbeiteten beide still unter den Bäumen:

„Wie grün sich der Wald doch gehalten hat!“

„Das kommt vom Regen, dem vielen Regen im Sommer.“

„Ja“, erinnerte sich Tine aber an das letzte Jahr – sie ließen beide das Häkelzeug sinken und blickten zu dem bräunlichen Waldrand – als er schon im September gelb war.

Sie redeten weiter über den Wald: wann sie das letzte Mal in diesem Jahr dagewesen waren und in anderen Jahren –

„Nein – letztes Jahr konnte man fast keine Nüsse ernten.“

„Aber 1859 machten wir eine Waldtour im Oktober“, sagte Frau Berg.

Herluf rief, etwas entfernt, zwischen den Bäumen hindurch: Tine solle kommen, Tine müsse hierher kommen. Es war ein schwerer, durchgebogener Zweig, der wie eine Schaukel dicht über dem Boden hing. Herluf wollte hinauf, und Tine schaukelte ihn, so daß er weinte und lachte. Dann wollte sie selbst hinauf, Frau Berg sollte sie schaukeln:

„Auf Tine – auf!“

„Er bricht, er bricht!“ rief Tine – es war das Gewicht – während Frau Berg den Zweig schwang, so daß ihr Tines Röcke um die Beine flogen.

Plötzlich brachen Ajax und Hektor aus dem Gestrüpp und stürzten sich auf Tines baumwollbestrumpfte Beine:

„Oberförster!“ schrie sie und setzte sich – bums – auf dem Boden in die Hocke – Frau Berg mußte mit dem Rücken an einem Baum lachen, bevor sie herkommen und am abendlichen Imbiß teilnehmen konnte, den Tine auf einer Serviette ausgebreitet hatte.

Berg, der aus dem Gebüsch hinter seinen Hunden aufgetaucht war, saß bereits auf einem Baumstamm vor dem Essen und unterhielt sich mit Tine über die Rosen zu Hause: Es war bald an der Zeit, sich ihrer anzunehmen. Die Nächte waren doch schon kalt geworden.

Der Garten war Bergs und Tines ständige Gemeinschaftsarbeit. Der Oberförster war Rosenliebhaber und kreuzte auch Fuchsien; und Frau Berg, die ja aus Horsens stammte, bekam nie das richtige Händchen für einen Garten. So war es meist Tine, die bei diesem und jenem half und zur Hand ging. An den Vorsommerabenden war am meisten zu tun. Frau Berg saß nur oben auf der Gartentreppe in ihrem Schal und sah zu und redete über den Rasen hinweg mit den beiden, die beschäftigt waren und beschnitten und gossen. Sie sah sie zuletzt nur wie ein paar Schatten zwischen den Rosen, wo es dämmerte.

… Sie hatten zusammengepackt, um zu gehen. Herluf und Tine spielten in der Lichtung Fangen, während Berg und Frau Berg Arm in Arm am Schluß gingen.

Sie kamen auf die Landstraße hinaus: Hell und klar lag die Abendluft über den gepflügten Feldern – wie Tine doch hinter der Wegbiegung lachte!

„In solch einer Luft hört man Tine“, sagte Berg, der stehenblieb. Der Oberförster meinte immer, Tine habe eine Stimme für freie Luft, so keck, wie unser Herr Gott sie ihr gegeben hatte.

„Kommen Sie, Tine!“ rief Frau Berg, „Lassen Sie uns singen!“ Die gnädige Frau umfaßte Tine, und sie gingen langsam den Weg entlang, während sie sangen. Als sie etwas in den Vers hineingekommen waren, fügte Berg einen halbgedämpften Baß zu, sodaß es über das Feld klang:

Vogel, flieg über des Furesees Fluten!

Nun kommt die finstere Nacht.

Hinter dem Walde erstarben die Gluten.

Fort schleicht der Tag sich ganz sacht.

Eil zu dem Weibchen im fedrigen Kleide

Und zu der flaumigen Brut.

