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A.S. Dowidat

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Beschreibung

Anton Schmidt lebt ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben als Angestellter. Doch immer öfter bedrängen den Endvierziger die unklaren Todesumstände seiner Mutter, die er als Kind verlor. Und eines Nachts bricht das Chaos über ihn herein: Wie im Rausch kocht er für unsichtbare Gäste und fragt sich am nächsten Morgen, ob er sich selbst noch über den Weg trauen kann. In seiner langsamen Lebensverwirrung trifft Anton auf Pauline, die in einem See mit den Fischen über ihre Ängste und Sehnsüchte spricht. Anton ist hin- und hergerissen von ihr. Dann geschieht es: Anton hebt ab. Gleitet er erst nur nachts durch die Lüfte, probiert er seine neuentdeckte Flugfähigkeit bald auch tagsüber aus. Nur Pauline ist noch nicht überzeugt. Doch Anton weiß längst: sie oder keine. - Über die Sehnsucht nach Freiheit und das Glück des Unmöglichen - »Ich glaube, ich bin tatsächlich ein bisschen geflogen.« Nun war es heraus. »Geflogen? Und nur ein bisschen?« Die Frau blickte ihn irritiert an. »Ja, also nicht sehr hoch. Und ich hatte alles unter Kontrolle. Es kam ganz überraschend«, sagte Anton triumphierend. »So?« Die Frau schien skeptisch zu bleiben. »Würden Sie mir das vielleicht vorführen? Wie Sie so ein bisschen herumfliegen?« »Jetzt? Hier?« Anton erschrak. "Eine herrlich skurrile Geschichte." (Leserstimme) Seitenzahl der Printausgabe: 192 Seiten

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Über den Roman

Anton Schmidt lebt ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben als Angestellter. Doch immer öfter bedrängen den Endvierziger die unklaren Todesumstände seiner Mutter, die er als Kind verlor. Und eines Nachts bricht das Chaos über ihn herein: Wie im Rausch kocht er für unsichtbare Gäste und fragt sich am nächsten Morgen, ob er sich selbst noch über den Weg trauen kann. In seiner langsamen Lebensverwirrung trifft Anton auf Pauline, die in einem See mit den Fischen über ihre Ängste und Sehnsüchte spricht. Anton ist hin- und hergerissen von ihr. Dann geschieht es: Anton hebt ab. Gleitet er erst nur nachts durch die Lüfte, probiert er seine neuentdeckte Flugfähigkeit bald auch tagsüber aus. Nur Pauline ist noch nicht überzeugt. Doch Anton weiß längst: sie oder keine.

Über die Autorin

A.S. DOWIDAT, 1970 in Duisburg geboren, lebt in Bonn. Sie studierte ev. Theologie und Rechtswissenschaften und arbeitete bislang als Zeitungsbotin, Psychiatriepförtnerin, Verwaltungsjuristin, Pfarrerin und Klinikseelsorgerin. Gelegentlich lauscht sie auf die leisen Töne und freut sich an langsam vorbeiziehenden Wolken.

 

 

 

A.S. Dowidat

Flugwetter

Roman

© 2024 A.S. Dowidat

c/o Timothy Phillips

Konstantinstraße 62

53179 Bonn

www.asdowidat.de

Lektorat: Stefan Wendel

Cover: www.bookcoverstore.com

»Was drückt sich in Ihnen aus, wenn Sie fliegen?«

Kapitel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Hinweis

 

1

W

ar er der Einzige, der es sehen konnte? Seine Augen folgten der Figur am Himmel, die für einen Vogel zu groß und für ein Flugzeug zu leise war. Anton blickte sich um, die Obstverkäuferin auf der anderen Straßenseite hatte offenbar nichts bemerkt, der Mann mit der Gießkanne, der eben den Friedhof verließ, über dem die Erscheinung schwebte, sah nicht nach oben. Nur ein kleines Mädchen, das an der Hand seiner Mutter lief, zeigte plötzlich mit dem Finger in die Höhe und rief »da, da«; die Mutter blickte ebenfalls nach oben, schüttelte aber nur den Kopf, dann hob sie das Kind auf den Arm und steuerte mit schnellen Schritten auf ein geparktes Auto zu. Mit wachsender Verwunderung beobachtete Anton das Geschehen am Himmel, wie ein großer schwarzer Vogel schwebte dort etwas oder jemand in lautlosen Kreisen nach unten, bis er in einer mächtigen Baumkrone verschwand.

Anton lief durch das Eingangstor des Friedhofs, dann den Hauptweg entlang zu der großen Linde und blieb vor ihr stehen. Die Blätter säuselten in einem leichten Wind, angestrengt sah Anton am Stamm hoch und in die Krone, doch dort konnte er nichts entdecken. Er senkte den Blick wieder, er musste sich getäuscht haben. Ungläubig kratzte sich Anton am Hinterkopf, in einiger Entfernung harkte eine ältere Frau ein Grab, flüchtig sah sie zu ihm hinüber. Anton ging den Weg zurück, schwer spürte er mit einem Mal das Gewicht des Rucksacks, er war nur kurz um die Ecke einkaufen gewesen und dabei am Friedhof vorbeigekommen. Er konnte sich keinen Reim auf das machen, was er eben zu sehen geglaubt hatte. War dort oben etwa jemand geflogen? Oder war es nur eine Täuschung gewesen?

Lange geisterte ihm an jenem Tag das seltsame Geschehen durch den Kopf, abends sah man Anton am Fenster stehen und unverwandt in einen Himmel blicken, über den der Wind Wolkenfetzen trieb.

Anton war ein stiller Mann. Er war nicht besonders groß und als schlank konnte man ihn auch nicht bezeichnen. Mit Ende vierzig war sein Haar bereits schütter geworden und auf seinem Kopf hatte sich genau in der Mitte eine kreisrunde blanke Stelle gebildet. Wenn Anton sich morgens die Zähne putzte, summte er eine leise Melodie, wenn er danach mit Mundwasser gurgelte, versuchte er, dabei auf einem Bein zu stehen, was ihm auch meist gelang, und wenn er zum Schluss in den Spiegel blickte, war er mit sich im Großen und Ganzen zufrieden.

