Herr Jakob träumt - A.S. Dowidat - E-Book

Herr Jakob träumt E-Book

A.S. Dowidat

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Beschreibung

*** Auf der Shortlist zum Deutschen Selfpublishingpreis 2018 *** Umfang der Druckausgabe: 180 Seiten »Sie sind also tot?«, fragte Herr Jakob. »Jaja«, erwiderte Frau Wanke und drängte Herrn Jakob sanft, aber bestimmt zur Seite. Es hatte angefangen zu regnen und sie hatte keinen Schirm dabei, Herr Jakob mutmaßte, dass vielleicht auch Tote nicht nass werden wollten. »Entschuldigung«, sagte er, »kommen Sie doch erst einmal herein.« Im Hausflur nahm er ihr den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe. - Über die Entdeckung des Winterschlafs und das Anhalten der Zeit - Hin und wieder gelingen Herrn Jakob kleine Fluchten aus seinem Leben als Bibliothekar und Berufspendler. Doch die zunehmenden Anforderungen des Alltags und eine als bedrohlich empfundene Hektik wecken in ihm eine immer stärkere Sehnsucht nach Ruhe. Die Gespräche mit einem Huhn bringen ihn endgültig dazu, sich nicht länger gegen sein Bedürfnis zu wehren: Herr Jakob beschließt zu schlafen. Traum und Wirklichkeit verschränken sich allmählich, und Herr Jakob muss sich fragen, ob seine Traumwelt weniger wahr ist als die sogenannte Realität. Sind Wachen und Schlafen nur zwei Bewusstseinszustände oder vielmehr zwei Welten, deren Wege auf wundersame Weise miteinander verbunden sind? Nachdem er das Glück des Winterschlafs entdeckt hat, fühlt Herr Jakob sich auch im Wachzustand zu neuen Wahrnehmungen befähigt. Dann trifft er auf eine Gleichgesinnte, die allerdings noch Probleme mit dem Durchhalten längerer Schlafperioden hat. Die Geschichte von einem Menschen, der sich auf eine außergewöhnliche Reise begibt und dabei einen erstaunlichen Ort entdeckt. "Die knapp 180 Seiten lasen sich wie im Schlaf weg." (HalleSpektrum) "Ein wunderbar leiser Roman über den Zauber des Staunens." (Leserstimme) "Dowidats Erzählung ist ein starkes Buch über das Gefühl der Erschöpfung in der Midlife-Crisis." (buchreport.de)

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Über den Roman

Hin und wieder gelingen Herrn Jakob kleine Fluchten aus seinem Leben als Bibliothekar und Berufspendler, doch die zunehmenden Anforderungen des Alltags und eine als bedrohlich empfundene Hektik wecken in ihm eine immer stärkere Sehnsucht nach Ruhe. Die Gespräche mit einem Huhn bringen ihn endgültig dazu, sich nicht länger gegen sein Bedürfnis zu wehren: Herr Jakob beschließt zu schlafen.

Traum und Wirklichkeit verschränken sich allmählich, und Herr Jakob muss sich fragen, ob seine Traumwelt weniger wahr ist als die sogenannte Realität. Sind Wachen und Schlafen nur zwei Bewusstseinszustände oder vielmehr zwei Welten, deren Wege auf wundersame Weise miteinander verbunden sind?

Nachdem er das Glück des Winterschlafs entdeckt hat, fühlt Herr Jakob sich auch im Wachzustand zu neuen Wahrnehmungen befähigt. Dann trifft er auf eine Gleichgesinnte, die allerdings noch Probleme mit dem Durchhalten längerer Schlafperioden hat.

Über die Autorin

A.S. Dowidat, 1970 in Duisburg geboren, lebt in Bonn.

Sie studierte Theologie und Rechtswissenschaften und arbeitet als Klinikseelsorgerin.

 

A.S. Dowidat

Herr Jakob träumt

Roman

 

 

© 2017 A.S. Dowidat

c/o Timothy Phillips

Konstantinstr. 62

53179 Bonn

www.asdowidat.de

www.herrjakobtraeumt.de

Lektorat: Marc Bosserhoff

Korrektorat: Stefan Stern – wortdienstleister.de

Umschlaggestaltung: Nico Bauer – indiepublishing.de

© Umschlagbild: andreyuu/depositphotos

»Sie treffen eine voreilige Annahme, wenn Sie meinen,

dieser Ort wäre nicht real, oder dass die Dinge,

die Sie hier erleben, nicht wahr wären.

