Todesurteil - Andreas Gruber - E-Book
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Todesurteil E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

Sneijder und Nemez ermitteln wieder.

In Wien verschwindet die zehnjährige Clara. Ein Jahr später taucht sie völlig verstört am nahen Waldrand wieder auf. Ihr gesamter Rücken ist mit Motiven aus Dantes "Inferno" tätowiert – und sie spricht kein Wort. Indessen nimmt der niederländische Profiler Maarten S. Sneijder an der Akademie des BKA für hochbegabten Nachwuchs mit seinen Studenten ungelöste Mordfälle durch. Seine beste Schülerin Sabine Nemez entdeckt einen Zusammenhang zwischen mehreren Fällen – aber das Werk des raffinierten Killers ist noch lange nicht beendet. Seine Spur führt nach Wien – wo Clara die einzige ist, die den Mörder je zu Gesicht bekommen hat …

Der zweite Fall für Sneijder und Nemez.

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Buch

In einem Wald am Stadtrand von Wien taucht plötzlich ein halb nacktes, abgemagertes und völlig verstörtes Mädchen auf. Der Name der Elfjährigen ist Clara, und sie ist vor einem Jahr spurlos verschwunden. Auf ihrem gesamten Rücken sind Motive aus Dantes Inferno tätowiert. Allerdings hat sie keinerlei Erinnerung an die vergangenen zwölf Monate – und schweigt beharrlich.

Derweil tritt am BKA in Wiesbaden die junge Münchner Kripobeamtin Sabine Nemez einen Kurs für hochbegabten Nachwuchs an. Einer ihrer Dozenten ist der niederländische Profiler Maarten S. Sneijder, mit dem Sabine bereits einmal zusammengearbeitet hat. Er genießt den Ruf eines Exzentrikers, und seine umstrittene Spezialität ist es, die Studenten anhand ungelöster Verbrechen zu unterrichten. Bald steckt Sabine an Schneijders Seite mitten in den Ermittlungen zu drei hochbrisanten Fällen, die nur vordergründig nichts miteinander zu tun haben. Als sich Verbindungen zu dem Fall des entführten Mädchens in Wien andeuten, verschwimmen Theorie und Praxis endgültig, und die beiden ungleichen Ermittler müssen am eigenen Leib erfahren, dass sie der Lösung des komplexen Rätsels schon allzu nahe gekommen sind. Denn nun geraten sie selbst ins Visier eines völlig skrupellosen Täters …

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Andreas Gruber

Todesurteil

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

7. Auflage

Originalausgabe März 2015

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Reilika Landen/Arcangel Images;

FinePic®, München

Th · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14466-1V002

www.goldmann-verlag.de

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für

Peter Hiess

und

Thomas Fröhlich

danke,

dass ihr mich zu den Sneijder-Romanen inspiriert habt

»Studiere deinen Feind genau,

denn du bist verdammt zu werden wie er.«

– SPRICHWORT –

PROLOG

Obwohl sie am Ende ihrer Kräfte war, rannte sie weiter. Ihre Lunge brannte wie Feuer. Wie lange schon hatte sie keine frische Luft mehr gespürt? Immer nur die muffig stinkende Kellerluft geatmet? Sieben Monate? Acht Monate? Vielleicht noch länger? Jedenfalls kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.

Jetzt zerschnitten ihr Disteln und Dornen Hände und Beine. Ein Ast peitschte gegen ihren Oberschenkel und riss die blasse Haut auf. Steine und Nadeln bohrten sich in ihre nackten Füße. Sie roch das Moos und spürte den kalten Waldboden. Weg, nur weg!

Ihre Seite stach wie von einem glühenden Spieß malträtiert. Sie durfte nicht zusammenbrechen. Solange sie sich noch bewegen konnte, musste sie weiter. Wo lag die nächste Lichtung? Immer größere Panik erfasste sie, da sie keine Ahnung hatte, wohin sie lief und wie lange sich das Waldstück noch erstreckte.

Eine ganze Weile hatte es so ausgesehen, als würde der Wald lichter werden, weil die Abendsonne zwischen den Ästen durchschien, aber nun wurde es wieder dunkler. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Lief sie in die falsche Richtung? Sollte sie umdrehen? Gab es überhaupt einen richtigen Weg? Sie musste endlich Menschen finden, einen Wanderer, vielleicht sogar ein Haus. Dann wäre sie in Sicherheit. Sie wollte nie wieder zurück in den Keller. Sie hielt diese Schmerzen nicht noch einmal aus.

Mit der Hüfte blieb sie an einem Dornenstrauch hängen und riss sich los. Sie schrie auf, rannte weiter und spürte, wie Blut von der Hüfte über den Oberschenkel lief. Kalter Schweiß stand ihr auf der Haut. Der Wind ließ sie frösteln. Plötzlich wichen die Bäume vor ihr auseinander und die tief stehende Sonne blendete sie einen Moment.

Sie taumelte wie benommen auf eine Lichtung. Unter ihren Füßen befand sich ein Weg, ausgetreten und voller Risse im trockenen Boden. Sie folgte ihm. Eine Holztafel mit einem Pfeil hing an einem Baum. Gelbe und violette Blumen wucherten zwischen den Wurzeln. 2km bis Wien. Sie lief weiter und sah schließlich eine Blockhütte mit alten Fensterläden, bemoosten Dachschindeln und einem hohen Kamin.

Das Grundstück davor war von einem schäbigen Lattenzaun umgeben. Daneben stand ein Wagen. Der offene Kofferraumdeckel sah aus wie der Rachen eines Blechmonsters. Eine Frau stieg soeben in das Auto. Ein Mann schlug den Deckel zu. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und lief schneller.

»Hilfe!«, keuchte sie, doch die beiden hörten sie nicht.

Waren die taub?

»Hilfe! Ich bin hier!« Sie versuchte die Arme zu heben, doch die Kraft verließ sie.

Der Mann stieg in den Wagen.

»Hilfe!«, kreischte sie mit letzter Kraft.

Dann startete der Mann den Motor. Sie lief näher und tauchte in den Schatten des Hauses. Eine unglaubliche Kälte ließ sie erzittern. Der Wagen fuhr an, und für eine Sekunde stand sie im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Danach folgte Dunkelheit.

Als der Wagen mit knirschenden Reifen anhielt, brach sie zusammen. Sie spürte Gras und Erdkrumen auf den Lippen. Ihre Augenlider flatterten.

Eine Autotür knallte, und jemand lief auf sie zu. »Otto, ich habe mich nicht geirrt! Komm her! Hier liegt jemand.«

Eine Frau kniete neben sie hin. Der Duft von Lavendel lag in der Luft. Finger berührten ihre Stirn und strichen die Haarsträhnen weg.

»Es ist ein Kind. Höchstens zehn Jahre alt.«

»Himmel«, rief der Mann. »Das Mädchen ist ja splitternackt und völlig abgemagert.«

»Hol eine Decke aus dem Wagen. Otto, sieh dir nur ihren Rücken an. O Gott, fast der ganze Rücken!« Die Stimme der Frau klang entsetzt. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Was um Himmels willen ist mit ihr geschehen?«

»Wer tut so etwas?«, murmelte der Mann.

»Bitte nicht berühren!«, rief sie. »Es tut so weh!«

»Otto, sieh nur. Sie bewegt ihre Lippen. Was ist dir nur zugestoßen, Kleine?«

»So helft mir doch!«

»Was ist mit dir geschehen, Mädchen? Sag doch was.«

»Lass sie«, brummte der Mann. »Du siehst doch, dass sie nicht redet. Ich glaube, sie ist stumm. Hilf mir, sie muss dringend ins Krankenhaus.«

Die Frau richtete sich auf und blickte ängstlich zum Waldrand. »Ist das nicht das Mädchen, das vor einem Jahr hier verschwunden ist?«

I

Sonntag, 1. September,

bis Montag, 2. September

»Alles Leben ist Leiden.«

– ARTHUR SCHOPENHAUER –

1

An den meisten Tagen des Jahres wirkte Wiesbaden wie ein Ort, an dem einem wahrlich nichts Böses widerfahren konnte – eine beruhigende Mischung aus Schulen, Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Alleen und breiten Einkaufsstraßen.

Doch zu dieser nächtlichen Stunde war die Kurstadt mit all ihren Thermalbädern und Mineralquellen in einen dunklen Schlaf gefallen und zeigte sich von einer anderen Seite. Der Sturm peitschte Regen an die Windschutzscheibe von Sabines Wagen, und die Scheinwerfer rissen die Häuserfassaden nur ansatzweise aus der Dunkelheit.