Anton arbeitete in einem größeren Reisebüro in der Innenstadt. Dort prüfte er Abrechnungen, recherchierte bisweilen komplizierte Reiseverbindungen und stellte Programme zusammen, die sich als besondere Angebote verkaufen ließen. Auch die Broschüren, die das Reisebüro im Frühjahr drucken ließ, entstanden an Antons Schreibtisch im Hinterzimmer des Verkaufsraumes. Mit Kunden hatte er selten Kontakt, lieber blieb er unsichtbar und freute sich, wenn sich gelegentlich ein Kunde, glücklich von einer Reise heimgekehrt, im Reisebüro für die schönen Erlebnisse bedankte.

Anton selbst verreiste nur selten. Als junger Mann war er einmal geflogen und hatte dabei solche Ängste ausstehen müssen, dass er dieses Kapitel als abgeschlossen betrachtete. Gelegentlich besuchte er Reisemessen, dazu nahm er den Zug und ging die restlichen Wege wenn möglich zu Fuß. Überhaupt zog Anton die langsame Bewegung der schnellen vor, er liebte es, ohne besondere Absicht durch die Straßen zu flanieren und hatte sein Auto schon vor langer Zeit abgeschafft, weil ihm der Verkehr zu hektisch geworden war.

Wenn er im Frühjahr morgens durch die Straßen lief, lauschte er den Vögeln, die sich mit ihrem Gesang gegenseitig zu übertrumpfen versuchten; Anton kam es so vor, als erzählten sich die Vögel von fernen Ländern, die sie im Winter bereist hatten, und als müssten sie sich nun ihrer Erlebnisse noch einmal gegenseitig versichern, bevor sie wie jedes Frühjahr darangehen konnten, ihre Nester zu bauen. Anton hatte keine Eile, wenn er morgens zum Reisebüro ging. Es lag eine Dreiviertelstunde zu Fuß von seiner Wohnung entfernt, und ihm wäre nicht eingefallen, den Bus zu nehmen, nur um schneller dort zu sein. Er scheute die Menschen nicht, doch im Laufe der Zeit hatte sich eine – so kam es ihm vor – unsichtbare Wand zwischen sein Dasein und das der anderen geschoben. Anton lebte alleine, und er hatte sich daran gewöhnt.

Nur hin und wieder überfiel ihn das Gefühl, dass es für ihn noch andere Dinge geben müsse, die ihm jedoch unerreichbar erschienen. Er hatte sich in seinem Leben eingerichtet, und müsste nicht jeder andere Mensch, der dieses Leben betreten würde, eine Störung verursachen? Eine Verschiebung des freundlichen Gleichmaßes gar, in dem sich seine Tage seit langer Zeit vollzogen? Zwar stellte Anton sich manchmal vor, wie er morgens nicht nur für sich, sondern auch noch für einen anderen Menschen Kaffee kochen und Brot auf den Tisch stellen würde, doch vielleicht würde dieser andere dann Tee bevorzugen und statt Brot darauf bestehen, dass es zum Frühstück Brötchen geben müsse. Und schon wäre es wieder vorbei mit der Ruhe seines Frühstücks.

Anton war bei seinem Vater aufgewachsen, einem ebenso stillen wie freundlichen Mann, der den frühen Tod seiner Frau nie verwunden hatte, der Anton jedoch – mit einer Ausnahme – auf keine Frage eine Antwort schuldig geblieben war und sich immer bemüht hatte, ihm auch die Mutter zu ersetzen. Sein Vater war vor drei Jahren gestorben; Anton hatte ihn in den letzten Monaten vor seinem Tod zu Hause gepflegt und damals, da er in dieser Zeit nicht arbeiten konnte, alle seine Ersparnisse aufgebraucht. Noch auf dem Sterbebett hatte sein Vater ihm das Versprechen abgenommen, es doch einmal mit einer Gefährtin für sein Leben zu versuchen. Seitdem fühlte Anton sich in gewisser Weise verpflichtet, nach geeigneten Gefährtinnen Ausschau zu halten, obwohl er nicht die geringste Lust verspürte, sich unnötigen Anstrengungen auszusetzen. Wenn er hier und da eine Frau vorbeilaufen sah, stellte er sich vor, dass sie bei ihm zu Hause auf dem Sofa säße. Aber wo sollte er dann sitzen? Seine Wohnung war klein, und es gab darin kaum etwas, das er nicht für sich selbst benötigte; die Wohnung verfügte zudem nur über einen winzigen Balkon, auf dem kaum für zwei Menschen Platz war.

So war Anton stets froh, wenn die Frau, die er auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickt hatte, schnell vorbeilief, ohne von ihm Notiz genommen zu haben. Einmal war es eine Frau mit hohen Stiefeln, die ihre Schritte energisch und zielgerichtet steuerte, ein anderes Mal eine Frau mit einem großen roten Hut, der er hinterherblickte. Doch schon der Hut wäre zu groß für seine Wohnung gewesen. Wenn Anton morgens das Reisebüro betrat, hatte er das Gefühl, sich endlich den ganzen Arbeitstag lang von seiner ihm vom Vater auferlegten Verpflichtung erholen zu können. »Anton«, hatte der leise zu ihm gesagt, »Anton, lass dir die Liebe nicht entgehen, auch wenn sie manchmal sehr schmerzhaft ist. Sonst verpasst du etwas.«

Und tatsächlich beschlich Anton bisweilen das Gefühl, etwas zu versäumen, von dem er selbst in seinem Alter noch nicht wusste, wie es sich überhaupt anfühlen würde. Doch immer wieder hörte er von Streit und Zwist unter Paaren gleich welchen Geschlechts, von Trennungsschlachten, Ehekriegen und Dramen um die erschrocken auf den Schlachtfeldern umherblickenden Kinder. Konnte er da nicht zufrieden sein mit seinem Leben, an das er keine großen Ansprüche stellte und das bislang, so schien es ihm wenigstens, bis auf den frühen Unfalltod seiner Mutter von größeren Katastrophen verschont geblieben war? Diese scheinbare Zufriedenheit, in der er sich eingerichtet hatte und die alles, was tief unter ihr lauern könnte, von ihm fernhielt, wollte er nicht unnötig gefährden. Denn wie ein hauchfeiner Riss zog sich von Zeit zu Zeit eine Ahnung durch Antons Empfindungen, dass er sich vor etwas schützen musste, das ihn ansonsten zu überwältigen, wenn nicht gar zu verschlingen drohte.

