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Das Hauptwerk Wackenroders und ein wichtiges Zeugnis der Frühromantik: Mit dieser Sammlung kunsttheoretischer Aufsätze und Beobachtungen, Gedichte sowie (fiktiver) Künstlerbiographien lässt Wackenroder einen Klosterbruder zu Wort kommen, der seine religiöse Verehrung für Michelangelo, Raffael und Dürer in aller Wortgewandtheit zum Ausdruck bringt. Dabei wird der Malerei eine ebenso sakrale Bedeutung wie dem Gebet zugeschrieben.-
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Seitenzahl: 245
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Wilhelm Heinrich Wackenroder
Saga
Herzensergießungen eines kunstliebenden KlosterbrudersCoverbild/Illustration: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sofonisba_-_portrait_of_a_monk_c._1556.jpg Copyright © 1797, 2020 Wilhelm Heinrich Wackenroder und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726614749
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
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Wilhelm Heinrich Wackenroder, der 1773 in Berlin geboren wurde, zählt zu den Begründern der frühromantischen Kunsttheorie. Gleichaltrig mit dem Jugendfreunde Ludwig Tieck, ein Jahr jünger als Novalis und Friedrich Schlegel, steht er doch dem Kreise der Romantiker persönlich fern. Sein kurzes Leben verlief äußerlich in den bescheidenen Bahnen des Sohnes aus gutem Hause, der sein Brotstudium vollendete, einem bürgerlichen Beruf zustrebte und ihn nicht eben gern, aber mit Ernst und Gewissenhaftigkeit auszufüllen sich anschickte. Als er, kaum fünfundzwanzigjährig, 1798 starb, lag von ihm nichts vor als die anonym erschienenen, von Tieck herausgegebenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“. Posthum veröffentlichte der Freund 1799 ein zweites Bändchen: „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst,“ Zu beiden hat Tieck selbst Aufsätze beigesteuert. Dies und ein starker geistiger Anteil an Ludwig Tiecks Malerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“, der unvollendet 1798 erschien, ist Wackenroders Hinterlassenschaft.
So eng dies Leben und so schmal dies Werk erscheinen mag: aus der romantischen Welt ist es nicht mehr wegzudenken. Kann man die Brüder Schlegel mit der Schärfe ihres kritischen Geistes das Hirn der Romantik nennen, so ist Wackenroder ihre Seele, von weiblich reizsamer Empfänglichkeit und untrüglichem Instinkt, von inniger Lauterkeit des Herzens und einer fast wehrlosen Weichheit der Empfindung, die ihn zum Ertasten und Erahnen des Tiefsten in der Kunst befähigte, ihn aber auch am frühesten von allen der Zerstörung preisgab.
Wackenroder hat zum erstenmal Themen angerührt, die seither von Begriff und Wesen der deutschen Romantik nicht mehr zu trennen sind: die altdeutsche Kunst Albrecht Dürers und die altdeutsche Stadt Nürnberg, die Malerei der italienischen Renaissance, vor allem Raffaels, die religiöse Weihe aller Kunst und Kunstbetrachtung, die Verherrlichung der Musik als Sprache der Seele, die unaussprechliche Seligkeit des Schaffens und zugleich die tiefe Gefährdung des Künstlers. Er hat als erster den Blick gleichzeitig auf beide Schwesterkünste der Dichtung, Malerei und Musik, gerichtet und damit einen Grundzug aller Romantik bezeugt: das Streben zur Annäherung und Verschmelzung der Künste, hin zu dem universalen Makrokosmos eines Gesamtkunstwerks, von dem damals Novalis und der Maler Philipp Otto Runge träumten und dessen letzte Frucht Richard Wagners Musikdrama ist. In dieser neuen oder doch erneuerten Fragestellung sind Wackenroders Aufsätze eine der bedeutsamsten Programmschriften der jungen Romantik.
Im Mittelpunkt seiner Kunstanschauung steht die Auffassung der Kunst als Religion, als einer Offenbarung des Göttlichen. Man könnte ihn, wäre das Wort weniger vieldeutig und mißverständlich, einen Mystiker der Kunstbetrachtung nennen; denn seine Einstellung zum Kunstwerk gleicht in Glut und Andacht und inniger Versenkung in vielem dem Verhältnis jener Frommen zu ihrem Gott, der ihnen im Seelengrund erschien.
Zwei wunderbare Sprachen sind uns geschenkt: die der Natur, die uns Gottes Wunder offenbart, und die der Kunst, die zu reden wenigen Auserwählten unter den Menschen vom Himmel gegeben ist, Beide sind heilige Zeichen, „Hieroglyphenschrift“ des Schöpfers und seiner Macht. Bedeutungsvoll nimmt Wackenroder den Begriff der Hieroglyphe auf, den die Geniezeit seit Johann Georg Hamann etwa gefunden und der Romantik überliefert hatte: die heilige Sprache Gottes und seiner Schöpfung, auf die es zu hören und die es zu enträtseln gilt.