Kehrst du am Morgen zurück hier zur Heide,

Sag mir, wie süß ihr geruht!50

Ringsum wurde es Feierabend. Vor die Höfe und Häuser traten Knechte und Kätner hervor; in Reih und Glied rauchten sie bedächtig Pfeife.

„Guten Abend – guten Abend!“ klang es von den Rauchern still zu ihnen auf den Weg hinaus.

„Guten Abend, Anders Nils! – Guten Abend, Lars Peters!“ Tine grüßte alle mit Namen.

Vor Lars Eriks blieb sie kurz stehen – der Alte war so von der Gicht geplagt –: „Nun wie geht es so?“ fragte sie zum Tor hin.

„Ja-a, doch immer etwas besser“, antwortete der Schwiegersohn langsam.

„Na, dann Gott sei Dank!“

„Ja, dann gute Nacht, Hans Lorents!“ sagte Tine und ging weiter.

Die anderen hatten zu singen begonnen, und Herluf hatte die Hand des Vaters ergriffen. Vor ihnen lagen die Kirche und die Schule. Der Himmel begann sich hinter dem alten Turm zu röten.

Vogel, flieg über das Wellengefunkel!

Liebe ja ruft dich nach Haus.

Setze dich still in des Laubbusches Dunkel,

Sing deine Liebe heraus.

Könnt auch ich schweben in ätherischen Räumen,

Flög ich in Eile zu ihr!

Ich kann im Walde nur seufzen und träumen.

Das macht die Liebe aus mir! 51

Sie schwiegen. Das letzte Stück Weg zur Schule gingen sie schweigend zwischen den Hecken. Kätners Sine, die ihrer Kuh das letzte Grasen am Wegrand gewährte, bevor sie sie nach Hause trieb, knickste, die Stricktasche in den Händen, als sie an ihr vorbeikamen.

In der Schule saß der alte Bølling auf der Treppe mit seiner Pfeife, er kam herab und grüßte. Die Madam erwartete sie, mit dem Strickstrumpf, in der Tür: Sie hatte heute frische Butterteigplätzchen gebacken; und Frau Berg und Herluf kamen herauf, um sich auf die Bank zu setzen, während Bølling unten bei Berg stehenblieb und von der Holzauktion erzählte.

Unten am Teich wurde die Schmiede geschlossen, und drüben beim Gasthaus kam Madam Henrichsen, breit und mächtig, zwischen den beiden weißen Säulen zu ihrer Bank hinaus. Sie grüßten alle über den Platz hinweg – auch den gewichtigen Schmied Knud, der mit seinem Hund nach Hause ging.

Es war, als müßten alle gedeihen und rund und gesund in dieser Nachbarschaft werden, hier auf „dem Markt“, so wohlgenährt wie sie alle waren, sowohl bei Bøllings als auch im Gasthaus und der Schmiede.

Die Glocken begannen zu läuten, und sie saßen alle still da. Nur Berg und Bølling unterhielten sich flüsternd am Fuß der Treppe. Sine trieb bedächtig ihre Kuh über den Platz zum Wasser. Sie soff und brüllte, dumm und lang, über den Teich.

Die Glocken hörten auf. „Dann müssen wir wohl heim“, sagte Frau Berg, und Tine ging mit. Der Himmel lag dunkelrot über Hecken und Feldern.

Zuhause in der Wohnstube sang Frau Berg leise in der Dämmerung am Klavier – die Weise von der „kleinen Grethe“52. Der Oberförster ließ die Tür zu seiner Stube angelehnt.

Herluf war müde und fiel auf seinem Schemel mit dem Kopf gegen die Kante des Sofas in Schlaf; Frau Berg ging zu ihm hin, und kurz darauf war auch sie eingenickt.

Sie erwachte nicht ganz. „Tine sieht sicher nach dem Tisch“, sagte sie dann mit schläfriger Stimme, und Tine erhob sich, um nach Sofie zu sehen – Frau Berg wurde selten richtig wach, wenn die Lampe angezündet und der Tee gebracht war.

