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Wenn Liebe zur Obsession wird und Rache zum blutigen Wahn ...
Die junge Wiener Privatdetektivin Elena Gerink hat den Ruf, bisher noch jede vermisste Person gefunden zu haben. Doch die Suche nach dem verschwundenen weltbekannten Maler Salvatore Del Vecchio gestaltet sich schwieriger als gedacht. Als überraschend ein letztes Gemälde von ihm auftaucht, weist ihr das den Weg in die drückende Schwüle der Toskana. In Florenz trifft Elena auf ihren Ex-Mann Peter Gerink, der als Spezialist des Bundeskriminalamts nach einer in Italien verschwundenen Österreicherin sucht. Schon bald erkennen sie, dass die Ereignisse zusammenhängen – auf eine derart perfide und blutige Art und Weise, dass Elena und Peter dem Fall auch gemeinsam kaum gewachsen scheinen ...
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Seitenzahl: 687
Buch
Teresa Del Vecchio, Anfang vierzig, lebt seit Jahren in Wien. Nun kehrt sie anlässlich einer Trauerfeier für ihre bei einem mysteriösen Unfall verstorbenen Brüder in die Toskana zurück. Kurz vor dem Gottesdienst will sie sich auf ihrem Zimmer noch einmal frisch machen – und verwindet spurlos …
Wien, einen Monat später: Peter Gerink, Mitte dreißig, demnächst frisch geschieden, arbeitet als Entführungsspezialist beim Bundeskriminalamt. Er ist mit der Vermisstenanzeige von Teresa Del Vecchio betraut worden, zu der die italienischen Behörden seit Wochen keine neuen Hinweise mehr liefern. Als Gerink Teresas Nichte Monica befragt, bittet ihn die junge Künstlerin um einen Gefallen. Denn auch Monicas Vater, der berühmte Maler Salvatore Del Vecchio, wird seit über einem Jahr vermisst. Zwar hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen, Monica zweifelt aber an dessen Echtheit. Peter Gerink kann als Beamter den Auftrag nicht annehmen, rät Monica aber, sich an seine Noch-Ehefrau Elena zu wenden, die als Privatdetektivin in Wien arbeitet.
Anfangs ermitteln Elena und Peter unabhängig voneinander, doch in der schwülen Hitze der Toskana kreuzen sich ihre Wege. Denn die beiden Fälle sind auf eine Art und Weise miteinander verstrickt, die ihre schlimmsten Befürchtungen weit übersteigt …
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Andreas Gruber
Herzgrab
Thriller
1. Auflage
Originalausgabe Dezember 2013
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ein Projekt der AVA international GmbH
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
www.agruber.com
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Th · Herstellung: Str
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-11894-5
www.goldmann-verlag.de
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Für Norl,
treue Seele und Fan der ersten Stunde,
keep on rockin’
»Auge um Auge– und die ganze Welt
wird blind sein.«
Mahatma Gandhi
PROLOG
Toskana, Samstag, 24. April
Ohne anzuklopfen, betrat Zenobia das Zimmer. Teresa hätte es wissen müssen! Mutter hatte ihre Privatsphäre noch nie respektiert. Warum hätte sich das in den letzten fünfzehn Jahren ändern sollen?
»Draußen warten über hundert Gäste, und du stehst hier seelenruhig herum, hörst Radio und bist noch nicht mal angezogen!« Zenobias kühler Blick sprach Bände.
Teresa konnte es kaum glauben. Nach so langer Zeit waren das die Begrüßungsworte ihrer Mutter! Keine Umarmung, kein Kuss. Aber eigentlich, gestand sie sich ein, hätte sie das auch nicht gewollt.
Sie schlang den Frotteebademantel enger und verknotete den Gürtel. »Hallo, Mama«, sagte sie, während sie ein Handtuch um ihr nasses Haar wickelte.
Zenobia reagierte nicht. Ihr bodenlanges schwarzes Kostüm raschelte, als sie durch den Raum schritt. »Ich habe dich hergebeten, um deine Brüder zu verabschieden, aber du nutzt jede Gelegenheit, um mich vor den Gästen zu blamieren.«
Matteo und Lorenzo konnten ihr gestohlen bleiben. Teresa war aus einem anderen Grund hergekommen. Nachdem der Detektiv, den Monica und sie angeheuert hatten, so kläglich versagt hatte, wollte sie nun selbst etwas über Salvatores Verschwinden erfahren. Dafür gab es keinen besseren Ort als San Michele, wo alles begonnen hatte.
Zenobias Blick fiel auf das Bett, wo Teresas offener Koffer lag. »Es war dir offensichtlich nicht möglich, früher zu kommen?«
Typisch Zenobia! Unterstellungen und spitzfindige Fragen, die eigentlich Anschuldigungen waren. Teresa hätte nie gedacht, dass sie sich mit knapp vierzig Jahren von ihrer Mutter noch wie ein Kind behandeln lassen musste. »Mama, mein Job.«
»Ach was«, unterbrach Zenobia sie. »Hier hättest du eine bessere Arbeit gefunden– oder du hättest geheiratet, dann wäre das gar nicht nötig gewesen. An Interessenten hat es nie gemangelt.«
Teresa wurde übel bei dem Gedanken. Außerdem liebte sie ihren Beruf. »Ich habe in der Klinik nicht früher freibekommen, und mein Auto fährt nicht schneller.«
Zenobia stolzierte durch den Raum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Ist Monica deshalb nicht mitgekommen, weil dein Auto dann noch langsamer gefahren wäre?«
Teresa warf im Spiegel einen kurzen Blick auf ihre Mutter. »Sie wollte zu Hause in Wien bleiben.«
»Hier ist ihr Zuhause!«, zischte Zenobia.
Da täuschst du dich, Mama! Die Toskana ist schon lange nicht mehr unsere Heimat.
Äußerlich gelassen trug Teresa Lippenstift auf, doch innerlich fühlte sie sich wie ein Hochdruckkessel kurz vor der Explosion.
»Was ist das überhaupt für eine schreckliche Musik?«
Teresa versuchte, weiterhin ruhig zu bleiben. »Alles ist schrecklich, was nicht aus Italien stammt, nicht wahr?«
»Stell das ab! Ist das zu viel verlangt?«
»Mama, ich komme, sobald ich fertig bin.«
Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Zenobias Kiefer mahlten. Mit den silbergrauen Haaren, dem breitkrempigen Hut, den schmalen Lippen und hohen Wangenknochen sah sie trotz ihres Alters immer noch graziös und erhaben aus. Aber unter der Fassade wirkte sie kalt wie eine Statue. Sie war vor kurzem siebzig geworden, und mittlerweile hatte sich die Verbitterung tief in ihr Gesicht gegraben. Immerhin war sie die Grand Dame der Del Vecchios– und an einem Tag wie diesem erst recht.
»Roberto steht draußen und wird ein Auge auf dich haben. Lass uns nicht zu lange warten.« Zenobia zog den schwarzen Schleier übers Gesicht, machte kehrt und verschwand aus dem Raum.
Teresa warf den Lippenstift auf die Kommode, steckte sich hastig eine Zigarette an und trat auf den Balkon. Eben schritt Zenobia unter der steinernen Brüstung hindurch zur Familienkapelle, die zwischen den Weinstöcken am Rand des Grundstücks lag. Es roch nach Frühling. Die Zypressen, Olivenhaine und blühenden Rapsfelder sahen aus wie immer. Der blecherne Klang der Kirchenglocke im einige Kilometer entfernten San Michele klang vertraut, als hätten die letzten fünfzehn Jahre nicht existiert. Was für ein merkwürdiges Gefühl, nach all den Jahren wieder in der Toskana zu sein.