So ein Scheißwetter! Sabines Haar war klitschnass und ihre Kleidung bis zum Slip durchnässt. Die nasale Stimme von Klaus Kinski, die sie für ihr Navi runtergeladen hatte, lotste sie durch die Stadt. Sie fuhr an exquisiten Läden vorbei, für deren Besuch sie wohl nie genug Geld haben würde. Aber im Moment fühlte sie sich ohnehin nicht in der Stimmung für eine Shoppingtour. Was sie hingegen dringend brauchte, waren ein heißes Bad und trockene Kleidung.

Vor fünf Stunden war sie in München losgefahren und hatte während der Fahrt Radio gehört. Wenige Kilometer vor der Autobahnabfahrt Wiesbaden war der linke Vorderreifen geplatzt, und sie hatte den Wagen gerade noch auf dem Seitenstreifen zum Stehen bringen können. Sie hatte mit dem Handy um Hilfe telefoniert, doch der Pannendienst hätte frühestens in zwei Stunden kommen können. Frühere Notfälle gingen vor. Also war sie im strömenden Regen selbst ausgestiegen, um ihre Warnweste aus dem Kofferraum zu kramen und mit dem Pannendreieck die Unfallstelle zu sichern.

Kein Wagen hatte gestoppt, um zu sehen, warum ihr Auto mit der Warnblinkanlage auf dem Haltestreifen stand. Mehrmals wurde sie vom Fahrbahnwasser angespritzt, während sie neben dem Wagen hockte und fluchend mit dem Wagenheber die Karre hochkurbelte, mit dem Kreuzschlüssel die Muttern löste und ihr Reserverad auf die Achse wuchtete.

Während sie wie ein Esel schuftete, kamen ihr heftige Zweifel, ob sie überhaupt das Richtige tat. Klitschnass, wie sie war, hätte sie auch gleich die paar Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Abfahrt laufen können, um an einer Tankstelle einen Kaffee zu trinken und auf den Pannendienst zu warten. Aber so viel Zeit hatte sie nicht. Nicht an diesem Abend! Außerdem waren ihre Jeans ohnehin bereits dreckig, ihre Hände schmierig, und es stand so viel Wasser in ihren Schuhen, dass sie sich wie ein Frosch fühlte. Vermutlich würden ihr bald Schwimmhäute zwischen den Zehen wachsen.

Bisher hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, ob in ihrem Reservereifen überhaupt genug Luft war. Das war natürlich nicht der Fall, aber mit dem Reifen, der wie ein angestochenes Schlauchboot aussah, würde sie den Wagen wenigstens von der Autobahn runterbringen können. Laut fluchend zog sie die Muttern an und hievte den kaputten Reifen in den Kofferraum. Insgesamt hatte sie mehr als eine Stunde verloren.

Als sie endlich wieder in ihrem Wagen saß, wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel versicherte ihr, dass sie wie die Verliererin eines Turniers beim Schlammcatchen aussah.

Verdammte Kuhscheiße!

Sie startete den Wagen. Sogleich drang ein Hip-Hop aus den Lautsprechern. Diesen Mist würde sie sich nicht anhören. Jetzt brauchte sie etwas Aufbauendes und entschied sich für ein Hörbuch von Nick Hornby, das sie aus dem Handschuhfach kramte und ins CD-Fach einlegte. Matthias Schweighöfers Stimme klang aus dem Lautsprecher, und für einen Moment war für sie die Welt wieder in Ordnung. Nach der Autobahnabfahrt fand sie sogar eine Tankstelle, an der sie ihren Reservereifen aufpumpen konnte.

Eine Viertelstunde später erreichte sie die Innenstadt, und nun zeigte ihr Navi an, dass sie die Hauptstraße, die durch Wiesbaden führte, verlassen musste, um auf den Geisberg hochzufahren. Dort lag ihr Ziel, dort würde sie die nächsten zwei Jahre verbringen. Außerdem würde sie Erik wiedersehen. Mit sechzehn Jahren waren sie ein Paar gewesen. Sie erinnerte sich gern an diese Zeit, aber nach dem Abitur war Erik zur Bundeswehr gegangen und arbeitete nun nach einer mehrjährigen Schulung im Wiesbadener Bundeskriminalamt als Kriminalkommissar. Vor einem Jahr waren sie wieder zusammengekommen; eine Fernbeziehung Wiesbaden-München, die allerdings nicht funktioniert hatte und die sie deshalb vor einem Monat schweren Herzens beendet hatte. Erik wusste noch gar nicht, dass sie hier war. Sie hatte ihn zwar vorwarnen wollen, doch sie konnte ihn seit einer Woche nicht erreichen; weder am Handy noch übers Internet. Vielleicht hatte er eine neue Nummer oder hatte zu einem überraschenden Auslandseinsatz aufbrechen müssen. Jedenfalls hoffte sie, dass sie ihrer Beziehung in Wiesbaden eine neue Chance geben konnten … falls er das überhaupt wollte.

Als Sabine an der höchsten Stelle des Geisbergs das Gelände des Bundeskriminalamts erreichte, schaltete sie Matthias Schweighöfer aus. Im trüben Regen waren der hohe Zaun, die Stahltore, Schranken und Überwachungskameras zu sehen, die das Areal umgaben. Die Thaerstraße, eine schmale Sackgasse, führte in das Gelände und endete in einem Wendehammer mit einigen Besucherparkplätzen. Von hier aus verzweigte sich das mehrstöckige Gebäude mit seinen Glaskorridoren in weitere Bürotrakte. Der ganze Komplex glich einer modernen Festung.

Sabine parkte den Wagen, riss sich die Warnweste vom Körper und stieg aus. Sie lief durch den Regen die Treppe zum Haupteingang hoch, passierte den Wachmann und ging durch die Drehtür. Neonlicht empfing sie. Um zehn Uhr nachts wirkte der Empfangsbereich fast wie ausgestorben. Links lagen die Pförtnerloge, rechts der Ganzkörperscanner, dahinter ein Bereich, in dem Taschen untersucht wurden. Vor einem Drehkreuz standen eine bewaffnete und uniformierte Frau sowie zwei Männer vom Haussicherungsdienst. Die Funkgeräte an ihren Gürteln knackten. Auf einem Deckenmonitor lief ein Infowerbespot. »Wir tragen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit bei.« Jede Wette, dachte Sabine. An jeder Ecke hing eine Kamera, unter der ein Schild prangte. »DieserBereich wird videoüberwacht.« Der Empfang wirkte so einladend und freundlich wie die Personenkontrolle am Gate eines Flughafens, an dem soeben eine Terrorwarnung eingegangen war.

Sie wischte sich das nasse braune Haar aus dem Gesicht und beugte sich zu dem Sprechschlitz der großen Glasfront hinunter. »Sabine Nemez.« Regenwasser tropfte von ihren Haaren auf das Pult. »Ich beginne morgen an der Akademie.«

Der Pförtner, ebenfalls uniformiert und bewaffnet, rollte auf seinem Drehstuhl zum Sprechschlitz und warf einen Blick auf den Computermonitor. »Sie sind spät dran.«

»Ich weiß. Haben Sie vielleicht ein Handtuch für mich?«

Erst jetzt sah er sie an. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte schwarzes Haar, einen Seehundbart und südländische Gesichtszüge. Das Namensschild an seinem Hemd wies ihn als I. Falcone aus. Ignazio oder Innocenzo?

»In Ihrer Unterkunft finden Sie alles Nötige. Zunächst brauche ich Ihren Personalausweis und die Zutrittsgenehmigung.«

Wahrscheinlich Ignorant!

Die Beamten vom Haussicherungsdienst beobachteten sie und rührten sich nicht vom Fleck. Sabine bemerkte die Anspannung auf ihren Gesichtern. Sie kramte Ausweis und Genehmigung aus der Jackentasche und schob alles durch den Schlitz. Schon mehrfach hatte sie ihre Bewerbung an das BKA geschickt und war immer abgelehnt worden, doch jetzt, mit achtundzwanzig Jahren, genauer gesagt vor zwei Tagen am Freitagmorgen, hatte sie aus heiterem Himmel erfahren, dass sie für das morgen beginnende Semester als Kriminalkommissaranwärterin an der Akademie für hochbegabten Nachwuchs studieren durfte.