„Nein, ist gedeckt?“ sagte sie, ganz überrascht, und richtete sich auf dem Sofa auf.

Nach dem Tee plagte sie Berg, mit ihr Whist mit Blind53 zu spielen. Tine glotzte wie in der Badestube bei jedem Robber, den sie mit dem Oberförster spielte.

Oder Berg las, in der großen halbdunkeln Stube, wo es nur um die Lampe herum hell war. Meist war es Oehlenschläger, den er las, oder auch Palludan-Müller 54 – Tine hatte das Taschentuch auf ihren Schoß gelegt.

Danach, wenn Tine gehen mußte, liefen Frau Berg und sie auf dem Weg hinaus in die Speisekammer und holten sich dort hastig einen Krug Eingemachtes und naschten aus derselben Tasse:

„Ja, ja, ja, Berg, jetzt kommen wir“, sagte Frau Berg und blies das Licht aus, bevor sie den letzten Bissen in sich hinein gestopft hatte: „Hier sind wir doch, Mann!“

Berg wartete im Gang mit der Laterne. Es war spät geworden, er wollte selbst Tine nach Hause begleiten. Sie gingen den Weg entlang, wo Häuser und Höfe als dichtere Schatten in der stillen Dunkelheit lagen. Die Hunde erwachten nur halb und schickten ihnen ein schläfriges Knurren nach.

Berg hob die Laterne an, um den trockensten Weg durch den Schmutz zu finden. „Hier, Tine, hier ist es gut“, sagte er, und Tine ging vorsichtig der Laterne mit hochgehobenem Rock nach – vom Oberförster „begleitet“ zu werden, war das Ehrenvollste, was sie kannte.

„Bis bald“, grüßte Berg, wenn sie sich trennten.

„Der Oberförster hat mich begleitet“, sagte Tine, ohne Luft zu schöpfen, kaum daß die Tür auf war. Aber Madam Bølling war schlecht gelaunt. Das gehörte sich doch überhaupt nicht, so spät nachts nach Hause zu kommen.

Aber obwohl die Alten nun wach waren, mußte Tine trotzdem ins Bett: Es gab bezüglich des Oberförsterhofs immer etwas zu sagen oder zu fragen.

Tine ging hinauf, während die Eltern weiterredeten. Bei Madam Bølling war es eine Gewohnheit, daß wenn sie erst einmal in der Nacht geweckt wurde und im Unterrock herauskam, sie sich um zehn Dinge zu kümmern hatte: hinaus in die Küche und wieder hinein, während sie immer noch mit Bølling redete.

„Ja, sicher gesegnete Menschen“, bekräftigte Bølling unten.

„Tine“, sagte Madam Bølling über den Speicher hin.

„Ja, Mutter“.

„Tine, du, denk an das kleine Stück Butter morgen, Kind, das ich auf die Seite gelegt habe – es hat sich im Butterfaß so gut entwickelt, daß ich es zur Seite gelegt habe … Sie könnten es dort unten doch probieren.“

„Ja, Mutter“, sagte Tine und schlief mit dem Wort der Eltern in ihren Ohren ein.

„Doch, sie haben gute Herzen“, schloß Madam Bølling; sie hatte endlich den Unterrock ausgezogen und ging zu Bølling.

… … …

Tine konnte in der Nacht nicht schlafen. Der ruhige Atem der Eltern war dauernd durch das Haus zu hören. Aber Tine schlief nicht. Sie dachte an alle diese Jahre, auf dem Oberförsterhof, wo nun alles durcheinander war, sie dachte an Herluf und Frau Berg, die abgereist waren, und an ihre eigene Kindheit.

