Herzenssache(n) - Ulrich Schlittenhardt - E-Book

Herzenssache(n) E-Book

Ulrich Schlittenhardt

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Beschreibung

Während einer Fortbildung zum geistlichen Begleiter ergab sich aus einer Wahrnehmungsübung der Impuls, dieses Buch zu verfassen. Da der Autor beim Schreiben seine Familie und seine Weggefährten vor Augen hatte, ist es sehr persönlich und authentisch geschrieben. Von daher kann es auch Leser ermutigen, die gerade durch Glaubenskrisen gehen oder sich für Geistliche Begleitung interessieren. Lesern, die sich mit der Berliner Erklärung von 1909 befasst haben, vermittelt es einen lebendigen Einblick in deren Wirkungsgeschichte.

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Unseren Kindern

und allen,

die das Leben lieben.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kindheit (1962-1975)

Jugend (1975-1980)

Erzhausen (1980-1983)

Stuttgart (1983-1984)

Mülheim an der Ruhr (1984-1988)

Duisburg (1988-1996)

Karlsruhe I (1996-2001)

Karlsruhe II (2002-2022)

Nachtrag

Anhang

Auf sechs aneinandergehefteten Papierbögen lag die Linie meines Lebens ausgebreitet zu meinen Füßen. Fast zwei Meter Leben mit all den Aufbrüchen, Wendungen, Abbrüchen und Umbrüchen.

Zusammen mit meiner Frau nahm ich an einem Fortbildungskurs im „Geistlichen Zentrum Schwanberg“ teil. An diesem Wochenende ging es darum, seinen verinnerlichten Gottesbildern auf die Spur zu kommen. Dazu sollte eine geistliche Übung beitragen. Die Teilnehmer bekamen einen Stapel Papierbögen ausgehändigt, die aufgefaltet eine Linie ergaben. Jeder Papierbogen stand für zehn Lebensjahre. Mit zwei verschieden gefärbten Wollfäden konnte man darauf seinen Lebenslauf grafisch nachbilden. Der braune Faden stand für die Höhen und Tiefen des Lebens. Der blaue Faden stand für das persönliche Verhältnis zu Gott und dafür, wie man es in der jeweiligen Lebensphase empfunden hat. Man konnte es etwa durch kleinere oder größere Abstände zum braunen Faden sichtbar machen. Der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt.

Zunächst hatte ich Mühe mit dieser Aufgabenstellung. Doch die abschließenden Worte der Kursleiterin halfen mir, mich darauf einzulassen. Sie betonte, dass es nicht darum gehe, eine vollständige Übersicht zu liefern oder die verschiedenen Lebensphasen detailliert zu analysieren. Vielmehr stehe ein achtsames Wahrnehmen im Vordergrund, das weder ins Grübeln noch ins Bewerten abgleitet.

Als meine Lebenslinie schließlich vor mir lag, wollte ich sie noch als Foto sichern. Doch musste ich zunächst mithilfe eines Stuhls für den notwendigen Abstand sorgen, um sie in voller Länge aufnehmen zu können. Als ich durch die Linse schaute, wurde mir nicht nur die Länge meines bisherigen Lebens bewusst, sondern auch die statistische Wahrscheinlichkeit, dass nur noch zwei weitere Papierbögen hinzukommen.

Das Bedürfnis, die einzelnen Stationen meines Lebens genauer unter die Lupe zu nehmen, wurde immer stärker. Da Schreiben für mich eine Form meditativer Betrachtung sein kann, verstand ich den Schreibprozess als Weiterführung und Vertiefung jener Übung, die ich auf dem Schwanberg kennengelernt hatte. Meine besondere Aufmerksamkeit galt den „Herzenssachen“. Damit meine ich Erfahrungen, die mich innerlich berührt und nachhaltig geprägt haben. Im vorliegenden Buch sind sie freilich mit biografischen Einzelheiten angereichert, damit im Leser ein Gespür für Zusammenhänge und schließlich ein Gesamtbild entsteht. Meine Absicht war nämlich nicht, unterhaltsame Geschichten aneinanderzureihen, die auch für sich alleine stehen könnten. Vielmehr wollte ich den roten Faden ersichtlich machen, der sich durch mein Leben zieht.