Natürlich war das merkwürdig. Schon allein deswegen, weil sich jedes Jahr mehrere Tausend junge Menschen für einen Platz an der Akademie bewarben, aber nur fünfzig zugelassen wurden. Und nun durfte sie plötzlich hier studieren, nachdem man sie jahrelang für einen Posten beim BKA abgelehnt hatte – und noch dazu, ohne eine einzige Aufnahmeprüfung abgelegt zu haben. Steckte Erik dahinter?

Der Pförtner prüfte akribisch ihre Unterlagen. Nicht ohne ihr sein spitz vorspringendes Kinn entgegenzustrecken. »Die Ausgabestelle hat um diese Zeit schon geschlossen, darum bekommen Sie Unterlagen und Ausrüstung hier.«

Falcone schob mit einer knappen Erklärung ihre neue Dienstmarke und einen in Folie verschweißten Dienstausweis mit integriertem fälschungssicherem Chip durch den Schlitz. Zusätzlich reichte er ihr ein Namensschild zum Anklippen.

»Das ist Ihre Legitimation. Seit einer Woche gilt ein erhöhter Sicherheitsstandard im Gebäude. Also lassen Sie den Ausweis immer gut sichtbar vor Ihrer Brust baumeln, dann gibt es keine Probleme«, nuschelte er mit gelangweilter Stimme, als hätte er den Satz an diesem Tag bereits fünfzig Mal runtergeleiert.

Nun löste sich die Dame vom Haussicherungsdienst aus ihrer Starre und holte aus einem Bereich hinter dem Pult, den Sabine nicht einsehen konnte, mehrere Gegenstände hervor, die sie auf den Tresen legte.

»Ich dachte schon, die Sachen bleiben übrig«, erklärte die Frau.

Sabine erkannte die Sig Sauer 229 im Sicherungsholster mit Schnapper und Drücker. Bei der Münchner Kripo war sie mit einer Heckler & Koch ausgerüstet gewesen, aber das Umlernen auf die Sig würde ihr nicht schwer fallen.

Die Frau packte ein Magazin dazu.

»Scharfe Munition?«, fragte Sabine.

Die Frau lächelte ihren Kollegen zu. »Noch nicht mal eine Minute hier und will schon scharfe Munition. Das ist ein Übungsmagazin für das Training, Frau Kommissarin.« Dann packte sie ein weiteres Magazin auf das Pult. »Das hier ist die Action-Munition.«

Auch die kannte Sabine. Die alten Projektile hatten noch den Körper durchschlagen, aber diese hier stoppten sofort nach dem Aufprall und detonierten im Leib.

Die Frau holte eine dunkelblaue BKA-Jacke mit Klettverschluss hervor, eine Sporttasche, Handschellen, Pfefferspray und einen Teleskopschlagstock. Sabine musste den Empfang quittieren. In der Zwischenzeit hatte Ignorant Falcone durch ein Glasfenster einen Lehrplan und jede Menge Handbücher und Wegweiser auf den Tresen geschoben, mit denen Sabine sich in dem Gebäudemoloch des BKA zurechtfinden sollte.

Er schlug mit der flachen Hand auf den Stapel und blickte sie aufmunternd an. »Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich bloß nicht an mich … Steht alles hier drin.«

Zuletzt legte er eine Mappe obenauf und verzog den Mund. »Ah, Studienzweig Fallanalyse. Maarten Sneijder wird Sie also unter seine Fittiche nehmen.«

»Maarten S. Sneijder«, korrigierte ihn die Frau vom Haussicherungsdienst. »Gratuliere!« Doch es klang keineswegs nach echter Begeisterung.

Sabine schlug die Mappe auf und stieß sogleich auf eine Namensliste. »Nur fünf Studenten haben sich für dieses Modul qualifiziert?«

»Sind nie mehr«, sagte der Pförtner. »Der Rest ist auf die anderen Studienzweige verteilt. Sie werden Ihre Kollegen früh genug kennen lernen; teilweise überschneiden sich die Module. Hier ist die Verschwiegenheitserklärung.« Er schob ihr ein Blatt Papier rüber. »Unterzeichnen und morgen in den ersten Kurs mitnehmen.«

Dann schob er einen ID-Scanner auf den Tresen. »Beide Hände, jeweils Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Wir nehmen sechs Vergleichsfingerabdrücke von allen Mitarbeitern, damit …«

»Ja, ich weiß«, unterbrach Sabine ihn und presste den ersten Finger auf den Scanner …damit an einem Tatort die Fingerabdrücke der eigenen Leute ausgesiebt werden können.

Nach dem Vorgang ließ Falcone den Scanner wieder hinter seinem Empfangsschalter verschwinden. »Fein, Sie sind registriert. Willkommen an der Akademie. Der Campus ist gegenüber dem Hauptgebäude.« Er deutete zum Ausgang.

So einfach war das also!

Zuletzt reichte ihr der Pförtner eine Magnetkarte für ihr Zimmer mit der Nummer fünfzig. Wer zuletzt kam, erhielt wohl das letzte Quartier. Hoffentlich war es keine Wanzenbude. Als Studentin würde sie zwar nur noch ein Monatsgehalt von neunhundert Euro erhalten, dafür war die Unterkunft kostenlos. Sabine hatte ihre Münchner Mietwohnung zum Ende des Monats gekündigt – aber da es so überraschend gekommen war, befand sich der Brief noch auf dem Postweg. Um die Wohnung tat es ihr nicht einmal leid. Viel mehr schmerzte sie, dass sie ihren Vater und ihre Schwester für längere Zeit nicht mehr sehen würde und vor allem auch ihre drei Nichten, die mit fünf, sechs und acht Jahren wie drei Orgelpfeifen aussahen und immer so stolz auf ihre Tante Bine waren. Aber dafür würde sie immerhin Gelegenheit haben, Erik öfter zu sehen.

»Ich habe noch eine Frage«, sagte Sabine, während sie Waffen und Unterlagen in die Sporttasche packte.

Der Pförtner nickte zu den Manuskripten. »Steht alles dort drin.«

»Mag sein«, antwortete sie. »Wissen Sie, ob Kriminalkommissar Erik Dorfer gerade im Ausland ist oder auf Urlaub?«

Falcone betrachtete sie mit einem Blick, als wollte er sagen, Signorina, sehe ich so aus, als kenne ich die Dienstpläne aller zweitausend Kollegen in diesem Haus?

Doch offensichtlich bemerkte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass es ihr wichtig war – oder sie tat ihm einfach nur leid in ihren pitschnassen Kleidern und mit den ölverschmierten Händen.

Kommentarlos tippte er in die Tastatur und warf einen Blick auf den Monitor.

»Mhhh.« Er verzog den Mund. »Ist im Krankenstand. Liegt im St. Josefs-Hospital.«

»Hier in Wiesbaden?«

Er sah hoch. »Ja, tut mir leid. Mehr weiß ich nicht. Und hinbringen kann ich Sie auch nicht.« Es klang ätzend.

Sabine ignorierte seinen Ton. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die drei Sicherheitsbeamten miteinander redeten. Schließlich löste sich die Frau aus der Gruppe und kam auf Sabine zu.

»Kennen Sie Dorfer gut?«

»Ja, er ist … ein Freund, wir sind gemeinsam zur Schule gegangen.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Sabine dachte kurz nach. »Vor knapp einem Monat, als er in München war. Warum?«

»Wir haben erst heute Mittag über ihn gesprochen. Ich finde, Sie sollten wissen, dass er auf der Intensivstation liegt.«

Sabine war wie vor den Kopf gestoßen. Skeptisch starrte sie die Frau an.

»Tut mir leid.« Die Beamtin senkte die Stimme, und der jetzt weiche, sympathische Ton passte gar nicht zu ihr. »Er wurde in den Kopf geschossen und liegt im künstlichen Tiefschlaf.«

»Was? Ich …« Erik ist angeschossen worden? Dutzende Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. »Ist es im Dienst …?«

Die Frau nickte. »Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«

Wie benommen verstaute Sabine die Sporttasche im Kofferraum. Sie bekam nicht einmal mit, dass sie erneut vom Regen durchnässt wurde. Wie paralysiert verließ sie den Besucherparkplatz, fuhr aus der Sackgasse und rollte mit dem Wagen langsam auf der gegenüberliegenden Seite des Hauptgebäudes auf das Campusgelände.