Sie erinnerte sich an die Wintermorgen, wenn alle „Kinder des Vaters“ im Dunkeln zur Schule kamen und Mutter sie aus den vielen Kleidungsstücken herausfummelte – Trine und Lars Eriks Lene – drinnen in der Schlafkammer, während Tine vom Bett aus verwundert zusah. Dann sangen sie das Morgenlied, während sie Kaffee ans Bett bekam.

Sonntags hatte der Wagen des Pfarrers Glasfenster, und die Chorjungen saßen in der Küche auf der Bank neben den Eimern und bekamen Kaffee in den großen Tassen der Kätnerfrauen, um sich zu wärmen, während der Pfarrer predigte.

Aber nach und nach verlängerten sich die Tage, und der Schneemann wurde schwarz und weich. In der Nähschule bei Jungfer Jessen konnten sie nachmittags ohne Lampen sehen. Die Nachmittagsschule war vorbei, und zum letzten Mal stoben „Vaters“ Jungen über den Platz, den sie und Katinka aus dem Gasthaus für sich alleine hatten – sie spielten „Paradies“55, während es dämmerte.

Mutter und Madam Henrichsen traten in gestrickten Tüchern an die Türen, und Vater rauchte seine Pfeife auf der Treppe.

„Er leidet, der Winter, jetzt“, sagte er hinüber zum Schmied.

„Er leidet auch“, antwortete er, der Lars Eriks Schimmel beschlug.

Die Stare kamen in alle Nistkästen der Schule und schließlich die Störche, der Gasthausstorch direkt auf den Giebel. Jungen und Mädchen sangen für ihn in der Pause, in großen Kreisen, viele Tage lang. Jeder, der ins Gasthaus oder in die Kirche wollte, hatte etwas über den Storch zu bemerken. Es galt, Zeichen, Markierungen und Ankündigungen56 zu deuten, ob er hoch flog oder ob er niedrig flog und wann er in das Moor ging – sowohl für den Sommer und die Saat und den Regen vor dem Johannistag 57.

„Er kam spät, er bringt Wärme“, sagte Bølling. Er wußte die Daten seit 1839, wann der Gasthausstorch gekommen war, als er selbst in die Schule kam. Er führte Buch über Storch und Star in seinem deutschen Almanach58.

Das Frühjahr kam, und die Schulhausfenster wurden geöffnet.

Über den Platz hörte man ein emsiges Summen von Bibel und Landkarte und Katechismus59.

Dann sangen sie am Schluß mit hohen, lauten Stimmen, während Bølling mit dem großen Zeigestab den Takt schlug; Madam Henrichsen trat dann sehr oft in ihre Tür, nur um zuzuhören.

„Das erfrischt einem das Herz“, sagte sie, „die alten Melodien.“

Sowohl Vaterlandslied als auch Choral erschollen über den Platz, bis die Kinder schließlich jubelnd frei hatten und Bølling auf seine Treppe hinaustrat, um sich eine Zeit lang zu erholen, nach des Tages Müh und Last.

Abends, wenn der Glöckner zur Kirche ging, faßte Tine ihn an der Hand und kam mit. Er ging hinauf, um zu läuten, während sie auf einem Stein an der Tür saß, hinter den Buchsbaumhecken, nachdenklich und still.

Alle Wagen hielten jetzt an der Schule, bei dem milden Wetter. Der Landhändler und die vom Gammelgaard60 und Madam Esbensen, die Hebamme, die auf dem gefederten Sitz ihres Wagens Kaffee bekam:

„Es ist hier in der Gemeinde im Frühjahr immer viel los“, sagte Madam Esbensen … „hier haben wir im ganzen Kreis eine der besten Gemeinden – im Monat Mai.

Das kommt davon“, erklärte die Madam weiter, „daß es gesunde Leute sind, die sich auf die Ernte verstehen.“

Madam Esbensen bekam Waffeln zum Kaffee; das war vor der Treppe ein Schwätzchen, halbe Stunden lang über Niederkunft und Geburt.

