Herz sucht Mut, Seele sucht Halt - Tina Gizella Klewin - E-Book

Herz sucht Mut, Seele sucht Halt E-Book

Tina Gizella Klewin

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Beschreibung

21.Juli 2019. Eine 38-jährige Autofahrerin, die am Sonntag gegen 22.40 Uhr anderen Verkehrsteilnehmern aufgefallen war, hat die Nacht im Polizeiarrest verbracht. Die Frau fuhr in Schlangenlinien. Für viele von euch war diese Meldung nur eine kurze Randnotiz in der Zeitung, aber für mich war es der Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte eine schwere Kindheit und Jugend mit einigen traumatischen Erlebnissen hinter mir, aber trotzdem hatte ich viel erreicht. Mit 22 Jahren, mitten in meiner Tanzausbildung, wurde ich mit der Diagnose Dystonie konfrontiert, eine unheilbare Krankheit, die alles veränderte. Trotz allem arbeitete ich erfolgreich in meiner eigenen Ballettschule und im Rettungsdienst. Ich war Diplom-Tanzpädagogin, Rettungssanitäterin, Model und Erste Hilfe Ausbilderin. Was niemand wusste, ich kämpfte auch mit Burnout und Alkoholproblemen, was ich vor anderen versteckte. Dann passierte diese Nacht im Polizeiarrest, die alles veränderte. Ich beschloss, mein Leben in die Hand zu nehmen und meine Sucht zu überwinden. Mein Tagebuch wurde zu meinem treuen Begleiter auf meinem harten Weg hin zu einem neuen Leben. Ich möchte euch ermutigen, mein Buch weiterzulesen und euch von meinem Mut und meiner Ehrlichkeit inspirieren zu lassen. Es war ein harter Kampf, aber am Ende hat es sich gelohnt. Heute führe ich ein befreites Leben und ich hoffe, dass ich euch mit meiner Geschichte ermutigen und inspirieren kann.

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Mein Buch ist eine Mischung aus Tagebucheinträgen und Posts aus meinem Instagram-Account.

Der 21.07.2019 veränderte mein Leben von heute auf morgen. Es zog mir von einer Sekunde auf die nächste den Boden unter den Füßen weg. Es hatte sich schon lange zuvor angebahnt, aber ich hatte es nicht sehen wollen. Ich war immer stark, hatte alles geschafft, war nie liegen geblieben trotz der vielen großen Steine in meinem Leben, denn mein Stolz erlaubte es mir nicht, aufzugeben. Heute kann ich sagen, es war der falsche Stolz und ich kann nur jedem, der merkt, dass er nicht mehr allein zurechtkommt, nur raten, sich Hilfe zu holen.

Gerade in den letzten Jahren hat sich in unserer Gesellschaft der Trend entwickelt, dass alles immer perfekt sein und vor allem der Schein nach außen immer gewahrt werden muss. Schwäche wird nicht gern gesehen und so wachsen leider schon Kinder, aber besonders Teenies mit dieser Perfektion auf.

Aber wir sind eben nicht perfekt und es zeugt von großer Stärke, zu seinen Fehlern zu stehen.

Auch ich habe mich erst versteckt, nicht den wahren Grund genannt, warum ich von heute auf morgen nicht mehr Auto gefahren bin und geleugnet, ein Problem mit Alkohol zu haben.

Doch es gab diesen einen Punkt, diesen einen entscheidenden Moment, an dem ich beschloss, dazu zu stehen — mit all den Konsequenzen. Es erfordert viel Mut und ich hatte große Angst, dass es beruflich, aber auch privat Folgen haben könnte. Jedoch ist nichts davon eingetreten. Im Gegenteil, ich habe ab dem Zeitpunkt meines öffentlichen Bekenntnisses viel Zuspruch erhalten, was mir sehr viel bedeutet und mir gezeigt hat, dass es die richtige Entscheidung war.

Das nun ein Buch daraus entstanden ist, macht mich sehr stolz, aber vor allem, möchte ich, damit jedem, der gerade in einer schweren Situation steckt, und auch allen anderen sagen:

Du bist ein Kämpferherz, wenn du an dich glaubst.

Steh wieder auf, auch wenn du immer wieder hinfällst!

Steh wieder auf.

Du bist der Dirigent deines Lebens.

Mach `was aus deinem Leben.

Weil du es wert bist.

Weil jeder Tag zählt.

Du musst niemals ein Opfer deines Schicksals sein. Im Gegenteil, es liegt an dir, was du aus deinem Leben machst. Egal, was gestern war, was vor einigen Jahren war, wie deine Kindheit war, heute kannst du entscheiden, was du aus deiner Situation machst.

Es ist, wie es ist, aber es ist das, was du draus machst.

Ich habe die volle Verantwortung übernommen. Die fünfzehn Monate ohne Führerschein waren eine harte Zeit, aber sie haben mich endlich mich selbst finden lassen.

Habe ich es geschafft?

Ja, ich bin bis heute stabil, bis auf einen kleinen Rückfall, aber ich bin immer noch auf der Reise, denn die Sucht schläft nur. Meine Vergangenheit kann ich nicht auslöschen und sie wird mich immer auf eine gewisse Weise prägen, aber entscheidend ist es, dass ich versuche, nicht mehr in der Vergangenheit zu leben. Nach vorne zu sehen und die Zukunft so zu gestalten, dass man frei und glücklich leben kann.

Schließe Frieden mit dem, was war, und schaue nach vorne. Ich bin trotz dieses harten Schicksalsschlags glücklich, dass es so kam. Im ersten Moment war es eine volle Katastrophe, im Nachhinein betrachtet meine Rettung, mein neues zweites Leben.