Doch eines Tages änderte sich das Gleichmaß von Antons Leben mit einem plötzlichen Knall, fast als habe jemand einen riesigen Luftballon direkt neben seinem Ohr zum Platzen gebracht. Mitten in der Nacht wachte er auf und hatte das Gefühl, mit allem um sich herum verbunden zu sein. Jeder Gegenstand hatte eine Bedeutung, alles schien ihn zu meinen und es gab nichts mehr, was einfach nur da war. Anton setzte sich im Bett auf, ein heller Mond schien durchs Fenster und tauchte das Zimmer in ein diffuses Licht. Dass der Mond gerade in diesem Augenblick so leuchtete, auch das konnte kein Zufall sein. Anton fühlte sich auf eine nie zuvor gekannte Weise erhaben und beflügelt, er stand auf, streckte den Rücken durch und sah dem Mond direkt ins Gesicht.

»Ja«, sagte er, und dann noch einmal laut und deutlich: »Ja.« Das Wort hallte durchs Zimmer und alles schien ihm zu antworten, der Schrank, der alte Garderobenständer neben dem Schrank, auf dem ein paar Jacken hingen, und flüsterten nicht auch die Jacken? Das Bett sah ihn freundlich an und nickte ihm zu, das Nachttischchen lächelte und bestärkte ihn in seinen Empfindungen.

Ja, dachte Anton, es stimmte alles und gleichzeitig war alles so anders als zuvor. Er ging zur Schlafzimmertür, die offen stand, und lauschte in den Flur. Hörte er dort nicht ein leises Wispern? Tuschelten sie da miteinander? Und ging es dabei nicht um ihn? Er lauschte noch einmal angestrengt, dann erst fiel ihm auf, dass das Wispern aus der Wand kommen musste. Anton hielt sein Ohr nahe an den Türstock, dann machte er einen Schritt zur Seite und legte das Ohr auf die Wand. Und ja! Da sprachen sie miteinander, es raunte und murmelte, Anton bemühte sich, einzelne Stimmen auseinanderzuhalten, doch dies gelang ihm nicht. Dort drinnen mussten sie leben, musste es noch andere geben, er war nie alleine in dieser Wohnung gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. Doch diese Erkenntnis ängstigte ihn nicht im Mindesten, vielmehr hatte er das Gefühl, dass die Wand und die, die darin lebten, ihn freundlich meinten und sich geradezu sorgten, sie könnten ihn nun zu sehr erschreckt haben.

»Nein, nein«, sagte Anton in diese ganzen Stimmen hinein, »nein, nein«, wiederholte er und streichelte sanft über die Wand. »Es ist ja gut, dass ihr da seid und ich nicht alleine bin.«

Anton lief in der Wohnung herum, er wusste momentweise nicht, wohin mit sich, er war so erregt, dass er unmöglich hätte wieder ins Bett gehen und gar einschlafen können. Er fasste alle Möbel in seiner Wohnung an, er streichelte die Stühle, in der Küche beugte er sich über den Tisch und umfasste ihn mit beiden Armen, er legte seinen Kopf in einen Sessel und hatte dabei das Gefühl, der Sessel freue sich ebenso wie er.

Schließlich setzte er sich erschöpft auf den Boden und blickte umher. Wie konnte ihm nie zuvor aufgefallen sein, dass alles mit allem in seiner Wohnung zusammenhing? Und dass vor allem immer schon er mit allem gemeint gewesen war? Taub und blind musste er gewesen sein, und jetzt endlich war er erwacht. Anton merkte, wie hungrig er von der Anstrengung seiner Erkenntnisse geworden war. Er ging in die Küche, holte Töpfe und Pfannen aus dem Schrank und fing an zu kochen. Er besaß nie viele Vorräte, doch genug, um jetzt eine vollständige Mahlzeit, ja ein festliches Menü bereiten zu können. Und womöglich würden gleich die Gäste eintreffen? Hatte es nicht schon geklingelt? Anton lief zur Wohnungstür und lauschte in den dunklen Flur. Nein, er musste sich getäuscht haben. Doch das machte nichts, wer jetzt nicht kam, kam vielleicht später, und dann wollte er etwas anbieten können. Er lief in die Küche zurück, warf Spaghetti in brodelndes Wasser und bereitete dazu eine köstliche Soße aus frischen Tomaten, Knoblauch und Basilikum. Schließlich deckte er den Tisch für drei Personen, er hatte gerade so viel Geschirr und Besteck.

Wenig später saß Anton am Küchentisch und aß mit mächtigem Appetit eine große Portion Spaghetti, die in einer Schüssel dampfend auf dem Tisch standen. Nachdem er die Mahlzeit beendet hatte, stand er auf, er war plötzlich unendlich müde, ging ins Schlafzimmer zurück, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

Als Anton am nächsten Morgen erwachte, war es später als sonst, den Wecker hatte er überhört. Er sprang aus dem Bett, weil er Angst hatte, zu spät zur Arbeit zu kommen, und erst als er im Badezimmer stand und sich die Zähne putzte, fiel ihm ein, dass es Samstag war. Erleichtert blickte er in den Spiegel. Doch was war das an seiner rechten Schläfe? Vorsichtig wischte er über den kleinen roten Punkt. Dort tat nichts weh, es war auch kein Riss in der Haut zu sehen. Mit der Zungenspitze leckte er über den Finger. Seltsam, es schmeckte nach Tomate. Anton umfasste das Waschbecken mit beiden Händen. In seinem Inneren flutete etwas heran, eine Erinnerung, die er zunächst nicht greifen konnte, es dauerte, bis schärfere Bilder kamen, zuerst spürte er nur eine große Wirrnis in sich. Dann schob sich etwas in sein Bewusstsein, ja, es hatte auch Tomatensoße gegeben, ein Bild schoss in seinen Kopf, wie er mit dem scharfen Messer den Knoblauch schnitt und frischen Basilikum von der Pflanze vor dem Küchenfenster zupfte.