Sie presste ihren Ausweis mit dem Chip auf den Scanner, worauf sich die automatische Schranke öffnete und sie auf das Areal der Akademie ließ. Das zweistöckige, U-förmige Gebäude tauchte im Licht der Scheinwerfer aus der trüben Regensuppe auf. Der moderne Bau aus Stahl und Beton verfügte über viele große Glasfronten. Jede Menge Wegweiser und Hinweisschilder lotsten Sabine durch das Areal. Links lagen ein Fitness-Center und eine Schwimmhalle mit tiefem Pool, in dem das dunkelblaue Wasser in der Notbeleuchtung funkelte. In der Mitte befanden sich die Hörsäle und rechts die Unterkünfte der Studenten. Hier gab es garantiert keine Wanzenbude. Unter dem Dachvorsprung hingen etliche Überwachungskameras. Auf dem Platz vor dem Gebäude umrahmten Heckenreihen einen Parkplatz und einen Helikopterlandeplatz.

Die Freude, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, einen Studienplatz an der Akademie ergattert zu haben und zwei Jahre Ausbildung und hartes Training absolvieren zu dürfen, war wie weggewischt.

Erik!

Die Kollegin vom Sicherungsdienst hatte auf ihre Frage nicht geantwortet Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, sondern Mehr darf ich Ihnen nicht sagen. In was zum Teufel war Erik da hineingeraten?

Nachdem sie einen Parkplatz gefunden hatte, zog sie ihren Trolley durch den Regen in die Akademie und folgte den Wegweisern zu den Unterkünften. Durch die Bewegungsmelder ging das Licht in den Korridoren automatisch an. Jede ihrer Bewegungen wurde von Kameras verfolgt.

Ihr Zimmer lag am Ende eines Ganges. Sie wollte bereits mit der elektronischen Karte die Tür öffnen, als sie ein Kuvert im Rahmen bemerkte. Darin befand sich eine handschriftliche Notiz.

Kommen Sie morgen um 7.30 Uhr in den Hörsaal 1.

Maarten S. Sneijder

Das war alles, und Sabine fragte sich einmal mehr, weshalb sie ausgerechnet jetzt hierhergeholt worden war.

2

Am nächsten Morgen braute sich Sabine in ihrem Zimmer eine Tasse starken Kaffee und ging anschließend durch die noch menschenleere Akademie zum Hörsaal 1. Eine Minute nach halb acht klopfte sie an die Tür und trat ein.

Die Morgensonne leuchtete durch die breiten Glasfenster. Das Gewitter von gestern Nacht hatte sich verzogen.

Der Raum sah aus wie ein typischer Universitätshörsaal, bloß kleiner. In der Mitte stand das Pult des Vortragenden mit jeder Menge versenkbarem High-Tech-Kram. Dahinter hing eine große Leinwand für den Videobeamer. An der Decke klebten drei Videoüberwachungskameras, sodass es keinen toten Winkel im Saal gab. Die drei Reihen für die Studenten mit modernen Laptop-Arbeitsplätzen und Anschlüssen für Strom und Intranet waren einem Amphitheater nachempfunden und aufsteigend im Halbkreis angeordnet.

Maarten Sneijder saß bereits hinter seinem Pult, den Kopf gesenkt, und war in einen Stapel Unterlagen vertieft.

»Sie sind spät dran, Eichkätzchen«, murrte er, ohne aufzusehen.

»Tut mir leid.« Sabine kannte Sneijder gut genug, um zu wissen, dass er keinen Scherz machte. Sie sah sich um. Zum Glück waren Sneijder und sie die Einzigen im Hörsaal. Sie hatte es schon vor einem Jahr gehasst, wenn er sie Eichkätzchen genannt hatte. Er wusste ganz genau, dass ihr Vater sie wegen ihrer vollen braunen Haare und der großen mandelbraunen Augen stets so nannte – was sie Sneijder verboten, er jedoch geflissentlich ignoriert hatte.

Sneijder schob die Mappe beiseite und legte seine großen tellerförmigen Hände auf das Pult. »Willkommen in Wiesbaden. Ich hoffe, dass Sie Ihre Entscheidung hierherzukommen, nicht bereuen werden.« Seine Stimme hatte einen unüberhörbaren niederländischen Akzent mit einem schlaksig gedehnten L.

»Warum sollte ich das?« Sabine wusste, dass Sneijder ihren Traum kannte, für das Bundeskriminalamt arbeiten zu dürfen.

Er fixierte sie mit einem kalten Blick. »Sie werden hier zu einem gut ausgebildeten Spürhund abgerichtet, der auf Kommando fasst. Freunden Sie sich mit dem Gedanken an.«

Seit ihrer letzten Begegnung vor mehr als einem Jahr, als Sneijder sie zu einem Fall hinzugezogen hatte, hatte sich an seinem Äußeren nicht viel geändert. Er war etwas über einen Meter achtzig groß, und seine hagere Gestalt steckte in einem schwarzen Designeranzug. Sabine wusste, dass er siebenundvierzig Jahre alt war, aber er hatte schon damals älter ausgesehen. Sein Job hatte ihn gezeichnet. Die dünn rasierten Koteletten begannen beim Ohr und verliefen in einer schmalen Linie bis zum Kinn. Der Kontrast zu der Glatze und dem bleichen Gesicht, das seit Jahren keine Sonne mehr gesehen haben konnte, wirkte wie aus einem Schwarzweißfilm.

Sneijder war der beste Profiler des BKA, und Sabine fragte sich, warum ausgerechnet ein zynischer Misanthrop wie Sneijder, der an keinem Menschen ein gutes Haar lassen konnte, sich das antat, den Nachwuchs zu unterrichten.

»Soll mich der Gedanke frustrieren, bloß ein Spürhund zu sein?«, fragte sie ihn.

»Kommt auf Sie an. Wussten Sie, dass Tiere im Zirkus im Durchschnitt länger leben als Tiere im Zoo?« Er lehnte sich zurück. »Sie werden trainiert, und ihnen werden gewisse Aufgaben gestellt. Sie erfüllen einen bestimmten Zweck. Eine sinnvolle Beschäftigung verlängert das Leben.«

»Unterrichten Sie deshalb an der Akademie?«

Sneijder blieb unbeeindruckt. »Der Sinn des Lebens ist es doch, dem Leben Sinn zu geben, nicht wahr? Nicht die Jahre, sondern Untätigkeit und Desinteresse machen uns alt.« Er klopfte auf den Stapel mit den Mappen. »Das sind die Personalakten. Die Studenten zu formen wird ein hartes Stück Arbeit.«

Sabine hatte keinen Bock auf diesen philosophischen Mist – und schon gar nicht um diese Uhrzeit. »Warum haben Sie mich hergebeten?«

»Sie waren bestimmt neugierig, mich wiederzusehen.«

Ihre Kiefer mahlten. Sneijder hatte sich kein bisschen verändert. »Eigentlich …«

»Schön, dass ich Ihre Neugierde nun befriedigen konnte.«

»Boah …« Sie stieß die Luft geräuschvoll aus.

»Warum so gereizt?«

»Ich vergeude hier meine Zeit. Die Einführungsvorlesung beginnt um neun Uhr, und ich möchte vorher noch Erik im Krankenhaus besuchen.«

»Mein Gott, wie naiv.« Er lächelte kaltblütig. »Zwei Kollegen sind zu seinem Schutz im Krankenhaus abgestellt worden. Ohne Passierschein kommen Sie nicht einmal in die Nähe der Station.«

Sabine hatte Sneijder zwar nicht gerade sympathisch, aber immerhin etwas netter in Erinnerung gehabt. Wenigstens hätte er sein Mitgefühl ausdrücken können, statt sie zu demütigen.

»Sie waren mit Erik Dorfer zusammen, nicht wahr?«

Waren? Anscheinend wusste er von der Trennung. »Ich wollte mich mit ihm versöhnen«, erklärte sie.

»Es geht ihm nicht besonders, aber das wissen Sie bestimmt schon.«

Ein eisernes Korsett schnürte sich um ihr Herz. »Wissen Sie, warum er angeschossen wurde?«

Ohne zu antworten, griff er in die Schublade und holte einen rosa Zettel hervor, den er ausfüllte und unterschrieb. Er reichte ihr das Blatt. »Mit dieser Besuchserlaubnis kommen Sie durch die Polizeiwache zu Eriks Zimmer.«

»Danke.« Sie nahm das Blatt und ging zur Tür. Auf halbem Weg drehte sie sich um. »Können Sie mir nun sagen …?«

Er deutete zur Tür. »Meist ist der Ausgang dort, wo der Eingang war.« Im nächsten Moment war er schon wieder in die Dossiers vertieft.