Die Kunst hat also höchsten Rang als Künderin Gottes und seiner Wunder, sie ist selbst „eine Art von Schöpfung, wie sie sterblichen Menschen hervorzubringen vergönnt war“.
So fordert denn auch die Betrachtung ihrer Werke die Weihe und Andacht religiöser Übung. Wackenroder beschreibt uns, „wie und auf welche Weise man die Werke der großen Künstler der Erde eigentlich betrachten und zum Wohl seiner Seele gebrauchen müsse“; und dies Wort: „zum Wohl seiner Seele gebrauchen“ verleiht der Kunst ihre religiöse Würde und eine fast sakramentale Bedeutung, Es richtet sich gegen die rationale Bildkritik des vorhergehenden 18. Jahrhunderts, die sich in Wiedergabe des Bildinhalts und in Erörterung der Technik erschöpfte und darüber die Seele des Kunstwerks vergaß. „Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet; und es sollten Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die großen Künstler als die Höchsten unter den Irdischen bewundern und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke in dem Sonnenglanze der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte.“
Ist die Kunst Geschenk, Sprache und Künderin des Göttlichen, so muß der Umgang mit ihr auch dem Gebete gleichen, das man nicht in irdischer Zerstreuung, sondern zu erhobener Stunde in Sammlung und Stille verrichtet. Nicht das kalte Prüfen und Vergleichen, sondern die Versenkung in die Gemälde ist das allein Wesentliche. „Sie sind nicht darum da, daß das Auge sie sehe; sondern darum, daß man mit entgegenkommendem Herzen in sie hineingehe und in ihnen lebe und atme.“ Damit ist die kritisch-räsonierende, verstandesmäßige Betrachtungsweise der Aufklärungszeit überwunden und eine rein gefühlshafte Erfassung des Kunstwerks an ihre Stelle getreten. Wackenroder geht es nicht mehr wie der früheren Zeit um die Erkenntnis vornehmlich technischer Einzelheiten, über denen das große und einheitliche Ganze verlorenging, nicht um den Aufbau des Bildes und die Zeichnung der Figuren, um Gewänder oder Baumschlag, um Licht und Farben, sondern einzig und allein um das zu religiöser Inbrunst gesteigerte Erleben der Kunst in einem demütigen und verehrenden Herzen.
Von solcher Andacht zum Kunstwerk, von Sammlung und Meeresstille der Seele war zuerst Johann Joachim Winckelmann erfüllt gewesen, dessen Schriften seit 1755 die edle Einfalt und stille Größe und die kanonische Geltung der griechischen Werke verkündeten. Auch in seiner Haltung lebt, bis in die sprachliche Formulierung erweisbar, ein mystisches Element, so griechisch und gott-los vom Christlichen aus gesehen seine Welt- und Lebensanschauung erscheinen mag, und in dieser religiösen Inbrunst des Kunstgenusses ist er in der Tat Wackenroder verwandt. Nur in der Art ihrer Frömmigkeit scheiden sich beide. Winckelmanns erzwungenes Konvertitentum bleibt zeit seines Lebens äußerliche Zutat, welche die antikisch-heidnische Grundsubstanz seines Wesens nicht berührt. Auch er ist Mystiker, vom Neuplatonismus und vielleicht auch von der mächtigen Tradition des heimischen Pietismus befruchtet, aber ihm ist die Schönheit an sich das göttliche Geheimnis, das es zu verehren gilt, die selig in sich selbst ruhende Vollkommenheit der Leiber griechischer Menschen und Götter. Wackenroders Innigkeit fließt zum erstenmal aus christlicher Quelle, ihm ist zuerst das Kunstwerk Offenbarung der Macht und Größe des einen, persönlichen Gottes.
Ein ähnlicher Ton der Ehrfurcht vor den Werken großer Kunst war schon einmal in der Geniezeit erklungen, Goethes Hymnus „Von deutscher Baukunst“ (1773), voller und brausender im Lebensgefühl der Sturm- und Drang-Zeit als die zartere Verhaltenheit des Klosterbruders, steht ihm dennoch in der Grundhaltung nahe und zählt zu den geistesgeschichtlichen Ursprüngen der „Herzensergießungen“.