Ich wünsche jeder Leserin, jedem Leser, viel Freude und gute Gefühle beim Lesen meines Buches.

Auch wenn es viele emotionale und traurige Momente hat, soll es euch doch immer wieder zeigen, mit Mut und positiven Gedanken kann man alles schaffen. Du verlierst deinen Wert als Mensch nicht, nur weil du einen Fehler gemacht hast. Im Gegenteil, Fehler machen uns zu den Menschen, die wir sind und wir alle sind gut so, wie wir sind.

Wer mich persönlich kennt, wird mich nun vielleicht noch besser kennenlernen und mich von einer neuen Seite sehen. In diesem Buch möchte ich euch zeigen, wer ich bin und habe deshalb den Mut zusammengenommen und mich sozusagen »nackig« gemacht.

Aber das war es mir wert, denn ich wollte ein Buch schreiben, was die Menschen bewegt und vielleicht dem ein oder anderen Mut macht!

Schön, dass du es nun liest!

Möge es Dir viel Kraft geben. Wenn auch Du gerade in einer schweren Zeit bist, denke daran:

Das geht vorbei und du kommst da raus!

Hinfallen ist keine Schande, bleib nur nicht liegen, steh wieder auf und selbst wenn du mehrmals fällst, steh wieder auf!

Du schaffst es!

Weil du es wert bist!

Weil es schön ist, dass es Dich gibt!

Inhaltsverzeichnis

Das völlige Versagen ...

Vergangenheit und die Erinnerungen daran ...

Außerordentliche fristlose Kündigung …

Die Nacht im Gefängnis, die Alkoholfahrt und die Zeugenvernehmung…

Auf einmal habe ich kein Geld mehr

MPU und die große Frage: Wie soll ich das bezahlen?

Wenn die Welt um dich herum auseinanderbricht …

Mutig zu seiner Vergangenheit stehen

Ist denn Mut immer das Richtige?

105 Tage ohne Alkohol

Halte an dem fest, woran dein Herz hängt

Wie lange kann ein Mensch lügen …

Mein Geburtstag, der das erste Mal mit Wasser gefeiert wird

Unheilbar krank

Vierter Advent und 153 Tage nüchtern

Hallo 2020!

Mein falscher Freund der Alkohol

Ein Virus lässt die Welt still stehen …

Wieder zurück im Rettungsdienst

305 Tage, 9 Monate nüchtern

Dystonie, meine unheilbare Krankheit

10 Monate geschafft

Corona hört nicht auf

Neuanfang und der Fuchs

Alkoholmissbrauch

MPU-Termin steht fest und die letzte Haarprobe ist negativ

Wenn dir keiner mehr zuhört, und der Engel meines Papas

Die letzten Tage vor der MPU: möge die Geschichte nun gut enden

Der große Tag, die MPU

Das zermürbende Warten und dann wird alles gut

Die große Freiheit ist wieder da

Meine Suri

Neu beginnen, mein Geburtstag und `rein ins neue Jahr

Die Sucht spricht wieder leise zu mir, aber ich bleibe weiter nüchtern

Erinnerungen und die Welt um mich herum

Wann tanzen wir wieder gemeinsam? - und - Der alte einsame Mann

Der immer verfügbare Alkohol, eine sehr berührende Begegnung im Wald und ich habe endlich meine Richtung gefunden

Ich werde Buchautorin und die Euphorie schlägt um in Traurigkeit

Plötzlich entstehen kleine Wunder

Der kleine Teufel und ich bin nun Songwriterin

Zwei Jahre nüchtern

Nachwort

Das völlige Versagen ...

Jetzt ist es fast genau einen Monat her.

Das Datum meines völligen Versagens: 21. Juli 2019.

Innerhalb von zwei Stunden habe ich alles, was ich mir so sehr über die Jahre in einem jahrelangen Kampf erarbeitet habe, verloren. Dass ich fast alles verliere, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.

Montag, den 22. Juli 2019

Ich wache früh morgens ohne jedes Zeitgefühl im Polizeiarrest auf. Mein Kopf dröhnt, ich kann die Augen kaum öffnen, denn sie sind geschwollen vom vielen Weinen. Ich richte mich auf und drücke auf den Knopf. Es erscheint eine Polizistin, die ich verzweifelt frage, wie viel Uhr es ist und ob sie bitte zuhause anrufen und fragen kann, ob es meinen Hunden gutgeht.

Ich versuche, mich zu erinnern. Mein Kopf tut so weh.

Was ist passiert? Verdammte Scheiße, was ist passiert? Das kann doch alles nicht wahr sein. Erinnerungsfetzen kommen mir in den Sinn.

Wein, viel Wein, Polizei vor meiner Haustür, die Polizeiwache, Blutabnahme und immer wieder dazwischen nichts. Leer, als wären Stunden weg.

Um 10 Uhr werde ich entlassen.

Ich schäme mich vor den Beamten, denn ich arbeite im Rettungsdienst. Man kennt mich, da wir von Zeit zu Zeit aufgrund von Notfällen auch hier sind. Die Blicke der Beamten reichen aus. Ich möchte im Boden versinken.

Als das große Tor hinter mir zugeht, laufe ich völlig fertig zum Parkplatz, auf dem der_Wachleiter des Rettungsdienstes meines Kreisverbandes auf mich wartet. Er sagt die beruhigenden Worte:

»Es wird schon alles.« Dass diese Worte dann doch leere Worte sind, werde ich viel später leider schmerzlich erfahren müssen.

»Warte erst mal ab. Wir werden eine Lösung finden.« Ich glaube ihm das, trotzdem habe das Gefühl, keinen Halt mehr zu haben.