3

Das St. Josefs-Hospital lag nur wenige Autominuten vom Geisberg entfernt. Sabine betrat die Intensivstation und zeigte ihre Besuchserlaubnis her. Ein Krankenpfleger führte sie zu Eriks Zimmer, vor dem zwei Beamte standen. Einer von ihnen mit Bürstenhaarschnitt und kantigem Gesicht glich einem Schrank. Schwer zu sagen, ob er eine Waffe unter dem Sakko trug.

»Ihr Name?«, fragte er ohne jede Regung im Gesicht.

Sie zeigte ihm ihren BKA-Ausweis. »Ich bin … Eriks Freundin«, log sie, weil sie auf diesem Weg an mehr Informationen zu kommen hoffte. Dann reichte sie ihm die Besuchserlaubnis.

Der Beamte hob seine buschigen Augenbrauen. »Von Sneijder höchstpersönlich unterzeichnet.« Er warf seinem Kollegen einen Blick zu.

Offensichtlich war er beeindruckt.

»Wissen Sie, warum Erik angeschossen wurde?«

»Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskünfte darüber zu erteilen.«

So beeindruckt war er wohl auch wieder nicht. Er öffnete ihr die Tür, und sie betrat das Zimmer.

Die Jalousie war heruntergezogen, sodass fächerförmiges Sonnenlicht in den Raum fiel. Das Piepen einer Maschine war das einzige Geräusch. Erik lag im künstlichen Tiefschlaf, angeschlossen an zahllose Geräte und mit einer Beatmungsmaske auf dem Gesicht. Sie setzte sich an sein Bett und betrachtete ihn. Unter einer Seite der Bandage ragte sein blondes Haar hervor. Auf der anderen Seite war er bestimmt kahl rasiert. Der Schatten eines Dreitagebartes lag auf seinem kantigen Kinn.

Sabine berührte seine Wange. Die raue Haut war kühl. Jeden Moment rechnete sie damit, dass er die Augen aufschlagen würde, doch sie blieben geschlossen. Nur die langen dunklen Wimpern zuckten unruhig. Er sah so verletzlich aus – keine Spur mehr von dem kräftigen Kerl, den sie noch vor einigen Wochen gesehen hatte. Aber das Schlimmste in dieser Situation war, dass sie ihm nicht helfen und ihn aus seinem Dämmerschlaf reißen konnte.

»Warum ist unsere Beziehung nur gescheitert?«, flüsterte sie. Alles kam ihr plötzlich so surreal vor. Elf Monate waren sie abwechselnd zwischen Wiesbaden und München gependelt oder hatten sich einfach für einen Tag in der Mitte getroffen, um öfter beisammen sein zu können – und dann mussten sie schon wieder an den Abschied denken. Sabine war sogar knapp davor gewesen, ihren Job beim Münchner Kriminaldauerdienst zu kündigen und sich nach Wiesbaden versetzen zu lassen. Als Ermittler im Dauerdienst war sie stets als Erste am Tatort, fand heraus, ob überhaupt ein Verbrechen vorlag, sicherte die Stelle, nahm Fingerabdrücke, befragte Zeugen und bereitete die Fakten für die Kollegen der Mordgruppe vor – ein Job, den sie ohnehin nicht ihr Leben lang hätte machen wollen.

Doch da hatten die Spannungen bereits begonnen gehabt. Konnte man überhaupt davon reden, dass sie sich auseinandergelebt hatten? Sie waren nicht einmal richtig zusammengewachsen.

Behutsam hielt sie seine Hand, in deren Rücken eine Infusionsnadel steckte. »Ich hätte nur einen Monat länger warten müssen.«

Sabine wusste, dass Erik mehr unter der Trennung gelitten hatte als sie. Immer schon hatte sie ein Ende mit Schmerzen gegenüber Schmerzen ohne Ende vorgezogen – was nicht bedeutete, dass sie den Kummer problemlos runterschlucken konnte. Sie hatte es einfach nicht mehr länger ausgehalten. Sie brauchte eine Perspektive. Die hatte sie nun. Ihr Jobangebot beim BKA hatte alles geändert. Aber hätte es nicht einen Monat früher kommen können?

»Du dummer Kerl hast dich bestimmt noch mehr als vorher in die Arbeit gestürzt. War das deine Art, mit dem Ende unserer Beziehung fertigzuwerden?« Sie wischte sich eine Träne von der Wange und merkte, wie eiskalt ihre Finger waren.

Falls diese Vermutung stimmte, war es teilweise ihre Schuld, dass er nun so dalag und künstlich beatmet werden musste. Solange er nicht aufwachte und sie vom Gegenteil überzeugte, würde sie den Grund seiner Misere in ihrer Entscheidung sehen.

Trotz der Bandagen sah er immer noch so spitzbübisch aus wie früher. Ihr bayerisches »Jo mei« hatte ihn schon während der Schulzeit zum Schmunzeln gebracht und würde es bestimmt auch noch heute tun. Sie blickte zu den Geräten, die in gleichmäßigem Rhythmus Eriks Blutdruck, Herzfrequenz und Körpertemperatur anzeigten. Eine Magensonde ernährte ihn künstlich.

»Jo mei«, sagte sie, packte seine Hand und brach fürchterlich in Tränen aus.

Eine halbe Stunde später verließ sie Eriks Zimmer. In zwanzig Minuten begann der Einführungsvortrag an der Akademie – und Sneijder duldete keine Verspätung.

Als sie den Gang entlanglief, öffneten sich vor ihr die Fahrstuhltüren mit einem Klingeln. Ein Arzt im weißen Kittel trat heraus und kam ihr entgegen. Er war hager und hatte ein schmales Gesicht. Wie gebannt starrte sie in seine Augen. Sie waren blutunterlaufen und traten wie bei der basedowschen Krankheit leicht hervor. Außerdem hatte er schwere blaue Tränensäcke. Der Mann schlief eindeutig zu wenig. Hoffentlich ist das nicht Eriks behandelnder Arzt.

Sabine stieg in den Lift und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Bevor sich die Türen schlossen, sah sie, wie der Arzt den beiden Beamten zunickte und in Eriks Zimmer verschwand.

4

Maarten Sneijder betrat auf die Sekunde pünktlich um 9.00 Uhr den Hörsaal. Sabine wusste, der Mann dachte nicht nur so präzise wie ein Uhrwerk, er handelte auch dementsprechend. Ohne einen Blick in sein Auditorium zu werfen, stakste er auf langen Beinen zum Pult.

Außer Sabine waren nur vier weitere Studenten in dem Kurs. Sie saß in der zweiten Reihe, neben ihr war ein Platz frei, daneben wiederum lümmelte eine junge Frau, die ziemlich abgebrüht aussah und an einem Kugelschreiber kaute. In der ersten Reihe saßen die restlichen drei: eine Frau und zwei Männer, etwa so alt wie sie, Ende zwanzig. Sie hatten einen kritischen Blick und mindestens vier bis fünf Jahre Berufserfahrung, schätzte Sabine. Sie beobachtete das Verhalten ihrer Kollegen. Niemand witzelte, jeder schien die Sache ernst zu nehmen.

Sneijder stemmte sich mit seinen langen Armen auf das Pult, beugte sich nach vorn und musterte die Anwesenden. »Um eines für alle Mal klarzustellen: Ich pfeife auf gendermäßig korrekte Begriffe wie Studentinnen und Studenten. Für mich sind Sie alle Studenten. Falls Ihnen das nicht gefällt, können Sie sich gern bei BKA-Präsident Hess beschweren. Aber ich warne Sie! Die Beschwerdeliste zu meiner Person ist lang.« Er verharrte in dieser Position.

Sabine blickte durch die breite Fensterfront auf den Helikopterlandeplatz. Die Hecken bogen sich im Wind.

»Ein zweiter Punkt vorweg, und der gilt auch für Sie, Frau Nemez: An der Akademie gibt es mehrere Fachrichtungen. Sie haben sich für die Operative Fallanalyse entschieden. Wir sind keine Profiler, sondern polizeiliche Fallanalytiker, Entführungsspezialisten und forensische Kripopsychologen. Wir sollen nicht nur analytisch denken, sondern müssen den Dingen auch auf den Grund gehen.« Sein Blick streifte über ihre Köpfe, und im nächsten Moment veränderte sich sein Ausdruck zu dem Leichenhallenlächeln, das er so gut beherrschte. »Ich habe Ihre Akten studiert. Angeblich sind Sie alle überdurchschnittlich intelligent, aber in meinen Augen trotzdem Rohmaterial.« Er sah sie an und seufzte. »Es ist nicht gerade so, dass ich mich glücklich schätzen darf, Sie in meinem Lehrgang zu haben, aber wir werden versuchen, das Beste daraus zu machen.«

Sneijder presste für einen Moment die Augen zusammen und massierte seine Schläfen. Er sah elend aus. Für ihn war die Mörderjagd wie Medizin gegen seine schrecklichen Cluster-Kopfschmerzen, die Migräne hoch zwei bedeuteten und die er mit Drogen zu unterdrücken versuchte. An diesem Morgen war er nicht besonders gut drauf, vermutlich hatte er schon länger keinen Verbrecher mehr zur Strecke gebracht.

