Todesspur - Andreas Gruber - E-Book

Todesspur E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

BKA-Ermittler Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez versuchen bei einem nächtlichen Großeinsatz Dr. Paul Conrad festzunehmen. Der soll entscheidend am Entstehen der nächsten Generation der Terrorgruppe RAF beteiligt sein – und an der Planung einer beispiellosen Anschlagsserie. Doch Conrad gelingt die Flucht, und Sneijder muss zu kreativen Mitteln greifen, um die Gefahr noch abzuwenden.
Die Situation verschlimmert sich dramatisch, als Sneijder auf die geheimnisvolle Lea Fuchs trifft. Deren eigene mörderische Pläne stellen seine Ermittlungen völlig auf den Kopf …

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Buch

Bei einem nächtlichen Großeinsatz im ruhigen Kurstädtchen Bad Kreuznach versuchen BKA-Ermittler Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez den Soziologen Dr. Paul Conrad festzunehmen. Der soll entscheidend am Entstehen der nächsten Generation der Terrorgruppe RAF beteiligt sein – und an der Planung einer beispiellosen Anschlagsserie. Doch Conrad gelingt die Flucht, und Sneijder und sein Team heften sich an seine Fersen. Dabei läuft allzu viel schief – und bald muss Sneijder zu ungewöhnlich kreativen Mitteln greifen, um die Terrorgefahr noch abzuwenden.

In Kufstein will die Sicherheitsberaterin Lea Fuchs währenddessen eher unspektakulär ihren Geburtstag feiern. Bis sie unverschuldet in eine mehr als heikle Situation gerät. Um sich daraus zu retten, schmiedet sie einen ebenso skrupellosen wie riskanten Plan. Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, bei dessen Ausführung Maarten S. Sneijder zu begegnen. Ein Zusammentreffen, das Sneijders Ermittlungen völlig auf den Kopf stellt – und sie beide in Lebensgefahr geraten lässt …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Andreas Gruber

Todesspur

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Oktober 2024

Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Nature Picture Library / Alamy Stock Photo

© FinePic®, München

TH · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30494-2V001

www.goldmann-verlag.de

für

Ulrike Schießer

»Zerschneide nie, was du auch aufknoten kannst.«

– Joseph Joubert –

Prolog

Samstag, 18. Mai

Kara Petzold stand unter dem Vordach des Konferenzgebäudes, kramte in der Handtasche und steckte sich mit zitternden Fingern eine Pall Mall an.

Das verdammte Meeting hatte länger gedauert als gedacht. Mittlerweile war es nach sechzehn Uhr, und Kara musste schnellstens von Berlin zurück nach Leipzig fahren. Sie hatte für diesen Abend für sich und ihren Mann Theaterkarten. Und am Montag flog sie auch schon wieder nach Dortmund ins Büro. Ein Termin jagte den nächsten – aber bevor sie losfuhr, brauchte sie unbedingt noch diese Zigarette, denn das, was bei der Konferenz soeben beschlossen worden war, hatte es in sich.

Während Kara inhalierte, kamen der Reihe nach die Politiker, die an der Sitzung teilgenommen hatten, aus dem Gebäude. Sie nickte ihnen wortlos zu und sah, wie die schwarzen Limousinen vorfuhren, um einen nach dem anderen abzuholen. Erstaunlich, dass noch keine Presseleute aufgetaucht waren. Wenn die erst mal Wind davon bekamen, dann war hier ganz sicher die Hölle los.

Zuletzt trat Philip Degenhard durch die automatische Schiebetür. Er sah verdammt schneidig aus in seinem Designeranzug, den genagelten Schuhen und der eleganten Krawatte. Mit seinen dreiundvierzig Jahren war er zudem noch relativ jung. Trotzdem hatte er in den letzten zwanzig Jahren eine steile politische Karriere hingelegt und als Staatssekretär des Innenministers schon viele Regierungen kommen und gehen gesehen.

Kara warf sich das lange blonde Haar über die Schulter. »Werden Sie von keiner Limousine abgeholt?«

Er lächelte. »Ich wollte nur kurz Luft schnappen. Habe hier noch zu tun, danach fahre ich mit dem Bus ins Büro.« Er hatte eine angenehme weich klingende Stimme.

»Tatsächlich?«

Er nickte. »Wird eine lange Nacht. Montag beginnen die nächsten Meetings in Den Haag«, erklärte er. »Sicherheitskonferenz. Eine Woche lang.« Genervt zog er die Augenbrauen hoch.

Sie kannte dieses Gefühl. »Die Welt dreht sich rücksichtslos weiter – keine Zeit zum Verschnaufen.«

Er lächelte müde. »Und Sie? Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem das Schlimmste überstanden ist?«

»Nachdem soeben beschlossen wurde, dass die Produktion heruntergefahren wird und ich am Montag siebenhundert Leute kündigen muss? Beschissen. Die Menschen im Ruhrpott werden mich lieben.« Und überstanden war das Ganze noch lange nicht, dachte sie.

»Immerhin haben Sie die Rückendeckung der Regierung«, sagte er aufmunternd.

Das war der einzige Vorteil, den sie als Topmanagerin eines staatsnahen Konzerns hatte, der Windräder für den Bundesverband für Windenergie produzierte. Allerdings machte das ihre Aufgabe auch nicht leichter. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher neben der Säule aus und beugte sich zu ihrem vollgepackten Koffer hinunter, in dem sich ihr Laptop und die ganzen Akten befanden.

»Sieht schwer aus. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Degenhard.

»Ja, einen starken Mann wie Sie könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen«, flirtete sie.

»Kein Problem.« Er nahm ihren Koffer. »Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen. Stehen Sie in der Tiefgarage?«

»Auf dem Parkplatz. Danke.« Kara schob sich den Riemen der Handtasche über die Schulter und knöpfte den Blazer zu.

Es war bewölkt, Wind kam auf und wehte Zeitungspapier über die Straße. Degenhard begleitete sie am Schlagbaum vorbei zu der Reihe, wo ihr Wagen stand.

»Sie fahren elektrisch«, stellte er fest.

»Natürlich, ist gut fürs Image.« Sie zuckte mit den Achseln. Da der Autoschlüssel in ihrer Handtasche lag und damit in Reichweite war, entriegelte sich ihr Porsche automatisch und sie konnte die Tür mit nur einem Handgriff öffnen. »Heutzutage muss man auf alles achten.« Wenn sie ehrlich war, traf sie der persönliche Imageverlust, der mit den Entlassungen einhergehen würde, mehr als das Schicksal der gekündigten Mitarbeiterinnen.

Degenhard verstaute ihr Gepäck im Kofferraum und drückte auf den Knopf, der den Deckel schloss. »Kommen Sie gut heim.«

»Danke. Und Ihnen einen guten Flug nach Den Haag, Herr Staatssekretär«, wünschte sie ihm und reichte ihm die Hand.

Während Degenhard wieder zum Gebäude zurückging, stieg sie in den Wagen, klemmte das Handy in die Halterung, legte den Gurt an und drückte den Startknopf.

Kurz bevor der Motor ansprang sah sie, dass jede Menge Flugblätter unter dem Scheibenwischer klemmten. So ein Mist! Noch während Kara überlegte, ob sie noch einmal aussteigen sollte, schoss plötzlich ein greller Blitz aus dem Armaturenbrett.

Den darauffolgenden Knall hörte sie schon nicht mehr.

Die Wucht der Explosion warf Philip Degenhard zu Boden. Er spürte die Hitze im Rücken, roch verschmortes Plastik. Um ihn herum prasselten einzelne Metallteile zu Boden.

Mühsam hob er den Kopf. Kara Petzolds Wagen brannte. Die Flammen schlugen meterweit hoch, eine schwarze Rauchwolke quoll in den Himmel.

Erst jetzt spürte er den Druck in den Ohren. Benommen erhob er sich, starrte in die Flammen und wischte sich dabei im Reflex den Staub vom Anzug.

E-Autos konnten durchaus mal in Brand geraten, wenn die Batterie defekt war, sogar gelegentlich explodieren – doch das hier war eine Autobombe gewesen. Sein Herz raste. Beinahe hätte es auch ihn erwischt.

Es war unmöglich, einen Schritt auf den Wagen zuzumachen, um Kara zu Hilfe zu kommen, die Hitze war zu groß. Es stank nach Gummi, Öl und verschmorten Kabeln. Der Wind trug den Rauch zu ihm herüber und wehte ihm ein angekokeltes Flugblatt vor die Füße. Ja, es sah aus wie ein Pamphlet, allerdings ohne Text.

Er stieg mit dem Schuh darauf und betrachtete das Symbol. Ein roter fünfzackiger Stern mit der Spitze nach oben. Und einer Maschinenpistole in der Mitte.

Eine MP5 von Heckler & Koch.

Jetzt war es also so weit.

1. Teil

Die Nacht auf Sonntag, den 19. Mai

1. Kapitel

»Hast du das auch gehört?« Irene drehte sich zu ihrem Mann um und blickte ihn fragend an.

»Was denn?« Walter lehnte sich quer über die Couch, griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Er neigte den Kopf und lauschte. Bis auf das Prasseln des Regens und den Wind, der ums Haus fegte, war es totenstill. Lautlos flimmerte die Quizshow über den TV-Monitor. Was sollte hier schon zu hören sein, am Stadtrand von Bad Kreuznach? Höchstens ein Marder, der übers Dach rannte, oder ein Kurgast, der sich in der stürmischen Nacht verlaufen hatte und nach dem Kaffeehausbesuch verzweifelt die richtige Kuranstalt suchte.