Zuhause angekommen, muss ich erst einmal versuchen, meine Gedanken zu sortieren.

Ich habe keinen Führerschein mehr. Gefahren mit 2,2 Promille. Letzten Endes entscheidet aber der Blutwert und der ist noch nicht da. Ein Alptraum, denn ich weiß nichts mehr, gar nichts mehr von dieser Fahrt. Sie ist wie ein dunkles schwarzes Loch. Ich versuche, mich zu beruhigen, denn es ist nichts passiert. Kein Unfall! Ich habe niemand verletzt und mich selbst auch nicht. Zudem geht es meinen beiden Hunden gut ...

Aber ich habe keinen Führerschein mehr.

Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, suche erst einmal meinen Zweitschlüssel, um mein Handy aus dem Auto zu holen. Dann sitze ich völlig starr auf dem Bett. Die Hunde kommen immer wieder zu mir, aber ich kann mich einfach nicht bewegen.

Was ist denn nur passiert? Das kann doch alles nicht wahr sein!! Was für ein Alptraum!!

Plötzlich geht die Haustür auf und der Gassi Service steht vor mir. Da ich eigentlich heute Frühschicht gehabt hätte, wären meine Hunde von ihr versorgt worden. In der Aufregung habe ich völlig vergessen, ihr Bescheid zu sagen, abzusagen. Mein Kopf ist völlig leer. Ich habe immer noch Restalkohol und bin total benebelt. Ich schaue in ihr schockiertes Gesicht.

»Oh man, Shit, ich habe dich völlig vergessen.« Ihre Augen starren mich entsetzt an.

»Wie siehst du denn aus? Warum bist du da?«

»Ich habe keinen Führerschein mehr, ich bin völlig k.o., keine Ahnung, was passiert ist.« Die Hunde sind extrem nervös, ich kann das kaum ertragen.

Sie spüren sehr stark meine Verzweiflung.

»Nimm sie jetzt `mal mit, ich muss erst mal duschen.« Als sie weg ist, rufe ich Linda an.

Sie ist mein Herzensmensch, meine engste Vertraute. Noch nie haben wir uns gesehen und trotzdem hören wir uns jeden Tag. Über Facebook haben wir uns wegen einer gemeinsamen Krankheit der Dystonie (wikipedia.org/wiki/Dystonie) kennengelernt und nun so eine enge Verbindung. Sie ist ein wundervoller Mensch mit einem großen Herz voller Güte, Verständnis und Liebe. Selten habe ich einen Menschen getroffen, der so wundervoll ist wie sie. Ich schätze sie sehr und die Freundschaft ist so kostbar und wertvoll für mich, dass ich diese niemals mehr verlieren oder missen möchte. Es ist ein Geschenk.

Während ich kaum ein Wort rauskriege, ich weine und weine, versucht sie, mich zu beruhigen. Seit Wochen hatte sie es schon den Stress bemerkt. Ich war völlig fertig, hatte viel zu viel gemacht, die On-off-Beziehung, der Alkohol. Sie hatte es immer gesagt: »Pass auf!« Aber ich hatte nicht hören wollen. Und jetzt war es passiert. Immer wieder hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass ich es nicht mehr im Griff hatte. Sie weiß auch nicht, was sie nun sagen soll, aber sie hört mir zu. Die ganze Zeit! Ich erzähle immer wieder dasselbe, rede völlig durcheinander, weine und weine, aber sie ist da. Zwar nicht direkt bei mir, aber sie ist da, Tag und Nacht.

Meine Arbeit im Rettungsdienst ist die Hälfte meines Gehaltes, mit dem anderen Beruf, ich bin Diplom-Tanzpädagogin mit einer eigenen Ballettschule, decke ich den Rest ab. Beide Berufe liebe ich und sie erfüllen mich mit großer Freude. Vom Herz her hänge ich mehr am Tanzen, aber ich bin dankbar, den Rettungsdienst mit einem sicheren Einkommen zu haben. Da ich auf dem Land wohne, spüre ich die Panik in mir, zudem ist im Rettungsdienst auch der Führerschein Pflicht und so schreit in mir die Frage:

Was passiert jetzt??

22.07. bis 30.07.2019

Ich bin nicht mehr im Stande fähig, den Unterricht in meiner Ballettschule fortzusetzen. Da dies die letzte Unterrichtswoche vor den großen Ferien ist, entschuldige ich mich bei den Eltern und beende das Schuljahr vorzeitig aufgrund einer plötzlich eingetretenen Krankheit von mir. Es ist unmöglich, nach dieser Nacht zu unterrichten. Normalerweise war der Alkohol in schlimmen Zeiten immer mein Tröster, jedoch bin ich nicht fähig zu trinken.

Essen geht kaum, ich vegetiere so vor mich hin und möchte am liebsten sterben.

Meine Vermieterin, ich wohne ja noch gar nicht so lange in dem Haus, sie wohnt über mir, kümmert sich wirklich rührend um mich.

Sie bringt mir Essen, sagt mir immer wieder:

»Komm, iss was. Jetzt ist es halt so passiert, das wird wieder. Kopf hoch!«

Sie fährt mich zu Terminen, denn ich bin nicht in der Lage, in einen Bus zu steigen. Es ist so lieb von ihr und ich bin sehr dankbar, denn das ist nicht selbstverständlich. Ihre Hilfe und auch ihr Kümmern unterstützen mich sehr, denn eigentlich habe ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich möchte nicht mehr leben.