Teresa stiegen Tränen in die Augen. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Dann nahm sie das Handtuch vom Kopf und schüttelte das feuchte schulterlange Haar aus. Die nach Raps duftende Brise, die von den Hügeln herunterwehte, würde es rasch trocknen lassen. Teresa würde wieder die dichten Locken bekommen, die sie normalerweise mit dem Glätteisen straffte, und so aussehen wie früher.
Wie früher…
Sie versuchte, den Gedanken abzustreifen. Doch es ging nicht. Wo fühlte sie sich eigentlich zu Hause? Sie blickte über die Brüstung auf den Vorplatz der Villa, wo die protzigen Autos parkten. War das ihre Heimat? Wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war und zum ersten Mal einen Jungen geküsst hatte? Unweigerlich kam die schmerzhafte Erinnerung an ihren Vater. Maledetto! Diese gottverfluchte Toskana. Sie hatte seit mindestens zehn Jahren nicht mehr auf Italienisch gedacht und nicht einmal in Gedanken italienisch geflucht. Doch kaum war sie eine Stunde hier und hatte ein paar Worte gewechselt, war ihr alles bereits so vertraut wie eh und je. Was hatte sie auch erwartet? Konnte man die Vergangenheit mit einem einfachen Fingerschnippen aus dem Gedächtnis löschen?
Ihr blaues Ford Cabrio mit dem Wiener Kennzeichen parkte zwischen einem Maserati und einem Lamborghini auf den Terrakottasteinen des Vorplatzes und bildete im Moment den einzigen Bezugspunkt zu ihrer Wahlheimat. Ein frecher Spatz setzte sich zwitschernd auf die Oberleiste der Windschutzscheibe, plusterte sich zur doppelten Größe auf und reckte die Schwanzfedern über die Armaturen.
Scheiß mir bloß nicht in den Wagen, verdammter Italiener!
Sie hatte CDs von Gabalier, den Cranberries und ein paar Voice-of-Germany-Sampler mitgenommen, damit sie nach dem Grenzübergang nicht die lokalen Radiosender hören musste. Vergeblich! Der Auftritt ihrer Mutter hatte genügt, um die Vergangenheit binnen Sekunden wieder aufleben zu lassen.
Auf dem Bett lag Teresas geöffneter blauer Samsonite-Koffer. In der Seite steckte ihr Maniküre-Etui, daneben ein gerahmtes Foto ihrer Nichte, das sie auf den Nachttisch stellen wollte. Monica war einundzwanzig und lebte in Teresas Haus am Stadtrand von Wien. Eine weitere Erinnerung an zu Hause. Als Einzige hatten sie es gewagt, Zenobia zu trotzen und der Familie den Rücken zu kehren. Wären Teresas Brüder nicht kürzlich tödlich verunglückt, hätten sie keine zehn Pferde dazu gebracht, in die Toskana zu reisen. Das stille Begräbnis im kleinen Rahmen hatte bereits stattgefunden, und Zenobia hatte verlangt, dass Teresa zumindest bei der heutigen Trauerfeier anwesend war.
Gott, lass mich diesen Tag überstehen und etwas über Salvatores Verschwinden herausfinden.
Sie blickte zur Kapelle, wo bereits an die hundert Trauergäste warteten. Die Frauen mit schwarzen Gesichtsschleiern, die Männer in dunklen Anzügen und Hüten. Teresa besaß nur ein dunkelblaues Kostüm, das viel zu modisch aussah, was ihre Familie gewiss als Provokation empfinden würde. Noch dazu, wenn sie neben Zenobia stand und die Gäste an ihnen vorbeistolzierten, um ihr heuchlerisches Beileidsgelaber loszuwerden. Immerhin bezog es sich auf ihre Brüder. Doch bei deren dubiosen Geschäften und ausschweifendem Lebensstil war klar gewesen, dass sie nicht lange am Leben bleiben würden. Auch ein Grund, weshalb sie mit der Familie gebrochen hatte.
»Teresa?«, drang eine dumpfe Stimme aus dem Raum.
Roberto nervte! Sie drehte sich um, betrat ihr ehemaliges Jugendzimmer und warf das Handtuch aufs Bett. Über dem Kopfkissen drehten sich der Traumfänger und die Holzmobiles, die sie als Mädchen gebastelt hatte.
»Teresa, bist du so weit?«
»Sì, sì.«
Roberto stand mit verschränkten Armen in der geöffneten Tür. Mit Vollbart, Pferdeschwanz, Tattoo am Hals und der Statur eines Rausschmeißers in einem Florentiner Nachtklub.
»Schließ die Tür«, sagte sie.
»Du hast Zenobia gehört. Ich soll dir nicht von der Seite…«
»Was soll mir schon passieren? Schließ die Tür! Ich muss mich ankleiden.«
Roberto rührte keine Miene.
Cretino!
Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte. Über diesen Affen oder darüber, dass sie wieder italienisch geflucht hatte. Die groß angelegte Trauerfeier diente ohnehin bloß Zenobias Selbstdarstellung– zudem war das Grundstück bewacht, als befürchte Zenobia einen weiteren mysteriösen Todesfall. Auf dem Anwesen der Del Vecchios? Das war lächerlich.
Teresa nahm ihr Kostüm und die Unterwäsche aus dem Koffer und ging ins Badezimmer. Sie schlüpfte in den schwarzen Slip und frisierte sich die Haare. Da hörte sie einen dumpfen Knall aus dem Zimmer. Der cretino hatte die Tür also doch geschlossen. Offensichtlich hatte er sich damit abgefunden, dass er diesmal keinen Blick auf ihren nackten Körper erhaschen würde.
Oder hatte er die Tür etwa von innen geschlossen? Unsicher spähte sie zur Badezimmertür. Im Schloss steckte kein Schlüssel. Womöglich guckte er durchs Schlüsselloch. Das wäre typisch für ihn gewesen! Roberto war zwar ein entfernter Cousin von ihr, was ihn jedoch nicht daran gehindert hatte, ihr seit ihrem zwölften Lebensjahr nachzustellen. Was für ein Spanner! Damals hatte er sie heimlich aus dem Orchideenhaus oder hinter den Zypressen an der Grundstücksgrenze stehend beobachtet, während sie sich mit einem Glas Limettensaft in der Hand neben dem Natursteinbecken in der Sonne rekelte. Oben ohne, nur mit dem Kabel des Walkmans auf ihrer gebräunten Haut. Früher wollte sie ihn damit provozieren, zuerst heiß machen, aber dann abblitzen lassen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Heute würde sie einen Kerl wie Roberto nicht einmal eine Sekunde lang dazu ermutigen, in ihre Nähe zu kommen.
Sie schlich zur Tür und spähte durchs Schlüsselloch. Als direkt vor ihrem Auge ein Schatten vorbeihuschte, fuhr sie zurück.
Verfluchter Mistkerl! Sie schlüpfte in den Bademantel und riss die Tür auf. »Du Bastard!«
Sie verstummte. Roberto lag mit halb geöffneten Augen auf dem Bett und starrte zur Decke. Seine Hand lag auf ihrem Koffer. Spielte ihr dieser Idiot etwa einen Herzanfall vor?