Diese Auffassung der Kunst als Religion und Gottesdienst bedingt auch Wackenroders Künstlerbegriff, Dreißig Jahre zuvor hatte der Sturm und Drang das Prometheische, die vorbildlose Autonomie und das gottähnliche Schöpfertum des Künstlers entdeckt, der den Mikrokosmos seines Werks in souveräner Freiheit aus dem Nichts erschafft, so wie der größte Künstler, Gott, den Makrokosmos des Alls. Dies Wissen um das unbegreifliche Wunder des Schöpferischen im Menschen bleibt in der Romantik erhalten. Darüber hinaus ist Wackenroders Stellung von seinem Urerlebnis der Göttlichkeit aller Kunst bestimmt, trägt also abermals einen religiösen Zug. Wenn die Kunst göttliche Sprache ist, dann ist ihr Träger geheiligt, Auserwählter und Priester, so wie damals Novalis sagt, daß Dichter und Priester im Anfang eins gewesen seien, oder wie später die Künstlergestalten in Eichendorffs Erzählungen um das Priesterliche ihrer heiligen Berufung wissen.
So sieht es Wackenroder: Ist schon der bloße Genuß des Kunstwerks Gebet und Gottesdienst, zu dem der Mensch in innerer Einkehr und Seelenstille sich rüsten muß, um wieviel mehr ist der dieser Gottessprache Mächtige und mit ihr. Begabte, der Künstler, ein priesterlich Geweihter. Auf das heilige Leben dieser Gottgesegneten kommt es an. Das in den „Herzensergießungen“ so stark hervortretende biographische Element ist keine belanglose oder äußerliche Zutat und auch nicht nur durch die Anekdotenfreudigkeit der Quellen bedingt, sondern ergibt sich notwendig aus der innersten Überzeugung des Verfassers, ist Allerwesentlichstes: diese Lebensläufe sollen beweisen, daß der Künstler auch in seiner äußeren Existenz ein Gesalbter des Herrn ist.
In diesem Sinne schreibt Wackenroder Künstlergeschichte, nicht mit der naiven Stoff- und Sachfreude der alten Chroniken, aus denen er schöpfte, sondern erfüllt von der sentimentalischen Sehnsucht nach der einfältigen Frömmigkeit einer Kunstauffassung, die er in seiner Gegenwart vergebens suchte. Er erzählt das Leben der alten Maler seinen Quellen nach, deren wichtigste die Vitensammlung des Giorgio Vasari (um 1550) ist und von deutschen Gewährsmännern die „Teutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malerei-Künste“ des Joachim von Sandrart (1675). Ihnen entnimmt er seinen Stoff, oft wörtlich nacherzählend, häufiger frei bearbeitend. Ein Vergleich mit den Quellen lehrt, daß der Romantiker eben da erweitert und verändert, wo es um die psychologische Vertiefung und das neue Künstlerideal geht, das den alten Berichten notwendig fehlen mußte.
Die mystische Stille der Seele ist die erste und unerläßliche Voraussetzung nicht nur für das Nacherleben und den Genuß des Kunstwerks, sondern auch für seine Empfängnis im Herzen des Schöpfers. Nicht im Sturmwinde, sondern im sanften Säuseln erscheint der Gott. Das ruhelos brausende Leben des Piero di Cosimo, das Wackenroder dem Vasari nacherzählt, ist nicht gottgesegnet: „seine Seele erfreut sich nie, still auf einem Gedanken oder einem Bilde zu ruhen“, und niemals vermochte er, „sich in einfacher und heiterer Schönheit zu spiegeln“. Er kann für Wackenroder kein „wahrhaft echter Künstlergeist“ sein. So wie die Unio mystica sich nur in der. Stille des einsamen Seelengrundes vollzieht, muß auch die Seele des Künstlers ein reiner Spiegel sein. „In dem tobenden und schäumenden Meere spiegelt sich der Himmel nicht; — der klare Fluß ist es, worin Bäume und Felsen und die ziehenden Wolken und alle Gestirne des Firmaments sich wohlgefällig beschauen.“
Mit diesem Ideal der in sich ruhenden, spiegelreinen Stille der Künstlerseele steht Wackenroder in einer geistesgeschichtlichen Überlieferung, die in der deutschen Romantik ihren stärksten Ausdruck fand: bei Novalis und Friedrich Schlegel, bei E. T. A. Hoffmann und Eichendorff und am schönsten vielleicht in Jean Paul Friedrich Richters „Vorschule der Aesthetik“, ja weiter im 19. Jahrhundert bei Eduard Mörike, bei Adalbert Stifter und noch bei Gottfried Keller. Wackenroder gibt diesem romantischen Geniebegriff den Sonderakzent einer nazarenisch-frommen Einfalt und ursprünglichen Kindlichkeit, den er aus den reinen Tiefen der eigenen Seele schöpfte. Wenn Goethe einmal zu Riemer sagt, die Menschen seien nur so lange produktiv in Poesie und Kunst, als sie noch religiös seien, — dann würden sie bloß nachahmend und wiederholend, so spricht dies tiefe Wort Wackenrodets innerste Überzeugung aus: nur in der schlichten Frömmigkeit der alten Zeiten, als Religion, Kunst und Leben noch ungeteilt eins waren, entsteht wahre Kunst.