Mein Hausarzt schreibt mich erst mal krank. Ich bin ein Haufen Elend. Ich habe großes Vertrauen zu ihm. Er kennt meine Lebensgeschichte und da er bei uns auch Notarzt ist, haben wir im Dienst auch schon länger reden können. Er hat das Herz am rechten Fleck und ist noch so ein Arzt, wie man es sich wünscht. Er hört zu, ihm ist der Mensch wichtig und man fühlt sich gut aufgehoben.

»Schau, das ist wirklich schlecht gelaufen, aber es geht weiter. Du schaffst das! Du hast so viel geschafft. Gib nicht auf!«

»Aber mit mir will doch keiner mehr fahren, was denken denn nun alle von mir?!«

»Es werden alle mit dir wieder fahren, weil du deine Arbeit immer gut gemacht hast. Jeder wird sich dran erinnern. Also Kopf hoch! Du hast einen schlimmen Fehler gemacht, aber denk immer dran: Es ist nichts passiert! Das ist doch am wichtigsten! Steh wieder auf, Fehler passieren, jetzt mach es wieder gut!« Er schreibt mir Tabletten auf. Ich denke mir: Sehr gut! Alle auf einmal genommen, ein tiefer Schnitt in die Pulsadern, dann kann ich in Ruhe gehen. Was soll ich denn noch hier? Ich sehe nur noch einen dunklen Tunnel vor mir.

Die Nacht in der Zelle hat Panikattacken bei mir ausgelöst. Immer wieder habe ich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich kann die Handschellen noch an meinen Handgelenken spüren und die Angst, völlig ausgeliefert zu sein. Ich habe Alpträume, wache schweißnass auf, mache Licht an und starre meinen Hund an, der mich nach einiger Zeit wieder beruhigt. So kann ich wieder einschlafen. Es ist ja jemand da, der mich beschützt. Meine Alpträume sind immer gleich:

Ein dunkler Raum und von hinten höre ich etwas näherkommen. Ich möchte weg, aber ich kann weder reden, schreien, noch mich bewegen. Es kommt immer näher und näher. Ich habe Todesangst. Es packt mich, dann wache ich auf ...

Ich habe meine Hunde, weil ich sie liebe, weil ich Tiere liebe, ja, aber was viele nicht wissen, weil ich allein extreme Angst habe. Die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit und die Vergewaltigung haben Spuren hinterlassen, denn so selbstsicher und »cool«, wie ich nach außen wirke, so zerbrechlich und unsicher bin ich in Wahrheit!

Meine Kindheit war geprägt von vielen einschneidenden Erlebnissen. Ich habe nie das Gefühl von Sicherheit gehabt. Mein leiblicher Vater prügelte aufgrund einer Krankheit auf meine Mutter ein, sodass wir immer wieder ins Frauenhaus flüchten mussten.

Im Frauenhaus war die Stimmung immer sehr angespannt und leider gab es auch unter den Frauen viel Streit, was man an sich niemandem zum Vorwurf machen konnte, denn allen ging es nicht gut.

Später dann die Scheidung, neue Partner meiner Mutter, der viele Alkohol ... Meine Mutter war mit allem völlig überfordert und so war ihr Freund »Alkohol« immer da.

Letzten Endes dann der Umzug zu meinem Stiefvater, mit dem es auch nicht immer leicht war.

Ich war als kleines Mädchen so traumatisiert, dass ich die erste Klasse wiederholen musste, da ich nur mit meinem Spielzeugpferd redete. Später dann in der Grundschule stand in meiner Beurteilung: Tina hat eine blühende Fantasie. Heute betrachtet war es einfach ein Hilferuf, ein »Ich will Aufmerksamkeit!«, weil ich niemals Aufmerksamkeit bekam.

Alle anderen Kinder hatten eine normale Familie, nur ich nicht. So zauberte ich mir meine Wunschfamilie und erfand großartige Geschichten.

Im Alter von ca. 10 Jahren erlebte ich dann die traumatische Erfahrung, dass mir eine Reitlehrerin ins Gesicht schlug. Bis heute habe ich das nicht vergessen.

Wir waren im Reitcamp und übernachteten auf diesem Pferdehof, zu dem ich zum Voltigieren ging. In der Reithalle spritzte uns die Reitlehrerin mit Wasser ab. Die anderen meinten, es wäre doch witzig, wenn sie auch mal abgespritzt würde. So sagten sie mir, ich solle es tun. So schlich ich mich an, nahm ihr den Schlauch weg und spritze sie voll. Daraufhin holte sie aus und schlug mir ins Gesicht. Totenstille in der Halle. Ich rannte vor Schreck in die Ecke und weinte und weinte. Klatschnass, der Schlag in meinem Gesicht brannte und alle ließen mich dastehen.

Unfassbar, wenn ich heute darüber nachdenke. Dieser Moment der völligen Bloßstellung und diese Hilflosigkeit haben sich tief in mir eingebrannt. In der Nacht kam die Reitlehrerin zu mir und gab mir einen Schokoriegel zur Versöhnung. Letzten Endes habe ich es niemandem erzählt, aber so etwas hätte niemals passieren dürfen.

Mit 12 Jahren verfolgte mich und meine Freundin auf dem Weg nach Hause ein Exhibitionist. Plötzlich stand er vor uns mit offener Hose. Ein Schock und es machte mir große Angst.