»Ich habe eine Autotür gehört«, unterbrach Irene seine Gedanken. »Kannst du mal nachsehen?«

»Herrgott.« Walter blickte zur Wanduhr. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Widerstrebend rappelte er sich auf und ging zum Fenster. Regen trommelte gegen das Glas. »Wer sollte um diese Uhrzeit hier schon vorbeiko…?« Er verstummte. In der Auffahrt zu ihrem Carport standen zwei dunkle Fahrzeuge mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Obwohl eine Tür offen stand, brannte auch im Wageninneren kein Licht. »Du hast recht. Hier ist jemand … auf unserem Grundstück …«, flüsterte er. Seltsamerweise waren die Bewegungsmelder nicht angesprungen, die normalerweise den Zugang zum Haus beleuchteten.

Irene stand bereits seitlich hinter ihm und spähte an ihm vorbei ins Dunkel. »Soll ich die Polizei rufen?«

Da klopfte es an der Tür. Walter spürte, wie sein Puls hochging. Auch Irene war zusammengezuckt und starrte ihn jetzt an. »Wer kann das sein?«

»Ganz sicher niemand mit einer Autopanne.« Er ging zur Tür. »Halt das Handy bereit und wähl 110, wenn ich es dir sage.« Ein Blitz erhellte die Nacht, kurz darauf krachte der Donner.

»Willst du wirklich aufmachen? Wer weiß, wer das ist.« Irene lief zu dem kleinen Fenster neben der Eingangstür, schob den Vorhang ein Stück beiseite und starrte hinaus. »Draußen brennt kein Licht«, flüsterte sie.

Das hatte er auch schon bemerkt. Stromausfall konnte es keiner sein. Die Typen mussten die Bewegungsmelder ausgeschaltet haben. Walter sah kurz zu seiner Frau, dann legte er die Kette vor die Tür, sperrte auf und öffnete sie einen Spaltbreit, bis sich die Kette spannte. Im Licht des Vorraums erkannte er, dass vier Personen vor ihm standen. Ein hochgewachsener, glatzköpfiger Mann in seinem Alter – Mitte fünfzig –, eine zierliche junge Frau und ein junger Kerl mit zwei schweren Umhängetaschen über den Schultern. Keiner von ihnen trug Regenkleidung, obwohl direkt hinter ihnen das Regenwasser vom Vordach auf die Terrakottasteine des Wegs prasselte. Die vierte Person dahinter war ein Polizist in Uniform.

Nun löste Walter die Kette und zog die Tür weiter auf. »Was wollen Sie?«

»Herr Gehrmann?«, fragte die junge Frau mit den langen braunen Haaren. »Wir sind vom Bundeskriminalamt Wiesbaden.« Sie hielt ihren Ausweis ins Licht der Vorzimmerlampe.

Walter verglich ihr Gesicht mit dem Foto. Er konnte nicht sagen, ob der Ausweis echt war, aber der Polizist wirkte mehr als überzeugend. Er hatte eine Dienstwaffe am Gürtel, einen Schlagstock, Pfefferspray und ein Funkgerät, das gerade knackte. Eine verzerrte Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Verstärkung in zehn Minuten …«

»Verstärkung wofür? Was wollen Sie hier?«, fragte Walter verunsichert.

»Wenn wir hereinkommen dürfen, erklären wir Ihnen alles«, sagte die junge Frau.

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«, fragte Walter.

Der hochgewachsene dünne Mann mit der Glatze drängte sich nach vorne. »Erstens heißt es Durchsuchungsbeschluss«, sagte er mit niederländischem Akzent, »und zweitens wollen wir nichts durchsuchen.« Er schob Walter sanft, aber bestimmt zur Seite und betrat den Vorraum. Auf dem Teppich stampfte er kurz auf und schüttelte sich das Regenwasser von seinem schwarzen Anzug.

Walters Herz pochte bis zum Hals. »Okay, dann kommen Sie ruhig herein …«, versuchte er seine Nervosität durch Sarkasmus zu überspielen.

Die junge Frau trat ebenfalls ein. »Herr Gehrmann … Frau Gehrmann.« Sie blickte kurz zu Irene. »Es ist Gefahr im Verzug – und Sie können uns dabei helfen, sie abzuwenden. Im Namen des BKA möchte ich Sie bitten, mit uns zu kooperieren. Wenn alles klappt, sind wir in ein paar Stunden wieder weg.« Die junge Frau war zwar nicht sehr groß, wirkte aber ziemlich taff.

»Und wenn nicht?«, fragte Walter, erhielt jedoch keine Antwort.

»Dürfen Sie das denn überhaupt?«, fragte Irene. »So einfach hier hereinkommen und …?«

»Wir dürfen noch viel mehr«, sagte der Niederländer, während er durch den Vorraum ging und sich umsah. Er hatte lange dünne schwarze Koteletten, die von den Ohren bis hinunter zum Kinn reichten.

Nun trat auch der junge Mann ein und stellte die Umhängetaschen auf den Boden. Um seinen Hals hing ein dünner Bügel mit Kopfhörern und einem langen Kabel, und unter der Jacke trug er ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck Twin Peaks. War das nicht eine uralte TV-Serie aus den 90er Jahren? Alles in allem wirkte der Typ wie ein Computernerd. Der Polizist folgte ihm und schloss die Tür, hielt sich aber im Hintergrund.

Walter fiel auf, dass auch die drei in Zivil Waffen trugen. Der Niederländer und die junge Frau im Schulterholster, der Nerd seitlich am Gürtel.

»Meine Kollegin wird Ihnen gleich alles erklären«, sagte der Niederländer, »aber vorher müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.« Er sah Walter eindringlich an. »Antworten Sie in knappen und präzisen Sätzen, haben Sie das verstanden?«

»Ja, schon, aber wir …«

»Knapp und präzise«, unterbrach ihn der Mann. »Befindet sich außer Ihnen und Ihrer Frau sonst noch jemand im Haus?«

»Nein, aber was soll …?«

»Erwarten Sie heute noch Besuch?«

»Nein.«

»Wann gehen Sie am Samstagabend normalerweise schlafen?«

»Ich … also … wir …«, stammelte Walter.

»Normalerweise schauen wir bis etwa halb zwölf fern, dann gehen wir rauf ins Schlafzimmer«, antwortete Irene an seiner Stelle. Ihre Stimme klang plötzlich erstaunlich gefasst. »Ich lese dann für gewöhnlich noch ein bis zwei Stunden.«

»Gut.« Der Niederländer nickte. »Dann schalten Sie in fünf Minuten in diesem Stockwerk alle Lichter aus und machen stattdessen im Schlafzimmer und eventuell auch im Badezimmer eine Lampe an. Alles soll so normal wie möglich sein, verstanden?«

»Verstanden.« Irene trat an Walters Seite und griff nach seiner Hand. »Worum geht es hier denn nun?«

Der Niederländer nickte zu seiner jungen Kollegin, die wieder übernahm. »Wir sind unter Zeitdruck, daher hören Sie mir bitte gut zu. Das BKA ist seit geraumer Zeit einer linksextremen Terrorgruppe auf der Spur. Wir haben kürzlich den Namen und den Wohnort einer Kontaktperson herausgefunden, die im Zusammenhang mit diesem Terrornetzwerk steht.«

»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragte Walter.

»Es handelt sich um den Soziologen Dr. Paul Conrad. Er wohnt ein Stück die Straße hinunter im nächsten Haus.«

»Dr. Conrad? Unser Nachbar?«, rief Irene. »Der soll Kontakt zu einer Terrorgruppe haben?«

»Sind Sie mit ihm befreundet?«

»Kann man nicht gerade behaupten. Wir sehen ihn kaum«, sagte Walter. »Er lebt ziemlich zurückgezogen. Wir sind nicht wirklich Nachbarn, zwischen unseren Grundstücken liegt ein schmaler Acker und …«

»Das heißt, Sie haben keine engere Beziehung zu ihm?«

»Zuletzt habe ich vor einem halben Jahr mit ihm gesprochen, als wir im Ort Stromausfall hatten und er sich Kerzen ausgeliehen hat.«

»Die wir nie ersetzt bekommen haben«, ergänzte Irene. »Er ist ein seltsamer Typ. Sehr verschroben und eigenbrötlerisch, sagt zumindest unsere Bäckerin, bei der er auch einkauft.«

»Moment mal … was sollen diese Fragen?«, unterbrach Walter seine Frau. »Sie wollen uns doch nicht etwa unterstellen, dass wir mit ihm unter einer Decke stecken?«

Die junge Frau lächelte. Sie hatte faszinierende große braune Augen. »Nein, natürlich nicht. Außerdem haben wir Sie bereits überprüft. Keinerlei kriminelle oder linksextreme terroristische Vergangenheit.«

»Na, wie großartig, besten Dank«, sagte Walter zynisch. »Warum gehen Sie dann nicht einfach rüber und schnappen ihn sich, anstatt hier …?«

»Genau das haben wir vor«, sagte die junge Frau. »Leider wissen wir im Moment noch nicht, wie das Netzwerk der Organisation aufgebaut ist, mit dem Conrad in Verbindung steht, daher brauchen wir ihn lebend. Erschossen auf der Flucht nützt er uns nicht viel.«

Walter schluckte.

Irene blickte kurz auf die Uhr, dann schaltete sie die Lichter im Vorraum und im Wohnzimmer aus, machte das Fernsehgerät aus, ging über die Treppe ins obere Stockwerk und knipste dort die Lichter im Badezimmer und im Schlafzimmer an.

Im schwachen Licht, das über die Treppe nach unten fiel, sah Walter, wie sich der junge Mann die Schuhe auszog, mit seinen Taschen ins Wohnzimmer ging, sie auf den Teppich stellte und ausräumte. Dann baute er vor dem Wohnzimmerfenster ein Kamerastativ auf. Anscheinend wollten sie von hier aus Dr. Conrads Haus beobachten, das zweihundert Meter weit entfernt den Hügel hinunter zwischen Straße und Waldrand lag.