»Verschwinde aus meinem Zimmer!« Sie trat gegen sein Schienbein, doch er rührte sich nicht. »Roberto?«
Seine Schläfe war blau unterlaufen.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Roberto!«
Plötzlich wurde ihre Kehle trocken. Sie beugte sich über ihn und berührte ihn an den Wangen. Dabei spürte sie, wie kalt ihre eigenen Hände waren.
»Roberto, verdammt. Sag doch was!«
Sein Mund stand offen. Die leblosen Pupillen blickten zur Zimmerdecke. Teresa griff nach seinem Handgelenk, fühlte aber nur noch einen schwachen Puls, der jeden Moment versiegen konnte. Wie war das möglich? Rasch ließ sie seinen Arm los, der schwer aufs Bett fiel.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, in welcher Situation sie sich befand. Hastig sah sie sich im Zimmer um. Die Balkontür stand noch offen. Der Wind wehte den durchsichtigen weißen Vorhang ins Zimmer. Draußen stand niemand. Durch den Türspalt erhaschte sie einen Blick in den leeren Korridor. Für einen Augenblick hielt sie den Atem an. Nichts war zu hören. Doch irgendjemand musste hier gewesen sein.
Oder war immer noch hier!
Sie lief zur Kommode und griff zum Handy. Wie durch ein Wunder erinnerte sie sich an die internationale Notrufnummer 112. Mit zittrigen Fingern wartete sie auf eine Verbindung. Die Polizei würde einen Krankenwagen herschicken. Sollte sie in der Zwischenzeit auf den Balkon laufen und um Hilfe rufen? Niemand würde sie hören. Bis auf Roberto und sie waren alle zur Kapelle gegangen.
In diesem Moment erklangen die Glocken. Sie lief noch einmal zum Bett, um an Robertos Halsschlagader nach dem Puls zu fühlen.
Nichts mehr! Nicht einmal ein schwaches Pochen.
»Pronto?«, sagte endlich eine Stimme am anderen Ende der Telefonverbindung.
»Hier spricht Teresa Del Vecchio«, rief sie. »Ich bin in San Michele und…«
In diesem Moment sank Robertos Kopf zur Seite. Teresa wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte. Sein Hemdkragen färbte sich rot. Stoff und Bettlaken nahmen das Blut auf und sogen sich voll.
»Pronto?«, wiederholte die Stimme.
Sie drehte Robertos Kopf ganz zur Seite– und schrie auf. In seinem Nacken steckte eine Nagelschere. Sie war mit solcher Wucht zwischen Schädelknochen und ersten Halswirbel ins Rückenmark getrieben worden, dass nur noch die runden Griffe aus der Haut ragten. War das ihre Schere? Wie konnte das sein? Sie starrte zu ihrem Koffer. Ihr Maniküre-Etui war… geöffnet. Die Nagelschere fehlte.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Roberto war tot! Mittlerweile war da so viel Blut auf dem Laken! Jeder würde glauben, sie hätte ihn ermordet! Schließlich war sie als Einzige hier gewesen, und ihre Mutter hatte sie beide zuletzt gesehen. Was würde die Polizei vermuten? Dass Roberto ihr wieder an die Wäsche gehen wollte wie früher– nur dass sie sich diesmal heftiger zur Wehr gesetzt hatte?
Das alles war verrückt!
»Pronto?«, hörte sie die Stimme erneut aus dem Handy. Sie unterbrach die Verbindung.
Alle würden sie des Mordes verdächtigen.
Aber das war doch völlig unlogisch!
Trotzdem kreischte eine hysterische Stimme in ihrem Kopf. Schlüpf in deine Kleider und nimm deinen Koffer! Du musst endlich von hier abhauen!
Da sah sie im Kommodenspiegel, wie sich hinter ihr langsam die Tür des begehbaren Schranks öffnete.
Sie wagte nicht zu atmen, auch nicht, sich umzudrehen. Gebannt fixierte sie die Holzlamellen. Das Innere des Schranks lag im Dunkel, und es war nichts zu erkennen. Die Scharniere quietschten. Etwas befand sich darin.
Im nächsten Moment würde sie erfahren, was es war– während das Radio plärrte und das Läuten der Glocken immer noch von draußen ins Zimmer drang.
I – Wien, einen Monat später – Montag, 24. Mai
»Wer stärker liebt,
ist immer der Schwächere.«
Eleonora Duse
1
Das Hotel Caruso in der Wiener Innenstadt versprach von außen weit mehr, als die schäbige Einrichtung hielt. Das wusste Elena Gerink von früheren Besuchen. An den zuckenden Leuchtreklamen der Kondom- und Zigarettenautomaten neben dem Rezeptionstisch hingen Spinnweben. Die Tapete löste sich an den Ecken von der Wand, und die Dielenbretter knarrten, als stammten sie noch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wahrscheinlich war das auch so. Doch wer um zehn Uhr vormittags in diesem Etablissement ein Zimmer für eine Stunde mietete, war nicht an den Tapeten interessiert.
Soeben stieg wie erwartet eine Blondine mit Sonnenbrille und Kopftuch vermummt aus dem Taxi. Sie war etwa in Elenas Alter, Anfang dreißig. Seit einer Woche das gleiche Prozedere. Die Frau kam in Begleitung eines Mannes mit Stoppelbart und kantigen Gesichtszügen. Sie bezahlte das Taxi, und beide verschwanden im Hotel.
Elena stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einer Hauseinfahrt und wartete noch ein paar Minuten. Schließlich kramte sie eine Sonnenbrille aus ihrer Handtasche, setzte sie auf und überquerte mit ihrem schweren Aktenkoffer die Straße. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit den Stöckelschuhen plötzlich fünf Zentimeter größer zu sein, einen so kurzen Rock und eine enge Bluse zu tragen. Sie selbst besaß solche Klamotten nicht. Mit ihrer schlanken Figur, der strubbligen brünetten Kurzhaarfrisur, den Sommersprossen und der Stupsnase hatte sie das nicht nötig. Aber Toni hatte gemeint, damit würde sie in einer Absteige wie dem Hotel Caruso angemessener aussehen, und ihr die Kleidung geliehen.
Elena blickte sich um. Niemand folgte ihr. Als sie die Treppe zum Hotelfoyer erreichte, trat ein Mann aus der Einfahrt des Nebengebäudes. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Gerhard Hödel! Der hochgewachsene graumelierte Mann im Anzug ging ebenfalls auf das Hotel zu. Rasch versperrte sie ihm den Weg.
»Was zum Teufel machen Sie hier?« Elena schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und warf ihm über den Brillenrand einen unmissverständlichen Blick zu.
»Sie sind es!«
»Natürlich, was dachten Sie?« Sie schob die Brille wieder hinauf. »Warum sind Sie mir gefolgt?«
»Ich bin nicht Ihnen gefolgt«, rechtfertigte er sich, während er zum Hoteleingang blickte. »Ich habe in Lydias Büro angerufen, und ihre Sekretärin sagte mir, sie sei außer Haus. Im Kalender war aber kein Termin eingetragen.«
Elena konnte es nicht fassen. »Und das hat Sie ausgerechnet hierhergeführt?«
Er zog eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche. Hotel Caruso stand darauf. »Habe ich in ihrer Manteltasche gefunden.«
Jetzt war Elena alles klar. Hödel war nicht dumm und hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Doch im Moment war er so hilfreich wie eine halbseitige Lähmung.