Mit 13 Jahren dann der Mann, der mich und meine Freundin auf seinem Pferd reiten ließ und nach einer Weile anfing, uns zufällig zu berühren. Es war fruchtbar, denn wir fühlten uns so ausgeliefert und konnten uns nicht wehren. Ich war damals unsicher, ohne Selbstbewusstsein und ich konnte mit niemand sprechen. Zuhause war meine Mutter oft betrunken und sonst war da niemand, dem ich es hätte sagen können. Es war wie eine Wiederholung, denn als kleines Mädchen mit ca. 6/7 Jahren geschah schon einmal, etwas in der Art. Kinder verdrängen dies jedoch oft, damit sie überleben. Ich hatte es bis dahin auch verdrängt, doch dann kamen die Erinnerungen.

Mit 17 Jahren dann die Vergewaltigung. Diese Nacht wird niemals aus meinem Kopf gehen. Seitdem kommen sie immer wieder, die Alpträume, die Ängste und die Panik.

Es war jedoch in den letzten Jahren weniger geworden, doch die Nacht in der Zelle hat alles wieder hochgeholt. Meine Hülle nach Außen, mein Gesicht, ist eine Maske, dahinter steckt ein kleines unsicheres Kind. Wenn es dunkel wird, kommen die Angst und die Erinnerung. Nicht immer, aber immer wieder und deshalb habe ich Hunde. Sie schützen mich, sie beruhigen mich und sie sind da. Ohne ihre Nähe würde ich wohl viele Nächte nicht schlafen und wäre tagsüber oft vor Müdigkeit nicht arbeitsfähig.

Wie soll es denn nun weiter gehen?

Ich weine und weine. Ich fühle mich völlig erschlagen, denn ohne Führerschein bin ich hier auf dem Land völlig aufgeschmissen. Wären meine Hunde nicht da, würde ich wohl nicht mehr aufstehen. Ich denke ernsthaft darüber nach, mich umzubringen.

Es erscheint alles so sinnlos, alles, was ich mir erschaffen habe, ist kaputt. Freunde versuchen, mich aufzubauen, mir Mut zu machen, reden auf mich ein, es wird alles gut, aber ich sehe momentan kein Licht.

Ich bin müde, wirklich müde, denn mein Leben war von Anfang an nicht leicht und immer ein harter Kampf.

Vergangenheit und die Erinnerungen daran ...

Ich ziehe die Reportage von mir `raus, die im Internet unter »Brigitte Stimmen« zu lesen ist, erschienen im Jahr 2017:

Magersucht, Missbrauch, Drogen: »Und trotzdem lebe ich!«

15.08.2017

BRIGITTE.de-Leserin Tina Gizella hat lange am Rande des Abgrunds gelebt. Heute geht es ihr gut - meistens zumindest.

Mein Leben steckt in vielen bunten Schuhschachteln. Lange habe ich sie nicht mehr angeschaut. Warum? Mein Leben ist so vollgestopft mit Arbeit und Terminen, dass ich nicht zur Ruhe komme. Nun zwang mich eine Operation zur Ruhe und zum ersten Mal nahm ich meine Schuhschachteln wieder zur Hand.

Da fällt mir ein Foto in die Hände, das vor 18 Jahren gemacht wurde: Meine Arme so dünn wie Striche, die Beine versunken im Stuhl. 41 Kilo bei 1,67 Metern. Magersucht. Bei mir ging es damals nicht, ums dünn werden, schlank war ich schon immer. Aber ich fühlte mich nie wertvoll. Alle waren dünner, besser und wertvoller.

Wertvoll! Ein so wichtiges Wort! Seinen eigenen Wert kennen und auch zu sich selbst zu stehen, das brauchte bei mir lange. Gut 20 Jahre.

Ich blicke zurück auf einen langen, steinigen Weg und trotzdem hielt mich etwas fest am Leben. Mein Wille zu leben! Der kam aber erst, nachdem ich körperlich und seelisch am Ende war.

Wir landeten im Frauenhaus

Ich hatte eine schwere Kindheit. Mein Vater war ein angesehener Mann, er war Werbegrafiker, hatte gute Aufträge, ein tolles Auto, ein tolles Haus und meine Mutter an seiner Seite, eine schöne ungarische Frau. Doch leider überschattete ein Gehirntumor sein Leben. Nach der OP war er nicht mehr derselbe und er nahm seine Tabletten mit Alkohol. Ich weiß nicht, wie oft ich als kleines Kind dazwischen ging, wenn er auf meine Mutter einschlug, während meine Schwester sich übergab. Nach dem dritten Mal, wo es so heftig war, dass meine Mutter einen gebrochenen Arm hatte, landeten wir im Frauenhaus und gingen nicht mehr zurück.

Unser neues Zuhause war eine kleine Wohnung meine Mutter völlig überfordert, sie trank und ich hatte viel Angst - es gab nichts Stabiles in meinem Leben. Weiter ging es für uns in eine andere Stadt, wo wir bei unserem neuen Stiefvater einzogen. Mit 13 Jahren dann der große Schock, als wir bei meinem Vater zu Besuch waren: Suizidversuch, Notarzt, Rettungsdienst. Wie konnte er uns das antun? Es hatte nicht geklappt, aber das Vertrauen war weg. Er wäre einfach so gegangen - ohne uns.

Ich begann wieder zu tanzen

Tanz war immer etwas, das mich in eine eigene Welt versinken ließ. Die Topmodels Cindy Crawford, Claudia Schiffer und Co. waren in meiner Zeit Vorbilder, ich wollte auch so sein wie sie, schlank und schön. Also begann ich schon da, auf mein Gewicht zu achten. 52 Kilo, mehr sollte es nicht werden. Mein Gewicht gehörte mir, ich hatte endlich in meinem instabilen Leben eine Kontrolle. Etwas, das mir gehörte.