Anton blickte in den Spiegel. Er sah sich und er sah sich nicht. Als habe ihn ein Schwert in zwei Teile geteilt, die nicht mehr zusammenpassten. Als habe es eine Verwandlung gegeben, die er nicht greifen konnte, die er nicht einmal verstehen konnte. Langsam ging er zurück ins Schlafzimmer, dabei heftete er seinen Blick auf den Boden, auf keinen Fall wollte er Richtung Küche sehen. Im Schlafzimmer zog er Hose, Hemd und Pullover an, umständlich machte er das Bett, strich noch einmal über die glatte Decke und saß dann eine Weile nachdenklich auf dem Bett. Im Zimmer war es still. Anton stand auf und hielt sein rechtes Ohr an die Wand. Auch in der Wand blieb es still. Sie schliefen wohl noch. Nein. Nein. Da war ja nichts, ermahnte er sich selbst. Da war nur eine Wand und sonst nichts.

Als er einen Blick in die Küche warf, erschauerte er innerlich. Auf dem Herd standen Töpfe und Pfannen, auf dem Tisch wild durcheinander Teller und Gläser, Besteck lag unordentlich dazwischen; auf einem der Teller trockneten Spaghetti vor sich hin, Soßenspritzer waren über den ganzen Tisch verteilt. Anton traute sich nicht, die Küche zu betreten. Wäre er ausgeraubt worden, hätten Einbrecher seine Wohnung verwüstet und ihn in einen Schrank gesperrt, alles wäre ihm lieber gewesen als das, was er sah und woran er sich nun Stück für Stück erinnerte. Fast meinte er in jenen Augenblicken, sich selbst dort am Tisch sitzen zu sehen, lachend und gestikulierend, als unterhalte er mehrere Gäste. Anton wünschte sich seinen Vater herbei, er wollte zu ihm laufen wie ein kleines Kind und sich von ihm trösten lassen.

Anton ging ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Es war ein ausladender Polstersessel, in dem der Vater zuletzt viele Stunden verbracht hatte, bevor er das Bett nicht mehr hatte verlassen können. Anton zog die Beine an und kauerte sich zusammen. So saß er lange mit geschlossenen Augen da und horchte in sich hinein. Was um Himmels willen war denn in ihn gefahren? Wer war das, der tagsüber fliegende Geister sah und nachts in der Küche herumfuhrwerkte, der mitten in der Nacht kochte und lärmte und auf nie eintreffende Gäste hoffte? Und was würde er womöglich in der nächsten Nacht anstellen?

Irgendwann stand er auf, er ging in die Küche und wusch die Teller und Gläser ab, sorgfältig räumte er das Besteck in die Schubladen zurück. Zuletzt kratzte er die angetrocknete Tomatensoße aus einem der Töpfe, er schrubbte so lange an dem Topf herum, bis dieser wie neu aussah, und stellte ihn wieder in den Schrank. Dann wischte er den Tisch ab und scheuerte schließlich auch den Boden, bis das Linoleum glänzte, als sei er gerade erst in die Wohnung eingezogen. Danach saß er lange am Küchentisch und trank in kleinen Schlucken ein Glas Milch. Er würde sich einen Schlüssel für die Küchentür besorgen, damit er sie nachts abschließen könnte, überlegte Anton.

Wenig später zog er seine Jacke an, nahm seinen Rucksack und verließ die Wohnung, um seinen samstäglichen Einkauf zu erledigen. Aufmerksamer als sonst ging er durch die Straßen. Alles erschien ihm normal. An den Zweigen sprossen die ersten Knospen, ein Vogel mit einem Zweig im Schnabel flog in eine Baumkrone hinein, wo er ein Nest baute, am nahezu wolkenlosen Himmel stand eine milde Frühlingssonne. Einzelne Autos fuhren gemächlich durch die Wohnstraßen, erst als Anton sich der Innenstadt näherte, nahm der Verkehr zu. Passierte er einen anderen Fußgänger, schien der keine Notiz von ihm zu nehmen. Oder wich er ihm mit größerem Abstand als sonst aus? Und warum hatte der ältere Mann, der auf der anderen Straßenseite ging, gerade zu ihm herübergeblickt? Und hatte nicht die Frau sofort ihr Kind, das neben ihr gelaufen war, an die Hand genommen, als er an ihr vorbeigegangen war? Anton spürte, wie eine leichte Verunsicherung von ihm Besitz ergriff. Offenbar konnte er sich nicht mehr dessen gewiss sein, was die anderen von ihm hielten oder inwieweit er ihnen auffallen musste.

Kurz darauf sah er sich selbst genötigt, einer Frau auszuweichen, die auf ihn zulief, ihn jedoch nicht bemerkte. Sie hielt ein großes Glasgefäß in den Armen, das mit Wasser gefüllt war, und blickte in das Glas hinein statt nach vorne. Anton meinte, einen Fisch in dem Glas erblickt zu haben, schnell machte er einen Schritt zur Seite, die Frau lief an ihm vorbei, sie murmelte irgendetwas und hielt weiter den Blick gesenkt, als er ihr nachsah.

In der Stadt erledigte Anton seine Einkäufe. In einem Schlüsselgeschäft kaufte er drei verschiedene Buntbartschlüssel, von denen nach Auskunft des Verkäufers sicherlich einer für das einfache Schloss der Küchentür passen würde, dann spazierte er noch eine Runde durch den kleinen Park am Rande der Innenstadt. Kinder liefen umher und es gab die ersten Familienpicknicks auf der großen Wiese in der Mitte des Parks; ein älteres Paar flanierte vorbei, beide hielten ein Eis in der Hand. Alles wirkt so normal und harmlos auf Anton, wie es auch sonst immer gewesen war. Aber wer konnte schon wissen, was diese Menschen nachts heimlich trieben? Gaben sie sich vielleicht nur den Anschein von Normalität, hinter deren Fassade noch ganz andere Dinge zum Vorschein kamen? Doch wahrscheinlich war er der einzige von ihnen, der in der Nacht im Überschwang irgendwelcher, ihm bislang verborgen gebliebener innerer Bewegungen eine Mahlzeit für mehrere Personen gekocht hatte, die gar nicht da waren. Er hätte sie alle einladen können, schoss es ihm durch den Kopf. Schließlich beruhigte ihn der Gedanke, dass er durch sein nächtliches Tun niemandem Schaden zugefügt hatte. Auch seine Wohnungstür würde er nachts abschließen, damit er nicht auf die Straße liefe.