In der Zwischenzeit kam Irene wieder von oben herunter. »Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte sie jetzt geradezu gut gelaunt.

Der Polizist wehrte ab. »Für mich nicht, danke.«

»Was?«, entfuhr es Walter. Er war fassungslos, wie sehr seine Frau das alles auf einmal zu genießen schien. »Zuerst machst du dir vor Angst fast in die Hose, weil du eine Autotür gehört hast, und jetzt kochst du Kaffee für das halbe Bundeskriminalamt, das in unser Haus eingezogen ist?«

Sie rieb sich die Hände. »Ich finde das so spannend.«

Irene und ihre Krimis, dachte er mürrisch.

»Ist Ihre Küche von Dr. Conrads Haus aus einsehbar?«, fragte der Niederländer.

»Nein, die liegt auf der anderen Seite des Hauses.«

»Gut, dann gern eine Tasse Vanilletee, falls Sie den haben.«

»Rooibos?«

»Perfekt – drei Minuten ziehen lassen, kein Zucker.«

»Darf es auch noch ein Keks dazu sein?«, murmelte Walter in seinen Bart.

Im Hintergrund knackte wieder das Funkgerät des Polizisten. Walter bekam mit, dass bereits Straßensperren um ganz Bad Kreuznach errichtet worden waren, sich Krankenwagen und Feuerwehr am Stadtrand bereithielten und bald weitere Polizeibeamte anrücken würden.

»Krankenwagen und Feuerwehr?«, fragte er mit rauer Kehle.

»Nur zur Sicherheit«, beruhigte ihn die junge Frau.

»Falls die Lage außer Kontrolle gerät«, fügte der Niederländer hinzu. »Bist du so weit?«, rief er ins Wohnzimmer.

Der junge Nerd hob den ausgestreckten Daumen. Auf dem Display der Kamera konnte Walter erkennen, dass er Dr. Conrads Haus extrem nah herangezoomt und das Bild aufgehellt hatte.

»Darf ich Sie in die Küche begleiten?«, fragte die junge Frau Irene, während sie ebenfalls aus ihren Schuhen schlüpfte.

»Sicherlich.«

»Sie haben nicht zufällig ein Foto von Dr. Conrad? Von einer Feier oder einer Veranstaltung im Ort?«

»Nein.« Irene lachte auf. »Zu so etwas geht er doch nicht. Haben Sie denn gar keine Bilder von ihm? Fahndungsfotos oder so?«

»Nichts Aktuelles. Nur ein uraltes Foto von seinem Führerschein und ein zwanzig Jahre altes Bild von seinem Reisepass, den er nie verlängern ließ. Darauf haben wir ihn mit einem Computerprogramm künstlich altern lassen und mit einer KI verschiedene Varianten erstellt.«

»Darf ich die sehen?«

»Sicher.« Die junge Frau hielt ihr Handy hoch. »Die wollte ich Ihnen sowieso gerade zeigen.«

»Ich kann Ihnen da bestimmt weiterhelfen – im Gegensatz zu meinem Mann habe ich nämlich ein sehr gutes Personengedächtnis, wissen Sie?«

Walter sah den beiden verblüfft nach, wie sie in die dunkle Küche verschwanden und die Tür hinter sich zuzogen. Erst danach fiel Licht durch den Türspalt. So kannte er seine Frau gar nicht. Vergessen war ihre Lieblingsquizshow im Fernsehen, stattdessen war sie Feuer und Flamme für die Ermittlungen des BKA.

Während der Polizist im dunklen Vorraum immer noch über das Funkgerät mit seinen Kollegen sprach, stand der Niederländer mittlerweile im Wohnzimmer neben seinem jungen Assistenten beim Kamerastativ.

Neugierig trat Walter näher und bemerkte nebenbei, dass der Niederländer seine Schuhe anbehalten hatte. Beide Männer starrten auf das Display, das ein Fenster im Untergeschoss von Dr. Conrads Haus zeigte. Das Bild war unscharf, weil die Kamera durch Conrads dünne Gardine filmte. Ein großer, stattlicher Mann mit grauen Haaren, der den alten Fotos von Dr. Conrad ähnlich sah, saß mit dem Rücken zu ihnen leicht seitlich auf einem Stuhl beim matten Licht einer Schreibtischlampe und tippte auf einem Laptop. Außer dessen Bildschirm leuchtete noch der Monitor eines PCs, und an den Wänden ließen sich zahlreiche Bücherregale erahnen. Wahrscheinlich war das Conrads Büro.

Der Niederländer drehte sich kurz zu Walter um. »Kann das Spezialeinsatzkommando der Polizei auf Ihrem Grundstück parken?«

Walter bemerkte den Geruch von Marihuana, der von seinem Gegenüber ausging. Dieser Typ war wirklich eine seltsame Art Polizist. »Ja, sicher«, murmelte er, ohne den Blick vom Display zu nehmen. »Die sollen sich auf die Auffahrt hinter Ihre beiden Autos stellen. Wegen der Hecken kann Dr. Conrad sie da nicht sehen.«

»Haben Sie das gehört?«, rief der Niederländer in den Vorraum.

»Ja«, kam die knappe Antwort des Polizisten.

»Aber keine Polizeiautos. Sorgen Sie dafür, dass nur zivile Fahrzeuge hochkommen«, verlangte der Niederländer. »Und außerdem sollen die Leute vom BKA zu uns stoßen.«

Das wurde ja ein Großaufgebot. »Seit wann wissen Sie von Dr. Conrad?«, fragte Walter und senkte dabei die Stimme.

»Seit zwölf Stunden«, antwortete der Niederländer.

»Er ist die beste Spur, die wir im Moment haben, um an die anderen Mitglieder des Terrornetzwerks zu kommen«, ergänzte der Assistent.

»Und jetzt lassen Sie uns arbeiten.« Der Niederländer schob Walter ein Stück zurück und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Schwenk mit der Kamera links runter und geh näher ran. Da liegt etwas auf dem Boden.«

Der junge Mann justierte die Kamera. Auf dem Display war ein großer, rechteckiger Gegenstand zu sehen, der auf dem Boden lag. Der Niederländer ging näher zum Display. »Was ist das? Verdomme, das sieht wie ein Koffer aus. Der schijtkerel will abhauen!«, fluchte der Niederländer. »Vielleicht hat ihn jemand gewarnt.«

»Greifen wir zu?«, fragte der junge Mann.

»Nein, noch nicht – wir warten ab, was er vorhat, und sperren jetzt erst mal sicherheitshalber seine Konten«, sagte der Niederländer.

Der junge Mann schob sich einen Stöpsel ins Ohr. Während er mit dem Sicherheitsdienst einer Bank telefonierte, tippte er hastig auf seinem Notebook herum.

»Die sollen auch alle Gelddepots einfrieren und, falls er Kryptowährungen hat, diese sofort beschlagnahmen«, fügte der Niederländer hinzu. »Schick denen den Gerichtsbeschluss.«

»Bin gerade dabei.«

»Danach lass dich mit der Hotline verbinden, die sollen seine Kreditkarten sperren.«

Der junge Mann blickte kurz hoch. »Aber wozu? Wir haben ihn doch …«

»Noch haben wir ihn nicht«, korrigierte der Niederländer ihn.

Aber was soll da jetzt noch schiefgehen? Walter blickte auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.

2. Kapitel

Kurz nach halb eins in der Nacht starrte Paul Conrad auf das Symbol der Sanduhr, während der Regen ans Fenster seines Arbeitszimmers trommelte.

Seine Kehle war trocken. Er hatte ganz vergessen, den Kaffee mit Rum zu trinken, den er sich um Mitternacht gemacht hatte, um wach zu bleiben, und nippte nun an dem mittlerweile kalt geworden Getränk. Immerhin wärmte der hochprozentige Rum noch seinen Magen.

Obwohl Conrad den Router neu gestartet und den PC erneut hochgefahren hatte, bekam er keinen Zugriff auf sein Konto. Mist! An der Internetverbindung konnte es nicht liegen, da alles andere problemlos funktionierte.

Er hatte zwanzigtausend Euro auf sein Konto bei einer spanischen Bank transferieren wollen, doch das ging nicht. Auch auf seine Konten bei anderen Banken hatte er keinen Zugriff mehr. Offensichtlich waren seine Passwörter gesperrt, dabei hatte gestern noch alles funktioniert.

Gedankenverloren starrte er auf den Monitor und kaute an der Unterlippe. Schließlich beugte er sich wieder über die Tastatur. Aus bloßem Interesse versuchte er, bei einem Onlinestore etwas über seine Kreditkarte zu kaufen, doch das ging ebenso wenig. Ein letzter Test zeigte ihm, dass auch seine zweite Kreditkarte nicht mehr funktionierte. Jemand musste im Laufe des Abends seine gesamten Vermögenswerte eingefroren haben. Bestimmt konnte er auch am Automaten kein Bargeld mehr abheben. Und das so kurz vor der Abreise. Sein Puls ging hoch.

Nachdenklich starrte er auf den gepackten Koffer, der neben der Wand offen auf dem Teppichboden lag. Warum gerade jetzt? Er glaubte nicht an Zufälle.

»Okay …«, murmelte er und öffnete die Software der Alarmanlage, mit der er das Grundstück gesichert hatte. Der Reihe nach klickte er von einer Kamera zur nächsten. Erfolglos. Wegen des miesen Wetters war außer grauen Schlieren nicht viel zu erkennen, und das, was er sah, wirkte unauffällig.