Dann mit 17 Jahren die verhängnisvolle Party. Er fiel mir den ganzen Abend schon unangenehm auf, seine Blicke durchbohrten mich, er machte mir Angst. Irgendwann war ich zu müde und legte mich ins Bett, während die anderen oben feierten. Als ich wieder aufwachte, spürte ich den Atem hinter mir, die Hände, und dass auf einmal von hinten etwas in mich eindrang. Ich war wie erstarrt, wie eingefroren, der Atem stockte mir fast, nein, nein, das wollte ich nicht. Es war irgendwann vorbei, und ich weiß nicht mehr, wie lange ich völlig geschockt im Badezimmer saß und immer wieder dachte: Was war da passiert!? Als meine Freundin sich neben mich setzte, und ich unter Tränen immer wieder sagte: »Ich wollte das nicht!«, kam von ihr nur der Satz: »Das ist normal, so etwas passiert doch fast jeder Frau.« Seitdem frage ich mich oft, wie sie so etwas sagen konnte.

Dann fing ich an, gegen mich selbst zu kämpfen

Einige Wochen später fasste ich den Mut, ging zu einer Lehrerin und erzählte ihr unter Tränen den Vorfall. Doch anstatt mich zu unterstützen, sagte sie: »Tja Tina, wenn man sich in solchen Kreisen herumtreibt, dann muss man sich nicht wundern, dass einem so etwas passiert!« Nach diesem Satz ging es bergab: Ich war selbst schuld. Ich war nichts wert und so begann mein Kampf gegen mich selbst.

Ich erstellte mir einen straffen Essensplan. Hunger durfte ich nicht zulassen, ich musste ihn besiegen. Die Waage zeigte 45 Kilo. Doch die anderen waren dünner, schöner, wertvoller. Zusätzlich begann ich zu rauchen, das bekämpfte das Hungergefühl. 43 Kilo - ich kam meinem Ziel näher.

Immer wieder kam ich in die Klinik

Mittlerweile waren aber die Schule und meine Mutter informiert. Als ich das erste Mal beim Arzt saß und er das Wort Magersucht sagte, dachte ich nur, was will der jetzt von mir!?

»Sie muss in eine Klinik«, sagte er. Dort musste ich jede Woche 400 Gramm zunehmen. Wie konnten sie mir das antun? Ich aß meine Zwangsmahlzeiten wie vorgeschrieben und nahm zu. Ich hasste meinen Körper, der jeden Tag fetter und aufgequollener wurde. Das Essen fühlte sich schlecht an, eklig, ich hatte es nicht verdient und kotzte es wieder aus. Doch die Therapeuten verordneten mir nach dem Essen ein Toilettenverbot. So musste ich 2,5 Stunden mit ihnen im Raum sitzen und die Nahrung verdauen lassen. Als ich 48 Kilo erreicht hatte, durfte ich immerhin eine Stunde in der Woche in die Stadt. Ich fand eine neue Freundin, die genauso drauf war wie ich. Zusammen kauften wir Berge an Essen, stopften alles `rein und kotzten es am Ende wieder aus. Dazu kamen Mengen an Alkohol. Das Ganze ging nicht lange gut, ich musste die Klinik verlassen:

»Nicht therapierbar« stand auf dem Entlassungsbrief.

Doch der Teufelskreis ging weiter. Ich kam immer wieder in Kliniken, wurde gezwungen zuzunehmen. Ich machte brav mit, damit ich wenigstens mein Zimmer verlassen durfte. Ich suchte mir andere Wege, um mit dem Druck klarzukommen. Ich ritzte mir die Arme auf. Druck ablassen, Schmerz spüren, mich wieder fühlen, aber am Ende blieb Leere.

Ich schoss mich weg - mit Ecstasy, LSD, Kokain, Heroin

Tanzen konnte ich nicht mehr, ich hatte seit dieser grauenhaften Nacht das Gespür für meinen Körper verloren. Ich hatte neue Freunde gefunden, die mir wunderbare Pillen gaben, mit denen man auf Wolke Sieben schwebte. Ich war 4 bis 5 Nächte lang wach, irgendwann wurden es 7 Tage. Ecstasy, LSD, Kokain - was nahm ich alles, um nichts mehr von der realen Welt mitzubekommen. Doch ich brauchte immer mehr, denn mein Körper stumpfte ab.

Ich hatte keinen Appetit mehr, es war wunderbar, ich kam meinem Zielgewicht unter 40 Kilo immer näher. Doch leider ging es mir auch immer schlechter, ich bekam Depressionen, sah im Leben keinen Sinn mehr, schnupfte Heroin, was aber auch irgendwann keinen Kick mehr hervorrief. Ich weiß nicht, ob es der Arzt war, der mir massiv ins Gewissen redete, oder doch dieser Unfall, der uns alle so erschreckte.

Es war völlig normal, dass wir unter Alkohol- oder Drogeneinfluss Auto fuhren. Es war mitten auf der Bundesstraße, als wir zu zwei brennenden Autos kamen, die frontal ineinander geknallt waren. Wir hörten Schreie, Öl lief aus, wir rannten hin. Ein Baby schrie in diesem Auto, Blut überall. Die Unfallverursacherin war betrunken. Das war ein furchtbarer Schlag ins Gesicht für uns.

Zum ersten Mal war das Leben keine Party mehr

Ich wollte versuchen, was aus meinem Leben zu machen. Ich hatte einen tollen Hausarzt, bekam eine gute Therapeutin und einen festen Lebensplan. Essensplan, Blutkontrollen, jede Woche wiegen. Die Regeln waren klar. Keine erneute Abnahme, ich durfte nicht unter 40 Kilo kommen. Keine Drogen, keinen Alkohol, dafür den Schulabschluss nachholen. Und sobald ich die 45 Kilo erreichte, einmal in der Woche Ballett.

