Todesrache - Andreas Gruber - E-Book
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Todesrache E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

BKA-Profiler Maarten S. Sneijder ist bei seinem letzten Einsatz nur knapp dem Tod entronnen und hat fast sein gesamtes Team verloren. Darunter auch seine Kollegin Sabine Nemez. Da ergibt sich ein Hinweis, dass zumindest sie noch am Leben sein könnte. Unter Hochdruck muss Sneijder nun ein neues Team zusammenstellen, um sie aufzuspüren und aus den Verstrickungen eines hochkomplexen Falles zu befreien. Dabei ist vor allem die Mitarbeit des exzentrischen Leipziger Kripoermittlers Walter Pulaski entscheidend. Doch der ist gerade selbst einem besonders grausamen Verbrechen auf der Spur und zeigt sich wenig hilfsbereit ...

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Buch

Die Ermittlungen zu seinem letzten Fall haben den BKA-Profiler Maarten S. Sneijder zutiefst erschüttert zurückgelassen. Denn er hatte es mit einem skrupellosen, zu allem entschlossenen Gegner zu tun, und während Sneijder selbst noch knapp mit dem Leben davonkam, hat er doch fast sein gesamtes Team verloren. Darunter auch seine langjährige Partnerin und enge Vertraute Sabine Nemez. Gerade hat er beschlossen, einen drastischen Schlussstrich unter seine Karriere zu ziehen – da erhält er einen vagen Hinweis, dass Sabine doch noch am Leben sein könnte. Hals über Kopf stürzt er sich in die gefährliche, scheinbar aussichtslose Suche nach ihr. An seiner Seite ein neues kleines Team aus ausgewählten Kollegen.

Doch trotz aller Bemühungen finden sie sich bald in einer Sackgasse wieder, denn die Spur führt in ungewohntes Terrain. Ein Leipziger Kripoermittler, ein kleines Licht beim Kriminaldauerdienst, ist der Einzige, der ihnen weiterhelfen kann. Allerdings hat dieser eher exzentrische Kollege namens Walter Pulaski gerade ganz eigene Sorgen. Und so steht die Zusammenarbeit erst einmal unter keinem guten Stern …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Andreas Gruber

Todesrache

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe September 2022 

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München

www.ava-international.de / www.agruber.com

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Echse: Gettyimages/Moment/Aprison Photography

Hintergrund: FinePic®, München

TH · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26135-1V003 

www.goldmann-verlag.de

für Roman »Tostan« Schleifer,

danke für die Zeit,

die du zum Lesen der Manuskripte aufbringst,

und deine vielen guten Ideen

»Rache bleibt nie lange ungerächt.«

– deutsches Sprichwort –

PROLOG

Die Nacht auf Dienstag, 29. Mai

Der USB-Stick blinkte rot. Aus den Lautsprechern drang polnische Rockmusik. Viktor hatte lauter gedreht und kämpfte gegen den Schlaf an. Neben ihm saß Tomasz, ein Bein auf dem Armaturenbrett, rauchte einen Joint und schnippte zum Takt der Musik. Gott sei Dank hielt er das Maul, Singen war nicht gerade seine Stärke.

Viktor tippte kurz auf die Bremse. Die Scheinwerfer ihres neuen Volvo SUV rissen die schroffen Felsen der Küstenstraße aus der Dunkelheit. Die Straße schlängelte sich am felsigen Ufer entlang, und Viktor musste höllisch aufpassen, damit der Wagen nicht ins Schleudern geriet und sie keinen Unfall bauten. Denn ausgerechnet hier, mitten in der russischen Exklave Kaliningrad, die außer an die Ostsee nur noch an Polen und Litauen grenzte, konnten sie eine Begegnung mit der Polizei echt nicht gebrauchen. Die sollte besser nicht dahinterkommen, was sie transportierten. Zum Glück waren es jetzt nur noch fünfzig Kilometer, dann würden sie gegen ein Uhr früh die polnische Grenze erreicht haben und die Russen konnten sie am Arsch lecken.

Plötzlich hielt Tomasz inne, stieß den Rauch aus und rückte mit dem Gesicht nach vorne an die Windschutzscheibe.

Viktor schielte zu ihm. »Was ist?«

Tomasz wartete, bis sich der Rauch verzogen hatte, dann deutete er mit dem Finger seitlich durchs Fenster.

»Was?«, fragte Viktor genervt. »Hast du wieder eine deiner Visionen?«

»Da vorne ist was.«

»Ja, der Hafen von Kaliningrad.«

»Nein, du Idiot, dort drüben!«

Viktor sah zur Seite. Vor ihnen lag der Hafen, dessen Kräne und Werfthallen von dunkelrotem Licht beleuchtet wurden. Den Rest schluckte der Nebel, der vom Meer ans Ufer kroch. Aber mitten in der weitläufigen Bucht war tatsächlich etwas.

Viktor nahm den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen langsamer werden. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass sie mutterseelenallein auf der Küstenstraße waren. Er fuhr an den Straßenrand, hielt auf dem Schotter und ließ das Seitenfenster hinunter. Kühler Wind drang ins Wageninnere.

Etwa fünf- bis sechshundert Meter vom Ufer entfernt lag ein Containerschiff im Wasser, mit brennenden Decks und deutlicher Schräglage.

»Leck mich!«, entfuhr es Viktor.

Es sah nicht so aus, als wären schon Rettungsboote vom Hafen her unterwegs, obwohl die Küstenwache das brennende Wrack sicher schon bemerkt hatte. Allerdings konnte man sich in Russland nie ganz sicher sein, ob die Regierung ein Schiff nicht absichtlich versenkte.