»Ich habe volles Vertrauen in Ihre Arbeit«, rechtfertigte er sich. »Aber…«
»Ich kann Sie gut verstehen«, unterbrach sie ihn. »Aber Sie sollten wieder zurück in Ihre Bank gehen. Ich kann Sie hier nicht brauchen.« Sie blickte sich um. Einige Passanten auf der anderen Straßenseite sahen zu ihnen herüber. »Ich gehe allein in dieses Hotel– es ist besser so.«
Sie durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Ohne weiteren Kommentar wandte sie sich von ihm ab und betrat mit dem Aktenkoffer das Etablissement.
In dem langen Vorraum roch es nach süßem Damenparfüm. Am Ende des Flurs befand sich der Rezeptionstisch. Dahinter saß ein schmächtiger Knabe im blauen Hemd, der kaum älter als neunzehn war. Vielleicht ein Student. Irgendwo lief ein Fernsehgerät. Sie hörte Gelächter und Charlie Sheens Synchronstimme. Eine alte Folge von Two and a Half Men.
»Ein Zimmer für eine Stunde«, sagte Elena.
Der Junge blickte nicht einmal auf. »Allein?«
Bevor sie antworten konnte, hörte sie hinter sich das Knarren der Eingangstür. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Bitte nicht! Sie schielte zur Glasvitrine. In der spiegelnden Scheibe sah sie, wie Gerhard Hödel zielstrebig auf sie zukam.
Sie wusste, dass er alles vermasseln würde.
2
Die Woche begann übel für Peter Gerink. Das ahnte er, als er sein Büro im Wiener Bundeskriminalamt betrat und die Akte auf seinem Schreibtisch sah. Der Name auf dem Deckblatt lautete: Teresa Del Vecchio. Er schlug die Mappe auf und überflog die ersten paar Seiten. Eiserts Handschrift. Natürlich hatte sie ihm den Fall zukommen lassen. Und das bedeutete, dass er wieder mit Scatozza zusammenarbeiten durfte– ausgerechnet mit jenem Kollegen, mit dem Elena ihn betrogen hatte.
Gerink holte erst gar nicht seine Dienstpistole aus dem Waffenschrank oder startete den PC, um die Abwesenheitsnotiz zu deaktivieren, sondern marschierte mit der Mappe durch den Korridor zum Büro seiner Chefin.
Als er an Dino Scatozzas offener Tür vorbeikam, warf ihm dieser nur einen knappen Blick zu. Bestimmt wusste der Sizilianer bereits, dass ihnen ein gemeinsamer Fall bevorstand.
Gerink klopfte an Lisa Eiserts Tür.
»Herein.«
Er trat ein. Eisert trug eine cremefarbene Bluse. Ihr blauer Blazer hing über einer Stuhllehne. Als sie den Telefonhörer auf die Gabel legte, hielt Gerink ihr die Akte vor die Nase.
»Warum schon wieder ich?«, knirschte er.
Gelassen nahm Eisert die Lesebrille ab. Obwohl sie erst Mitte vierzig war, hatte ihr kurzes dunkles Haar an den Seiten bereits eine graue Färbung angenommen. Zudem zierten einige Sorgenfalten ihr Gesicht. Gerink wusste, dass seine Chefin nie auf den Gedanken gekommen wäre, sich die Haare zu färben. Eisert war ebenso uneitel wie unnachgiebig, weshalb die Kollegen auf dem Revier sie »Grauer Wolf« nannten.
Sie zog eine Augenbraue hoch, als sie seine neue Frisur bemerkte. Doch sie sagte nichts.
Heute Morgen hatte Gerink sich die braunen Haare mit der Maschine und einem Zwölf-Millimeter-Aufsatz geschoren und festgestellt, dass auch er die ersten grauen Haare an den Schläfen bekam– was ihn nicht gerade heiter stimmte.
Trotz seines Auftritts blieb Eisert gut gelaunt. »Kaum aus dem Urlaub zurück, schon hast du alle guten Manieren verlernt. Guten Morgen.« Sie lächelte knapp.
»Guten Morgen«, knurrte Gerink. Von Urlaub konnte keine Rede sein, das wusste sie genau. Wer aus dem Urlaub kam, war entspannt, ausgeglichen und braun gebrannt. Doch er hatte einen Dreitagebart und seinen sonst so strahlenden Blick eingebüßt. Schon von Weitem sah jeder, dass er eine Mordswut im Bauch mit sich herumtrug. Darüber konnte nicht einmal sein angeblich so charmantes Lächeln hinwegtäuschen. Jedenfalls hatte er im Moment keine Lust, irgendjemanden anzulächeln, und schon gar nicht Dino Scatozza.
Seinetwegen hatte er sich die letzte Woche innerlich zerfleischt und keine Nacht durchgeschlafen. Noch dazu beantwortete Elena seine Anrufe nicht– und selbst wenn! Was hätte er ihr sagen sollen? Er wusste nicht einmal, ob er sie zurückhaben wollte, ob er ihr verzeihen konnte. Dass er bei der letzten Begegnung mit ihr in seiner Wut eine Flasche Jack Daniel’s in die Glasvitrine geworfen hatte, machte die Sache nicht einfacher.
In der darauf folgenden Woche hatte er intensiver als in den Monaten zuvor im Fitnesscenter trainiert. Außerdem hatte er die staubige Plane von seiner Harley-Davidson abgezogen, die Maschine aus dem Schuppen gerollt, Motor und Chrom poliert, sich abends zu viel Alkohol reingekippt und war am nächsten Morgen mit einem grässlichen Kater die alte Strecke über dieWiener Hausberge abgefahren. Zum Glück war der Gedanke, seine Kumpels von früher zu besuchen, von denen einige den Knast von innen gesehen hatten, rasch wieder verflogen. Diese Zeiten waren vorbei! Aber vielleicht hätte das mehr geholfen, seinen Kopf von destruktiven Gedanken zu befreien, als nachts wie ein verletztes Raubtier durch die Wohnung zu tigern.
»Wir waren uns doch einig«, sagte er, »keinen dieser Fälle mehr.«
»Dieser Fälle?«, wiederholte sie.
Er kochte innerlich. Diese Frau konnte so scheinheilig sein. »Ja, dieser Fälle. Ich rede von Ermittlungen in Italien.«
Seit kurzem hasste er alle Italiener, deren Selbstgefälligkeit und aufbrausendes, lautes Temperament. Nur ein Wort, das sie liebend gern in die falsche Kehle bekamen, und schon waren sie tagelang in ihrer Ehre gekränkt. Gerink wusste genau, mit wem er an seinem nächsten Fall zusammenarbeiten durfte: Dino Scatozza.
Eisert warf einen beiläufigen Blick auf den Kalender in ihrem Laptop, der voller Termine war. »Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, aber du bist nun mal unser Entführungsspezialist.«
Das stimmte– einige behaupteten sogar, er sei der Beste in der Abteilung. Aber manchmal täuschte das über die traurige Wahrheit hinweg, dass er während seiner Laufbahn beim BKA zwar alle Entführungsopfer gefunden, aber nur wenige lebend und gesund hatte heimbringen können.