So stilisieren die „Herzensergießungen“ Leben und Werk der alten Maler; sie geben nicht geschichtliche Wirklichkeit im wissenschaftlichen Sinne, sondern Ideal und frommes Wunschbild, eine sentimentalisch-sehnsüchtige Utopie, projiziert in die romantische Ferne vergangener Jahrhunderte. Am bezeichnendsten sind dafür die Anekdoten der „Malerchronik“, die fast alle von der unbegreiflich hohen Würde der Kunst und von der demütigen Frömmigkeit ihrer Träger berichten: so wenig historische Wahrheit wie Winckelmanns Antikenbild oder Klopstocks Vorstellung von germanischer Frühe, aber wie diese eine große Fiktion, von befruchtender Wirkung auf den Geist der romantischen Kunst.
Wackenroders Wahl seiner Gegenstände ist durch diese Haltung bestimmt. Seine Welt sind die italienischen Maler der Renaissance, vor allem der Hochrenaissance: Michelangelo, Lionardo und Raffael, ihre Zeitgenossen Piero di Cosimo, Francesco Francia, Albertinelli, spätere wie Carracci, Domenichino und sogar schon der von E. T. A. Hoffmann so geliebte Franzose Jacques Callot. Daneben werden ältere Künstler, Giotto und Fra Angelico da Fiesole, nur flüchtig erwähnt, und von altdeutschen Gestalten erscheint nur Albrecht Dürer.
Dies ist Wackenroders enges Pantheon, verklärt von jener romantischen Sehnsucht zur Frühe, von der wir sprachen, zurück in ein erträumtes goldenes Zeitalter des ersten Anfangs und Neubeginns, einer ersten, paradiesesnahen Ursprünglichkeit und frommen Einfalt des Lebens. Vor allem ist. es der „göttliche Raffael“, dessen Name mit einer religiösen Weihe und ehrfürchtigen Scheu immer wieder genannt wird, zum erstenmal mit diesem Nachdruck. Wohl hatte schon das 18. Jahrhundert den Meister anerkannt und namentlich die technische Vollendung seiner Gemälde bewundert, und tiefer schürfend preist Winckelmanns Erstlingsschrift über die Nachahmung der griechischen Werke von 1755 die selig ruhende göttliche Stille im Antlitz der eben für Dresden gewonnenen Sixtina. Aber so feierlichen Klang gewinnt Raffaels Name erst jetzt als Inbegriff des romantischen Künstlerideals. Bei Wackenroder beginnt seine Stilisierung in das Nazarenisch-Fromme und Einfältige hinein, das sich in der Spätromantik steigert und in J. D. Passavants großer Lebensbeschreibung (1839 ff.) einen späten Höhepunkt findet.
In dieser Verherrlichung der italienischen Malerei lebt neben dem Drang zur Frühe als zweites romantisches Herzthema das Südweh des Zeitalters, die Italiensehnsucht aus nordischer Dunkelheit heraus, für die Goethes Hégire nach Rom das größte Beispiel bildet. Auch Wakkenroder hat dieses Fieber gekannt, wenngleich es ihn nicht mit der verzehrenden Stärke packte wie andere Romantiker. Er plante in der Göttinger Zeit eine Italienfahrt zu dritt mit Tieck und dessen Freund Burgsdorff, eine Flucht in den Süden wie Eichendorffs Helden und alle die romantischen Maler: er selbst wollte als Musiker, Tieck als Dichter in Rom leben. Es ist vielleicht kein bloßer Zufall, daß sich der Plan zerschlug und wohl Tieck in späteren Jahren, aber nie Wackenroder den Weg in den italienischen Hörselberg fand. Bezeichnend, daß diejenigen Beiträge in den „Herzensergießungen“, die diesen Gedanken aussprechen („Sehnsucht nach Italien“ und „Brief eines jungen deutschen Malers in Rom an seinen Freund in Nürnberg“), nicht von ihm, sondern von Tieck verfaßt sind; und Tieck ist es auch, dessen Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ das Thema des nach Rom pilgernden altdeutschen Malerjünglings dichterisch gestaltet.