Zunächst schrieb ich in erster Linie für mich selbst. Im Laufe der Zeit dachte ich auch an meine Kinder und Enkel, an Wegbegleiter, Freunde und Gemeindeglieder, an alle, die an meinem Leben teilhaben, ohne wirklich zu wissen, was mich im Innersten geprägt und bewegt hat. Darüber hatte ich selten oder nie gesprochen. Dabei lese ich doch in 5. Mose 4,9: „Gebt acht, dass ihr nie vergesst, was ihr mit eigenen Augen gesehen habt! Haltet die Erinnerung daran euer Leben lang lebendig und erzählt es euren Kindern und Enkeln weiter“.

Da die Übung der Lebenslinie Teil meiner Fortbildung zum geistlichen Begleiter war, rundet die Abschlussarbeit zum Thema „Geistliche Begleitung“ meine Erfahrungen auf sachlicher Ebene ab.

Kindheit (1962-1975)

Wer sagt, es gibt nur sieben Wunder auf der Welt,

hat noch nie die Geburt eines Kindes erlebt.

Wer sagt, Reichtum ist alles,

hat nie ein Kind lächeln gesehen.

Wer sagt, diese Welt ist nicht mehr zu retten,

hat vergessen, dass Kinder Hoffnung bedeuten.

Honoré de Balzac

Im Februar 1962 erblickte ich im Diakonissenkrankenhaus Siloah in Pforzheim das Licht der Welt, unweit des Monte Scherbelino, der nach dem Krieg über dem Wallberg aus den Trümmern einer völlig zerstörten Stadt aufgeschüttet worden war. Die Wirren und Unsicherheiten eines verheerenden Krieges gehörten der Vergangenheit an. Deutschland hatte einen unglaublichen Aufschwung erlebt, der als Wirtschaftswunder in die Geschichte eingehen sollte.

Kindheit und Jugend verbrachte ich in einem idyllischen Dorf, das damals rund 2000 Seelen umfasste. Hier, wo die dunklen Berge des Schwarzwaldes in eine sanfte Hügellandschaft übergehen, führten die „Ellmendinger“ ein traditionsbewusstes und bodenständiges Leben. Meine Vorfahren waren seit einigen Generationen hier verwurzelt, und mein Vorrecht war es, von Geburt an dazuzugehören. Horst war fünf und Inge drei Jahre alt, als meine Wiege in das kleine Kinderzimmer neben dem Schlafzimmer der Eltern geschoben wurde. In meinen ersten Lebensjahren erschien mir das Haus, in dem wir lebten, riesengroß zu sein. Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten im Erdgeschoss. An einer Seite des Wohnhauses war eine große Scheune angebaut, unter deren weit auslaufendem Dach auch Kaninchen, Hühner und Katzen ihr Zuhause fanden.

Als Kinder waren wir nie uns selbst überlassen. Meine Mutter war den ganzen Tag zu Hause und kümmerte sich um uns. Selbst wenn sie nicht da gewesen wäre, hätten wir in unseren Großeltern immer verlässliche Ansprechpartner gefunden. Unser Vater war als Goldschmied bei einer Firma in Pforzheim angestellt. Er kam jeden Abend zur gleichen Zeit nach Hause und kümmerte sich dann sogleich um Haus und Hof. Er war der Landwirtschaft und dem Obstbau zugetan und widmete sich der Pflege sämtlicher Grundstücke. Bei der Kartoffelernte half die ganze Familie mit, sogar die Großeltern. Als meine älteren Geschwister bereits ihre eigenen Wege gingen und nur noch ich ihn begleiten konnte, haben mir solche Aktionen nicht mehr so gut gefallen. Heute kann ich verstehen, dass es ihm gar nicht so sehr um meine Arbeitskraft ging. Als ich mit 18 Jahren mein warmes Nest verließ, konnte er alles auch ganz gut ohne mich erledigen. Wahrscheinlich wollte er nur Zeit mit mir verbringen und mich für einige Stunden in seine Welt mitnehmen, eine Welt, die ihm so viel bedeutet hat. Draußen in der Natur konnte er sich von seiner vorwiegend sitzenden Tätigkeit gut erholen. Für ihn waren die Aufgaben draußen ein willkommener Ausgleich.