Die letzte Kamera am Gartenzaun zeigte die Straße und die Zufahrt zu seinem Grundstück. Er drehte die Linse mit Hilfe der Computertastatur per Fernsteuerung so, dass sie die Straße den Hügel hinaufzeigte, wo das Haus der Gehrmanns stand. Die Zufahrt dazu war gerade noch so zu erkennen. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit, also zoomte er das Bild so nah wie möglich heran und vergrößerte es auf den gesamten Bildschirm.

Hinter der Buschreihe ragte das Heck eines Wagens hervor. Obwohl er keine Details erkennen konnte, war der Anblick seltsam. Manchmal joggte er den Hügel hinauf am Haus der Gehrmanns vorbei in den Wald. Herr Gehrmann parkte in der Regel direkt vor dem Haus, und der Wagen seiner Frau stand immer im Carport. Und auch, wenn Gäste zu Besuch waren, standen deren Autos zwar in der Auffahrt neben der Heckenreihe, doch ohne dass man die von hier aus sehen konnte. So weit zur Straße hin wie jetzt hatte noch nie ein Wagen gestanden.

Lange Zeit starrte er auf das Bild und kaute weiter an der Unterlippe. Vielleicht war das wirklich nur ein Zufall. Jemand, der einfach schlecht geparkt hatte. Du wirst langsam paranoid! Andererseits hatte ihm gerade diese Paranoia schon öfter das Leben gerettet.

Ein heftiger Blitz zuckte, erhellte die Umgebung, und fast gleichzeitig krachte ohrenbetäubender Donner. Obwohl Conrad heftig zusammenzuckte, war er geistesgegenwärtig genug, um mit der Druck-Taste einen Screenshot von der Bildschirmansicht zu machen.

Deutlich war darauf im Licht des Blitzes das Heck des Wagens zu sehen. Kein Polizeiauto, sondern ein normaler Wagen. Trotzdem blieb sein Misstrauen. Also vergrößerte er das Bild und machte es mit einem Fotobearbeitungsprogramm schärfer, bis er Teile des Kennzeichens erkennen konnte. Keines hier aus Rheinland-Pfalz, sondern WI für das nur vierzig Kilometer entfernte hessische Wiesbaden. Der Rest war nicht zu erkennen, aber sowieso uninteressant.

So eine verdammte Kacke!

Sofort schaltete er Schreibtischlampe und Monitor aus, klappte den Laptop zu und griff im Dunkeln in die unterste Schublade. Dort holte er seinen Nachtsichtfeldstecher heraus. Er tastete sich durch die Finsternis zum Fenster, schob den Seidenstore beiseite und warf einen Blick zum Nachbargrundstück. Im oberen Stock brannte Licht, die untere Etage lag im Dunkeln. Eigentlich wie immer. Aber dann sah er im Restlichtverstärker, dass hinter dem Wohnzimmerfenster eine Art Stativ stand. War da eine Kamera drauf? Er glaubte den matten Schein eines Displays zu erkennen.

Mehr konnte Conrad nicht sehen, auch weil seine Hände ein wenig zitterten, aber es wirkte so, als ob …

Verdammt, ja! Seitlich am Fenster standen zwei Personen hinter dem Vorhang, die zu ihm herübersahen. Nein, vielleicht sogar drei!

Jetzt ist es also so weit.

Sie hatten ihn aufgespürt, selbst hier am Arsch der Welt, in der völlig unspektakulären Kurstadt Bad Kreuznach.

Du weißt, was das bedeutet. Ja, und er wusste auch, was jetzt zu tun war.

Er ließ das Fernglas auf den Teppichboden fallen, holte hastig sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte eine Handynummer. Während es läutete, kippte er das Fenster und zog den dicken, blickdichten Vorhang davor. Der kühle Windzug bauschte den Stoff auf.

Niemand ging ran. »Verdammt!« Dann versuchte er es mit einer Festnetznummer, schaltete das Telefon auf laut, und ging, während es läutete, im Licht des Handydisplays zum Wandsafe.

»Das ist die Anwaltskanzlei von Dr. Albrecht in Frankfurt. Sie rufen außerhalb unserer Öffnungszeiten an. Wenn Sie uns eine Nachricht …«

Er wartete den Piepton ab. »Ich bin es. Ich muss für längere Zeit weg. Hör gut zu, was ich dir jetzt sage … Sollte mir etwas zustoßen, sieh zu, dass du das rote Notizbuch in meinem schwarzen Hartschalenkoffer findest. Es darf der Polizei nicht in die Hände fallen, verstanden?«

Während er weitersprach, öffnete er den Safe und holte ein dünnes Notizbuch heraus, das er im Geheimfach des Koffers versteckte. Zum Glück hatte er alles andere schon fertig gepackt. Er schloss den Koffer, wuchtete das Ding hoch und schob es auf den Rollen zur Tür.

Nachdem er das Telefonat beendet hatte, wählte er eine zweite Nummer.

»Hallo …«, meldete sich eine verschlafene Stimme nach dem zweiten Klingelton.

»Ich bin es.«

»Weißt du, wie spät es ist? Mann, Pa…«

»Keine Namen!«, unterbrach er. »Hör mir gut zu …« Während er redete, zündet er mit dem Feuerzeug an mehreren Stellen Papiere und Zeitungen auf seinem Schreibtisch an. Sobald die ordentlich brannten, öffnete er alle Schubladen und goss zusätzlich den Inhalt der Flasche Rum, die neben dem Kaffeebecher stand, über den Schreibtisch. Fauchend schlugen die Flammen hoch.

Er beendete das Gespräch und griff sich aus der Hausbar im benachbarten Zimmer der Reihe nach wahllos mehrere Flaschen Schnaps, Rum und Whisky, die er in seinem Büro gegen die Wand schleuderte, sodass sie zerbrachen und sich ihr Inhalt über Wand und Teppich ergoss.

Den Scheißbullen würde er keine Hinweise hinterlassen. Und wenn er dazu das ganze Haus abfackeln musste.

Er griff wieder nach seinem Smartphone, aktivierte eine App, die alle Daten löschte und warf das Gerät in die Flammen, die bereits vom Schreibtisch her auf den Rest des Raumes übergriffen. Stinkender Rauch waberte durchs Zimmer, die Atemluft wurde knapp. Während er mit dem Koffer zur Rückseite des Hauses eilte, riss er alle Fenster sperrangelweit auf, damit die Zugluft die Flammen anfachte.

Das Letzte, was er hörte, bevor er in das Unwetter hinaustrat, war der explodierende Akku des Handys.

3. Kapitel

Sneijder stand mit einem dampfenden Becher neben dem Fenster und inhalierte das Aroma. »Verdammt guten Vanilletee haben die hier …«, murmelte er, verstummte jedoch, als Marc hektisch den Nachtsichtmodus der Kamera einschaltete, weil Conrad in seinem Büro soeben alle Lichter gelöscht hatte.

»Was hat er vor?«, flüsterte Sabine, die mittlerweile neben ihnen stand.

Sneijder stellte den Becher aufs Fensterbrett, trat einen Schritt zurück und konzentrierte sich auf das Display, das jetzt durch den Restlichtverstärker in einem leichten Grünton leuchtete.

Es war nicht zu erkennen gewesen, was Conrad an seinem Computer gemacht hatte, und sie hatten auch keine gute Aufnahme von ihm machen können. Immerhin hatte Irene Gehrmann inzwischen mit Sabines Hilfe dasjenige der KI-generierten Bilder ausgewählt, das dem dreiundsechzigjährigen Conrad am ähnlichsten sah.

»Er steht am Fenster«, rief Marc plötzlich. »Er hat uns gesehen.«

»Weg vom Fenster!«, befahl Sneijder.

»Anscheinend will er telefonieren. Fuck, der Vorhang ist zu.« Nun war gar nichts mehr zu erkennen.

»Er weiß Bescheid«, entfuhr es Sabine.

»Zugriff!«, rief Sneijder in den Vorraum, wo mittlerweile zwei Leute vom BKA und drei Polizeibeamte standen. Zwei von ihnen griffen sogleich zu den Funkgeräten.

Schnell wandte sich Sneijder zu Frau Gehrmann um, die mit ihrem Mann auf der Wohnzimmercouch saß und die letzte halbe Stunde keinen Mucks von sich gegeben hatte. »Gehen Sie mit Ihrem Mann nach oben ins Schlafzimmer und machen Sie alle Lichter aus.«

»Und danke für Ihre Kooperation«, fügte Sabine hinzu. »Wir postieren über Nacht sicherheitshalber einen Beamten vor dem Haus.«

»Was heißt sicherheitshalber?«, fragte Herr Gehrmann. »Was …?«

»Komm mit! Du hast doch gehört, was die Polizisten gesagt haben.« Frau Gehrmann packte ihren Mann an der Hand und zog ihn mit sich die Treppe hinauf.

Indessen hatte sich Sneijder einen kabellosen Minikopfhörer ins Ohr gesteckt und stellte über sein Handy die Verbindung zum Einsatzleiter des SEK her. Sein Blick glitt zum Display von Marcs Nachtsichtkamera. Alarmiert erkannte er hinter dem Vorhang von Conrads Büro einen flackernden Lichtschein.

»Er hat Feuer gelegt«, rief Marc im selben Moment.

Sneijder hatte schon reagiert. »Wir brauchen die Feuerwehr!«, rief er in den Vorraum. »Beeilung! Er setzt das Haus in Brand.«

Hinter ihm erwachten die Funkgeräte zum Leben.

»Conrad weiß, dass wir ihm auf der Spur sind, und will alle Beweise vernichten«, stellte Sabine fest. »Gehen wir auch rüber?«

Sneijder reagierte nicht. Durch ein digitales Nachtfernglas beobachtete er, wie sich die Einsatzkräfte des SEK in geduckter Haltung durch den Regen über den Vorgarten dem Haus näherten. Er suchte jede einsehbare Ecke des Gebäudes ab, doch von Conrad war nichts zu sehen.