Wackenroder ist der Südverzauberung nicht erlegen wie so manche Künstler seiner Zeit. Er hat sich wie Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich auch hier seine Selbständigkeit bewahrt. Ihm scheint es gut, daß sein Albrecht Dürer nicht den Weg nach Rom und zu Raffael gefunden hat: „Er würde nicht er selber geblieben sein; sein Blut war kein italienisches Blut.“
So steht in den „Herzehsergießungen“ neben den Malern der italienischen Renaissance die altdeutsche Kunst, neben dem göttlichen Raffael die symbolhafte Gestalt Albrecht Dürers als Inbegriff deutschen Wesens. Auch Wackenroders Dürerverehrung nimmt ein Thema auf, das nach und neben der Verkennung durch den Rationalismus des 18. Jahrhunderts die Sturm- und Drang-Zeit ein Menschenalter vorher zuerst angeschlagen hatte. Was aber in den Briefen und Äußerungen des jungen Goethe etwa oder in einem noch vorsichtig verteidigenden Aufsatz seines Darmstädter Freundes Merck nur zögernd anklingt, das ist in den Bekenntnissen des Klosterbruders voll entwickelt: jener Ton begeisterter Verehrung, der von da an in dem Dürerbild der deutschen Romantik nicht mehr verklingt.
Zwar ist es durchaus nicht so, als solle nun die altdeutsche Kunst die italienische verdrängen oder auch nur höher gewertet werden als jene. Nur ein einziger Aufsatz ist in der Erstausgabe der „Herzensergießungen“ dem Nürnberger Meister gewidmet (erst später kommt die „Schilderung, wie die alten deutschen Künstler gelebt haben“ hinzu). Und eben in diesem vielberufenen „Ehrengedächtnis“ tritt der altdeutsche Maler zwar völlig gleichberechtigt neben den großen Italiener, aber jede Übersteigerung oder Verabsolutierung liegt dem Frühromantiker fern. Dürer steht neben Raffael, nicht an seiner Stelle, und in dem Traumgesicht, das den Aufsatz beschließt, erscheinen die beiden Großen, vom Himmel herabgestiegen, Hand in Hand.
Einer der wesentlichsten und eigentümlichsten Gedanken von Wackenroders Kunstanschauung tritt hier zutage: die Forderung der Toleranz. Nicht die einseitige Überwertung der Kunst, sei es des eigenen, sei es des fremden Volkes, ist sein Wille und Ziel, sondern die Verteidigung der Gleichberechtigung beider. Sichtlich spüren wir den Einfluß Johann Gottfried Herders, der zum erstenmal in Deutschland historisches Verstehen jeder geistesgeschichtlichen Erscheinung aus Zeit und Raum heraus gelehrt und die Entwicklung der Menschheit als eine Fuge aufeinanderfolgender und ineinanderverschlungener, aber selbständiger und gleichwertiger Völkerstimmen begriffen hatte.
Aber auch dieser Toleranzgedanke ist bei Wackenroder religiös verankert. Wenn die Kunst heilige Sprache und Gottesgeschenk ist, dann sind auch alle ihre Ausdrucksformen gleichberechtigt und gleich wertvoll, alles Stimmen der Geschöpfe Gottes, und keine darf auf Kosten der andern mißachtet werden. Diesen Sinn hat der für Wackenroders Denken ungemein aufschlußreiche Aufsatz: „Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst“, dem später in den „Phantasien“ noch ein zweiter, ähnlicher, folgt. So wie alle Dinge und Geschöpfe der Natur Gott angehören und sein Lob verkünden, ein jedes mit seiner anerschaffenen Stimme und nach seiner besonderen Art, ein jedes Ihm zum Wohlgefallen, so hat auch die Kunst aller Völker und aller Zeiten ihr Recht und ihren Wert, weil jede in ihrer Zunge doch die eine Sprache des Schöpfers spricht. „Er erblickt in jeglichem Werke der Kunst unter allen Zonen der Erde die Spür von dem himmlischen Funken, der, von ihm ausgegangen, durch die Brust des Menschen hindurch, in dessen kleine Schöpfungen überging, aus denen er dem großen Schöpfer wieder entgegenglimmt. Ihm ist der gotische Tempel so wohlgefällig als der Tempel der Griechen; und die rohe Kriegsmusik des Wilden ist ihm ein so lieblicher Klang als kunstreiche Chöre und Kirchengesänge.“
So stehen auch Nord und Süd, deutsche und italienische Kunst gleichberechtigt nebeneinander, verschiedene Stimmen der einen großen Kunst zum Lobe des Himmels. „Liegt Rom und Deutschland nicht auf einer Erde? Hat der himmlische Vater nicht Wege von Norden nach Süden wie von Westen nach Osten über den Erdkreis geführt? Ist ein Menschenleben zu kurz? Sind die Alpen unübersteiglich? — Nun, so muß auch mehr als eine Liebe in der Brust des Menschen wohnen können.“ Fern jeder deutschtümelnden Überspitzung wird im Düreraufsatz diese Meinung zum Schluß ausgeprochen: „Nicht bloß unter italienischem Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen — auch unter Spitzgewölben, kraus-verzierten Gebäuden und gotischen Türmen wächst wahre Kunst hervor.“
Neben der neuen Wertung Dürers ist Wackenroders zweite romantische Tat die Entdeckung der altdeutschen Stadt. Zu Pfingsten 1793 unternahmen die beiden zwanzigjährigen Studenten von Erlangen aus jene berühmte Reise nach Nürnberg, die einen Markstein in der Rückwendung der Romantik zur deutschen Vergangenheit darstellt. Wir besitzen von diesen mehrfach wiederholten Wanderungen ein zweifaches Zeugnis des Dichters: einmal die für die Eltern, zumal für den Vater, einen typischen Vertreter der älteren Generation des Rationalismus, bestimmten Reisetagebücher des Dichters, und zweitens als einziges poetisches Denkmal eben das „Ehrengedächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“, von dem schon öfter die Rede war.