»Das Studium bei mir ist mehr als intensiv«, sprach er mit gesenktem Kopf weiter. »Sie müssen sich nicht nur durchbeißen so wie Ihre Studienkollegen in den anderen Fachrichtungen, sondern Sie werden richtiggehend leiden, das verspreche ich Ihnen.«

»Fängt ja schon gut an«, murmelte Sabines Sitznachbarin.

»Haben Sie etwas zu sagen, Martinelli?«

»Nein«, antwortete Sabines Nachbarin.

»Gut.« Sneijder hatte nicht einmal den Blick gehoben.

Sabine warf ihrer Kollegin einen kurzen Blick zu. Sie trug ihr schwarzes Haar zu einem langen Zopf geflochten, hatte eine schlanke, drahtige Figur, ein Nasenpiercing, rasierte Brauen und stattdessen eine tätowierte geschwungene Linie über den Augen. Am Ansatz ihres Halses sah Sabine ebenfalls eine Tätowierung, die wie der Stachel eines Skorpions aussah. Ein hartes Mädchen, war Sabines erster Gedanke. Tina Martinelli stand auf ihrem Namensschild. Von der Teilnehmerliste wusste Sabine, dass sie dreiundzwanzig Jahre alt war und Jura studiert hatte.

»Hi, ich bin Tina«, flüsterte sie noch leiser als vorher. Sie hatte eine rauchige Stimme und einen italienischen Akzent.

»Hi, ich heiße Sabine.«

»Zum Glück bringen die meisten von Ihnen etwas Erfahrung mit«, fuhr Sneijder fort. »Sie kommen von den Landeskriminalämtern, direkt von einer juristischen Universität oder vom Kriminaldauerdienst.« Sneijder warf Sabine einen kurzen Blick zu. Offensichtlich war sie die Einzige, die es vom KDD zur Akademie geschafft hatte.

»Unter Ihnen ist nur eine Person, die vermutlich noch nie eine Leiche gesehen und eine Waffe abgefeuert hat. Für Sie gebe ich eine kurze Sondereinführung.« Er warf Sabines Nachbarin einen Blick zu. »Beim BKA arbeiten sechzehn Fallanalytiker. Das Studium an der Akademie dauert vier Semester, und nur die Besten halten es durch. Ich bin Ihr Ausbilder, und mein Name ist …«

»Maarten Sneijder«, murmelte Tina.

»Maarten S. Sneijder«, korrigierte er sie, »und meine Kollegen und ich werden Ihnen den Allerwertesten aufreißen! Ende der Einführung. Ab jetzt werden Sie genauso behandelt wie alle anderen.«

Tina Martinelli trug es mit Fassung.

Sneijder löste sich aus seiner Haltung und ging hinter dem Pult auf und ab. »Laut Handbuch müssen Sie sportliche Höchstleistungen erbringen, Waffen beherrschen und in allen Situationen schnell und angemessen reagieren können. Wenn ich in Ihre Gesichter sehe, komme ich zu der Gewissheit, dass das auf keinen von Ihnen zutrifft. Außerdem müssen Sie laut Handbuch ein exzellentes Benehmen vorweisen können. Aber bei allem fehlenden Respekt, darauf pfeife ich!«

Die beiden Männer in der ersten Reihe schmunzelten.

Sneijders Stimme wurde lauter. »Wir sind hier nicht auf dem Wiener Opernball, sondern wir ermitteln in extremen Mordfällen. Wenn man den ganzen Tag damit verbringt, tote und verstümmelte Menschen zu betrachten, kann man das mit niemandem teilen. Man kann am Abend nicht heimkommen und seinem Partner erzählen, heute hatte ich einen interessanten Sexualmord an einer Fünfjährigen. Reichst du mir mal die Sahne, Liebling? Sie brauchen eine Strategie, wie Sie damit umgehen können. Mein Rat: Legen Sie sich diese Strategie zu. Ohne die überleben Sie hier keine zwei Jahre.«

Sneijder verließ sein Pult und ging an der ersten Reihe vorbei. Bei der Frau, die auf ihren Block kritzelte, blieb er für einen Augenblick stehen, riss das Blatt ab und knüllte es kommentarlos zusammen. »Ich verrate Ihnen, was wir hier an der Akademie tun: Mein Kollege Konrad Wessely bringt seinen Studenten bei, die Dinge richtig zu tun. Aber Sie müssen auch lernen, die richtigen Dinge zu tun und abseits der Norm zu denken. Und genau das ist es, was ich Ihnen beibringen werde.« Sneijder warf den Papierball in den Mülleimer.

»Heißt das, wir dürfen nicht mitschreiben?«, fragte die Frau in der ersten Reihe.

»Wenn Sie sich nicht einmal merken können, was ich Ihnen in der ersten Stunde erzähle, wie wollen Sie sich dann in die komplexen Denkstrukturen eines Serientäters hineinversetzen?«

Nach einer kurzen Pause redete er weiter: »Ich möchte nicht, dass Sie meine Zeit verschwenden, daher sage ich alles nur ein einziges Mal, und Sie sollten sich alles gut einprägen.«

Sneijder trat wieder an sein Pult. »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

Es war eine rhetorische Frage, niemand antwortete.

»Jährlich werden fünfzig Personen aufgenommen und in zehn Studienzweige eingeteilt. Die Bewerber wurden sorgfältig ausgesucht. Und dennoch liegt die Durchfallquote bei siebzig Prozent.«

Ein Murren ging durch den Saal. Weshalb erzählte Sneijder ihnen das? Sabine wurde mulmig zumute. Sie war nicht durch dieses Ausleseverfahren gegangen. Schon seit letztem Freitag vermutete sie, dass sie einem anderen Studenten, der sich für diesen Lehrgang qualifiziert hatte, den Platz weggenommen hatte.

»An dieser Akademie werden kreative Köpfe geschaffen, Fälle kritisch hinterfragt und neue Lösungen entwickelt.« Sneijder breitete die Arme aus. »Glauben Sie mir, nach einigen Monaten sitzen hier nur noch zwei oder drei vor mir. Warum? Weil später Menschenleben von Ihnen abhängig sein werden. Und ich habe meine ganz besonderen Methoden, nur die wirklich brauchbaren Kandidaten für diesen Job herauszupicken.«

Sabine zweifelte keine Sekunde daran. Sie war mit Sneijders Methoden in Berührung gekommen. Einerseits war er ein Genie, andererseits ein menschenverachtendes Arschloch. Zwei positive Eigenschaften in sich zu vereinen – Genialität und Menschlichkeit – war wohl ein Ding der Unmöglichkeit, sogar für eine Koryphäe wie Sneijder. Die meisten der Studenten hatten noch keine Ahnung, wie er mit Menschen umging. Sie leider schon.

Sneijder blickte in die Runde. »Gibt es Fragen?« Niemand meldete sich. »Also gut …«

Da hob Tina die Hand. »Darf ich doch etwas fragen?«

»Das haben Sie bereits.«

Tina fixierte ihn mit emotionslosem Blick.

»Spucken Sie es schon aus, Kollegin Martinelli, aber machen Sie es kurz.«

»Warum unterrichten Sie an der Akademie, wenn Sie ohnehin glauben, dass wir alle Idioten sind?«

Die Kollegen in der ersten Reihe nickten zustimmend.

»Da denkt man immer, man hat allmählich genug naseweise Menschen kennen gelernt«, murmelte Sneijder zu sich selbst, »und doch finden immer wieder neue Klugscheißer den Weg zur Akademie.«

Was für ein Kompliment! Sabine bemerkte die entrüsteten Gesichter ihrer Kollegen. Willkommen in Sneijders Welt!