Meine Schule holte ich nach und ging zum Ballett. Natürlich war es nicht leicht der Blick in den Spiegel erzeugte immer wieder Wut, denn ich fand mich fett. Aber ich hatte endlich was, wofür ich kämpfe wollte. Mit 20 Jahren musste ich endlich entscheiden, was ich beruflich machen wollte. Tanzen!

Ich machte eine Ausbildung zur Tanzpädagogin

Ich nahm allen Mut zusammen, ging zum Vortanzen und durfte eine Ausbildung zur Bühnentänzerin und Tanzpädagogin beginnen. Ich begann zu unterrichten, hatte Auftritte und Vorführungen. Langsam fand ich mich selbst. Mein Gewicht schwankte zwischen 50 und 45 Kilo, es war ein andauernder Kampf.

Die Kinder und Jugendlichen kamen gern zu mir, ich tanzte in einer Showtanzgruppe und leitete eine Musical Company. Ich wurde für etwas gebraucht. Zum ersten Mal konnte ich was und das war nicht hungern, gegen sich kämpfen, sondern für sich kämpfen.

Trotzdem war ich allein, Nähe machte mir Angst. In schwierigen Momenten, wenn die Angst in der Nacht kam, wenn die Leere groß war, waren der Alkohol und meine vertraute Freundin, die Magersucht, da. Sie gaben mir immer wieder Halt. Ich wollte das aber nicht mehr. So machte ich nochmals eine Therapie und holte mir Hilfe beim Frauennotruf.

Seit vielen Jahren bin ich stabil, ich wiege 53 Kilo, manchmal auch mehr. Ich habe mein eigenes Ballett &Polestudio in Augsburg, und freue mich jeden Tag, meine kleinen und großen Tänzerinnen zu unterrichten. Ich möchte sie stark machen, ihnen durch den Tanz zeigen, dass sie einzigartig, schön und wertvoll sind.

Damals habe ich lange überlegt, ob ich dies wirklich so öffentlich preisgeben soll, aber dann entschied ich mich dafür, um anderen Frauen Mut zu machen.

Ich weiß noch, wie mich alles einholte, als es online ging. Ich war völlig überfordert und stand weinend während meiner Arbeit (gerade an dem Tag hatte ich Tagschicht im Rettungsdienst) im Hof. Obwohl zuvor eine Kollegin mich mit den Worten empfing:

»Hey, ich ziehe meinen Hut vor dir. Großartig, was du alles geschafft hast. Ich hätte das nie gedacht. Immer habe ich gedacht, du hättest ein gutes Leben gehabt. Du wirkst so selbstsicher und hast alles im Griff. Man denk das nicht von dir. Meinen größten Respekt an dich.«

Dann umarmte sie mich, was ich sehr rührend fand. Trotzdem fühlte es sich auf einmal wie ein Fehler an.

Was würden denn nun alle denken? Drogen, Alkohol, und ... und ... und ...

Der Kollege, mit dem ich an diesem Tag fuhr, baute mich wieder auf und meinte nur:

»Das ist doch normal, dass dich das aufwühlt, aber sei stolz, schau, was du geschafft hast«

Es wühlte mich sehr auf. Es brachte mich völlig durcheinander. In dieser Zeit war auch meine Beziehung nicht mehr besonders gut.

Ich war wegen meiner Partnerin nach Augsburg gezogen. Seit knapp sieben Jahren waren wir ein Paar. Ich bin bis heute dankbar für diese schöne Beziehung. Auch wenn wir heute nicht mehr zusammen sind, hatten wir schöne einzigartige Momente und ich werde diese Frau immer lieben. Leider haben wir es nicht gemeinsam geschafft, unsere Beziehung zu retten. Es lag an vielen Gründen, aber auch daran, dass wir sehr unterschiedlich waren. Da sie aber der erste Mensch war, den ich so nah an mich ranlassen und für den ich so eine tiefe Liebe empfinden konnte, bleibt sie immer in meinem Herzen. Oft habe ich dann gehört:

»Bist du mit ihr zusammen gewesen, weil sie eine Frau war?«

Auf der einen Seite habe ich aufgrund meiner vielen Erlebnisse vor Männern einen gewissen Respekt und wenig Vertrauen, denn leider hatte ich sie oft als sehr brutal erlebt. Auf der anderen Seite habe ich mich in diese Frau total verliebt und sie als Mensch sehr geliebt.

Ich wäre definitiv mit ihr zusammengekommen.

Aber ich habe mir natürlich oft die Frage gestellt: Was wäre, wenn mir nichts passiert wäre? Denn mich auf einen Mann einzulassen, war für mich sehr schwer.

Unvorstellbar eigentlich.

Ich war aber erst einmal überfordert mit all den Gefühlen, die hochkamen. Zusätzlich die Belastung durch die eventuelle Trennung und so dauerte es etwas, bis ich damit zurechtkam. Aber dann verlor ich die Angst davor, was andere über mich denken könnten, und war, wie der Kollege sagte, sehr stolz darauf. Auch die Angst davor, wie die Eltern meiner Tanzschülerinnen und Schüler, sollten sie meine Geschichte lesen, darauf reagieren würden, weil sie ihre Kinder nicht mehr vertrauensvoll in meine Hände geben wollten, verflog. Im Gegenteil, ich bekam von einigen, die es lasen, herzliche Worte und so bereute ich es dann auch nicht mehr.