Würde mich jemand fragen, was ich empfinde, wenn ich an meine frühe Kindheit denke, würde ich Begriffe wie Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität in den Mund nehmen. Ich würde behaupten, dass ich als Kind mit Urvertrauen und Bindungsfähigkeit ausgestattet wurde. Dabei würde ich an einen lauen Abend im Frühling denken, wie ich am Küchenfenster stehend die älteren Kinder beobachtet habe, wie sie in der Dämmerung spielen und ihr Rufen und Lachen sich mit dem sanften Gesang der Amseln vermischt, deren Melodien ich so sehr mochte und die noch heute wie ein Wiegenlied auf mich wirken. Dabei würde mir ein Vers aus einem bekannten Abendlied in den Sinn kommen, der diesem Stimmungsbild Ausdruck verleiht:

Wie ist die Welt so stille

und in der Dämmrung Hülle

so traulich und so hold,

als eine stille Kammer,

wo ihr des Tages Jammer

verschlafen und vergessen sollt.

Manchmal hat unsere Mutter zu uns Kindern gesagt: „Ihr wisst gar nicht, wie schön ihr es habt.“ Stimmt, wir wussten es nicht. Denn unsere Eltern wollten uns nicht belasten mit den Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit, die ganz anders geklungen hätten. Sie hatten alle Hände voll zu tun, uns all das zu geben, was sie selbst so schmerzlich vermisst hatten. Im Vergleich zu dem, was sie erlebt hatten, war mein Leid gering. Ihr Leid war ein anderes. Und doch spürte auch ich in meinem kleinen Herzchen so manche Last, die ich im Schlaf gerne vergessen hätte.

Als Nesthäkchen verglich ich mich oft mit meinen Geschwistern, die mir in ihren körperlichen, sprachlichen, intellektuellen und kreativen Fähigkeiten voraus waren. Während Horst beispielsweise auf dem Fußballfeld eine gute Figur abgab, wurde ich so ziemlich als Letzter ausgewählt, wenn die Mannschaften aufgeteilt wurden. Im Rückblick glaube ich nicht, dass sie mich ihren Vorsprung haben spüren lassen. Es war mein eigener Anspruch, viel weiter sein zu wollen, als ich natürlicherweise sein konnte. An diesem Anspruch musste ich freilich immerzu scheitern. Mit Gefühlen wie Frustration, Ärger und Zorn konnte ich jedoch nicht gut umgehen. Während meiner Trotzphasen brachen diese Gefühle zuweilen unkontrolliert aus mir heraus, sodass ich mir oft selbst ein Rätsel war.

Wenn mir mein Opa über den Weg lief, nannte er mich gerne „Bomberle“, weil ich als Kleinkind recht pummelig aussah. Doch wurde mir diese Anrede, an die ich mich eigentlich schon gewöhnt hatte, zum inneren Stachel. Hätte er mich „Bombe“ genannt, wäre das für mich in Ordnung gewesen. Doch das niedliche kleine Nesthäkchen, das wollte ich keinesfalls sein. Ich wollte ernst genommen werden. Deshalb konnte ich in solchen Momenten ausfällig werden, obwohl mein Opa voller Güte und Freundlichkeit war und ich nie ernsthaft auf die Idee gekommen wäre, er wolle mich ärgern.