»Eine berechtigte Frage, die ich mir oft selbst stelle, Frau Martinelli«, antwortete Sneijder schließlich. »Wer im Alter nicht lehrt, hinterlässt nach seinem Tod kein Andenken. Genügt Ihnen das als Antwort? Nun stelle ich Ihnen eine Frage: Warum sind Sie hier?«

»Damit ich in ein paar Jahren furchtbar damit angeben kann, dass ich diesen Studienzweig bei Ihnen absolviert habe.«

Es klang ironisch. Sabine musste schmunzeln.

Sneijder neigte den Kopf. »Gute Antwort.« Für einen Augenblick glaubte Sabine, ihn lächeln zu sehen. Er blickte auf seine Armbanduhr, eine Swatch in den Farben der niederländischen Flagge. »Im Moment sind wir fertig. Den Rest der Stunde nutzen Sie, um sich ein wenig in die Centipede-Morde einzulesen. Nehmen Sie Ihre ausgefüllte Verschwiegenheitserklärung mit. Wir sehen uns wieder um exakt 15.00 Uhr. Wer zu spät kommt oder keine unterzeichnete Erklärung bei sich hat, fliegt aus der Veranstaltung.« Er wandte sich um und verließ den Hörsaal.

Eine Zeit lang war es still. Einige atmeten hörbar aus. Sabine lehnte sich zurück und wartete. Die Studenten packten ihre Unterlagen zusammen, und langsam tauchten die ersten Wortmeldungen auf. Schlimmer als erwartet oder Überheblicher Kotzbrocken waren zu hören. Sabine hingegen wusste, dass das gerade nur eine recht harmlose Vorstellung gewesen war. Sneijder konnte noch ganz anders. Trotzdem waren die Reaktionen verständlich. Zum einen wirkte Sneijder nicht wirklich einladend auf andere Menschen, zum anderen saßen hier keine pubertierenden pickelgesichtigen Stubenhocker, sondern Kollegen, die zumeist schon reichlich berufliche Erfahrung gesammelt hatten. Tina war zwar die Jüngste, wirkte aber auch nicht so, als wäre sie soeben aus dem Ei geschlüpft. Und nun mussten sie sich von Sneijder erklären lassen, dass die Hälfte von ihnen Müll war, den er erst aussieben musste.

»Er ist gar nicht so übel«, sagte Tina plötzlich neben ihr.

»Abwarten.« Sabine packte ihre Mappe und verließ als Erste den Hörsaal.

Beim Fahrstuhl sah sie, wie Sneijder mit einem hochgewachsenen grauhaarigen Mann sprach.

»Übrigens hat unsere Idee, die neuen Handys früher als geplant zu verteilen, bis jetzt nichts gebracht«, sagte der Grauhaarige.

Sabine kam näher.

»Darum habe ich Hess vorgeschlagen, auch am Campus, in der Tiefgarage und im Waldparcours Kameras zu installieren.« Die Fahrstuhltür öffnete sich, Sneijder trat in die Kabine und verschwand.

Sabine wollte bereits an dem Grauhaarigen vorbei ins Treppenhaus verschwinden, als er sich umdrehte. Sie stutzte für einen Moment. Der Mann hatte ein unrasiertes, wettergegerbtes Gesicht mit tiefen Furchen und ein wachsames und messerscharfes Auge; über dem anderen trug er eine schwarze Augenklappe, wodurch er grobschlächtig wirkte. Er nutzte die Gelegenheit ihrer Verwirrung und blickte auf ihr Namensschild.

»Sie sind also Sabine Nemez …«, sagte er und reichte ihr die Hand. Seine Haut war spröde, der Druck kräftig.

»Guten Tag.« Sabine suchte nach seinem Namensschild, fand aber keines.

»Ich habe von Ihnen gehört. Gute Sache, letztes Jahr. Maarten hat ein paar Worte darüber verloren – und das tut er selten. Sie müssen ihn schwer beeindruckt haben. Allerdings sind Sie kleiner, als ich dachte.«

Wie viel wusste der Mann darüber, was Sneijder und sie getan hatten? Und sooo klein war sie nun auch wieder nicht. Einen Meter und dreiundsechzig Zentimeter.

»Ich hoffe, Sie sind den Anforderungen gewachsen.« Er klopfte ihr auf die Schulter, dann ging er den Korridor entlang.

Sabine schaute ihm nach. Der Mann hatte einen rauen Gang. Er hinkte leicht. Vielleicht eine Verletzung, vielleicht aber auch ein steifes Bein.

Da trat Tina an ihre Seite. »Na, erste Freundschaft geschlossen?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wer das war.«

»Den kennst du nicht?« Tina schmunzelte. »Was lernt ihr Typen beim Kriminaldauerdienst eigentlich? Das war der zweite Profiler, der die andere Gruppe ausbildet. Er war der Mann, der die Fallanalyse und Profilerstellung in Deutschland eingeführt hat. Sneijders ehemaliger Lehrer und Mentor. Konrad Wessely.«

5

Der Fahrstuhl brachte Melanie Dietz in den fünften Stock des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Melanie kannte die Zimmer der Universitätsklink von früheren Besuchen. Mehrmals im Jahr ging sie diesen Weg zur Psychiatrie und Psychotherapie, es war für sie eigentlich schon fast Routine geworden. Die Räume waren hell und freundlich eingerichtet mit duftenden Schnittblumen in den Vasen und bunten Wandgemälden. Passend, da die Kripo diese Zimmer für Befragungen von Missbrauchsopfern verwendete, nachdem die Erstbehandlung abgeschlossen worden war.

»Bei Fuß«, flüsterte sie.

Der sandfarbene Golden Retriever lief artig neben ihr her. Seine Krallen klackerten über den Boden. Das Tier war drei Jahre alt – Melanies Mann hatte es ihr zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt.

Einige Männer standen Kaffee trinkend im Korridor und drehten sich nach ihr um, und Melanie fragte sich, ob sie den Hund anstarrten oder sie. Doch die Blicke bestätigten ihr, dass sich die Kerle nicht für den Hund interessierten. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste war, wirkten Melanies hochgewachsene schlanke Figur und ihr langes brünettes Haar immer noch wie ein Magnet auf Männer.

Vor einer geschlossenen Tür mit der Aufschrift Therapieraum Nr. 3 unterhielten sich ein Arzt im weißen Kittel und ein Beamter vom Wiener Bundeskriminalamt, den sie bereits von einigen gemeinsamen Fällen kannte. Er hieß Hauser, stand mit verschränkten Armen da und hatte einen desillusionierten Blick, dem Melanie nichts abgewinnen konnte.

»Hunde haben im Gebäude keinen Zutritt«, sagte der Arzt. »Fell und Speichel sind nicht gerade hygienisch. Hat Ihnen das keiner erklärt?«

Sheila– Fass!

Melanies sonniges Gemüt und ihr freundliches Lächeln täuschten manchmal darüber hinweg, dass sie auch austeilen konnte; doch im Moment wollte sie sich noch zurückhalten.

»Natürlich hat man das.« Sie reichte dem Doktor ihren Ausweis.

Zunächst beäugte er die Besucherkarte am Revers ihrer Bluse, dann wanderte sein Blick über die mahagonifarbige Holzkette in ihr Dekolleté. Dazu musste er etwas den Hals recken, da er gut einen Kopf kleiner war als sie. Wie armselig, dachte Melanie. Erst danach betrachtete er ihren Ausweis.

»Staatsanwältin Melanie Dietz?«, murmelte er ungläubig und warf Hauser einen Blick zu. Dieser bestätigte die Aussage mit einem knappen Nicken.

Sie stellte immer wieder fest, dass man sich unter dieser Berufsbezeichnung einen Herrn mit Geheimratsecken im maßgeschneiderten Anzug vorstellte. Aber mit diesem antiquierten Klischee konnte sie nun mal nicht dienen.

»Werden Sie den Fall übernehmen?«, fragte Hauser.

»Kann ich noch nicht sagen. Warum ist das Bundeskriminalamt daran interessiert?«

»Möglicherweise ist es kein Einzelfall«, antwortete Hauser.

Der Arzt blickte Melanie fragend an.

»Ich bin auf Missbrauchsfälle von Kindern spezialisiert«, erklärte sie. »Ich würde gern mit dem Mädchen unter vier Augen sprechen.«

Der Arzt verzog unglücklich das Gesicht. »Da muss ich Sie enttäuschen, die Kleine spricht mit niemandem.«

»Ist sie stumm?«

»Wissen wir nicht. Zumindest sind ihre Stimmbänder intakt.«

Melanie blickte zu Hauser. »Wissen wir schon, wer das Mädchen ist?«

Der Beamte wiegte den Kopf. »Wir vermuten es, aber der Erkennungsdienst ist noch nicht fertig.«

»Schön, stellen Sie bitte zusammen, was Sie bisher haben, und bringen Sie mir die Personenakte ins Zimmer.« Melanie deutete zur Tür. »Darf ich?«

»Der Hund bleibt draußen«, mahnte der Arzt.