Nachdenklich ging Anton wieder nach Hause, unterwegs hielt er nach der Frau mit dem Goldfischglas Ausschau, doch war sie nirgends zu entdecken. In der kleinen Stadt, in der Anton lebte, gab es nur ein einziges Geschäft für Kleintierbedarf. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit im Schaufenster nachzusehen, ob dort Goldfische in großvolumigen Gläsern angeboten wurden.

Den Rest des Samstags verbrachte Anton damit, die Wohnung aufzuräumen, das Badezimmer gründlich zu putzen und überall Staub zu saugen und zu wischen. Im Schlafzimmer bezog er das Bett frisch, er bügelte alle seine Hemden und hängte sie ordentlich in den Schrank zurück. Es schien ihm, als könne er nur durch die Herstellung äußerer Ordnung dafür sorgen, dass auch in seinem Inneren wieder klare Verhältnisse herrschten.

Abends sortierte er eine Kiste mit Fotos, die er noch von seinem Vater hatte. Sein Vater war nie dazu gekommen, auch diese Bilder in die zahlreichen Fotoalben zu kleben, die bei ihnen zu Hause im Regal gestanden hatten. Auf den ältesten Bildern war auch seine Mutter zu sehen. Stolz hielten die Eltern ihr Kind in die Kamera, Anton wirkte auf den meisten Bildern vergnügt, auf einem hielt er staunend ein Gänseblümchen in der Hand. Auf einem anderen Foto sah er sich auf einem Spielplatz auf einer Schaukel sitzen, mit seinen kleinen Händen umklammerte er die Seile der Schaukel, als habe er Angst, andernfalls hinabstürzen zu können. Seine Mutter stand hinter ihm, doch wirkte sie seltsam abwesend. Sie hatte die Schaukel zu sich gezogen, gleich würde sie loslassen, um ihm den nötigen Schwung zu verschaffen.

Er erinnerte sich nur dunkel an diese Frau, und immer schlich sich ein unbestimmtes Erschrecken in seine Erinnerungen, wenn er sie auf den alten Fotos sah. Auf den späteren Bildern war er allein mit dem Vater. Der Vater blickte ernst in die Kamera und Anton fragte sich, wer die Bilder fotografiert hatte, wahrscheinlich war es die Schwester des Vaters gewesen. Auf einem Bild, das am Tag seiner Einschulung aufgenommen worden sein musste, sah er sich mit einer großen Schultüte, hinter der er fast vollständig verschwand. Auch er blickte nun ernst in die Kamera.

Anton wusste nur, dass seine Mutter kurz vor seinem dritten Geburtstag bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Als er sieben oder acht Jahre alt gewesen war, hatte ihm sein Vater auf seine plötzlich hervordrängenden Fragen hin, warum die Mutter nicht mehr wiederkomme, davon erzählt. Mehr war ihm nicht bekannt, er wusste nicht, wo und wann genau sich dieser Unfall ereignet hatte und seine weiteren Nachfragen blieben erfolglos. »Anton, Anton«, hatte sein Vater nur gesagt, »daran möchte ich nicht erinnert werden, lass uns nach vorne blicken, vorne ist die Zukunft.«

Da er das Gefühl hatte, den Vater damit zu quälen, hatte Anton irgendwann ganz aufgehört zu fragen. Auf seinen Streifzügen durch die Wohnsiedlung, in der er damals mit seinem Vater gelebt hatte, hatte er den Ort gesucht, wo die Mutter ums Leben gekommen sein musste. War es die gefährliche Kreuzung neben dem Haus gewesen, über die er, als er klein war, nur an der Hand seines Vaters hatte gehen dürfen? Oder war es irgendwo in der Stadt passiert, wo man noch besser aufpassen musste, weil auch in der Fußgängerzone morgens Lieferwagen fuhren? Irgendwann hatte er aufgehört, nach diesem Ort zu forschen, da es ihm sinnlos erschien.

Von seinem Vater hatte Anton nicht nur die Kiste mit den Fotos geerbt, sondern auch eine kleine Schachtel, die er beim Aussortieren der Sachen des Vaters ganz hinten in dessen Kleiderschrank, versteckt zwischen Pullovern und Hosen, entdeckt hatte. Die Schachtel war mit einem breiten Band umwickelt, das zu einer Schleife gebunden war. Anton hatte gleich gespürt, dass diese Schachtel etwas Besonderes enthalten musste. Kannte er die kleine Schachtel nicht sogar? Weckten ihr samtener Bezug, über den er mit der Hand gestrichen war und die Schleife, die fest verknotet schien, nicht eine Erinnerung? Womöglich könnte er hierin etwas finden, was ihm näheren Aufschluss über den Tod seiner Mutter geben würde. Denn hatte er tief in seinem Inneren die Version eines Unfalltodes nicht immer schon angezweifelt? Das Schweigen des Vaters hatte ihm dazu mehr Anlass gegeben, als es unwichtige Details gewesen wären, die er ihm von dem angeblichen Unfall hätte erzählen können. Bis heute hatte Anton es nicht gewagt, die Schachtel zu öffnen. Immer wieder nahm er es sich vor, und immer wieder zuckte er zurück, weil ihn plötzlich eine Angst überfiel, die er sich nicht erklären konnte.

Wieder nahm er die Schachtel nun in die Hand und befühlte die Schleife, und wieder öffnete er sie nicht. Er legte sie in den Schrank zurück, wo er sie, nachdem der Vater gestorben war, zwischen seinen eigenen Pullovern und Schlafanzügen aufbewahrte.

Bevor er sich am Abend ins Bett legte, verschloss Anton zuerst die Wohnungstür und dann die Küchentür. Die Schlüssel legte er unter einen Blumentopf im Wohnzimmer, der dadurch etwas schief stand, sicherheitshalber notierte er den Ort auf einem Zettel, den er in die Nachttischschublade legte. Die Schlafzimmertür ließ er nur angelehnt, doch um die Klinke wickelte er einen Bindfaden, den er zur Wand spannte und dort unter einem Klebestreifen befestigte. Anton wollte sich auf der Spur bleiben, er musste wissen, was er nachts tat, auch wenn es dafür keinen Beobachter gab.