In diesem Zusammenhang fällt mir auch die Geschichte mit Onkel Hans ein, über die alle Beteiligten nur mit einem gewissen inneren Abstand lachen können. Hans war nicht wirklich unser Onkel; wir nannten ihn nur so. Auch er war ein sehr netter Mensch. Vielleicht war er mir zu nett. Vielleicht kam er mir nur ungelegen. Als er die Hoftür öffnete und sich zusammen mit seiner Frau auf den Weg zu unserem Haus begab, stand ich gerade am Scheunentor. Da zögerte ich nicht lange, ergriff die Mistgabel und verjagte die beiden kurzerhand vom Gelände. Mit mir war „nicht gut Kirschen essen“.

Auch mein Vater hatte es in diesen Jahren nicht leicht. Eines Tages verbrachten wir als Familie einige Tage in der Schweiz. Meine Mutter hatte dort als junge Frau im Haushalt von Ehepaar Kast gearbeitet. Pastor Edwin Kast war in der Schweiz weithin bekannt. Er hatte eine christliche Radiostation. Was ich dort angestellt habe, weiß ich selbst nicht mehr. Vermutlich habe ich das erfolgreich verdrängt. Die Reaktion meines Vaters spricht jedenfalls für sich. Ihm war mein Auftritt so peinlich, dass es der letzte Familienurlaub war, den er mit uns außerhalb der engen Grenzen unseres kleinen Dorfes verbracht hat.

Die primären Familienbeziehungen sind für die Entwicklung eines Kindes von großer Bedeutung. Dennoch bin ich auch den zahlreichen Bezugspersonen außerhalb unserer Familie dankbar, die mich ebenfalls positiv geprägt haben. Exemplarisch möchte ich drei Personen nennen, die zugleich unterschiedliche Bedürfnisse und Kontaktfelder repräsentieren.

Unsere Familie war eingebettet in den Lebensrhythmus der örtlichen „Christlichen Gemeinschaft“. Nach dem Gottesdienst der Erwachsenen kamen die Kinder zur „Sonntagsschule“ zusammen - so nannte man damals den Kindergottesdienst. Ich sehe noch heute deren Leiter - Richard Lutzweiler - neben einer Tafel stehen, über der er ein Bild nach dem anderen ausrollt, um die Szenen biblischer Geschichten zu illustrieren, die er in ruhigem Ton und mit vielsagender Mimik wiedergeben konnte. Diese Geschichten vermittelten mir Vertrauen in einen Gott, der mich nicht mir selbst überlässt und gute Absichten für mein Leben hat. Natürlich wurden in der Sonntagsschule auch Lieder gesungen, und alle Kinder sangen mit. Alle Kinder? Nein, einer hat nicht mitgesungen, und das war ich. Da hätte ich mich ja blamieren können. Doch tat es mir gut, dass mich niemand überreden wollte, meine Scheu zu überwinden.

Mit meiner Einschulung wurden auch andere Kinder meines Jahrgangs zu einem Teil meiner Welt. Eines Morgens wies uns unser Lehrer an, was wir an unseren Plätzen tun sollten. An diesem Tag war ich aus irgendeinem Grund innerlich blockiert. Deshalb tat ich gar nichts. Ich saß nur da. Unserem Lehrer Müller war das nicht entgangen. Er kam auf mich zu und sprach mich an. „Uli, warum machst du nicht mit?“ Innerlich war ich in diesem Moment sehr angespannt. Doch er hat mich nicht bedrängt. Er hat mir mit ruhiger Stimme erklärt, was ich zu tun habe. Dabei hat er sorgfältig darauf geachtet, mich vor meinen Mitschülern nicht bloßzustellen. Solche Erfahrungen waren für mich wichtig.