Woher wollen Sie wissen, dass Sie träumen,

wenn Sie hier sind?«

Kapitel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Literaturhinweis

1

HERR JAKOB schüttelte den Kopf. Nein, was für seinen Entschluss ausschlaggebend gewesen sei, wüsste er nicht genau zu sagen. Womöglich seien da viele Dinge zusammengekommen. Dieser oder jener Ärger, diese oder jene Dienstbesprechung in der Bibliothek, auf die er keine Lust gehabt habe, da er das Gefühl reiner Zeitverschwendung nicht losgeworden sei und ihm an seiner Meinung ohnehin niemand interessiert schien; dazu die ständigen Auseinandersetzungen mit seiner geschiedenen Frau und die gelegentliche Verwunderung über seine beiden fast erwachsenen Töchter, die er immer weniger verstand, wie auch sie ihn immer weniger verstanden. Und dann, Herr Jakob zog die Stirn in Falten, ja dann war da noch diese zunehmende Hektik gewesen, die er um sich herum wahrgenommen habe. Dies alles habe wohl nur zu einem führen können: einer unendlichen Sehnsucht nach Ruhe.

Herr Jakob war ein ruhiger Mensch in den Fünfzigern und in seinen gepflegten Bart hatten sich bereits zahlreiche graue Haare gemischt. Er fühlte sich den Absonderlichkeiten des Lebens ausreichend gewachsen. Doch als er an einem lauen Abend im September in seinem Garten saß, wurde er durch ein unerwartetes Ereignis in Erstaunen versetzt. Nicht dass ihn das Fallen einer Nuss bestürzt hätte, vielmehr war es die Tatsache, dass er genau in jenem Moment in die Baumkrone blickte, als die unreife Nuss sich samt Schale von einem Zweig löste, er zu sehen meinte, wie sie in Zeitlupe auf ihn zufiel, und dass er dennoch nicht in der Lage war, mit einem raschen Schwenk seines Oberkörpers dem drohenden Zusammenstoß zu entgehen. Der Aufprall war schmerzhaft und reichte aus, eine bald rötlich schimmernde Beule auf Herrn Jakobs Stirn zu hinterlassen. Herr Jakob wohnte nach seiner Scheidung allein und so beobachtete niemand, wie er sich nach dem Aufprall der Nuss, die weiter auf den Boden gefallen war, verwundert die Stirn rieb und in die Baumkrone blickte, als müsse er sich vergewissern, ob von dort noch Weiteres zu erwarten sei. Doch er sah nur ein Eichhörnchen, das in einer Astgabel saß und in dessen Gesicht er leichten Spott zu erkennen meinte. Zwei Monate später sollte Herrn Jakob dieses Ereignis wie der Beginn einer Kette sonderbarer Ereignisse und Beobachtungen erscheinen, doch an jenem Septemberabend rückte er nur seinen hölzernen Gartenstuhl ein wenig zur Seite, um den Rest des Abends ungestört an einem Aufsatzentwurf zu arbeiten.

Herr Jakob war Mitglied im Verein wissenschaftlicher Bibliothekare und schrieb hin und wieder für das vereinseigene Mitteilungsblatt. Meist beschäftigte er sich dabei mit der Geschichte des Bibliothekswesens, zudem erstellte er die jährliche Mitgliederstatistik des Vereins. In der Bibliothek befasste er sich, der nie nach Leitungsaufgaben gestrebt hatte, vor allem mit der Katalogisierung von Beständen und deren Revision, ab und zu kümmerte er sich um Erwerbe und betreute eine Sondersammlung. In seiner freien Zeit fertigte er gelegentlich Skulpturen aus Holz und Metall an, die er in seinen Garten stellte, dann und wann auch im Trödelladen eines Freundes in der Nachbarschaft unterbrachte und bisweilen zu seinem eigenen Erstaunen verkaufte. Am nächsten Tag würde er verreisen, er war zu einer Tagung des Bibliothekarvereins als Referent eingeladen.