Trotzdem widersprach er ihr. »Die Kollegen sind ebenso gut.«
Eisert verzog das Gesicht. »Erstens weißt du ganz genau, dass das nicht stimmt, und zweitens wollen die nicht mit Scatozza zusammenarbeiten.«
Gerink spürte, wie ihm die Halsschlagadern schwollen. »Ach so, und nach allem, was passiert ist, denkst du, ich will mit ihm zusammenarbeiten?«
Sie hob die Augenbrauen. »Was erwartest du von mir? Er war sieben Jahre lang dein Partner und…«
»Du sagst es«, unterbrach Gerink seine Chefin. »Er war mein Partner! Das alles haben wir doch schon vor meinem ›Urlaub‹ besprochen.« Sie waren sich einig gewesen. Wie konnte sie nur zwei Männer zusammenspannen, die sich gegenseitig den Tod an den Hals wünschten?
Eisert faltete die Hände vor dem Mund und blickte Gerink wortlos an. Er kannte diesen Blick. Es würde eines jener typischen Zehn-Sekunden-Gespräche werden, die damit endeten, dass er einen Puls von hundertachtzig bekam und doch das tat, was der Graue Wolf von ihm wollte.
»Peter, hör zu.« Eisert beugte sich vor. Ihr Telefon klingelte, aber sie schaltete den Anruf auf eine andere Leitung. »Körner ist immer noch krank, und Eichinger ist mit einem anderen Fall beschäftigt. Außerdem setzen mich Innenministerium und Staatsanwaltschaft mächtig unter Druck. Was zwischen dir und Scatozza vorgefallen ist, interessiert die einen Scheißdreck und mich im Moment auch nicht.«
»Obwohl Elena deine Schwester ist? Ich…«
»Findet eine Lösung für eure Männer-Macho-Scheiße!«, unterbrach sie ihn. »Mehr will ich dazu nicht sagen.«
Männer-Macho-Scheiße nannte sie das also! Er merkte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, sobald er an Scatozza dachte.
»Fakt ist: Du übernimmst den Fall, denn du kannst ihn lösen. Es ist noch lange nicht gesagt, dass du tatsächlich mit Scatozza zusammenarbeiten musst. Fahr zum Haus, befrag die Kleine und schreib deinen Bericht. Dann sehen wir weiter.«
»Ich…«
»Dann sehen wir weiter!Und jetzt raus!« Die zehn Sekunden waren längst um. Eisert griff zum Hörer.
Gerink atmete tief durch. Eisert hatte recht. Natürlich war nicht gesagt, dass er mit diesem italienischen Hundesohn zusammenarbeiten musste– aber er würde einen Besen fressen, wenn das BKA nicht schon längst eine Auslandsdienstreise für zwei Beamte beantragt hatte.
Gerink holte seine Dienstwaffe aus der Kammer, Marke und Wagenschlüssel aus dem Büro und klemmte sich die Akte unter den Arm. Während er im Lift nach unten fuhr, las er den Bericht der Kollegen. Es war das Übliche, und er wollte es so rasch wie möglich hinter sich bringen.
Einige Männer, die er flüchtig kannte, stiegen im zweiten Stockwerk zu.
»Na, wie war dein Urlaub?«
Gerink blickte kurz auf, sagte aber nichts und vertiefte sich wieder in die Akte.
Er verließ den Lift und drückte sich in der Eingangshalle einen Kaffee aus dem Automaten. Für dieses Gesöff waren sogar die fünfzig Cent zu viel, aber in seiner derzeitigen Verfassung war es ihm unmöglich, auch noch gegen schlechte Gewohnheiten anzukämpfen.
In seiner Abteilung– neben Scatozza und den anderen Kollegen, die ihn ständig nach dem Urlaub fragen würden– hätte er es keine zehn Minuten ausgehalten. Also warf er sich in der Aula in die Ledersitzecke, wo ihn niemand beachtete, und blätterte durch die Papiere.
Teresa Del Vecchio war hübsch, dem Foto nach zu urteilen etwa vierzig Jahre alt. In Florenz geboren, lebte aber seit fünfzehn Jahren in Wien. Die letzten fünf Jahre davon als österreichische Staatsbürgerin. Hatte er richtig gelesen? Die erste Italienerin, die ihm sympathisch werden könnte. Den Grund für ihren Sinneswandel würde er bestimmt noch erfahren.
Beim Anblick des nächsten Fotos war klar, wen Eisert mit »die Kleine« gemeint hatte: Teresa Del Vecchios Nichte Monica. Sie war einundzwanzig und sah aus wie ein Fotomodel aus einer Agenturmappe. Bestimmt würde sie ihm aus hundert Metern Entfernung anmerken, dass er soeben eine ziemlich frustrierende Phase durchlebte. Er war noch nie gut darin gewesen, seine Gefühle zu verbergen. Jedenfalls hatte die Kleine genauso hübsches rabenschwarzes Haar wie ihre Tante, mit der sie im selben Haus lebte. Allerdings war Teresa Del Vecchio seit einem Monat abgängig, und die italienische Kripo brachte nichts auf die Reihe. Typisch!
Unter Monicas Foto fand er ihre Adresse sowie zwei Telefonnummern für Handy und Festnetz. Offensichtlich war sie Teresas einzige Angehörige in Österreich. Während er den Schriftverkehr zwischen Wien und Florenz überflog, wählte er bereits die erste Nummer. Monica war zu Hause, und Gerink kündigte seinen Besuch an.
Kurz darauf warf er den Kaffeebecher in den Mülleimer, verließ das Gebäude des Bundeskriminalamts und ging über den Josef-Holaubek-Platz zu seinem Wagen. Waren die Italiener nicht berühmt für ihren tollen Kaffee? Bestimmt konnte Monica ihm eine Tasse brühen, die besser war als dieses Gesöff, das ihnen der Automatenaufsteller des BKA zumutete. Währenddessen würde er sich zusammenreißen müssen, die junge Frau nicht anzustarren und dabei ständig an Elena zu denken.
3
Der Bursche an der Rezeption blickte sie desinteressiert an.
»Einen Augenblick«, sagte Elena. Sie ging zu Hödel. »Verschwinden Sie!«, raunte sie ihm zu.
»Nein, ich will es wissen!«, flüsterte er. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
Elena atmete tief durch. Hödel war zu keinem Kompromiss bereit. Eigentlich hätte sie den Job in diesem Moment abbrechen müssen. Doch sie stand so knapp vor den ersten wirklich interessanten Ergebnissen.
»Na schön«, murmelte sie, als sie die Entschlossenheit in seinen kalten Augen sah. »Nehmen Sie meinen Koffer, setzen Sie ein Lächeln auf und kommen Sie.« Sie drehte sich um und ging mit wiegenden Hüften auf den Rezeptionstisch zu. Hödel folgte ihr.
Sie zog den Rock etwas höher. »Werfen Sie gelegentlich einen Blick auf meine Beine, vielleicht entspannt Sie das– heute dürfen Sie.«
Er blickte eisern geradeaus.
»Und denken Sie daran, dass wir per Du sind«, raunte sie ihm zu, bevor sie die Rezeption erreichten.
»Ja, mein Schatz«, antwortete er, aber es klang nicht echt.
Elena lehnte sich an den Tresen.
»Also doch zu zweit«, sagte der Bursche. »Name?«
Elena übernahm das Reden. »Herr und Frau Kaminski.« Ihre Eltern stammten aus Polen, und manchmal verwendete sie ihren Mädchennamen. Sie buchstabierte »Kaminski«.