Auch mein Freund Günter, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hause war, hat mir viel bedeutet. Er war jünger als ich, doch das war kein Nachteil, eher ein Vorteil. Vielleicht gab es deshalb zwischen uns keinerlei Konkurrenz. Es war einfach nur entspannend und schön, mit ihm zusammen zu sein. Ich kann mich tatsächlich an keinen einzigen Streit erinnern. Wir waren wie Winnetou und Old Shatterhand. Wenn wir uns nicht gescheut hätten, unsere Haut aufzuritzen, wären wir noch Blutsbrüder geworden. Wir stromerten über Wiesen und durch Wälder, bestiegen Flöße, fingen Kaulquappen, Feuersalamander und sogar Mäuse. In der großen Scheune seines Elternhauses sprangen wir auf Berge aus Heu herab. Auch gegen übermächtige Feinde wussten wir uns zu verteidigen - zumindest in unserer Fantasie. Wir gründeten mehrmals die „Angelbande“. So konnten wir das Aufnahmeritual immer weiter ausbauen und optimieren. Wer aufgenommen werden wollte, musste auf jeden Fall eine Mutprobe bestehen. Einmal bin ich deshalb aus zwei Metern Höhe auf einen Misthaufen heruntergesprungen, später zerrte ich ein Wagenrad aus dem reißenden Fluss, der unser Dorf in zwei Teile trennte und alles mit sich riss, was nicht niet- und nagelfest war. Unsere Eltern nannten ihn Arnbach, was in meinen Ohren jedoch wenig abenteuerlich klang. Bis unter die Zähne bewaffnet zogen wir eines Tages los, um der gefährlichen „Brigelbande“ am anderen Ende des Dorfes Einhalt zu gebieten. Gut, wir hatten vergessen, diese Banditen darüber in Kenntnis zu setzen, wann und wo der entscheidende Kampf stattfinden würde. Am Ende erschreckten wir lediglich ein paar Mädchen, die Zuflucht bei ihren Eltern fanden. Immerhin hatten wir unsere Macht demonstriert und deutlich gemacht, dass man mit uns rechnen muss.

Mit neun Jahren wurde ich auf ernsthafte Bedrohungen des Lebens aufmerksam. Ausgerechnet mein Lieblingsonkel Bruno, der mit seiner Frau in unserer Nachbarschaft lebte, starb an Magenkrebs. Er und seine Frau hatten keine Kinder. Vielleicht hatte ich ihn deshalb so zugewandt und einfühlsam erlebt. Wann immer ich an ihn denke, sehe ich mich auf seinem Schoß sitzen, vor uns der aufgeschlagene Quelle-Katalog, in dem ich ihm zeigen durfte, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Und dann sehe ich mich am offenen Grab stehen. Um mich herum so viele Tränen. Mir selbst kamen keine Tränen. Ich dachte an eine biblische Geschichte, die in der Sonntagsschule erzählt worden war. Die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Ich rechnete fest damit, dass Jesus an diesem Tag ein Machtwort sprechen würde. Doch der Sargdeckel blieb zu. Traurig und in mich gekehrt schlenderte ich neben meinen Eltern nach Hause. Damals habe ich zum ersten Mal etwas geerbt: das Neue Testament meines Onkels mit Goldschnitt und Ledereinband. Einige Jahre später habe ich den Einband mit einem Aufkleber versehen, auf dem „Zuletzt siegt Jesus“ zu lesen war. Dieses Neue Testament steht immer noch gut erhalten in meinem Bücherregal und obwohl ich viele Bücher besitze, würde ich es nicht abgeben.

Zwei Jahre später starb auch sein Vater, mein geliebter Opa, der immer in meiner Nähe gewesen war. An diesem Abend hatten wir noch zusammen mit ihm vor dem Fernseher gesessen, als eine Frau aus der Nachbarschaft kam und ihn um Hilfe bat. Eine Kuh würde bald kalben und sie brauchte in dieser Angelegenheit seine Unterstützung. Er ging mit ihr weg. Doch er kam nicht mehr zurück. Während er einem Kälbchen zum Leben verhalf, wurde er selbst durch einen Herzinfarkt aus dem Leben gerissen. Das war an Dramatik kaum zu überbieten und es war sehr schmerzhaft. Unser Haus, in dem ich so viele glückliche Stunden erlebt hatte, war nun erfüllt von Wehklagen.