Still lag seine Wohnung in der Nacht da, aus dem Schlafzimmer war nicht einmal ein leises Schnarchen zu vernehmen, gelegentlich hörte es sich so an, als raffe jemand eine Decke zusammen oder als lasse jemand seinen Arm auf das Bett fallen. Wer im Flur vor Antons Schlafzimmer stand und lauschte, der konnte leise Atemzüge bemerken, die sich ruhig wiederholten. Von der Küche klang das Ticken der Wanduhr herüber, und gelegentlich war ein Auto zu hören, das auf der Straße vor dem Haus vorbeifuhr.

2

A

m Sonntagmorgen stand Anton spät auf und stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass der Faden zwischen Tür und Wand unversehrt war. Offenbar hatte er nachts nichts anderes getan als alle anderen, die still und friedlich in ihren Betten gelegen hatten. Nicht einmal an einen Traum konnte sich Anton erinnern. Er frühstückte ausgiebig, blickte aus dem Küchenfenster und lauschte auf den Wind in den hohen Pappeln, die die gegenüberliegende Straßenseite säumten. Fast hatte er das Gefühl, alles wäre so wie immer und nichts weiter würde sich ereignen, als dass er sein Leben in der üblichen Routine fortsetzen könnte.

Doch schon das sonst beruhigende Rauschen des Windes hörte sich anders an als gewohnt. Brach es nicht stellenweise abrupt ab, um erst dann wieder Fahrt aufzunehmen? Und lauerte in der Stille seiner Wohnung nicht etwas, das ihm, je mehr er in die Stille hineinhorchte, unheimlich schien? Anton klapperte mit dem Frühstücksbesteck, als müsse er unsichtbare böse Geister vertreiben.

Am frühen Nachmittag ordnete er seine Sammlung alter Reisekataloge und Flugzeugzeitschriften. Bereits sein Vater hatte die Flugzeugzeitschrift abonniert gehabt. Obwohl sie keine Flugreisen unternommen hatten, hatten Flugzeuge auf seinen Vater zeit seines Lebens eine große Faszination ausgeübt. Als Jugendlicher hatte sein Vater mit seinem ersten Fotoapparat auf einem nahe gelegenen Flughafen die Flugzeuge beim Starten und Landen fotografiert. Später hatte er ihnen nur noch in der Luft nachgeblickt und konnte, wenn sie tief genug flogen, Anton Auskunft geben über ihre Reichweite und technischen Raffinessen. Anton, der sich selbst nie näher für Flugzeuge interessiert hatte, hatte es nicht über sich gebracht, das Abonnement nach dem Tod des Vaters einfach zu kündigen, er hatte stattdessen nur die Adresse geändert. Durch das gelegentliche Studium der Zeitschrift, die nun allmonatlich in seinem Briefkasten steckte, wusste Anton bald alles über die Flugzeugmodelle, in denen die Kunden des Reisebüros saßen, nachdem sie dort ihre Fernreisen gebucht hatten. Er hätte genau sagen können, ob ein Modell dieses oder jenes Herstellers verbrauchsfreundlicher war als ein anderes oder ob die Langstreckenflugzeuge dieser oder jener Linie vornehmlich mit drei oder vier Sitzplätzen in der mittleren Sitzreihe ausgerüstet waren.

Den späteren Nachmittag verbrachte Anton wie so oft in der Stadt an seinem Lieblingsort. Dort hatte er stets das Gefühl, dass sich das Leben in einem beherrschbaren Gleichmaß vollzog. Es war ein kleines Backbistro, in dem sich Kunden mit schmalem Geldbeutel vor einer großen Auslage selbst mit Backwaren und belegten Brötchen, süßen Teilchen und Kuchen bedienen konnten. Vor dem Backgeschäft standen ein paar Plastiktische und Plastikstühle, im Inneren befanden sich einige Tische und schmale Sessel eng beieinander. Anton saß am liebsten am Fenster, von wo aus er die vorbeischlendernden Fußgänger im Blick behielt und dabei seinen Gedanken nachhängen konnte.

Eben erst hatte er dort Platz genommen, und gerade als er in ein Schokocroissant beißen wollte, entdeckte er auf der anderen Straßenseite eine Frau mit einem großen runden Glas. Und tatsächlich, es war die Frau, die ihm erst gestern begegnet war! Offenbar hatte sie ähnliche Angewohnheiten wie er, sie steuerte auf ein Eiscafé zu und nahm dort an einem der Außentische Platz. Das Glas stellte sie vor sich auf den Tisch, dann verschwand ihr Kopf hinter einer großen Eiskarte. Anton blickte konzentriert zu dem Glas hin, er traute seinen Augen kaum, doch in dem Glas schwamm ein Goldfisch. Gerade gab die Frau ihre Bestellung bei einem herbeigeeilten Kellner auf, der Kellner beachtete das Goldfischglas nicht weiter, als sei er es gewohnt, dass die Gäste des Eiscafés ihre Fische mitbrachten. Bald kam er mit einem voluminösen Eisbecher wieder, um den Anton die Frau sofort beneidete. Doch war sie nicht eigentlich viel zu dick, um auch noch einen solchen Eisbecher … Anton zuckte zusammen, momentweise schämte er sich für seinen Gedanken. Er wandte den Blick ab, biss in das Schokocroissant und trank einen Schluck Kaffee.

Als er wieder zum Eiscafé hinüberschaute, sah er, wie die Frau ihren Kopf zu dem Goldfischglas hinbeugte, fast sah es so aus, als spreche die Frau mit dem Fisch. Gerade lief ein älterer Mann mit Hut an dem Tisch vorbei, kurz schien er innezuhalten, dann setzte er seinen Weg fort. Ein Kind blieb staunend am Tisch der Frau stehen, wurde jedoch von seiner Mutter weitergezogen, die es rasch an die Hand genommen hatte.

Als die Frau ihren Eisbecher geleert hatte, blieb sie noch eine Weile am Tisch sitzen. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Anton, der seinen Kaffee längst ausgetrunken und sein Croissant aufgegessen hatte, bemühte sich, nicht die ganze Zeit zu der Frau hinüberzublicken. Schließlich zahlte die Frau und stand auf, sie hob das Goldfischglas vom Tisch und spazierte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. Anton notierte sich die Uhrzeit, vielleicht lohnte es sich, am nächsten Sonntag um die gleiche Zeit wieder Position zu beziehen. Er versicherte sich selbst, keinerlei Absichten zu verfolgen, doch die Frau hatte ihn neugierig gemacht. Mit einem Goldfischglas in der Stadt herumzulaufen!