Das Kommando erreichte die Eingangstür. Mit einer Ramme schlug der vorderste Beamte die Tür ein und trat zur Seite. Hintereinander stürmten die anderen ins Haus.

Mittlerweile brauchte Sneijder die Nachtsichtfunktion nicht mehr. Die Flammen hatten den Vorhang in Conrads Büro binnen weniger Sekunden in Asche verwandelt und waren dann auf Wände und Teppichböden übergesprungen. Mehrere weitere Zimmer brannten ebenfalls, und das Feuer schlug aus zahlreichen offenen Fenstern.

Sneijder wusste, wie rasch Feuer sich ausbreiten konnte, doch dieses hier entwickelte eine Dynamik, wie er sie nur selten gesehen hatte.

»Er muss Brandbeschleuniger benutzt haben«, sagte Sabine, die die Szene ebenfalls durch ein Fernglas beobachtete.

»Wo bleibt die Feuerwehr?«, rief Sneijder.

Mittlerweile war der Feuerschein auch durch die Fenster im oberen Stockwerk zu sehen, also stand wohl auch schon das Treppenhaus in Brand.

Sekunden später kamen die Leute des Spezialeinsatzkommandos wieder aus dem Haus – ohne Conrad. Sneijder sah wieder durchs Fernglas. Einige der Kollegen hielten kurz inne, rissen sich die Masken vom Kopf und schnappten nach Luft, während andere seitlich am Haus vorbei zur Rückseite liefen, wo das schmale, aber bestimmt zweihundert Meter lange Grundstück, auf dem sich jede Menge Apfelbäume befanden, bis zum Waldrand reichte.

Endlich hörte Sneijder die Sirene der Feuerwehr. Grell blitzendes Blaulicht erhellte die Nacht. Zwei Einsatzwagen durchbrachen das Gartentor an der Straßenseite und rasten direkt durch den Vorgarten zur Vorderseite des Hauses. Zum Glück regnete es, sonst wäre das gesamte Gebäude binnen kürzester Zeit bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

»Er haut nach hinten ab«, sagte Marc. »Mit einem Auto! Ein Mini Cooper. War direkt neben der Terrasse geparkt.«

Sneijder hatte es auch gesehen. »Er fährt zwischen den Obstbäumen in Richtung Wald«, rief er ins Handy. »Sie müssen ihn …« Stoppen, wollte er sagen, als bereits Mündungsfeuer auf der Rückseite des Grundstücks aufblitzte. Gleichzeitig waren die Schüsse zu hören.

»Ganz hinten gibt es keinen Zaun«, sagte Marc. »Das Grundstück geht direkt in den Wald über.«

»Haben wir Leute im Wald postiert?«, fragte Sneijder.

»Nein«, drang die Antwort des Einsatzleiters aus dem Handy.

Godverdomme!

Weitere Mündungsfeuer blitzten auf, Schüsse krachten.

»Wir brauchen ihn auf jeden Fall LEBEND!«, rief Sneijder ins Handy. »Nehmen Sie den Wagen!«

Im selben Moment sah er, wie das Einsatzfahrzeug des SEK von der Straße her die Auffahrt des Grundstücks hochfuhr, an den Feuerwehrwagen im Vorgarten vorbeiraste, seitlich am Haus über den Wiesenstreifen donnerte und die Verfolgung aufnahm. Doch schon nach wenigen Metern schlingerte das Fahrzeug in der nassen Wiese und blieb im hinteren Garten vor den Obstbäumen stehen.

»Wat in godsnaam?«, rief Sneijder.

Marc hatte die Kamera auf den Wagen gerichtet und zoomte näher heran. »Die sind anscheinend über ein Nagelband gefahren, das quer über den seitlichen Wiesenstreifen gespannt war. Der muss das alles schon vorbereitet haben.«

»Vervloekter mesthoop!«, fluchte Sneijder. Die Einsatzkräfte sprangen aus dem Wagen und liefen zu Fuß weiter.

»Den erwischen sie nicht mehr«, stellte Sabine gedämpft fest. »Wenn ich das richtig sehe, hat er bereits den Waldrand erreicht.«

»Und dort gibt es gleich mehrere Forstwege, die er nehmen kann«, ergänzte Marc.

Sneijder war klar, dass Conrad so gut wie weg war. »Wir brauchen den Helikopter«, rief er ins Handy.

»Wir haben unseren Einsatzwa…«

»Das habe ich gesehen!«, unterbrach Sneijder den Mann. »Erweitern Sie die Straßensperren um das gesamte Waldgebiet!«

»Wiederholen Sie das. Um WAS?«, fragte der Einsatzleiter.

»Sind Sie taub? Um den ganzen Wald!«

»Den Lohrer Wald, die Hardt, den Spreitel oder das Salinental?«

»Alle!«, brüllte Sneijder.

4. Kapitel

Um drei Uhr früh stapfte Sneijder mit Gummistiefeln, Helm und einer Stabtaschenlampe durch die Brandruine, dicht gefolgt von Sabine und Marc. Mittlerweile wussten sie, dass die Straßensperren bei Bad Kreuznach und Umgebung nichts gebracht hatten, da Conrad mit dem Mini Cooper über einen Feldweg durch den Wald entkommen und danach mit einem offenbar für Notfälle am Waldrand geparkten anderen Auto weitergefahren war. Sie hatten nur noch dessen Reifenspuren in der nassen Erde gefunden.

Wenigstens hatte die Feuerwehr den Brand rechtzeitig eindämmen und das obere Stockwerk retten können – wenn auch extrem verraucht und mit einer vom Löschwasser halb zerstörten Einrichtung. Leider ein schwacher Trost, denn im unteren Stockwerk war alles komplett ruiniert. Sneijder stapfte durch einen Morast aus Löschwasser und noch dampfender Asche, die sich zu einer zähen Schlacke verbunden hatten. Da das Gebäude keinen Keller besaß, konnte das Wasser nicht wirklich gut abfließen. Der Feuerwehrkommandant hatte Sneijder, Sabine und Marc den Zugang zum Haus aus Sicherheitsgründen verwehrt, aber Sneijder hatte das Gebrüll des Mannes souverän ignoriert und sich stattdessen drei Helme, drei Atemmasken und drei Paar Stiefel aus dem Feuerwehrauto geschnappt.

Überall waberte noch Rauch, der sich jetzt aber rasch durch die geöffneten Fenster verzog. Endlich erreichten sie das Büro, in dem Paul Conrad gesessen hatte. Sneijder nahm den Helm ab, zog sich die Atemmaske vom Gesicht und wischte sich hustend mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. Im Licht der Lampe sah er sich um. Von der Decke tropfte Löschwasser. Viel würde die IT-Forensik hier nicht mehr auswerten können.

Marc nahm ebenfalls die Atemmaske ab und leuchtete zur Wand. »Der Safe ist offen. Nichts drin.«

Sneijder sah kurz hin. Mit etwas Glück hatte Conrad kein oder nur wenig Bargeld bei sich. Und was immer sonst er dem Safe entnommen haben sollte – sie würden es bald wissen. Im Moment lief gerade eine landesweite Fahndung nach ihm, und er würde nicht weit kommen.

Sneijder ging in die Hocke, stocherte mit einem Kugelschreiber durch die Reste des verkohlten Schreibtischs und entdeckte ein verbranntes Smartphone.

Marc leuchtete ebenfalls zu der Stelle. »Möglicherweise das auf Conrad registrierte Telefon. Hat er anscheinend nicht mitgenommen, damit wir ihn nicht orten können.« Er bückte sich und ließ das Handy in einer Nylontüte verschwinden.

Sneijder nickte. Conrad war nicht in Panik geraten, hatte einen kühlen Kopf bewahrt und anscheinend gut durchdachte Fluchtpläne gehabt. »Ich will wissen, wen Conrad vorhin angerufen hat«, knurrte er. »Und außerdem möchte ich, dass wir eine Fangschaltung einrichten. Wer auch immer dieses Smartphone anruft, muss zurückverfolgt und lokalisiert werden.«

Marc steckte die Tüte in seine Umhängetasche. »Wird dauern, geht aber klar.«

Sabine hatte unterdessen auch die Maske abgenommen und stocherte mit einem ausklappbaren, kurzstieligen Feuerwehrspaten ebenfalls durch die verkohlen Reste des Tischs. »Ein verbrannter Laptop, ein verkohlter PC und jede Menge verbrannte Aktenordner.«

»Alles einpacken.« Sneijder erhob sich, atmete tief durch und spürte, wie sich seine Spannungskopfschmerzen über den Nacken zu den Schläfen hinaufzogen. Verdikkeme! Das alles auszuwerten würde im besten Fall mehrere Tage dauern.

Hinzu kam, dass er, wenn dieser Sonntag erst mal vorbei war, eine Woche lang auf Sabine Nemez und Marc Krüger verzichten musste. Die beiden hatten bereits vor einem halben Jahr Urlaub beantragt. Verdammt schlechtes Timing. Aber noch war der Tag nicht vorbei. Knapp zweiundzwanzig Stunden blieben ihnen noch, und in dieser Zeit würde er die beiden so schonungslos und hart rannehmen, dass sie auf dem Zahnfleisch in den Urlaub kriechen würden.

Eine raue Stimme riss Sneijder aus den Gedanken. »Was wissen wir bisher über Conrad?«

Sneijder drehte sich um und leuchtete einem Mann in seinem Alter mit grauem Bürstenhaarschnitt ins Gesicht. Der Kerl stand ohne Helm im Türrahmen, trug ebenfalls Gummistiefel über der Anzughose und gab ebenso einen feuchten Kehricht darauf, dass ihm das Löschwasser das Sakko ruinierte.