Diese Erfahrungen trugen dazu bei, dass mich die Frage nach Gott intensiver umtrieb. Inzwischen war ich auch alt genug, um an Veranstaltungen teilzunehmen, in denen das Evangelium - die Gute Nachricht - verkündet wurde. Damals wurden häufig große Missionszelte aufgebaut, zu denen die Öffentlichkeit eingeladen wurde. Doch hat das, was ich da hörte, bei mir oft keine Freude ausgelöst. Nicht selten ging es um Himmel und Hölle. Entsprechend eindringlich wurde gepredigt. Hier und jetzt musste man sich entscheiden, wo man die Ewigkeit zubringen will. Entscheiden konnte man sich, indem man seine Hand hebt und für sich beten lässt. Dazu musste man in der Regel nach vorne zur Bühne kommen. Wer eine Gelegenheit verpasst, konnte mit zwei oder drei weiteren Chancen rechnen - aber wer weiß, es kann auch morgen schon zu spät sein. Mir war natürlich klar, wofür ich mich entscheiden würde, wenn Himmel und Hölle die Alternativen sind. Doch neben meinen Eltern sitzend, erschien es mir unmöglich, die Hand zu heben oder gar nach vorne zu laufen. Schließlich wurde ich ja christlich erzogen. Sollte ich mich denn als Ungläubiger outen, der zur Hölle verdammt ist?

Das Wettrüsten in der Ära des „Kalten Krieges“ förderte ein von Angst besetztes Lebensgefühl. Die vorhandenen Atomwaffen konnten alles Leben auf dieser Erde mehrfach auslöschen. Das Ende der Welt schien den Menschen greifbar nah zu sein. Dementsprechend war die sogenannte „Endzeit“ in christlichen Gemeinden ein heißes Eisen. Fragen wie „Bist du bereit, wenn Jesus wiederkommt?“, klangen in meinen Ohren bedrohlich und hingen zunehmend wie eine dunkle Wolke über mir.

Mein Vater war im Grunde ein lebensfroher Mensch. Wie gerne lauschte ich als Kind seinen Erzählungen. In ihnen konnte ich sein Herz spüren und mit ihm über Fehltritte und Verlegenheiten lachen, von denen er freimütig berichten konnte. Seine Geschichten gaben mir das Gefühl, dass es das Leben gut mit mir meint und dass ich mich darauf einlassen kann.

In seiner religiösen Erziehung war seine natürliche Lebensfreude jedoch weniger spürbar. Als Kind war er von einem strengen Pfarrer unterwiesen worden. Manchmal hat er uns wissen lassen, wie hart es für ihn war, wenn im Lauf des Kirchenjahres wieder der Karfreitag näher rückte. An diesem Tag ging es nämlich darum, die Leiden Christi nachzuempfinden, um an Ostern in der Lage zu sein, sich überschwänglich an seiner Auferstehung zu freuen. Deshalb war an Karfreitag Lachen und Musizieren untersagt. Als Teenager wollte sich mein Vater aber beides nicht verbieten lassen, denn Musik war ihm in die Wiege gelegt. Vielleicht hat er sich deshalb als Jugendlicher von dieser Gestalt des Glaubens abgewandt. Er begann sich in der örtlichen Musikkapelle zu engagieren und stieg dort zum Dirigenten auf. Auf der Volksbühne kam sein schauspielerisches Talent zum Tragen. Erst die Liebe zu meiner Mutter, die damals schon zur Christlichen Gemeinschaft gehörte, hat ihn später dazu veranlasst, sich erneut mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Doch das wäre eine Geschichte für sich. So weit ich zurückdenken konnte, war er aus der Christlichen Gemeinschaft nicht wegzudenken, wo er als Chorleiter Verantwortung für zwei Chöre trug.