Gegen seine sonstige Gewohnheit holte sich Anton noch einen zweiten Kaffee vom Automaten und nahm wieder am Fenster Platz. Die kleine Einkaufsstraße schien ihm mit einem Mal belebter als sonst, die strahlende Sonne hatte offenbar viele Menschen hervorgelockt, die nun durch die Innenstadt flanierten, hier und da einen Blick in ein Schaufenster warfen oder mit einer Eistüte auf einer der Bänke saßen. Ein roter Luftballon schwebte am Fenster des Backbistros vorbei und Anton folgte ihm mit dem Blick. Der Ballon querte die Straße, hielt dabei jedoch die Höhe und setzte seinen Flug auf der anderen Seite fort.

Plötzlich rannte ein kleiner Junge über die Straße, er sprang dem Ballon nach, mit ausgestreckter Hand versuchte er, das Band zu greifen, an dem der Ballon befestigt war und das in Kopfhöhe des Jungen flatterte. Der Ballon schien genau in diesem Moment einen Satz nach vorne zu machen, der Junge lief schneller, dann hielt er das Band endlich in der Hand. Jetzt meinte Anton, der Ballon versuche an Höhe zu gewinnen, das Band spannte sich, und stemmte der Junge sich nicht mit beiden Füßen fest gegen den Boden? Der Junge zerrte am Band, er machte einen Schritt nach vorne, und plötzlich schien es Anton, als hebe der Junge kurz ab, bevor er wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Drohend hob er seinen Zeigefinger zum Ballon hin, dann sah es so aus, als lockere sich das Band. Der Junge blickte sich nach beiden Seiten hin um, doch offenbar hatte niemand von ihm und dem Ballon Notiz genommen.

Nur Anton hatte die ganze Zeit unbemerkt zu dem Jungen hingeschaut, er konnte kaum glauben, was er dort meinte beobachtet zu haben. Er sah dem Jungen hinterher, als dieser, das Ballonband fest in der Hand haltend, die Straße hinabschlenderte und schließlich um eine Hausecke verschwand. Anton konnte sich keinen Reim auf seine Beobachtung machen. Konnte der Junge tatsächlich von dem Ballon kurz in die Höhe gehoben worden sein? Anton erinnerte sich an ein Bilderbuch, das er als Kind heiß und innig geliebt hatte. Darin war ein roter Ballon einem Jungen auf Schritt und Tritt gefolgt. Vielleicht hatte er nur etwas verwechselt, ein Erinnerungsbild musste sich in ihm nach oben geschoben und vor die Realität gesetzt haben, nichts anderes konnte passiert sein, als dass ein Junge einem roten Ballon hinterhergelaufen und ihn wieder eingefangen hatte, gerade bevor dieser in den Himmel entschwunden war.

Anton schloss die Augen für einen Moment, dann öffnete er sie wieder. Nichts Besonderes ereignete sich. Ein Paar lief vorbei, eine ältere Frau führte einen kleinen Hund an der Leine und ging mit ihm in Richtung Park, auf der anderen Straßenseite fuhr ein Kind, das einen großen Helm trug, wackelig auf einem Fahrrad, gefolgt von einer jungen Frau, die ihm etwas hinterherrief. Mit langsamen Schlucken trank Anton den zweiten Kaffee aus. Wenigstens im Wachzustand musste er sich doch noch trauen können. Nichts hatte er gesehen, was es nicht geben konnte, versicherte er sich selbst, nichts hatte sich vor seinen Augen ereignet, was völlig unmöglich war. Nur die Frau mit dem Goldfischglas musste er für echt halten, und das wollte er auch. Anton stand auf und verließ das Backbistro, gemächlich spazierte er nach Hause und war froh, dass ihm auf dem Rückweg außer zwei Radfahrern und einer älteren Frau mit Stock niemand begegnete.

Abends stand Anton in seiner Küche und kochte, als er eine Pfanne aus dem Schrank nahm, hielt er kurz inne. Während er Zwiebeln und Gemüse schnitt, blickte er sich hin und wieder um, da er plötzlich das Gefühl hatte, hinter ihm stehe jemand. Aber natürlich war da niemand! Anton stellte das Radio an und drehte es laut auf. Er summte die Melodien mit, beim Essen hörte er die Nachrichten. Von einer auffälligen Frau mit Goldfischglas oder einem Jungen, der mit einem Ballon durch die Gegend flog, war keine Rede.

Nach dem Essen setzte Anton sich vor den Fernseher, doch bald langweilte ihn das Programm. Er blätterte durch die neueste Ausgabe der Flugzeugzeitschrift, doch auch dabei lenkte ihn ein Gedanke ab, der sich immer stärker in sein Bewusstsein drängte. Etwas in seinem Inneren hatte sich verschoben. Er hatte das Gleichmaß verloren, in dem er noch vor kurzer Zeit morgens aufgestanden und abends wieder ins Bett gegangen war, und er konnte sich dagegen nicht länger wehren. In der Nacht, in der er gekocht hatte, in der Nacht, in der er die Küche in ein großes Tohuwabohu gestürzt hatte, hatte er da nicht immer auch an dieses Eine gedacht? Dass er gleich die Schachtel öffnen würde? Wenn erst die Gäste eingetroffen wären und sie sich gemeinsam gestärkt hätten, ja, dann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen, dies endlich zu tun. Im Kreise der Gäste wäre er dazu bereit gewesen, sie hätten seine Zeugen sein können und ihn nicht alleine gelassen. Immer stärker ahnte er, dass sich in der Schachtel Dinge befanden, die mit dem Tod seiner Mutter zu tun hatten. Doch warum wehrte er sich so dagegen? Warum hatte er die Schachtel nach dem Tod des Vaters nicht schon längst geöffnet? Auch auf dem Sterbebett hatte Anton seinen Vater nicht mit Fragen quälen wollen, wenn er auch an jedem Tag vergeblich gehofft hatte, der Vater würde sein Schweigen nun brechen und ihm noch irgendetwas von seiner Mutter erzählen.