Aber wie verschieden ist der Ton in beiden! Die Reisebriefe: brav, vorsichtig und fast ein wenig ängstlich, wohlerzogen alles Wissenswerte aufzeichnend, vor allem auch volkswirtschaftliche Einzelheiten, im Sinne der üblichen Bildungsreise des 18. Jahrhunderts, und noch ganz ohne romantischen Enthusiasmus und Überschwang. Wie nüchtern wird der Eintritt in Nürnberg beschrieben: „Die Stadt hat wegen der vielen schwarzen, mit gotischem Prunk an Bildern und Zieraten reich überladenen Kirchen, wegen der alten, ganz von Quadern gebauten, festen Häuser, die häufig mit Figuren von Menschen und Tieren bemalt und auch mit sehr alten Basreliefs in Stein geziert sind, ein antikes, abenteuerliches Ansehen. Aber sowohl aus- als inwendig scheinen mir doch fast alle Häuser keine Spur von modernem Geschmack zu haben. Keine einzige neumodische Fassade. Die Haustür ist oft klein und schwarz und fast immer verschlossen. Man klingelt, sie springt auf; man geht durch dunkle Winkel eine schlechte Treppe hinauf und findet selbst Männer wie Herrn von Murr und Herrn Schaffer Panzer in Zimmern, die durch eine Bibliothek angenehm werden, an Fenstern mit kleinen runden Scheiben nach dem Hofe oder einem Gäßchen zu sitzen.“ Das hätte fast jeder Reisende damals schreiben können. Ganz anders der Ton der „Herzensergießungen“! „Nürnberg, du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterlichen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb’ ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen!“
Das ist jener beseelte Klang, der weiterschwingt in dem Nürnbergbild der Romantiker: bei Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann und dem Schwaben Justinus Kerner, bei dem Maler Ludwig Richter und — ein spätromantischer Ausklang — in den Alt-Nürnbergischen Geschichten „Norika“ (1829) des Dichters und Kunsthistorikers August Hagen. Nun wird Nürnberg gleichsam zum Symbol romantischer Begeisterung für die altdeutsche Zeit, nach der seit dem Sturm und Drang die Sehnsucht ging. In diesem Geiste Wackenroders wurde 1828 in Nürnberg Dürers dreihundertster Todestag als Fest der romantischen Künstler gefeiert, von dem uns die Lebenserinnerungen Ludwig Emil Grimms berichten, auch das eine späte Frucht der „Herzensergießungen“.
Es ist lehrreich, nach dem Umfang des tatsächlichen historischen Wissens und der Anschauung zu fragen, die Wackenroder für seine Aufgabe mitbrachte. Er hat die verherrlichte altdeutsche Zeit als Bildungserlebnis wohl am frühesten und gründlichsten im Schrifttum kennengelernt. Sein Lehrer war der Berliner Prediger Erduin Julius Koch, dessen Fleiß und Gelehrsamkeit wir ein erstes, noch heute unverächtliches bibliographisches Kompendium der deutschen Literatur verdanken. Durch dessen literargeschichtliche Vorlesungen angeregt, hat sich Wackenroder mit der älteren Dichtung beschäftigt, und noch in der Göttinger Zeit hat er für Koch gelesen und exzerpiert. So lernt er die schon im frühen 18. Jahrhundert von dem Schweizer Bodmer wiederentdeckten Minnesänger in der Manesseschen Handschrift kennen, die der allzeit betriebsame Tieck dann neu bearbeitete. Andere altdeutsche Dichtungen folgen, er liest Teile der Edda und den unvermeidlichen Ossian. Wir besitzen von Wackenroder das Bruchstück einer Studie über Hans Sachs, auch einen der Lieblinge des jungen Goethe, das uns den eindringlichen Ernst dieser Beschäftigung verrät. Alles das gehört in den Umkreis der Bestrebungen um die Neubelebung altdeutscher Dichtung, die im 18. Jahrhundert beginnen, in der Romantik von den Brüdern Schlegel und Tieck, Arnim, Brentano und Görres fortgesetzt werden und die dann schließlich bei den Brüdern Grimm, Ludwig Uhland, ihren Altersgenossen und Nachfolgern, zur spätromantischen Begründung der Wissenschaft vom Deutschtum, der Germanistik, führen. In dieser sogenannten Deutschen Bewegung hat auch Wackenroder seinen bescheidenen Platz.