Merkwürdigerweise empfand ich die Karfreitage bei uns zu Hause genau so, wie sie unser Vater aus seinen Erinnerungen heraus geschildert hatte. Meine Geschwister und ich wussten nicht, was wir mit diesem Tag anfangen sollen, denn da schien überhaupt nichts erlaubt zu sein. So war es schließlich ein Karfreitag, der sich tief in meine Erinnerung einprägen sollte. Im Kreise der Familie fragte mich mein Vater plötzlich: „Sag' mal, wer ist denn an Karfreitag am Kreuz gestorben?“. Ich kannte die korrekte Antwort. Aber was sollte die Frage? Die Spannung im Raum blockierte mich. Ich hatte Angst, einen Fehler zu machen, sodass ich schwieg und verschämt zu Boden blickte, um dem eindringlichen Blick meines Vaters auszuweichen. Doch ließ er nicht locker und stieß schließlich enttäuscht hervor: „Warum schicke ich dich eigentlich in die Sonntagsschule, wenn du dort überhaupt nichts lernst“. Meine Mutter hatte noch versucht, beschwichtigend einzugreifen, aber diese Worte waren bereits wie ein scharfes Schwert in meine Seele eingedrungen. Ich empfand, ungerecht behandelt und vorgeführt worden zu sein. Zur Sonntagsschule war ich immer freiwillig gegangen. Eine erzieherische Absicht meines Vaters war mir bis dahin gar nicht bewusst gewesen. Ausgerechnet in dieser Phase, in der ich schon durch den bedrängenden Stil mancher Prediger ohnehin verunsichert gewesen war, bedrängte mich auch mein eigener Vater. Wie gerne hätte ich mich ihm geöffnet, wenn er sich nur Zeit für mich genommen hätte. So aber fühlte ich mich unverstanden und allein gelassen. Warum nur war er so enttäuscht von mir? Hatte ich ihn mit einem unangemessenen Verhalten provoziert? Seinem Anspruch schien ich nicht gerecht werden zu können. Im Kopf wusste ich immer, dass er mich liebt und sich um mich sorgt. An diesem Tag hätten mir entsprechende Worte jedoch eine große Hilfe sein können. Da sie ausblieben, konnte sich in mir die Vorstellung festigen, in Herzensangelegenheiten auf mich allein gestellt zu sein.

Andererseits hatte mein Vater einen Punkt getroffen, an dem mein kindlicher Glaube durchaus der Klärung bedurfte. Warum musste Jesus sterben? So formuliert hätte mich selbst die Antwort interessiert. Denn dass Jesus verurteilt wurde und sterben musste, war für mein kindliches Denken tatsächlich ein Rätsel gewesen.

In einem jährlichen Zyklus wurde uns in der Sonntagsschule das Leben Jesu nahegebracht. Ich bewunderte ihn. Er war mein ganz persönlicher Held. Der Mann hat Kranke geheilt und Tote auferweckt. Er konnte über Wasser gehen und Stürme stillen. Zugleich war er Freund der Kinder, zugänglich für die Verstoßenen und Verachteten dieser Welt. Den engherzigen Pharisäern gegenüber konnte er jedoch harte Kante zeigen. Auch diese Seite hat mir an ihm gefallen. Jesus war einfach klasse. Aber warum musste er sterben? Sein Tod am Kreuz ergab für mich keinen Sinn. Mit den Jahren wusste ich, wann die Geschichte seiner Kreuzigung wieder erzählt werden würde. Jedes Mal erhoffte ich mir ein besseres Ende. Dass beispielsweise Engel vom Himmel herabsteigen und die Feinde Jesu in die Flucht schlagen würden. Aber so war es nicht und so konnte es auch nicht sein. Geschichte ist kein Wunschkonzert.

Der misslungene Versuch meines Vaters, mich in die richtigen Bahnen zu lenken, hat bei mir glücklicherweise nicht dazu geführt, dass ich vom Glauben nichts mehr wissen wollte. Im Gegenteil. In einem Abstellraum fand ich ein verstaubtes Buch von Billy Graham. Zwar habe ich es nicht gelesen, aber der Titel hat mir Worte für jenes unbestimmte Verlangen gegeben, das ich in mir spürte. „Frieden mit Gott“ las ich da und wusste augenblicklich, was mir fehlt. Diese Worte brachten meine Sehnsucht auf den Punkt. Ich wollte mir sicher sein, dass zwischen mir und Gott alles in Ordnung ist.