Ohne eine Miene zu verziehen, blickte der Bursche ins Gästebuch, als müsse er prüfen, ob überhaupt noch ein Zimmer frei sei. Am Montagvormittag um zehn!
Währenddessen suchte Elena das Board mit den Zimmerschlüsseln ab. Zwei fehlten. 103 im ersten und 214 im zweiten Stock. In eines davon war die Blondine mit dem stoppelbärtigen Kerl verschwunden.
»Zimmer311 ist frei.«
Elena blieb gelassen. Sie warf einen Blick über den Rand der Sonnenbrille und spähte hinter den Tresen. Das Gekritzel in dem Gästejournal war kaum zu entziffern, doch sie glaubte die Zahl214 in der letzten Zeile zu erkennen.
»Wir hätten gern Zimmer 215«, sagte sie rasch. »Alte Gewohnheit.« Dabei lehnte sie sich an den Tresen und warf ihrem Begleiter einen schmachtenden Blick zu. »Nicht wahr, mein Großer?« Sie rieb ihr Knie an seinem Bein.
»Ja natürlich… Schatz«, antwortete Hödel.
»Von mir aus.« Der Junge kritzelte ins Buch. »Macht siebzig Euro.«
Elena warf Hödel einen auffordernden Blick zu. Wenn er schon unbedingt mitwollte, sollte er auch bezahlen.
»Natürlich.« Er stellte den Koffer ab und griff nach dem Portemonnaie in der Anzugtasche.
Erst jetzt sah der Junge auf und musterte die beiden. An Elenas Körper blieb sein Blick etwas länger haften. Vielleicht fragte er sich, wie viel sie ihrem grauhaarigen Kunden abknöpfte, der aussah wie eine recht passable Kopie eines alternden Filmstars und es nicht nötig zu haben schien, in so eine Absteige zu gehen.
Nachdem der Junge das Geld genommen hatte, reichte er Elena den Schlüssel zu Zimmer215. Hödel nahm den Koffer und ging voraus.
Elena bemerkte, dass der Junge auf den Aktenkoffer glotzte, und zwinkerte ihm über den Brillenrand zu. »Spielzeug!«
Als sie im Zimmer waren und Elena die Tür abgesperrt hatte, wischte sich Hödel den Schweiß von der Stirn. »Gott, ist mir heiß.«
»Alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Knoten Sie Ihre Krawatte auf und machen Sie sich im Bad frisch. Ich brauche noch etwa zehn Minuten.«
»Ich muss in einer Stunde wieder in der Bank sein.«
Daran hätte er früher denken sollen. »Keine Sorge, bis dahin ist alles erledigt.«
Er zerrte an der Krawatte. »Hoffentlich.«
Hödel schwitzte seinen Anzug nass, doch er tat ihr nicht leid. Die emotionale Achterbahnfahrt, die ihm in der nächsten Stunde bevorstand, würde ihm noch mehr Schweiß aus den Poren treiben.
Sie warf ihren Aktenkoffer aufs Bett und ließ ihn aufschnappen. In den schwarzen Schaumstoffvertiefungen lagen ein kleiner Laptop, Kabel, Akkus, Netzteile, Mikrofone und Kameraobjektive.
»Warum ausgerechnet dieses Zimmer?«, fragte er aus dem Bad.
Elena rollte ein Kabel auseinander. »Weil Ihre Tochter nebenan ist.«
4
Teresa Del Vecchios Haus lag am Ende der Cobenzlgasse. Diese Gegend am nördlichen Stadtrand von Wien war nicht gerade eine Villengegend. Der Großteil der Reihenhaussiedlung war so alt wie die umliegenden Weingärten. Es gab hier kaum ein modernes Gebäude mit Pool, Alarmanlage oder Satellitenschüssel.
Die Reihenhäuser waren einstöckig, und Peter Gerink schätzte sie mit Keller auf nicht einmal hundertzwanzig Quadratmeter. Teresa Del Vecchios Vorgarten mit den Blumenbeeten war als Einziger gepflegt, und das, obwohl sie seit einem Monat vermisst wurde. Offensichtlich kümmerte sich ihre Nichte Monica um den Garten mit dem winzigen Seerosenteich, über dem ein Holzklöppelspiel an einem Balken im Wind schwang und ab und zu ein hohles Klick-Klack von sich gab.
Monica Del Vecchio öffnete die Tür. In echt sah sie noch besser aus als auf dem Foto. Einige Jahre älter, das Gesicht schlanker und der Blick ernster. Ein gewisser Ausdruck von Härte und Trotz lag in ihren Augen. Sie erinnerte ihn an eine jugendliche Mischung aus Monica Bellucci und Ornella Muti. Allerdings kannte er sich mit Filmen nicht besonders gut aus– und mit Frauen noch weniger. Er verstand ja nicht einmal seine eigene Ehefrau.
»Sie sind der Kripobeamte, der eben angerufen hat, nicht wahr?«, stellte sie fest. Ihre Stimme klang rauchig und reserviert.
Er nickte.
Sie musterte ihn ausgiebig. »Kommen Sie herein.«
Er blieb einen Moment auf dem Schuhabstreifer stehen und blickte ihr nach, wie sie durch den Vorraum ging. Sie trug weiße Socken und einen eng anliegenden orangefarbenen Jogginganzug. Aber diese Frau würde sogar in einem alten Jutesack gut aussehen.
Monica stand im Wohnzimmer und winkte ihn weiter. »Kommen Sie.«
Gerink säuberte die Schuhe und betrat das Haus.
»Sie können sie anlassen, es regnet ja nicht.«
Ein milder Duft von Räucherstäbchen lag in der Luft. Im Vorraum hingen einige Ölgemälde.
»Haben Sie die Bilder gemalt?«
Sie kam in den Vorraum zurück und schaltete das Licht an. »Die stammen von meinem Vater. Er hatte eine eigene Maltechnik. Ich erwähne das nur, weil das bei so einem Druck nicht zur Geltung kommt. Die Originale sind etwa zwei mal zwei Meter groß, hängen entweder in einem Museum oder wurden längst über Galerien an anonyme Sammler versteigert.«
Gerink würde noch herausfinden, weshalb sie von ihrem Vater in der Vergangenheit sprach. Er betrachtete eines der Gemälde, das eine Kirche zwischen Olivenhainen zeigte, die in der Mittagshitze ihr von Weihrauch geschwängertes Innerstes regelrecht nach außen schwitzte. Das Motiv erinnerte ihn an seinen letzten Urlaub mit Elena im September vorigen Jahres auf Korsika. Sie hatten sich ein Motorrad geliehen, waren um die Insel gefahren und hatten in Herbergen übernachtet. An einem Sonntag waren sie sogar nur zum Essen aus dem Bett gekrochen. All das hatte sie an den ersten gemeinsamen Urlaub erinnert, als sie mit Zelt und Motorrad in Irland unterwegs gewesen waren. Elena war in Korsika schwanger geworden, hatte das Baby aber im dritten Monat verloren. Nachher war nichts mehr so gewesen wie früher.
Er betrachtete das Gemälde. Es war nicht schlecht, allerdings bezweifelte er, ob er selbst auf dem Original erkannt hätte, dass der Künstler eine besondere Maltechnik verwendet hatte. Gerink konnte einen Picasso nicht von U-Bahn-Graffiti unterscheiden.