Die Werke der bildenden Kunst, die der Dichter aus eigener Anschauung kannte, sind auch für die damalige Zeit an Zahl nicht eben groß. Von den bedeutenden Galerien seiner Zeit hat er Kassel und Dresden gesehen, hat die von Anton Ulrich von Braunschweig angelegten Sammlungen in dem Lustschloß Salzdahlum bei Hannover kennengelernt, die hauptsächlich Niederländer und späte Italiener enthielten, und am häufigsten besuchte er von Erlangen aus die im 18. Jahrhundert sehr angesehene Gemäldegalerie auf Schloß Weißenstein bei Pommersfelden im Fränkischen, in der ebenfalls Niederländer, italienische Spätrenaissance und Barock am stärksten vertreten waren. Von alledem wird in Briefen und Selbstzeugnissen nur Pommersfelden ausführlicher erwähnt, und wir wissen nicht, welche Wirkung etwa Dresden auf ihn ausübte, wo fast gleichzeitig mit Wackenroders Buch das Gemälde-Gespräch des Schlegel-Kreises entstand; So kannte er die Präraffaeliten und auch die deutsche Kunst vor Dürer so gut wie gar nicht, und auch seine beiden Lieblinge doch nur ungenau, zumal die Pommersfeldener Madonna, die ihn so entzückte, heute nicht mehr als Raffaels Werk gilt.
Diese geringen Kenntnisse sind vielleicht nicht nur auf den Mangel an Anschauungsmöglichkeiten zurückzuführen. Wackenroder ist überhaupt seinem Wesen nach kein Augenmensch, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt wie Goethe oder Wilhelm Heinse oder auch nur wie Winckelmann. Er ist kein visueller Typ: stilistische oder formale Beobachtungen suchen wir in seinen Bildbetrachtungen vergebens, und zu der Entwicklung dieser Seite der werdenden Kunstwissenschaft konnte er nichts beitragen. Ihm kommt es, wie den meisten Romantikern, nicht auf Komposition und Stil, sondern ausschließlich auf Gehalt und Idee des Bildes an, ja, sein Kunsturteil ist zum guten Teil durch außerästhetische Faktoren bestimmt. Die christliche Gesinnung, die ein Gemälde in sich trägt und ausstrahlt, ist ihm oft wichtiger als sein rein künstlerischer Wert, die sittliche Wirkung bedeutsamer als die ästhetische. Das ist eine grundsätzliche Gefahr aller dilettantischen Kunstbetrachtung, die eben damals August Wilhelm Schlegel an den kunstkritischen Schriften des Klassizisten Georg Forster scharfsichtig bemerkt hatte.
So kommt es, daß in den „Herzensergießungen“ und auch in den „Phantasien“ kaum je ein Bild wirklich beschrieben wird, und wo es ja einmal geschieht wie in der ausführlichen Schilderung der Pommersfelder Muttergottes in den Reisetagebüchern, da ist alle Angabe des sinnlichen Details der Herausarbeitung der Idee untergeordnet. Wichtiger fast als alle unmittelbare Anschauung ist für ihn die Anregung, die er aus Lehre und Büchern geschöpft hat, in Studien bei dem Göttinger Kunsthistoriker Johann David Fiorillo und aus den alten Quellenwerken zur Geschichte der Künste, die wir oben erwähnten.
Man darf also sagen, daß diese vielleicht bedeutsamste und folgenreichste Leistung frühromantischer Kunstbetrachtung weit mehr von der Idee als von der Erfahrung bestimmt war. Wackenroders Bild vom goldenen Zeitalter der altitalienischen und altdeutschen Malerei ist so wenig real — wir haben es oben angedeutet — wie Winckelmanns Griechentraum, mehr sehnsüchtiges Wunschbild als wirklichkeitsgesättigte Schilderung aus der Fülle der Anschauung.
Der Verzicht auf Beschreibung von Bildinhalt und technischen Einzelheiten ist nach alledem folgerichtig und fast selbstverständlich. „Ein schönes Bild oder Gemälde ist meinem Sinne nach eigentlich gar nicht zu beschreiben“, sagt der Klosterbruder, „denn in dem Augenblicke, da man mehr als ein einziges Wort darüber sagt, fliegt die Einbildung von der Tafel weg und gaukelt für sich allein in den Lüften. Drum haben die alten Chronikenschreiber der Kunst mich sehr weise gedünkt, wenn sie ein Gemälde bloß ein vortreffliches, ein unvergleichliches, ein über alles herrliches nennen; indem es mir unmöglich scheint, mehr davon zu sagen.“
Auch das ist eine Neuentdeckung nicht nur Wackenroders, sondern der ganzen Frühromantik und ihres unmittelbaren Vorgängers Karl Philipp Moritz. Es ist grundsätzlich unmöglich, das Wesentliche eines Werkes der bildenden Kunst in prosaischer Beschreibung wiederzugeben. Beschreiben läßt sich wohl die äußere Schale: Gegenstand, Inhalt und Behandlungsweise; aber der Kern, die Seele einer solchen lebendigen Einheit ist so nicht zu erfassen.