Ich lese mir die Reportage durch und weine und weine ... So viel habe ich mir aufgebaut und nun? Nun steht ein neuer Artikel in der Zeitung, zum Glück ohne Namen aber völlig falsch dargestellt. Die Presse erzählt es oft anders, als es war und das trifft auch hier zu:

Augsburger Allgemeine: Montag, den 22.07.2019:

38-Jährige fährt Schlangenlinie und muss in den Arrest

Die Nacht im Polizeiarrest verbracht hat eine 38-jährige Autofahrerin, die am Sonntag gegen 22.40 Uhr anderen Verkehrsteilnehmern aufgefallen war:

Die Frau fuhr auf der Staatsstraße 2510 von Auerbach in Richtung Horgau in Schlangenlinien.

Die Z. Polizeistreife hielt die 38-Jährige im Ortsbereich H. an und kontrollierten sie. Bei dem Alkoholtest stellte sich ein Wert von 2,2 Promille heraus.

Laut Polizei habe sich die Frau höchst »unkooperativ« gezeigt und angekündigt, am nächsten Morgen trotz des sichergestellten Führerscheins und dem Restalkohol mit einem Zweitschlüssel wieder ins Auto zu steigen, um dann in die Arbeit zu fahren.

Die Folge: Die Beamten ordneten einen Sicherheitsgewahrsam an. Die 38-Jährige wurde in den Arrest des Polizeipräsidiums in Augsburg gebracht. Bei der Fahrt beleidigte sie auch noch die eingesetzten Beamten mit drastischen Schimpfwörtern.

Ich lese es mehrmals durch und bin wütend, traurig aber auch so entsetzt, wie falsch man einen Bericht schreiben kann. Ich hatte während der Fahrt nur noch geweint.

Beleidigt hatte ich die Beamten, was mir schrecklich leidtat, aber dies auch nur aus der Panik heraus, weil mir die Handschellen angelegt wurden.

Ich hatte nichts getan, weder war ich aggressiv, noch hatte ich ein Anzeichen gezeigt, dass man mir Handschellen anlegen musste. Ich war in Panik! Drei gegen eine, ist das fair? Mein Auto hatte ich bereits geparkt, ich wurde nicht angehalten. Zum Glück hatten es die Nachbarn nicht mitbekommen, denn ich war auch hier im Dorf Ballettlehrerin. Das wäre eine Katastrophe gewesen, denn die Menschen urteilen ja sofort, nicht alle aber viele, ohne zu fragen, warum es denn dazu kam. Dass ich die Aussage machte, ich würde mit dem Zweitschlüssel noch fahren, konnte ich mir nicht erklären, denn meine Erinnerung war weg. Nie hatte ich vor dem Dienst getrunken. Das war mein absoluter Tiefpunkt. Ich hätte am Montag Frühschicht.

Eine Nacht macht alles kaputt. Ich fühle mich so leer, denn nun stehe ich vor dem Nichts. Nicht einmal mehr betrinken kann ich mich. War doch der Alkohol immer mein Tröster und das einzige Laster, was übriggeblieben war, aus der schlimmen schweren Zeit.

Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen und weiß gar nicht mehr, wie es nun weiter gehen soll. Eine liebe Notärztin betreut mich, telefoniert immer wieder mit mir.

Carolin ist eine großartige Ärztin, wir lernten uns im Dienst kennen und verstanden uns gleich total gut. Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit und hat das Herz am rechten Fleck.

Im ersten Moment ist sie schockiert und kann kaum `was sagen, aber dann baut sie mich auf, hört mir zu, ist einfach nur da, während ich ewig ins Telefon weine. Sie gibt mir sehr viel Kraft.

Bis heute habe ich das nicht vergessen und obwohl sie nicht mehr hier lebt, hören wir uns regelmäßig und wissen, wir sind füreinander da. Eine ganz besondere Freundschaft.

Mein Hausarzt redet auf mich ein, nicht aufgeben, es wird alles gut. Engste Freunde, aber auch meine Vermieterin bringen mir Essen, denn ich möchte nichts mehr zu mir nehmen.

Ich sehe keinen Sinn mehr und möchte am liebsten nur noch sterben.

Während ich stundenlang im Bett liege, manchmal mit dem Messer an meinem Handgelenk, zieht mein Leben an mir vorbei. Die Schuhschachteln, mein bewegtes Leben. Ich bin immer und immer wieder aufgestanden, aber jetzt mag ich nicht mehr. Es ist alles völlig zunichtegemacht. Diese Leere ist erdrückend. Nichts! Ich fühle nichts mehr. So viele Menschen sterben an Suizid, die Gesellschaft bekommt dies nicht so mit, wir vom Rettungsdienst schon. Ich kann das verstehen! Ich kann das so verstehen!

Wenn du so erschöpft bist, dein Leben auf einmal so schwer wird, dass du das Gefühl hast, dran zu ersticken, wenn du keinen Halt mehr hast, du dich selbst nicht mehr fühlen kannst, dann willst du einfach nur noch Ruhe. Endlich Ruhe, weil das Leben nicht mehr zu ertragen ist.

Tief in mir schreit es oft, schneide, schneide und du wirst endlich Ruhe haben. Als würden es meine Hunde spüren, kommen sie in den Momenten zu mir und starren mich an. Wir haben doch nur dich, Frauchen, wenn du gehst, dann sind wir allein. Ich sehe in die treuen Hundeaugen und lege das Messer weg. »Erstmal« denke ich mir. Meine Hunde kann ich nicht allein lassen.

Außerordentliche fristlose Kündigung …

So bleibe ich am Leben und habe mich ein bisschen gefangen, bis ich Ende der Woche den Briefkasten aufmache:

Außerordentliche fristlose Kündigung vom Rettungsdienst.