Einige äußere Faktoren haben meiner Suche nach Gott Auftrieb gegeben. Meine Konfirmation stand an und die Kinder meines Jahrgangs versammelten sich um Hannelore Ratz, einer Lehrerin, die uns mit pädagogischem Geschick in die Grundzüge des christlichen Glaubens einführte. Der Konfirmandenunterricht war für mich eine willkommene Gelegenheit, Fragen zu stellen und mich mit Gleichaltrigen über die jeweiligen Themen auszutauschen.

In der Sonntagsschule gab es inzwischen neue Mitarbeiterinnen. Eine davon - Doris Nagel - erklärte dort eines Tages, warum Jesus am Kreuz starb. Sie erklärte es so, wie ich es verstehen konnte. Auf einmal wusste ich mich persönlich angesprochen. Mir wurde klar, dass Jesus die Distanz zwischen mir und Gott, die ich so schmerzlich empfand, überbrückt hat. Er hat an meiner Stelle vollbracht, was ich selbst nicht vollbringen kann. Nun war ich bereit, ihm mein Vertrauen zu schenken. An diesem Tag vertraute ich ihm mein Leben an und ließ für mich beten.

Zunächst fiel es mir schwer, meinen Eltern von meiner Entscheidung zu erzählen. Erst als ich mich vor ihnen dazu bekannte, mit Jesus leben zu wollen, kam Freude in mir auf. Endlich konnte ich den inneren Frieden spüren, nach dem ich mich gesehnt hatte. Bald ließ ich mich taufen und bekannte auf diese Weise auch vor der ganzen Gemeinde, dass ich zu Jesus gehöre.

Vor einigen Jahren habe ich erfahren, was am Tag meiner Geburt in den Herrnhuter Losungen zu lesen war: „Herr, du kennst all mein Begehren, und mein Seufzen ist dir nicht verborgen.“ Als ich diesen Vers aus Psalm 38,10 las, war ich tief berührt. Ja, mein himmlischer Vater hat mich nie aus den Augen verloren. Er hat meine Bedürftigkeit gesehen. Er hat mich ernst genommen. Er hat mich angenommen.

Jugend (1975-1980)

Mit 14 Jahren änderten sich grundlegende Koordinaten meines Lebens. Nach meiner Konfirmation stand mir die Tür zur Jugendgruppe der Gemeinde offen. Jetzt nahm ich auch an Gottesdiensten und Bibelstunden der Erwachsenen teil, sowie an Chorproben.

Schon bald war ich in der Jugendgruppe integriert. Sie war keineswegs einem abgekapselten Klub vergleichbar, in den ein 14-Jähriger nicht hineinpasst. Mit dem veränderten Altersspektrum kamen neue Bezugspersonen und neue Fragestellungen ins Spiel. Jetzt ging es beispielsweise um Themen wie 'Naturwissenschaft und Glaube'. Nicht alles, was ich hörte, war sofort relevant für mich, doch öffneten sich neue Horizonte, was interessant und herausfordernd war.

Harald Schlegel, einer der Jugendleiter, fuhr mit einigen Jugendlichen samstags nach Pforzheim, um dort in einer Teestube mitzuarbeiten, die aus einer übergemeindlichen Initiative hervorgegangen war. Bald schon fuhr ich regelmäßig mit. Heute klingt „Teestube“ nicht gerade elektrisierend. Damals schon. Im Zuge der Hippiebewegung, die sich in den 1960er Jahren von San Francisco aus um die ganze Welt ausbreitete, stand „Teestube“ für einen Ort, an dem sich Sinnsucher ungezwungen treffen und austauschen konnten. Teestuben konnte man sowohl in New York als auch am Fuße des Himalaya finden. Die Teestube in Pforzheim war freilich weniger bekannt und hatte auch nicht