Eines der tiefsten Probleme der deutschen Romantik, ja des menschlichen Seins überhaupt, ist damit berührt: wie ist Mitteilung, Übermittlung, Übersetzung möglich? Diese Frage der Übersetzbarkeit in jedem Sinne: des Gedankens in das Wort und der Mitteilung des Gedankens oder Gefühls von Mensch zu Mensch, der Übersetzung von einer Sprache in die andere, von einer Kunst in die andere — sie ist den Romantikern zum erstenmal brennend und im eigentlichen Sinne frag-würdig geworden. In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang steht das Problem der Beschreibung von Kunstwerken und der romantische Verzicht auf die Nacherzählung im prosaischen Wort. Ein Kunstwerk kann nur durch ein Kunstwerk wiedergegeben werden. Der in sich geschlossene Organismus eines Gemäldes, einer Statue, eines Gebäudes, ist nur „übersetzbar“ durch ein adäquates Gebilde der Wortkunst, durch den gleichgesetzlichen Organismus einer Dichtung, durch das kleinste und geschlossenste Sprachkunstwerk, durch das lyrische Gedicht. Von der prosaischen Gemäldebeschreibung des 18. Jahrhunderts — selbst Winckelmanns gehämmerte Plastikschilderungen werden ihr verdächtig — geht die Frühromantik zum Gemäldegedicht über, So ist es bei Wackenroder selbst, so bei A. W. Schlegel und der Unzahl späterer Nachfolger. Nicht zufällig wird das strengste und zuchtvollste lyrische Gebilde überhaupt, das Sonett, zur Lieblingsform dieser Art von Kunstdeutung. Die prosaische Beschreibung ist damit in den Kunstschriften der Romantik nicht zu Ende, aber doch in ihrer grundsätzlichen Bedeutung eingeschränkt.
Auch Wackenroder verzweifelt beim Anblick der Madonna zu Pommersfelden daran, die Fülle seines heißen Herzens in Worten auszudrücken: „zerreiße meine Worte, wer das Götterbild sehen kann, und zerschmelze in Wonne, wer es sieht.“ Die Gemäldegedichte der „Herzensergießungen“ verzichten auf alle dingliche Beschreibung und drücken nur in monologischer Rede, ähnlich den Spruchbändern der alten Gemälde, Seelenzustand und Gefühle der dargestellten Personen aus. Maria und das Jesuskind, der kleine Johannes und die Weisen aus dem Morgenlande sprechen in einfältiger Ergriffenheit von den Wundern ihres Herzens.
In diesem durch Anlage und Kunstwillen, Zeitgebundenheit und Lebensenge begrenzten geschichtlichen Raum bewegen sich Wackenroders Schriften. Es ist leicht, ihm nachzurechnen, was alles er nicht sah. Einseitigkeit und Teilblindheit ist ein fast notwendiges Merkmal des Genies, und oft erwachsen aus der Beschränkung die tiefsten Erkenntnisse und die stärksten Anregungen.
Daß er, im Gegensatz zur deutschen Klassik, kein Organ für die Plastik besaß, teilt er mit der ganzen Romantik. Er hat auch mit Ausnahme des einen, ganz undinglichen Aufsatzes über die nie erblickte Peterskirche in Rom keine Architektur beschrieben. Wenn die seit Goethes Erwin-Lobrede und Wilhelm Heinses Schilderungen lebendige, in der Romantik gipfelnde Gotik-Begeisterung in seinen Schriften keinen sichtbaren Ausdruck findet, so liegt das zum Teil darin begründet, daß er die großen deutschen Dome und erst recht die französischen Kathedralen nie gesehen hat und also nirgends aus lebendigem Eindruck schöpfen konnte. Vielleicht auch, daß ihm auf dem Gebiet der Baukunst Vorbildung und Anstoß von außen mehr als sonst fehlten. Die Berührung mit dem wenig älteren und ebenfalls ganz jung gestorbenen Architekten Friedrich Gilly, dem Entdecker der Marienburg, in dessen Werk sich wie bei seinem Schüler Schinkel klassische und romantische Elemente mischen und den Wackenroder mit hoher Begeisterung nennt, war wohl doch zu flüchtig, um nachhaltig zu wirken.