Als Herr Jakob am nächsten Morgen am Bahnhof stand, fühlte er sich zerschlagen und müde. Er hatte sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen, weil ihm die violett schimmernde Beule peinlich war. Mitten in der Nacht war er aufgewacht und hatte erschreckt auf die Uhr geblickt. Er fürchtete, verschlafen zu haben, doch war es erst halb fünf gewesen. Er hatte sich wieder in die Decke gewickelt, das Kissen fest unter sich zusammengedrückt und die Bettdecke so weit über den Kopf gezogen, dass gerade noch für die Nase ein kleiner Spalt blieb. Eine halbe Stunde lang war er traumlos durch das Reich des Schlafes geschwebt, bis ihn das aufkommende Tageslicht, das durch die dünnen Vorhänge langsam ins Schlafzimmer kroch, weckte. Er vergrub sich vollständig unter der Decke und fand sich bald in einem bizarren Traum wieder, in dem er seiner Nase verlustig ging und verzweifelt nach ihr suchte. Schließlich fand er sie aufgehängt auf einer Wäscheleine, wobei der Garten, in dem der riesige Wäscheständer stand, auffällig dem Garten seiner Kindheit glich; auch verfügte er im Traum nicht über seine gewohnte Körpergröße, sondern nur über die eines kleinen Jungen. Er stand vor der Wäscheleine, sich einem Erstickungsanfall nahe fühlend, und blickte sehnsuchtsvoll zu seiner Nase hinauf, die mit einer hölzernen Wäscheklammer an der Leine befestigt war.

Fröstelnd am Bahngleis wartend, erinnerte sich Herr Jakob, dass er im Traum laut um Hilfe schreien wollte. Er hatte sein Gesicht Richtung Straße gewandt, wo der Strom der Menschen, die eilig vorbeihasteten, immer stärker anschwoll. Auch Frau Rettig, seine Putzfrau, konnte er darin ausmachen, auch sie jagte in einem irren Tempo vorbei, als gelte es, einer schrecklichen Gefahr zu entkommen. Wild gestikulierend zeigte er auf die Mitte seines Gesichts, doch niemand bemerkte ihn, und als er aus schierer Verzweiflung zu einem lauten Schrei ansetzen wollte, träumte er nichts weiter als ein leises Krächzen. Über seine Rettungsversuche war er erwacht, hatte sich die Decke vom Gesicht gerissen und tief durchgeatmet. Voller Angst, dort eine unpassende Lücke feststellen zu müssen, hatte er sein Gesicht abgetastet. Auch nun fuhr er sich gelegentlich mit der Hand über das Gesicht und befühlte seine Nase. Ausgiebig betastete er den kleinen Höcker auf dem Nasenrücken, als entdecke er ihn an jenem Tag zum ersten Mal.

Als der Zug Richtung Frankfurt einfuhr, begann die Menschenmenge um ihn herum, sich wie eine unruhige Herde in Richtung der Türen zu schieben. Herr Jakob, dem Menschenmassen und deren Verhalten ein Gräuel waren, hielt sich abseits und bestieg als Letzter den Waggon. Trotzdem schaffte er es, zwischen seinen mit Koffern, Laptops und Tageszeitungen beladenen Mitreisenden einen freien Fensterplatz zu finden. Dort wollte er sich ungestört seinem Vortrag über die Geschichte der Mitgliedererfassung des Bibliothekarvereins widmen. Doch als er die Mappe mit dem Manuskript aufschlug, überfiel ihn eine solche Müdigkeit, dass er Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Eine Weile versuchte er noch, sich auf die vorbeifliegende Landschaft zu konzentrieren, doch wie ein Schleier legte sich die Müdigkeit über seine Augen und zog die Lider herab. Zuletzt sah Herr Jakob aus dem Augenwinkel einen kleinen Bahnhof, durch den der Zug schoss, die auf den Bahnsteigen wartenden Menschen waren als bewegungslose Schemen auszumachen, Herrn Jakob erschien die Geschwindigkeit des Zuges grotesk. Er nickte ein und verfiel in einen leichten Schlummer, den Gedanken mitnehmend, dass sein Zielbahnhof noch weit sein müsse.