Am unteren Rand entzifferte er die schwungvolle Signatur von Salvatore Del Vecchio. Der Namenszug war farblich in das Motiv des Gemäldes eingearbeitet und nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar. Ohne den surrealen Touch und die überzogenen Farben hätte ihm das Bild sogar gefallen. Doch offenbar machte genau das die Einzigartigkeit aus– andernfalls würden die vier Quadratmeter großen Gemälde wohl kaum in Museen hängen.
Er ging weiter. Im Wohnzimmer roch es dezent nach Zimt und Vanille. Der Raum war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet. Der Flickenteppich sah aus wie selbst gewebt. In der Ecke standen eine bequeme Couch, jede Menge CD- und Bücherregale, aber kein Fernsehgerät. Gerink bemerkte eine Werkausgabe von Charles Bukowski, die er auch besaß und in seiner Jugend gelesen hatte, als er viel mit dem Motorrad unterwegs gewesen war. Eine Tür führte in die Küche und eine geschwungene Holztreppe ins obere Stockwerk. Durch das Wohnzimmerfenster sah Gerink in den Garten des Nachbargrundstücks, wo einige Kinder auf einer Holzschaukel turnten.
Er wedelte mit der Akte. »Ich bin heute Morgen mit der Suche nach Ihrer Tante beauftragt worden.«
»Ach, doch so schnell? Wie großartig!« Ihr Blick blieb ernst. »Was hat die italienische Polizei bisher herausgefunden?«
»Vermutlich nichts, aber das soll sich ändern. Deshalb bin ich hier.«
Schlagartig wurde der Ton in ihrer Stimme kälter. »Ich habe die Vermisstenanzeige vor einem Monat gemacht– und erst jetzt werden Sie mit dem Fall betraut, und Sie kommen her, um mir zu sagen, dass Sie nichts wissen! Die Del Vecchios sind keine unbekannte Familie. Wie kann das sein?« Ihre braunen Augen verfinsterten sich.
Er hätte es wissen müssen. Hinter der Fassade der jungen Italienerin, die bereitwillig über die künstlerischen Erfolge ihres Vaters sprach, verbarg sich eine jähzornige Göre. Gerink konnte ihre Verbitterung gut nachvollziehen. Aber wenn sie Dampf ablassen wollte, war sie bei ihm an der falschen Adresse. Im Moment hatte er selbst große Lust, jemandem in den Hintern zu treten.
»Ich verstehe Ihren Zorn, doch lassen Sie mich erst einmal erklären, was bisher geschehen ist.«
Sie sah aus dem Fenster. »Was gibt es da zu erklären?«
Er erzählte ihr, dass sich das Landeskriminalamt Wien vor einem Monat um die Vermisstenanzeige ihrer abgängigen Tante gekümmert hatte. Über das Bundeskriminalamt war der Auslandsschriftverkehr mit der Kripo in Florenz aufgenommen worden. Allerdings erwies sich die Florentiner Kripo als zu träge, in ihrem Land eine österreichische Staatsbürgerin mit Wiener Hauptwohnsitz zu finden, wie Gerink es vorsichtig formulierte. Faxmeldungen wurden verschlampt, E-Mails blieben unbeantwortet, und telefonische Rückrufe wurden zwar angekündigt, erfolgten aber nie.
Schließlich verfassten die Beamten einen Anlassbericht an die zuständige Wiener Staatsanwältin– seitenlanges Gewäsch, das nichts Konkretes aussagte und das Gerink nun in Händen hielt. Währenddessen entschied die Staatsanwältin, wie es weitergehen sollte.
»Ich beginne praktisch bei null«, gestand Gerink, »eben deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu helfen.«
»Tut mir leid, dass ich Sie vorhin angeschnauzt habe«, entschuldigte sie sich.
»Schon gut. Wie gesagt: Ich verstehe Ihren Zorn.«
Ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Gerink dachte an den Kaffeebecher, den er kürzlich entsorgt hatte. »Einen starken italienischen Kaffee.«
Sie sah ihn an, als wollte er sie auf den Arm nehmen.
»Illy, Lavazza oder etwas in der Richtung…« Er verstummte, als er ihren Blick sah.
»Das ist der Grund, weshalb ich die Toskana verlassen habe.«
»Der Kaffee?«
Nun lachte sie zum ersten Mal. »Der italienische Lebensstil. Wie wäre es mit einer Wiener Melange?«
»Danke.«
»Danke, ja oder danke, nein?«
»Danke, ja.« Diese Frau verwirrte ihn.
Sie ging in die Küche, drückte eine Taste der Kaffeemaschine, setzte sich auf die Arbeitsfläche und ließ die Beine lässig über die Kante baumeln.
»Sie kennen vielleicht nur Rom, den Schiefen Turm von Pisa, Spaghetti, Pizza oder Lavazza, und das alles mag Sie faszinieren, doch mir steht es bis hier.« Sie hob die Hand über den Kopf. »Vor allem die Lebenseinstellung der Italiener.«
Mir auch! Im Moment konnte Gerink das gut nachvollziehen. Er stand im Türrahmen und hörte ihr zu. Sie sprach ein schönes Deutsch, aber mit einem abgehackten südländischen Akzent.
»Meine Tante und ich sind Seelenverwandte. Sie lernte vor über fünfzehn Jahren am Strand von Livorno einen Wiener Geschäftsmann kennen und zog mit ihm in dieses Haus. Ein Großhändler. Er verkaufte Waschmaschinen, aber nach ein paar Schleudergängen war der Saft raus.« Sie schmunzelte. »Die Beziehung hielt nicht lange, doch Tante Teresa blieb hier. Vor einiger Zeit hat sie die italienische Staatsbürgerschaft abgelegt und die österreichische angenommen. Sehr zum Missfallen meiner Großmutter Zenobia… uhhh!« Monica ließ die Hände über ihrem Kopf kreisen, als wollte sie Gespenster vertreiben.
»Der Clan der Del Vecchios sieht es nicht gern, wenn jemand der Familie den Rücken kehrt. Aber Teresa ging schon immer eigene Wege. Dabei ließ sie sich von nichts und niemandem unterkriegen. Sie ist starrköpfig wie ein Esel– eine echte Del Vecchio eben.«
Und nun ist sie verschwunden.
»Sind Sie ebenfalls eine Abtrünnige?«, fragte er.
»›Abtrünnige‹ ist gut.« Sie lachte. »Kann man so sagen.«
»Warum?«
Sie hob die Schultern. »Ich bin froh, wenn ich mit der Familie nichts mehr zu tun habe. Belassen wir es dabei.« Sie sprang von der Arbeitsfläche und reichte ihm die Tasse.
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch.
»Sind Sie nach Wien gezogen, weil Ihre Tante hier lebt?«
»Nicht bloß deswegen. Sehen Sie, mein Vater– Teresas Bruder– war Maler, und meine Mutter studierte vor mehr als zwanzig Jahren an der Kunstakademie in Wien.«
»Ist sie auch Italienerin?«
»Sie war es.« Monica machte eine Pause. »Sie ist vor einem Jahr bei einem Reitunfall gestorben.«
»Das tut mir leid. Und Ihr Vater?«
Sie starrte lange Zeit aus dem Fenster, ehe sie antwortete. »Ich bin allein.«
Erst jetzt wurde Gerink die Tragweite des Falls bewusst. Monica hatte keine Eltern mehr, und wie es schien, war Teresa das einzige Familienmitglied, an dem sie hing.