»Die Feuerwehr hat Sie ins Haus gelassen?«, fragte Sneijder verwundert.

»Die Frage meinen Sie doch nicht wirklich ernst, Sneijder?«, entgegnete der Mann.

»Nein, war eigentlich nur rhetorisch.« Sneijder leuchtete kurz zu Sabine und Marc, die sich aufrichteten und fragend zu dem Mann blickten. »Major Niels Thomsen vom BND – das sind meine Leute«, stellte Sneijder sie kurz einander vor. Anscheinend wunderten sich weder Sabine noch Marc, dass sich der Bundesnachrichtendienst für Paul Conrad interessierte. Marc schien eher über Thomsens Frage nach Conrad erstaunt.

»Weiß der Geheimdienst nicht, was wir wissen?«, fragte er spitz.

»Erzähl es ihm einfach.« Sneijder wedelte mit der Hand. Er verzichtete darauf, symbolisch drei Finger hochzuheben – Marc würde sich auch so mit knappen und präzisen Antworten kurz halten.

»Da gibt es noch nicht viel zu erzählen«, gab Marc zu. »Immerhin haben wir erst gestern von Conrad erfahren. Er hat in jungen Jahren Soziologie, danach Psychologie und Philosophie studiert, sich aber auch für Politikwissenschaften interessiert. In den 80er Jahren ist er in der linken Studentenszene aktiv und ein Sympathisant der zweiten und dritten Generation der Roten Armee Fraktion gewesen. In den 90er Jahren hat er an der Uni Mannheim Soziologie unterrichtet, bis er während einer Vorlesung eine Panikattacke bekam, danach seine Tätigkeit an der Uni sofort beendete und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog.«

»Ungefähr zu der Zeit, als sich die RAF 1998 mit einem Bekennerschreiben selbst aufgelöst hat«, ergänzte Sneijder, was ihm einen warnenden Blick von Thomsen einbrachte.

»Seit dieser Zeit hat er nirgendwo offiziell gearbeitet und kaum digitale Spuren hinterlassen«, fuhr Marc fort.

»Aber irgendwie muss er sein Geld verdient haben«, bemerkte Thomsen. »Mit Diebstählen? Betrügereien?«

»Wissen wir nicht«, sagte Marc. »Jedenfalls ist er nie geschnappt worden, und er ist auch nicht vorbestraft.«

Thomsen machte ein paar Schritte durch den Morast in die Mitte des Zimmers und sah sich im Strahl seiner Taschenlampe um. »Jetzt hat er Kontakt zu einer Terrorgruppe und ist verschwunden.« Er klang ziemlich angepisst.

»Eine Terrorgruppe, zu der wir noch nicht viel wissen, außer dass der BND vermutet, dass sie von einer Frau namens Ruth-Allegra Francke angeführt wird«, erklärte Sneijder seinen Leuten.

»Sneijder!«

»Wie groß und gefährlich muss dieses linksextreme Grüppchen sein«, stellte Sabine die Frage in den Raum, »dass der BND daran interessiert ist?«

An ihrem lauernden Tonfall erkannte Sneijder, dass Sabine den Major aus der Reserve locken wollte. Sie und Marc waren von Anfang an irritiert darüber gewesen, dass Sneijder in der Sache Conrad so unerbittlich vorging. Jetzt hofften sie wohl, von Thomsen mehr darüber zu erfahren.

Und zu Recht. Es wurde Zeit für Antworten. Sneijder sah zu Sabine. »Es ist nicht bloß irgendeine linke Gruppe.«

»Sondern?«

»Es ist …«, begann Sneijder, doch Thomsen fiel ihm scharf ins Wort.

»Stopp, Sneijder! Muss ich Sie an unser Gespräch erinnern? Immerhin geht es hier um die nationale Sicherheit und um absolute Geheimhaltung.«

»Und wie lange noch?«, fragte Sabine. »Immerhin sollen wir ja …«

»Bis wir absolut sicher sind, womit wir es hier zu tun haben«, antwortete Thomsen.

»Was Sie allerdings wissen sollten …« Sneijder ignorierte Thomsens düstere Miene. »Das E-Auto dieser Managerin, Kara Petzold, das gestern in Berlin ausgebrannt ist, wurde mit einer Autobombe in die Luft gejagt. Bei dem Anschlag kam auch fast einer der Staatssekretäre des Innenministers ums Leben. Entsprechend dem Logo auf den Flugblättern, die dort gefunden wurden, steckt Ruth-Allegra Franckes Gruppe dahinter.« Er schob die Taschenlampe in seine Hosentasche, wo sie weiterleuchtete, und zog eine Schachtel selbst gedrehter Hasch-Zigaretten aus der Sakkotasche. Mit einem Zippo-Feuerzeug steckte er sich eine der Tüten an. Ohne ein Wort zu sagen, inhalierte er. Augenblicklich roch es nach Shit. Rauch waberte um sein Gesicht, und Sneijder wartete. Er hatte absichtlich nicht mehr verraten und wusste, dass seine Leute wie hungrige Haie nach dem Köder schnappen würden.

»Und diese Ruth-Allegra Francke lässt sich auch mit den Mitteln des BND nicht auftreiben?«, bohrte Marc an Thomsen gerichtet weiter.

»Wenn wir sie finden könnten, wären wir nicht so verzweifelt hinter Paul Conrad her«, knurrte Thomsen genervt.

Plötzlich räusperte sich Sabine. »Die Initialen von Ruth-Allegra Francke …«, sagte sie nachdenklich, »… sind R, A und F.«

Sneijder schielte zu Thomsen, dessen Gesicht versteinerte.

»Ah!«, entfuhr es Marc, als ginge ihm soeben ein Licht auf. »Das erklärt einiges. In internen BKA-Dossiers – die mir zufällig in die Hände gefallen sind …«, fügte er rasch erklärend hinzu, »… bin ich vor Kurzem mehrmals auf diese Chiffre gestoßen.« Er hockte sich hin, leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden und schrieb mit dem Finger drei Zeichen in die Asche.

– R4F –

Sabine starrte auf das Wort, blickte zuerst zu Sneijder, dann zu Thomsen. »Das heißt, es ist die vierte Generation der RAF, um die es hier geht?«

Thomsen presste ohne ein Wort zu sagen die Zähne aufeinander und sah noch grimmiger drein als bisher.

Sneijder warf ihm einen triumphierenden Blick zu. »Meine Leute sind nicht dumm … genau deswegen arbeite ich mit ihnen zusammen.«

5. Kapitel

Während Marc den verbrannten Laptop einpackte und anschließend mit der Stabtaschenlampe zwischen den Zähnen durch die Asche stocherte, hantierte Sabine an dem geschmolzenen PC herum.

»Der lässt sich nicht mehr in einem Stück transportieren«, murmelte sie und baute kurzerhand die Festplatte aus.

Indessen erzählte Sneijder ihnen, was er und der BND bisher herausgefunden hatten. Dabei war es ihm komplett egal, dass Major Niels Thomsen ihn die ganze Zeit wütend anfunkelte.

»Im Juni 2011 wurde das letzte Mitglied der Roten Armee Fraktion aus der Haft entlassen. Lange Zeit war es ruhig, aber jetzt ist der alte Feind des BKA wieder da. Seit einem Jahr geistern Informationen über die Bildung einer vierten Generation der RAF durchs Darknet. Die Gruppe hat aus ihren Fehlern der Vergangenheit gelernt und formiert sich gerade still und heimlich und völlig anonym. Bis jetzt kennt der BND nur eine Handvoll Usernamen, aber wir wissen, dass sie sich europaweit vernetzen und in vielen Ländern bereits mehrere Dutzend Mitglieder angeworben haben.«

»Und jetzt ist die Inforunde beendet«, fügte Thomsen zähneknirschend hinzu.

Sabine hielt kurz in ihrer Arbeit inne. »Es ist also die RAF, mit der Paul Conrad in Kontakt steht«, stellte sie mit rauer Stimme fest. Die Luft hier machte ihnen allen zu schaffen. »Und er war unsere einzige Spur zu den anderen Mitgliedern des Netzwerks?« Anscheinend wurde ihr soeben klar, warum Sneijder in den letzten vierundzwanzig Stunden so viel Druck gemacht hatte.

Sneijder nickte. »Wir gehen davon aus, dass Ruth-Allegra Francke nur das Pseudonym der Anführerin ist – und ja, richtig, im Netz wird ihre Organisation R4F genannt. Bis auf die Autobombe ist die RAF in der Öffentlichkeit noch nicht …«

»Sneijder!«, warnte Thomsen ihn erneut scharf.

Sneijder ging kurz in die Knie, löschte die Glut des Joints im feuchten Morast und steckte den Glimmstängel in seine Sakkotasche. »Hören Sie, Thomsen – ich scheiße auf Ihre nationale Sicherheit. Der Fall ist nicht nur BND-, sondern auch BKA-Sache. Mein Chef hat mich hinzugezogen, und nun entscheide ich, wie viel meine Leute darüber wissen müssen.«

Der Strahl einer starken Taschenlampe leuchtete plötzlich ins Zimmer. Dahinter waren die Umrisse eines Feuerwehrmanns zu sehen. »Brauchen Sie noch lange in diesem …?«

»Raus!«, fauchte Sneijder.

»Aber wir …«

»Solange ich hier stehe, solange haben wir hier noch etwas zu tun. Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier«, rief Sneijder. »In der Zwischenzeit machen Sie sich nützlich und sorgen dafür, dass uns das Dach nicht über dem Kopf zusammenbricht – und schalten Sie endlich das verdammte Licht aus!«

Murrend senkte der Feuerwehrmann die Lampe und verschwand im Gang.