Der Zug sirrte dahin, durchquerte manchen Tunnel, das Sirren wurde lauter und wechselte für kurze Zeit die Frequenz. Herr Jakob schlief. Der anfänglich sanfte Schlummer hatte von seinem gesamten Körper Besitz ergriffen, er saß aufrecht, doch mit einer auffälligen Neigung der Körperachse gegen das Fenster hin; sein Mund war einen Spaltbreit geöffnet, hin und wieder entschlüpfte ihm ein leises Schnarchen. Bald fuhr der Zug am Ziel ein. Das Abbremsen vor dem kurzen Halt, die Frequenzänderung des Sirrgeräusches, das Leise-zur-Seite-Gleiten der Waggontüren, das wiederholte Piepen und dann das Klappen, als sich die Türen wieder schlossen und eins wurden mit dem Waggon – all das hatte nicht ausgereicht, um Herrn Jakob zu wecken. Erst als der Zug sich mit einem leichten Ruck wieder in Bewegung setzte, wachte er auf. Er blickte aus dem Fenster und bemerkte sein Malheur, rappelte sich auf, stürmte zur Tür und sah sich dort einem Zugschaffner gegenüber. Der blickte erstaunt an ihm herab, lächelte ihn an und schaute, als Herr Jakob verständnislos den Kopf schüttelte, abermals nach unten. Herr Jakob blickte ebenfalls an sich herab und bemerkte, dass er keine Schuhe trug. Peinlich berührt schlich er zu seinem Sitzplatz zurück und beeilte sich, die Schuhe, die er unter den vorderen Sitz geschoben hatte, anzuziehen.

Neun Minuten später entstieg er dem Zug und fand sich auf einem Fernbahnhof im Nirgendwo wieder. Nachdem der Zug die wartenden Pendler verschluckt hatte, herrschte dort wieder gähnende Leere. Nur ein verirrt wirkender junger Mann in dunklem Anzug schob einen silbrig glänzenden Koffer über den Bahnsteig.

Was Herrn Jakob an jenem Morgen besonders wunderte, war die Tatsache, dass er nicht einmal geträumt hatte. Nickte er im Zug ein, was gelegentlich vorkam, erschienen ihm oft bizarre Traumbilder. Einmal hatte er fliegende Fahrräder gesehen, die sich in einer Formation über den Himmel bewegten. Ein anderes Mal eine Gans, die von einer Frau in einem Kinderwagen vorbeigeschoben wurde, während er auf einem Schotterweg nach irgendetwas suchte und nicht einmal im Traum hatte er gewusst, wonach.

Herr Jakob machte sich auf die Suche nach einer Toilette. Er durchquerte den Bahnhof und glaubte mit wachsendem Unmut, an diesem Ort gezwungen zu sein, sich an irgendeiner Ecke zu erleichtern, bis er schließlich eine zugige Toilettenkabine auf dem Bahnhofsvorplatz fand. Seinen Bestimmungsort erreichte er an jenem Tag nur mit mehrstündiger Verspätung und hatte Glück, sein Referat erst am Nachmittag halten zu müssen. Im Verein war man zudem auf sein bildnerisches Schaffen aufmerksam geworden. Am Rande der Tagung fragte ihn der stellvertretende Vorsitzende, ob er sich imstande sähe, für den in drei Monaten anstehenden runden Geburtstag des Vereinsvorsitzenden eine Skulptur anzufertigen, die dessen Kopf darstellen solle. Herr Jakob hatte sich geschmeichelt gefühlt und zugesagt, was er schon auf der Rückfahrt bereute. Als er am späten Abend wieder zu Hause war, durchforstete er seine kleine Werkstatt in der Garage nach Metallresten, unschlüssig, was sich für die Arbeit verwenden ließe.

Sein Aufenthalt auf einem Fernbahnhof im Nirgendwo und die zeitliche Entfernung zwischen zwei Haltepunkten sollten Herrn Jakob unvergesslich bleiben. Er stellte den Zeitraum zwischen dem ersten und zweiten Klingeln seines Weckers auf genau neun Minuten ein, verbrachte diese Minuten fortan jeden Morgen schlummernd und empfand stille Freude darüber, dass er sich bei seinem neuerlichen Erwachen weiterhin im Bett befand. Im Nachhinein deutete er das tiefe Einschlafen im Zug statt des sonst üblichen leichten Einnickens als ein weiteres Anzeichen dessen, was später passieren sollte.

2

ALS PENDLER, der jeden Morgen mit dem Zug in eine benachbarte Universitätsstadt fuhr, war Herr Jakob gezwungen, sich einem strengen Schlaf-Wach-Rhythmus zu unterwerfen. Selten ging er abends nach zehn Uhr zu Bett, auch am Wochenende hielt er daran fest, früh aufzustehen. Manchmal vermutete er, dies könne einer tiefsitzenden Angst entspringen, ansonsten seine Disziplin zu verlieren und während der Woche nicht mehr rechtzeitig aus dem Bett zu kommen. Zwar war in seiner Abteilung bereits vor einigen Jahren gleitende Arbeitszeit eingeführt worden, doch sah er keinen Anlass, seine Gewohnheiten zu ändern und später als üblich zum Dienst zu erscheinen, auch wenn dies, mutmaßte er, ohnehin niemandem auffallen würde.