Manchmal gar durchflutete Anton wie von ferne das Gefühl, die Mutter könne noch irgendwo leben. Doch jedes Mal schob sich dann etwas Dunkles und Schweres vor diese hoffnungsvolle Empfindung, das Anton nicht benennen konnte. Es war ihm, als hielte ihn etwas am Boden fest und mache ihn schwerer und schwerer, sodass er kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte.

3

A

ls Anton am nächsten Morgen erwachte, meinte er, sich an verworrene Träume erinnern zu können. Hatte er nicht zusammen mit seinem Vater eine neue Wohnung besichtigt, deren Wände jedoch nur aus breiten Fensterfronten bestanden, sodass sie jeder hätte beobachten können? Und waren sie nicht danach in einer anderen Wohnung gewesen, in deren hölzernem Boden ein tiefes Loch geklafft hatte, um das sie jedes Mal vorsichtig hätten herumlaufen müssen? Schon beim Aufstehen merkte Anton, wie ihm die Traumfäden wieder entglitten, es blieben nur einzelne Bilder und ein dumpfes Gefühl der Trauer und Vergeblichkeit in ihm zurück.

Seine Arbeit im Reisebüro verrichtete Anton an diesem Tag so ordentlich und genau wie immer, schenkte ihr dabei jedoch keine große Aufmerksamkeit. Momentweise erheiterte ihn der Gedanke an die Frau mit dem Goldfischglas, nichts läge ihm selbst ferner, als draußen mit einem Goldfisch herumzulaufen. In der Mittagspause ging er in die Stadt, in einer Bäckerei kaufte er sich ein belegtes Brötchen, verzehrte es noch im Gehen und spazierte dann eine Weile durch den Stadtpark. Auch andere verbrachten ihre Mittagspause dort, die Bänke waren mit Angestellten besetzt, die ihre Mahlzeiten bei dem anhaltend schönen Wetter aus kleinen bunten Pappkartons zu sich nahmen. Am Teich fütterte ein Kind die Enten, aufgeregt pickten sie die hingeworfenen Brotkrumen vom Weg. Als das Kind die Brotstücke weiter hinein in den Teich warf, liefen sie zurück, stießen sich vom Ufer ab und schnappten nach den schwimmenden Stückchen, ein paar versenkten ihre Hälse im Wasser. Das Kind beendete die Entenfütterung. Manche der Enten schwammen weiter abwartend am Ufer hin und her, erst als das Kind »alle, alle« rief und den leeren Beutel schwenkte, zogen sie ab. Auf einer Wiese stand ein Junge und pustete Seifenblasen in die Luft, langsam schwebten die feinen Gebilde um ihn herum, bis sie wieder zerplatzten. Eine große Seifenblase hielt sich lange, das Licht spiegelte sich in ihr und der Junge blickte ihr mit offenem Mund nach, als sie höher und höher schwebte.

Den Nachmittag verbrachte Anton mit aufgeschobenen Routinetätigkeiten. Er suchte nach entlegenen Reisezielen, die sich im Herbstkatalog des Reisebüros als Neuentdeckung anpreisen ließen, recherchierte die Quartiermöglichkeiten vor Ort und stellte sich dabei vor, wie er selbst auf den entlegensten Eisenbahnstrecken aus einem Zugfenster winken würde. Dabei vermied Anton nicht nur das Fliegen, sondern unternahm auch in seinem eigenen Urlaub kaum weite Reisen. Meist fuhr er ohne langes Überlegen an den Ort, den er schon seit Jahren besuchte, eine kleine Stadt inmitten einer herrlichen Landschaft unter einem weit ausgespannten Himmel, nur einige Zugstunden entfernt. Dort bewohnte er immer das gleiche Holzhaus, von dessen Terrasse er still und vergnügt auf einen See blicken konnte. Antons Vater war nur ein kleiner Angestellter gewesen, sie hatten es sich nie leisten können, weite Reisen zu unternehmen. Als Kind hatte Anton seine Klassenkameraden beneidet, die nach den Sommerferien von ihren Urlauben in fernen Ländern berichteten, während Anton sich dafür geschämt hatte, nur von Ausflügen in die nähere Umgebung erzählen zu können. Dabei waren diese Ausflüge mit seinem Vater das Schönste gewesen, woran Anton sich in seiner Kindheit erinnern konnte. Nur eine kurze Strecke waren sie mit dem Bus gefahren, um dann stundenlang durch die Wälder des Naturparks zu streifen, der sich auf der anderen Seite des Flusses befand. Dort war Anton mit seinem Vater steile Anhöhen hinaufgestiegen, hatte unheimliche Höhlen entdeckt und war auf zahlreiche Bäume geklettert. »Anton, vergiss nicht, dass du nicht fliegen kannst«, hatte ihm sein Vater zugerufen, als er einmal immer höher gestiegen war.

Noch heute erinnerte sich Anton daran, wie er, oben in der Krone des Baumes stehend, plötzlich das Gefühl gehabt hatte, jetzt abheben und wie ein Vogel davonfliegen zu können. Erst als der Vater ihn gemahnt hatte, nun wieder herunterzukommen, damit sie sich einen Platz für ihr Picknick suchen könnten, war er hinabgeklettert und vom letzten Ast hinuntergesprungen.

Tatsächlich hatte er damals in einer der folgenden Nächte geträumt, wie er von einem hohen Baum abgehoben und geflogen war. Leicht hatte er sich von dem Ast gelöst, eben noch hatte er ihn mit einer Hand umklammert gehabt, und schon breitete er beide Arme aus und ließ sich in die Winde fallen. Wie schwerelos glitt er dahin, unter ihm lag eine kleine Lichtung, auf der jedoch niemand zu sehen war. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, Anton spürte keinerlei Angst, plötzlich abstürzen zu können. Mit jedem Meter, den er höher flog, die Arme weit ausgebreitet, die Beine gerade nach hinten gestreckt, fühlte er sich freier, sein Herz raste vor schierer Freude. Dann merkte er plötzlich, wie die Luft um ihn herum kühler wurde, er sank erst langsam, dann immer schneller, und gerade als er zu einem Schrei ansetzen wollte, wachte er auf.

Niemandem, auch nicht seinem Vater, erzählte er von seinem Traum, er wollte ihn ganz für sich behalten.

---ENDE DER LESEPROBE---