Jetzt fing das wieder an! »Das ist ein Therapiehund für misshandelte Kinder«, erklärte Melanie. »Diese Hunde haben einen beruhigenden Einfluss auf traumatisierte Kinder, nehmen ihnen die Angst und steigern ihr Selbstwertgefühl.«

Am liebsten hätte sie gesagt, Dieser Hund schafft in zwanzig Minuten mehr als ihr Götter in Weiß in fünf Wochen. Aber sie wollte den Arzt nicht runterputzen. Wie zur Bestätigung drehte sich die Hündin zur Seite und präsentierte stolz auf ihrem Geschirr das blaue Logo mit der Aufschrift Therapiehund.

Der Arzt warf Hauser einen skeptischen Blick zu. Dieser hob die Schultern. »Dietz hat bei ihren Gesprächen mit Kindern immer diesen Köter dabei.«

Dietz! Köter! Wie sich das anhörte! Es hieß Therapiehund und zumindest Frau Dietz. Aber davon hatte Hauser, dieser Primat, keine Ahnung. Melanie wusste, er war kinderlos, besaß einen hässlichen Gecko als Haustier und war so einfühlsam wie eine Abrissbirne. Außerdem war er als Junge von einem Dackel gebissen worden und hatte seither eine Hundephobie. Eigentlich hätte er in das Therapiezimmer gehört – als Patient. Oder Kleiderständer.

Endlich trat der Arzt beiseite. »Mit oder ohne Hund … Das Mädchen wird nicht reden.«

»Lassen Sie es mich versuchen.« Melanie öffnete die Tür, trat aber nicht ein, sondern gab dem Hund mehr Leine und ließ ihn ins Zimmer schnuppern.

Der Geruch, der Raum, die Stimmung, das Mädchen … mit solchen Situationen war Sheila vertraut. Das Tier wusste in dieser Sekunde, dass es hier gebraucht wurde, dass es jemanden gab, um den es sich kümmern musste – und es begann das zu tun, was es am besten konnte: Seine Arbeit!

Melanie trat ein, ließ den Hund von der Leine und schloss die Tür hinter sich.

Während sich der Golden Retriever langsam dem Mädchen näherte und seine Schnauze am Bein des Kindes rieb, blieb Melanie stehen und blickte zunächst aus dem Fenster. Es war ein wunderschöner Tag, und die Mittagssonne brachte die gelb- und orangefarbenen Wände zum Leuchten.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie, doch das Mädchen antwortete nicht. Es blickte starr in Richtung des Diktafons auf dem Tisch und reagierte nicht einmal, als der Hund sich neben es auf den Boden legte.

Melanie stieg über die kuschelige Decke mit den Teddybären und setzte sich gegenüber dem Mädchen an den Tisch. Sie schaltete das Aufnahmegerät aus und ließ es in der Schublade verschwinden. »Mein Name ist Melanie, und diese Hündin ist ein Golden Retriever. Sie ist drei Jahre alt und heißt Sheila.«

Melanie bemerkte, wie die Augen des Mädchens zu Boden schielten.

»Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war sie sooo klein.« Sie formte mit ihren Händen eine kleine Höhle. »Ich habe mich sofort in sie verliebt und habe sie Sheila genannt, weil es auch ein Katzenfutter gibt, das so heißt und das sie unglaublich gerne frisst.«

Normalerweise fanden Kinder diese Geschichte lustig, doch das Mädchen reagierte nicht.

»Katzenfutter ist zwar nicht besonders geeignet für Hunde«, erklärte Melanie, »aber manchmal darf Sheila ein Schälchen fressen.«

Auf dem Tisch stand ein unberührtes Tablett mit Mittagessen.

»Darf ich?« Melanie nahm ein Stück Schinken vom Teller. »Sheila?«

Die Hündin spitzte die Ohren. Melanie warf ihr das Stück hin, das sie im Flug schnappte.

»Wenn du willst, darfst du Sheila streicheln … oder sogar füttern, falls du dich traust und dir das Essen hier nicht schmeckt.«

Die Kleine hob den Kopf, und jetzt sah Melanie zum ersten Mal ihr Gesicht. Auf Grund ihrer körperlichen Statur schätzte Melanie sie auf etwa neun oder zehn Jahre, aber der Blick in ihren Augen deutete an, dass sie älter war. Vielleicht lag das aber auch an dem, was sie kürzlich erlebt hatte.

Das Mädchen hatte extrem dunkle Brauen, große schwarze Augen, eine Stupsnase, Sommersprossen und lange braune Haare, die ihr bis zum Rücken reichten. Sie öffnete für einen Moment den Mund, als wollte sie etwas sagen, und Melanie sah ihre auseinanderstehenden Schneidezähne. Dadurch wirkte sie unweigerlich süß. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass sie eine wohlbehütete und sorgenfreie Kindheit gehabt hatte, doch die Angst und das Leid in ihren Augen erzählten eine andere Geschichte.

Die Kleine trug einen schwarz-weiß gestreiften Pulli mit Kapuze. Unter dem Stoff erkannte Melanie den Ansatz kleiner Brüste. Als die Kleine plötzlich den Kopf zur Seite drehte, überkam Melanie ein merkwürdiges Gefühl. Ich kenne dich doch! Aus den Nachrichten? Nein, das lag länger zurück. Sie stellte sich die Kleine mit kürzeren Haaren und drei Jahre jünger vor.

»Clara?«, flüsterte Melanie.

Das Mädchen starrte sie an.

Mein Gott– sie ist es tatsächlich!

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Hauser trat ein und legte eine Mappe auf den Tisch. Er beugte sich zu Melanie herunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Wir können jetzt mit Sicherheit sagen, wer sie ist.«

»Danke.« Melanie ließ die Mappe unbeachtet auf dem Tisch liegen.

»Sie ist …«

»Danke!«

Hauser warf ihr einen kalten Blick zu, verschwand aber ohne weiteren Kommentar.

Melanie schob die Mappe beiseite und rückte näher an den Tisch. Beim Anblick des Mädchens stellten sich ihre feinen Härchen an den Unterarmen auf. »Ich kenne dich. Vielleicht kannst du dich nicht mehr an mich erinnern, aber du kennst mich auch.«

Clara ließ die Hand herunterbaumeln. Wie zufällig streifte sie über das Fell des Hundes. Sheila gab ein gefälliges Grummeln von sich.

»Deine Mutter und ich waren beste Freundinnen, als wir etwa so alt waren wie du. Als Erwachsene waren wir immer noch Freundinnen, aber vor drei Jahren haben wir uns aus den Augen verloren.«

Als deine Mama einen neuen Mann kennen gelernt hat.

An Claras Reaktion bemerkte Melanie, dass das Mädchen sehr wohl jedes Wort verstand. Melanie bildete sich sogar ein, dass Clara heimlich ihr Gesicht studierte und versuchte sich zu erinnern. Doch da blitzte kein Erkennen auf.

Mein Gott. Wusste Ingrid eigentlich, dass ihre Tochter hier war?

Melanie rechnete nach. Clara musste jetzt elf Jahre alt sein. Vor fünf Jahren war ihr Vater bei einem Arbeitsunfall in einem Stahlwerk ums Leben gekommen, und ihre Mutter hatte danach eine Beziehung nach der anderen mit merkwürdigen Typen gehabt. Vielleicht war es eine Art Midlife-Crisis gewesen. Schon damals hatte ihre Freundschaft Risse bekommen, aber endgültig hatten sie sich entzweit, als Ingrid einen zwielichtigen Kerl kennen lernte, den Melanie nicht ausstehen konnte, weil er sie zu sehr an ihren eigenen Vater erinnerte. Und ihr Bauchgefühl, was Männer betraf, hatte sie noch selten im Stich gelassen. Wie hieß er noch gleich? Rudolf Brein … oder so ähnlich. Genau, Rudolf Breinschmidt! Er war ein Parasit von der übelsten Sorte! Melanie hatte ihrer Freundin nahegelegt, sich nicht mit ihm einzulassen, doch stattdessen hatte Ingrid die Freundschaft mit ihr beendet.

ENDE DER LESEPROBE