An einem Freitagmorgen im September, zwei Wochen nach seiner Vortragsreise, erwachte Herr Jakob jedoch erst gegen halb sieben und damit eine Stunde später als gewöhnlich. Zunächst nahm er an, er habe das Klingeln des Weckers überhört. Doch als er den kleinen Wecker mit der runden Scheibe, hinter der sich die Zeiger langsam bewegten, in die Hand nahm, um sich noch einmal der Uhrzeit zu vergewissern, musste er feststellen, dass der Alarm ausgeschaltet war. Er erinnerte sich genau, die Weckfunktion am Vorabend aktiviert zu haben, offenbar hatte er den Wecker im Schlaf ausgeschaltet, ohne dass er sich dessen entsinnen konnte. Er verweilte noch einen Augenblick im Bett, mit dem Rücken an das aufgerichtete Kissen gelehnt und die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und plötzlich stieg in ihm die Erinnerung an etwas auf, das ihm geradezu lächerlich erschien.

Hatte er nicht eben noch neben einem Huhn auf einer Parkbank gesessen und sich, während das Huhn seine nächste Frage zu formulieren schien, leicht nach hinten gewendet, von wo er ein störendes Geräusch zu hören meinte? Und hatte er nicht an dem Baum, der hinter der Bank stand, auf irgendetwas gedrückt, das aus der Rinde hervor lugte und offenbar für das Geräusch verantwortlich war? Herr Jakob meinte sich zu erinnern, dass das Geräusch, ein Piepen, das sich in schneller Folge wiederholte, sogleich aufgehört hatte, woraufhin ihm das Huhn, das immer noch über etwas zu grübeln schien, einen dankbaren Blick zugeworfen hatte.

Langsam formten sich weitere Einzelheiten zu einem Gesamtbild und Herr Jakob, der sich noch schläfrig fühlte und die Augen wieder geschlossen hatte, glitt unbemerkt in einen Zustand zurück, der dem eines langsamen Aufwachens glich. Nur dass sich sein Bewusstsein diesem Zustand nun aus entgegengesetzter Richtung näherte, ihn wie eine Zwischenstation passierte und hinter sich ließ, um sich in einer Welt wiederzufinden, die es erst kurz zuvor verlassen hatte.

Dort ging Herr Jakob eine Allee entlang, in deren Mitte sich ein breiter Grünstreifen erstreckte, der von einer kniehohen metallenen Einfassung umsäumt war. Auf beiden Seiten des Grünstreifens befand sich ein Fußweg, der unter mächtigen Kastanienbäumen im Schatten lag, neben den Fußwegen verlief eine Straße, auf der keinerlei Verkehr herrschte. Auch waren nur vereinzelte Fußgänger auszumachen, die in seltsam gemächlichem Tempo über die Allee schlenderten. Ja, fast schien es, als könne es an diesem Ort nichts geben, was in irgendeiner Weise Eile erforderte oder was irgendeiner Erledigung bedurft hätte. Am Rande der Fußwege standen in regelmäßigem Abstand Bänke und Herr Jakob, der das Gefühl hatte, an diesem Ort müsse es möglich sein, an überhaupt nichts zu denken, näherte sich einer der Bänke. Er setzte sich, lehnte sich nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und spürte eine angenehme Wärme im Gesicht. Er schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlummer.

Als er die Augen wieder öffnete, war er erstaunt, nicht mehr allein auf der Bank zu sitzen. Ein Huhn hatte neben ihm Platz genommen, in dessen braun schimmerndem Gefieder eine einzelne weiße Feder glänzte. Es schien die Spaziergänger zu beobachten, wandte den Kopf mal nach links, mal nach rechts und Herr Jakob wunderte sich, dass es nicht, wie er es sonst bei Hühnern gesehen hatte, mit ruckartigen Bewegungen den Kopf vor und zurück warf; vielmehr war sein Verhalten von einer gewissen Trägheit gekennzeichnet. Schließlich wandte es den Kopf in seine Richtung und blickte ihn an.

»Aha, Sie sind wieder da«, sagte es und hielt den Kopf schräg. »Es ist heute besonders ruhig hier, finden Sie nicht?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Herr Jakob, »ich war wohl nicht oft genug hier, um das beurteilen zu können.«

»Soso«, sagte das Huhn. Dann sah es schweigend zu einem Spaziergänger hin, der über die metallene Einfassung gestiegen war und nun auf dem Grünstreifen stand, einen schwarzen Zylinder in der einen und ein Buch in der anderen Hand haltend, den Kopf in den Nacken gelegt und in den Himmel blickte, als wolle er den ruhigen Zug der Wolken beobachten.