»Ist schon okay.« Sie zuckte mit den Achseln. »Möglicherweise habe ich ein wenig vom Talent meines Vaters geerbt. Ich kam nach Wien, um wie meine Mutter an der Luttenberg Akademie Kunst und Malerei zu studieren.«
»Bei Ihrem Deutsch hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Sie seit mindestens fünfzehn Jahren hier leben.«
»Vielen Dank. Tatsächlich sind es aber erst drei. Teresa sprach von Anfang an Deutsch mit mir, weil wir…«
»…Seelenverwandte sind?«, half Gerink nach.
»So ist es.«
Er stellte die Tasse auf den Tisch und lehnte sich auf der Couch zurück. »Erzählen Sie mir von Ihrer Tante. Hatte sie Feinde? Ist sie untergetaucht? Könnte sie jemand entführt haben?«
»Das ist es ja gerade. Sie ist ein großartiger Mensch, den alle lieben.« Monica erhob sich und nahm ein Fotoalbum von einem der Wandregale.
Während sie es durchblätterten, erzählte Monica von ihrer Tante. Teresa war ausgebildete OP-Schwester und arbeitete in der Chirurgie des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Nach mehreren gescheiterten und kinderlosen Beziehungen war sie die letzten drei Jahre Single geblieben. An interessierten Männern hatte es jedoch nie gemangelt. Sie begleitete Monica öfter zu Studententreffs oder Künstlerpartys, wo sie sich trotz ihrer vierzig Jahre unter den bedeutend Jüngeren wohl fühlte wie ein Fisch im Wasser.
Je mehr Fotos Gerink sah, desto eher kam er zu dem Schluss, dass Teresa und Monica nicht seiner Klischeevorstellung der italienischen Hausfrauen und Mamas entsprachen, die mit einer Schürze um die breiten Hüften in der Küche vor dem Herd standen. Zwei moderne und selbstständige Frauen, die dem Familienclan und der italienischen Lebensweise den Rücken gekehrt hatten.
Auf der letzten Seite klebte nur noch ein Foto. Es zeigte Monica und Teresa vor dem Schauhaus eines Autohändlers neben einem nagelneuen glänzenden Ford Cabrio. Die Frauen waren sommerlich gekleidet und strahlten übers ganze Gesicht.
»Das war in diesem Frühjahr an einem verdammt heißen Tag«, erklärte Monica. »Vor einem Monat ist Teresa, ohne es wirklich zu wollen, in die Toskana gefahren.« Sie saß im Schneidersitz auf der Couch und spielte mit einer langen Haarsträhne. »Meine Großmutter, Zenobia, übte so viel Druck auf sie aus, dass Teresa letztendlich eine Woche Urlaub nahm, ihren Koffer packte und mit dem Wagen nach San Michele fuhr.«
»Weshalb?«
Monica hob die Schultern. »Teresa erzählte etwas von einer Trauerfeier, aber das hat mich nicht interessiert.«
»Wissen Sie für wen?«
Sie hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ist mir auch egal.«
»Hätten Sie Ihre Tante nicht begleiten sollen?«
»Bestimmt hätte Zenobia das gewollt, doch wie gesagt: Ich will mit meiner Verwandtschaft nichts mehr zu schaffen haben. Außerdem musste ich mich Ende April auf meine vorletzte Abschlussprüfung an der Akademie konzentrieren, und ich hatte meine erste eigene Vernissage. Teresa akzeptierte meine Entscheidung.«
»Wie ist die Ausstellung gelaufen?«
»Sie hätte besser sein können.«
Eine Frage interessierte Gerink noch. »Stammte Ihre Mutter auch aus einem– wie Sie es nennen– Familienclan?«
Mit einem bitteren Lächeln schüttelte Monica den Kopf. »Meine Mutter ist in einem Waisenhaus in Siena aufgewachsen. Sie besaß nichts, aber sie war elegant, bildhübsch und intelligent. Und sie hat sich nach oben gekämpft, als Näherin, Kellnerin und Setzerin in einer Druckerei geschuftet, bei der Weinlese geholfen, Rebstöcke geschnitten und sogar bei einem Tierarzt Kälber zur Welt gebracht. Kein Job war ihr zu anstrengend. Schließlich hat sie in Wien studiert und ist zurück nach Siena gegangen, wo sie den großen Maler Salvatore kennengelernt und in den Clan der Del Vecchios eingeheiratet hat. Was für eine Ehre!« Sie presste die letzten Worte mit einem zynischen Unterton hervor.
Nach einer Schweigeminute, in der nur das Lachen der Nachbarskinder zu hören war, klappte Gerink sein Notizbuch zu. Er hatte die wichtigsten Details mitgeschrieben und hoffte, dass er genug über Teresa Del Vecchio erfahren hatte, um sich in ihre Lage zu versetzen. Wer immer sie in San Michele hatte verschwinden lassen, musste einen triftigen Grund dafür gehabt haben.
»Darf ich das Foto von Ihnen und Ihrer Tante behalten?«
Sie blickte nicht einmal herüber. »Wenn es Ihnen hilft.«
Gerink nahm es aus den Fotoecken und steckte es wie ein Lesezeichen in das Notizbuch. Dann erhob er sich. »Ich rufe Sie an, sobald ich etwas herausgefunden habe.«
Sie kaute an der Unterlippe, dann hob sie den Blick. »Wird das passieren?«
Er war seit mehr als zehn Jahren Entführungsspezialist beim BKA, und diese Zeit hatte ihn gelehrt, dass eine Lösegeldforderung von Entführern stets ein gutes Zeichen war. Doch hier gab es keine. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt eine Entführung war. Er wusste nichts. Und in der Zwischenzeit war ein Monat vergangen. Falls er recht behielt, war es nur eine Frage von Wochen oder Monaten, bis Teresas Leiche irgendwo auftauchen würde.
»Ich werde Ihre Tante finden.« Er wollte sich bereits abwenden, als er in ihren Augen sah, dass ihr noch etwas auf dem Herzen lag.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Die Worte schienen ihr schwerzufallen. »Vielleicht könnten Sie Ihre Ermittlungen etwas ausdehnen?«
Er sah sie fragend an. »Ausdehnen?«
»Mein Vater ist ebenfalls spurlos verschwunden… vor einem Jahr.«
5
Elena startete das Notebook. Der Akku reichte für drei Stunden. Während sie sicherheitshalber das Netzteil bereitlegte, kam Gerhard Hödel mit einem Handtuch aus dem Badezimmer. Er hatte sich frisch gemacht, so wie sie es ihm geraten hatte– mit dem Effekt, dass ihm die wenigen grauen Haare zerzaust vom Kopf abstanden.
Hödel liebte seine Tochter abgöttisch. Bestimmt wusste Lydia, dass sie alles von ihrem Vater verlangen konnte und er ihr das meiste verzeihen würde. Möglicherweise auch Diebstahl oder ein Verhältnis mit einem zwielichtigen Kerl. Doch was sich soeben im Nebenzimmer abspielte, war keine gewöhnliche Affäre – das sagte Elenas Bauchgefühl. Sie beobachtete das Paar nun schon seit einer Woche. Hödels Tochter trug stets Kopftuch und Sonnenbrille. Sie und ihr Liebhaber tauschten in der Öffentlichkeit nie Zärtlichkeiten aus. Nach Elenas Meinung dauerte dieses merkwürdige Tête-à-Tête noch nicht lange
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