Sneijder wartete, bis er weit genug weg war. »Bisher ist die RAF in der Öffentlichkeit noch nicht in Erscheinung getreten«, fuhr er nun fort. »Sie sind vorsichtig und noch in der Vorbereitungsphase. Aber das kann und wird sich vermutlich nach diesem ersten Anschlag rasch ändern.«

»O Mann«, stöhnte Marc. »Soweit ich weiß, hat bereits die zweite RAF-Generation Menschen gezielt getötet und Geiseln hingerichtet.«

»Und die dritte Generation ging noch brutaler vor«, ergänzte Sabine.

»Genau. Und niemand weiß, was uns jetzt erwartet«, sagte Thomsen. »Darum wäre es schön, wenn Sie jetzt mit Ihrer Arbeit …«

»Ja, schon gut«, seufzte Marc und fischte etwas aus der Asche. »Hier sind die verkohlten Überreste von drei weiteren verbrannten Handys.« Er kratzte mit dem Fingernagel über die Asche. »Eine russische Marke.«

»Vermutlich nicht registrierte Prepaidhandys«, sagte Thomsen.

»Dann sind die quasi nutzlos. Die werden uns bestimmt keinerlei zusätzliche Infos liefern.« Marc richtete sich auf und steckte den Fund in eine Tüte aus Polyethylen.

Sabine stand ebenfalls auf und reichte Marc ein paar volle Beweismittelbeutel, die der in seine Umhängetasche stopfte.

»Haben wir alles?«, fragte Sneijder.

Marc nickte. »Fürs Erste ja.«

»Gut, gehen wir«, entschied Sneijder, »den Rest macht die Spurensicherung.«

Sie verließen den Raum und marschierten ins Vorzimmer. Thomsen folgte ihnen.

»Einen Moment …«, hörte Sneijder Sabine hinter sich rufen, kurz bevor er das Haus verließ. Er drehte sich um und sah, wie Sabine ihre Lampe auf eine massive antike verschnörkelte Kommode richtete, die neben der Eingangstür stand und großteils von den Flammen verschont geblieben war. Allerdings hatte das Löschwasser das Holz aufquellen lassen.

Einige Bilderrahmen waren von der Wand auf die Kommode gefallen. Sabine zog ein nasses, teils angekokeltes Bild zwischen den Glasscherben heraus.

Interessiert kam Sneijder näher. Soviel sich noch erkennen ließ, zeigte das Foto eine junge, attraktive Frau mit dunklem Pferdeschwanz. Es war schwer zu schätzen, ob das Bild schon älter oder aktuell war.

Marc kam ebenfalls näher. »Wir wissen, dass Conrad nie verheiratet war. Seine Freundin?« Er sah zu Major Thomsen, der ebenfalls einen Blick auf das Bild warf, aber nur die Schultern hochzog. »Ich könnte versuchen, das Foto mit einer Software möglichst gut wiederherzustellen«, schlug Marc vor, »um es anschließend durch die Daedalos-Datenbanken zu jagen.«

Sneijder nickte. »Mach das. Danach schicken wir dem BND eine Kopie davon und geben eine Fahndung nach der Frau raus.«

Thomsen verzog unglücklich das Gesicht. »Das Foto ist zu beschädigt. Außerdem könnte das weiß wer sein, der gar nichts mit unserem Fall zu tun hat.«

»Das ist mir vervloekt noch mal egal. Wenn sie hier an der Wand hängt, hat sie irgendeine Bedeutung für Conrad«, knurrte Sneijder. »Und hilft ihm vielleicht bei der Flucht. Sobald wir also wissen, wer das ist, geben wir sie zur Fahndung raus. Und frieren wie bei Conrad ihr Konto ein und sperren ihre Kreditkarte.«

»Scheuchen wir sie dadurch nicht erst recht auf?«, fragte Thomsen.

»Die sind bereits alle aufgescheucht«, widersprach Sneijder. »Und jetzt müssen wir sie daran hindern, das Land zu verlassen.« Er zog sein Handy heraus und fotografierte das Bild der jungen braunhaarigen Frau, bevor Marc das Foto in eine Klarsichthülle steckte. Vielleicht hatten sie da sogar Ruth-Allegra Francke vor sich – auch wenn er das eigentlich nicht glaubte.

Als sie kurz darauf im Freien standen, sogen sie gierig die frische Nachtluft ein. Dann ging Sneijder im Nieselregen an den Feuerwehrwagen vorbei und wählte die Telefonnummer, die er unter Tina K. Martinelli abgespeichert hatte.

Tina war eine ehemalige Kollegin von Sabine Nemez. Vor sechs Jahren hatte er sie und Sabine an der Akademie des BKA in seinem Modul für Forensische Psychologie und Profilerstellung ausgebildet. Später war Tina in seinem Ermittlerteam gewesen, doch nach einem fast tödlichen Einsatz in Norwegen hatte sie beim BKA gekündigt und sich als Detektivin selbstständig gemacht.

Es läutete bereits zum vierten Mal, als sich endlich eine verschlafene weibliche Stimme meldete. »Sneijder, verdammt, es ist fast vier Uhr früh …«, stöhnte Tina auf.

»Es ist fünf Minuten nach vier!«, korrigierte er sie. »Danke der Nachfrage, mir geht es gut, aber jetzt ist Schluss mit dem Smalltalk. Raus aus den Federn, duschen, eine starke Tasse Kaffee – und dann rein in die Klamotten.« Er blickte zu Marc, der gerade sein Equipment zu einem der BKA-Autos schleppte. Nur für den Fall, dass Marc nichts fand, brauchte er so schnell wie möglich einen Plan B.

»Ich nehme an, Sie haben dringend meine Hilfe nötig«, gähnte Tina.

»Schlaues Kind. Ich schicke Ihnen ein Foto.«

2. Teil

Sonntag, 19. Mai

6. Kapitel

Um sieben Uhr früh hatte Sneijder in seinem Büro im Bundeskriminalamt in Wiesbaden endlich in ein frisches Hemd und einen neuen Anzug schlüpfen können und wartete nun im Büro des BKA-Präsidenten auf seinen Chef, der jeden Augenblick kommen musste.

Und tatsächlich. Durch die angelehnte Tür hörte er, wie Friedrich Drohmeier im Eilschritt das Vorzimmer seiner Assistentin durchquerte.

»Sneijder ist da«, informierte sie ihren Chef knapp.

»Begleiten Sie ihn herein«, antwortete Drohmeier mit sonorer Stimme.

»Er … ist bereits in Ihrem Büro.«

Die Tür flog auf, und Drohmeier trat ein. Groß gebaut, breitschultrig, im grauen Anzug und mit schütterem grauem Haar. Trotz seiner sechsundsechzig Jahre war er noch gut in Form, allerdings war sein Gesicht von schweren Tränensäcken gezeichnet.

Drohmeier hielt sein Handy ans Ohr gepresst und nickte Sneijder nur kurz zu. LKA Rheinland-Pfalz formte er lautlos mit den Lippen und rollte genervt mit den Augen. Dann schloss er die Tür, schaltete das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Schreibtisch.

Während der Kollege vom Landeskriminalamt einen Einsatzbericht von letzter Nacht erstattete, schüttelte Drohmeier Sneijder wortlos die linke Hand, und es war ein verdammt harter Händedruck. Dass Sneijder immer noch ein wenig nach Rauch von der Brandruine stank, schien Drohmeier nicht zu stören. Der hatte im Moment ganz andere Sorgen.

Seit einem Jahr war Drohmeier der neue BKA-Präsident und damit der direkte Nachfolger von Sneijders ehemaligem Vorgesetzten Dirk van Nistelrooy und dessen Vorgänger Dietrich Hess. Drohmeier trug seit einem schweren Autounfall eine Prothese an der rechten Hand. Von einem Streifschuss hatte er zudem eine hässliche lange und tiefe Narbe seitlich am Kopf, die ihn ziemlich unheimlich erscheinen ließ. Er war der härteste und unerbittlichste Boss, den Sneijder jemals erlebt hatte. Den Spitznamen Eisenfaust trug er daher nicht nur wegen seiner Prothese, sondern auch wegen seiner unnachgiebigen Art.

Kaum an der Spitze, hatte Drohmeier ordentlich in der Hierarchie des BKA aufgeräumt. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen die gerahmten Fotos seiner neuen Stellvertreter, des Vize-Präsidenten Jon Eisa – ein einundvierzigjähriger Karrierist und quasi der Rockstar des BKA –, und der dritten BKA-Präsidentin Eva Marquardt, vierunddreißig Jahre jung.

Mit Jon Eisa, Eva Marquardt und wiederum deren Stellvertretern hatte Drohmeier ein relativ junges und dynamisches Team um sich geschart und damit eine neue Ära für das BKA eingeläutet, geprägt von einer effizienten und straffen Führung. Obwohl Sneijder nach wie vor per Sie mit Drohmeier war und dieser sich von Anfang an keine von Sneijders typischen Unverschämtheiten hatte gefallen lassen, gewährte Drohmeier ihm dennoch sämtliche Freiheiten bei seinen manchmal doch sehr unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Zumindest solange er Erfolge vorweisen konnte. Das hatte bis jetzt immer gut funktioniert – leider war es damit seit letzter Nacht vorbei.

Während der Kollege des LKA immer noch berichtete und dann das Wort an den Einsatzleiter weitergab, starrte Drohmeier mit einem immer düsterer werdenden Gesichtsausdruck Sneijder an. Der hielt dem Blick seines Chefs regungslos mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand, während er ebenfalls dem Bericht lauschte.