»Ich habe gleich bemerkt, dass Sie neu hier sind«, setzte das Huhn das Gespräch fort.

»Ach?«, sagte Herr Jakob. Auch er beobachtete nun den Spaziergänger, der einen altmodisch wirkenden schwarzen Anzug trug, in dem er wie ein Pinguin wirkte.

»Sie haben sich auf die Bank gesetzt, den Kopf in den Nacken gelegt, sich die Wärme ins Gesicht scheinen lassen und statt sodann tief und fest einzuschlafen, sind Sie nur kurz eingenickt. Als hätten Sie Angst, Sie könnten irgendetwas verpassen.«

»Ach«, sagte Herr Jakob, der auf der gegenüberliegenden Seite einen Spaziergänger bemerkt hatte, der stehen geblieben war und konzentriert auf den Boden blickte, als beobachte er dort einen langsam kriechenden Wurm.

»Sehen Sie«, sprach das Huhn mit ernst klingender Stimme, »genau das ist das Problem mit den Neuen. Sie begreifen diesen Ort nicht. Sie brauchen meist eine lange Zeit, bis sie sich auf ihn einlassen können.«

»Ja?«, fragte Herr Jakob, der spürte, wie eine innere Unruhe von ihm Besitz ergriff, gleich so, als habe er etwas Wichtiges zu erledigen, woran er sich jedoch nicht genau erinnern konnte.

»Dies ist ein Ort der Muße.« Das Huhn blickte ihn durchdringend an. »Hier gibt es nichts, was erledigt werden müsste, hier gibt es auch nichts, was Sie verpassen könnten und hier können Sie nur den Fehler machen, dies nicht begreifen zu wollen.«

»Mhm.« Herr Jakob schwieg, er hatte das Gefühl, dringend irgendwohin zu müssen. Als er den Blick unruhig über die Allee schweifen ließ, entdeckte er ein Eichhörnchen, das rechts neben der Bank unter einer Kastanie saß. Es schien tatsächlich nur dort zu sitzen und die Nuss zu betrachten, die vor ihm lag. Sein hellbraunes Fell glänzte in der Sonne, hin und wieder bewegte sich sein buschiger Schwanz gemächlich hin und her.

»Entschuldigen Sie«, sagte Herr Jakob und erhob sich, »ich muss jetzt wirklich weiter.«

Das Huhn lüpfte zur Verabschiedung kurz sein Hinterteil. »Ich bin sicher, Sie kommen wieder«, sagte es, »ich sehe Ihnen an, dass Sie einer von denen sind, die sich diesem Ort nicht entziehen können.«

»So?«, sagte Herr Jakob, der schon im Gehen begriffen war.

»Ja«, sagte das Huhn. Herr Jakob hörte es nicht mehr, er hatte sich bereits abgewandt. Er wollte den Weg abkürzen, und obschon er nur eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wo er überhaupt hinwollte, glaubte er zumindest die Richtung zu kennen und zu wissen, dass der Weg quer über den Grünstreifen kürzer sei. Beim Übersteigen der Metalleinfassung stolperte er jedoch, versuchte mit rudernden Armen das Gleichgewicht wiederzugewinnen, sah dabei aus dem Augenwinkel den Spaziergänger, der noch immer aufmerksam und ruhig in den Himmel blickte und spürte dann einen harten Schlag, begleitet von einem dumpfen Geräusch.

Herr Jakob rieb sich die schmerzende Hüfte, stützte sich mit dem Ellenbogen am Bettrand ab und stand vorsichtig auf. Ihm war schwindelig, er wusste nicht, wie spät es war und welcher Tag überhaupt war. Er hätte sich nicht gewundert, wenn auf dem Sims vor dem Schlafzimmerfenster ein Eichhörnchen gesessen hätte, das nichts weiter tat, als eine Nuss zu betrachten. Herr Jakob hatte das unbestimmte Gefühl, dieser Traum könne ein weiterer Hinweis darauf sein, dass sich irgendetwas in seinem Leben langsam veränderte und dass er sich unaufhaltsam auf einem Weg befand, dessen Ziel er nicht, oder jedenfalls noch nicht, kannte.

---ENDE DER LESEPROBE---