„Ja, ja das gibt ein gutes Opfer 61“, nickte Madam Esbensen zum „Abschied“ und trollte sich in ihrem gefederten Sitz davon. Tine brachte Tasse und Teller hinein; denn Madam Bølling mußte zuerst Madam Henrichsen Bescheid geben – sie kam heraus, um zu hören, wo es war und wie es stand.

„Bei Hans Lorenz? – ja, das dachte ich mir. Es ist sicher an der Zeit …

Na – dort dauert es ewig“, sagte Madam Henrichsen.

„Ja“, antwortete Madam Bølling und seufzte etwas, „es ist ja Gottes Wille.“

Und die Madams gingen hinein.

… An Sommerabenden, wenn das Dienstmädchen Ane mit der Milch vom „Gewann“62 gekommen war, saßen Madam Bølling und Tine auf der Treppe. Der Totengräber kam mit dem Spaten vom Friedhof und ging nach Hause.

„Na, Niels Lars“, sagte Madam Bølling, „alles fertig?“

„Ja, Madam“, antwortete er, „nun gibt es Platz.“

„Ja, Gott sei Dank, sie mußte hart kämpfen – ja, Gott sei Dank …

Ja, dann gute Nacht, Niels Lars!“ nickte Madam Bølling.

„Gute Nacht, Madam!“

Und der Totengräber ging, mit dem Spaten, die Straße hinab, hinter das Gasthaus, während es auf dem Platz, dessen Luft voll von Buchsbaum, Holunder und Linde war, still wurde.

Am nächsten Morgen wurde der Platz mit Blättern und Sand bestreut. Es war für die Träger schwer, mit dem Leichnam an der Gasthausscheune vorbeizukommen; sie erholten sich mitten auf dem Platz, den Sarg auf die schwarzen Böcke gestellt. Dann gingen sie weiter zum Friedhof. Das Grab war dicht an der Mauer, und Madam Bølling und Tine hörten die Rede in der Küche.

Abends ging Madam Bølling auf den Friedhof, um sich die Kränze anzuschauen. Nach dem Anschauen setzte sie sich mit ihrem Strumpf auf die Treppe. Madam Henrichsen saß drüben vor ihrem Zuhause zwischen den beiden weißen Säulen.

„So ist sie dort“, sagte Madam Bølling: „Und Gott sei Dank – sie kämpfte ihren Kampf.“

„Ja, sie war ein armer Tropf “, bekräftigte Madam Henrichsen.

„Aber Gott erlöst zu seiner Zeit“, schloß Madam Bølling, und sie strickten schweigsam weiter.

Tine und Katinka kamen Arm in Arm hinauf zum Gasthaus – sie gingen jetzt zusammen zum Pfarrer –; sie sangen, während sie über Sand und Buchsbaum liefen.

… … …

Die Jahre gingen dahin.

Feiertage und Werktage und die Zeit der Ernte – Woche auf Woche, von Sonntag bis Sonntag.

Im Küstershof wechselten sie sich jetzt mit dem Kirchgang ab, Mutter und Tine; eine mußte ja zu Hause bleiben: Der Pastor sollte seinen gewohnten Kaffee nach dem Dienst bekommen.

Heute war es so warm und still, daß Tine während der Gottesdienstzeit die Fenster auf beiden Seiten geöffnet hatte. Die Sonne schien über den Tisch und das Damastsofa; alle Stuben waren voll mit dem Duft von Goldlack und Rosen.

Das Kirchenlied mit seinen vielen Stimmen im Diskant klang durch den Garten. Es war „Es ist ein schöner Land“63, was sie sangen; Tine fiel mit ein und summte mit, während sie umherging.

Eine Frau, die zum ersten Mal nach der Geburt ihres Kindes wieder zum Gottesdienst kam, trat durch das Tor, und die Chorjungen sausten aus dem Querschiff heraus und johlend durch die Buchsbaumhecken hindurch:

„Müßt ihr den Pastor stören?“ rief Tine. Und, etwas leiser, begannen die Jungen an der Kirchenmauer mit Murmeln zu spielen.