»… sämtliche Straßensperren im Zehnkilometerradius um Bad Kreuznach haben nichts gebracht«, drang die Stimme des Einsatzleiters aus dem Lautsprecher. »Das Ergebnis der Fahndung inklusive Verkehrskameras, Drohnen- und Satellitenaufklärung ist ebenfalls negativ.«

Sneijder hatte geahnt, dass genau das passieren würde, wenn er mit den unfähigen Kollegen der Rheinland-Pfälzer Polizei zusammenarbeiten musste. Paul Conrad war kein Anfänger und auf jenen Moment, wo der Staat auf ihn aufmerksam werden würde, bestens vorbereitet gewesen. Aber auch Sneijder selbst hatte ihn unterschätzt, wie er sich eingestehen musste – obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Immerhin ermittelte das BKA insgesamt schon seit über vierzig Jahren gegen Baader, Meinhof und den Rest der immer noch flüchtigen Roten Armee Fraktion.

Drohmeier bedankte sich bei den Kollegen aus dem benachbarten Bundesland, beendete das Gespräch und steckte das Handy in die Hosentasche. Sichtlich angespannt öffnete er sein Sakko und lockerte den Krawattenknoten. »Morgen, Sneijder«, sagte er mit der heiseren Stimme eines Kettenrauchers. »Wie sagen Sie immer? Verdomme und vervloekt?« Übel gelaunt sah er ihn an. »Ich habe die Zeit mit der RAF Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre noch hautnah miterlebt, als ich als blutjunger Bursche Herold unterstellt war.«

Sneijder kannte die alten Erzählungen, die durch das BKA geisterten. Herold, der damalige Präsident, hatte die Abteilungen erweitert, eine bundesweite Computerdatenbank initiiert, die Rasterfahndung eingeführt, der RAF den Kampf angesagt und nach dem Münchner Olympia-Attentat von 1972 die Antiterroreinsatzgruppe GSG-9 ins Leben gerufen, die in weiterer Folge die entführte Landshut befreit hatte. Deshalb war Herold auch der erklärte Erzfeind von Baader, Meinhof, Ensslin, Hogefeld, Raspe, Meins, Mohnhaupt und den anderen Mitgliedern der Bewegung gewesen. Zwei Terroristen von damals waren heute sogar immer noch abgetaucht und wurden nach wie vor gesucht, auch wenn sie höchstwahrscheinlich nicht mehr aktiv waren und keine Gefahr mehr darstellten.

Zu jener Zeit hatte Sneijder in Rotterdam noch die Schulbank gedrückt. Trotzdem hatte er schon gewusst, dass er nach Abitur und Militärdienst zur Polizei gehen, die Ausbildung zum forensischen Kripopsychologen machen und als Fallanalytiker Profile erstellen wollte. Wie viele andere seiner Generation war er als Jugendlicher von den Aktivitäten der Terroristen, die einen Polizeistaat zu Fall bringen wollten, auf eine gewisse Weise fasziniert gewesen.

Er selbst hatte jedenfalls Horst Herold nie persönlich kennengelernt, anders als Drohmeier, dem anscheinend gerade alte Erinnerungen hochkamen. Die waren womöglich der Grund dafür, warum er die Angelegenheit so persönlich nahm.

»Scheint so, als wäre die Sache noch nicht vorbei«, bemerkte Sneijder.

»Noch nicht vorbei – oder sie beginnt von Neuem. Je nachdem, wie man es sieht.« Drohmeier runzelte die Stirn. »Jedenfalls sind sie wieder da, und unsere einzige Spur zu ihnen ist gerade entkommen.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich muss jetzt zu einem dieser nicht enden wollenden und unnötigen Meetings, weil morgen der Sicherheitskonferenz-Marathon in Den Haag startet. Sneijder, bleiben Sie an der Sache dran, auch wenn Sie das halbe BKA dafür in Beschlag nehmen müssen. Ich verlasse mich auf Sie. Wir müssen diesen Mann um jeden Preis finden, bevor die nächsten Anschläge passieren.«

Damit war alles gesagt, und Sneijder nickte nur kurz, bevor er Drohmeier aus dessen Büro begleitete. Dann trennten sich ihre Wege, und Sneijder ging in den Trakt, in dem sein eigenes Büro lag. Schon von Weitem sah er, dass Miyu – hoch gewachsen, schlank und wie immer schwarz gekleidet – vor seiner Tür auf ihn wartete.

Er und Sabine Nemez hatten die Kollegin zwei Jahre lang an der BKA-Akademie für hochbegabten Nachwuchs ausgebildet. Miyu war Halb-Asiatin, fünfundzwanzig Jahre jung und wies eine Störung im Bereich des Autismus-Spektrums auf. Das war auch der Grund, warum sich Miyu jeden Tag gleich und so schlicht wie möglich kleidete, damit ihr Gehirn, das sowieso permanent auf Hochtouren lief, sich nicht auch noch mit der Entscheidung herumschlagen musste, was sie anziehen sollte.

Gerade wegen der besonderen Eigenschaften, die Miyus spezielle Form des Autismus mit sich brachte, war sie eines der größten Talente, die das BKA in den letzten Jahren hervorgebracht hatte. Allerdings hatte Sneijder sich sehr für ihre Aufnahme an der Akademie einsetzen müssen. Ohne seine Intervention hätte sie – eben wegen ihrer Besonderheit – keine Chance gehabt.

Sneijder öffnete die Bürotür mit seiner Magnetkarte. »Miyu, machen Sie es kurz, meine Zeit ist knapp.«

»Ich möchte in Ihr Team«, sagte sie in ihrem starken Berliner Akzent.

»Ich habe kein Team.«

»Doch«, widersprach sie. »Sabine Nemez und Marc Krüger arbeiten für Sie und …«

»Das nennen Sie ein Team?«

»Ein Team ist laut Definition ein …«

»Lassen Sie die Haarspalterei.« Er betrat das Büro und warf sein Sakko über die Stuhllehne.

Miyu trat ebenfalls ein und schloss lautlos die Tür. Kurz blieb ihr Blick an dem gerahmten und signierten Foto der niederländischen Königsfamilie haften, das hinter seinem Schreibtisch hing. Es war an einer Seite im Rahmen etwas nach unten gerutscht und Miyu schien das zu irritieren.

Er schnippte mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Hören Sie, Ihre Ausbildung ist beendet und Sie sind unter den zehn Jahrgangsbesten.«

»Laut Punktesystem auf Platz fünf, also genau genommen unter den …«

Er brachte sie mit einer Geste zum Verstummen. Er gab keinen Cent auf dieses bescheuerte Punktesystem, denn seine Intuition sagte ihm, dass Miyu die beste Ermittlerin der gesamten letzten Jahrgänge werden könnte. Na ja, eigentlich nur der letzten vier Jahrgänge, wenn man es genau nahm, denn vor vier Jahren hatte Sabine Nemez die Ausbildung abgeschlossen und war – überraschenderweise – sogar freiwillig seine Kollegin geworden. Es war eine wilde Zeit gewesen, als sie damals gemeinsam mit dem Schweizer Profiler Rudolf Horowitz den Serienmörder Piet van Loon durch halb Europa gejagt hatten.

»Viele meiner Kollegen wollen Sie für ihr eigenes Team haben«, sagte er schließlich. Er hatte gehört, dass sie sich vor lauter Angeboten kaum wehren konnte. »Außerdem habe ich erfahren, dass sowohl der militärische Abschirmdienst als auch der Bundesnachrichtendienst an Ihnen interessiert sind.«

Für einen Moment weiteten sich ihre mandelförmigen Augen und ihre schwarzen Pupillen blitzten auf. »Woher wissen Sie davon?«

»Marc Krüger«, antwortete er lakonisch und sparte sich jede weitere Erklärung, da sie Marcs Fähigkeiten, sich in so ziemlich jedes Datennetz zu hacken, hinreichend kannte. »Miyu, so jemanden wie Sie gibt es wirklich selten«, fuhr er fort. »Ihnen stehen so viele Türen offen. Sie könnten sich überall dort bewerben, wo Ihre Fähigkeiten gebraucht werden.«

»Genau deshalb bin ich hier«, sagte sie prompt.

»Godverdomme, treffen Sie keine voreiligen Entschlüsse, die Sie später vielleicht bereuen. Apropos: Vor einer Sache muss ich Sie warnen …«

»Vor unserer Betriebspsychologin Dr. Ross?«

Er sah sie kurz verblüfft an. »Ja, das auch, aber ich meinte etwas anderes …« Er hob den Finger, denn ihm war bekannt, dass auch Jon Eisa seine Fühler nach Miyu ausgestreckt hatte. »Werden Sie nicht Jon Eisas Assistentin, auch wenn er Ihnen verspricht, dass er Sie zu seiner rechten Hand aufbauen will. Sie sind zu gut für Eisa, und er würde Ihr Talent nur sinnlos vergeuden.«

»Das Büro des Vize-Präsidenten ist sowieso nie eine Option für mich gewesen. Ich will Ermittlerin werden und zu Ihrer Gruppe dazugehören.«

Er neigte den Kopf. »Und diese Entscheidung steht fest?«

Sie nickte. »Schon seit einem Jahr.«

Sneijder zog eine Augenbraue hoch, auch wenn er wusste, dass jegliche emotionale Reaktion für Miyu fast unmöglich zu lesen war. »Seit einem Jahr?«

»Genauer gesagt seit elf Monaten und zwölf Tagen.« Sie nickte wieder. »Als wir nach Sabine Nemez gesucht und den gemeinsamen Fall mit Pulaski in Leipzig und Dresden aufgeklärt haben.«

»Damals wurden Sie angeschossen«, erinnerte er sich.

»Zu diesem Zeitpunkt stand mein Entschluss bereits fest.«

»Ihnen wurde aber nicht in den Kopf geschossen, oder?«, fragte er sarkastisch.