»Was ist?«, grummelte jemand auf dem Rücksitz.

»Schlaf weiter!«, sagte Viktor.

Tomasz war bereits ausgestiegen. Er lief um das Auto herum und kletterte über die Felsen zum Ufer, wo die Wellen an die Steine klatschten. Nun stieg auch Viktor aus und stellte sich neben Tomasz. Gleichzeitig zogen sie ihre Handys heraus, zoomten den Frachter heran und filmten den Brand. Lange würde sich das Schiff nicht mehr über Wasser halten.

»So was sieht man nicht alle Tage«, murmelte Tomasz.

Ja, das würde ein spektakuläres Video werden. Da waren sie gerade rechtzeitig gekommen.

Nach einer Weile schwenkte Tomasz das Handy zur Seite und filmte das glitzernde schwarze Meer.

»Was machst du denn jetzt?«, fragte Viktor.

»Schau mal, dort drüben schwimmt jemand.«

1. TEIL

Sechs Tage später

Sonntag, 3. Juni

abends

1. Kapitel

Maarten S. Sneijder stand im Badezimmer seines Hauses und ließ den Arm mit dem Handy sinken. Er hatte gerade das aufwühlendste Telefonat seines Lebens geführt. Sein Puls hämmerte immer noch in der Halsschlagader und hinter den Schläfen. Seine Hand zitterte.

Das ist doch Sabine gewesen!

Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, lockerte den Krawattenknoten und starrte die Waffe an, die auf einem Tischchen neben der Wanne lag. Verdomme! Er hatte den Lauf bereits im Mund gehabt. Und um ein Haar abgedrückt. Jetzt blickte er zur Tür. Dahinter jaulte Vincent immer noch ganz erbärmlich und kratzte verzweifelt mit den Pfoten am Holz. Vermutlich ahnte das Tier, was er vorgehabt hatte.

Sneijder ging mit wackeligen Beinen zur Badezimmertür und öffnete sie. Der Basset hockte davor und schmiegte nun seine Schnauze an Sneijders Bein. »Ja, alter Junge, alles in Ordnung, ich geh nicht weg.« Er kraulte den Kopf des Tieres und spürte dabei, wie eiskalt seine Finger waren.

Dann humpelte er ins Wohnzimmer. Merkwürdigerweise waren seine Sinne übermäßig geschärft, als würde er alles in Zeitlupe wahrnehmen, plötzlich alles intensiver riechen, hören und schmecken. So ein Gefühl hatte er noch nie gehabt, nicht einmal in jenen Situationen, in denen er knapp dem Tod entronnen war. Vielleicht lag es daran, dass er diesmal beinahe selbst den Abzug gedrückt hatte. Es war seine Entscheidung gewesen, aus dem Leben zu scheiden, aber dieser eine Telefonanruf hatte alles von Grund auf geändert.

Vincent war ihm ins Wohnzimmer gefolgt. Der Hund hatte weder die Ration Nass- noch sein Trockenfutter angerührt, die Sneijder ihm hingestellt hatte, sondern gespürt, dass etwas nicht stimmte. Nun saß er wie ein treuer Wachhund neben ihm und spitzte die Ohren. Auch Sneijder hatte das Auto und die Schritte im Kies gehört. Im nächsten Moment läutete es an der Tür.

Er spähte hinter dem Vorhang nach draußen und sah den blonden Haarschopf von Dr. Karin Ross. Auch das noch! Die Psychologin des BKA hatte ihm gerade noch gefehlt. Super Timing! »Einen Moment«, rief er, da sie sich bestimmt nicht abwimmeln lassen würde.

Während sie draußen wartete, hinkte er zurück zum Bad und entfernte das Blatt Papier, das er außen an die Tür geklebt hatte.

Vorsicht beim Öffnen.

Er knüllte den Zettel zusammen und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Dann humpelte er zurück ins Wohnzimmer. Eigentlich hätte er immer noch einen Stock benützen müssen. Die Operation an der Hüfte im Rajonskrankenhaus in Kaliningrad war erst sechs Tage her, aber je früher er es schaffte, normal zu gehen, desto besser. Mit ein paar Schmerzmitteln würde es schon irgendwie funktionieren.

Dr. Karin Ross hatte inzwischen die Tür geöffnet und stand im Eingangsbereich, im schicken dunkelblauen Hosenanzug und mit einer Mappe unter dem Arm. »Nicht schießen! Ich bin es«, rief sie ins Haus. »Es war nicht abgesperrt. Darf ich hereinkommen?«

»Sie sind ja schon drin«, knurrte er.

»Steht Ihr Haus abends immer offen?«

Er neigte den Kopf. »Warum?«

»Ich meine nur, so einsam und weit draußen, direkt am Waldrand … Und gerade jemand wie Sie, der ständig mit Mördern zu tun hat, lässt sein Haus unversperrt?«

Nur wenn ich möchte, dass jemand hereinkann, ohne die Tür aufbrechen zu müssen, dachte er.

Sie ging weiter und blieb neben dem wuchtigen Esstisch aus Eichenholz stehen. »Schön haben Sie es hier.« Sie betrachtete die rustikale Einrichtung. »Altes Bauernhaus?«

»Ehemalige Mühle, der Bach fließt durchs Haus, unten ist noch der originale Mühlstein erhalten. Aber Sie sind zu spät, die letzte Besichtigungstour war vergangenes Wochenende.«

Sie lächelte. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch witzig sein können.«

»Jetzt wissen Sie es. Schluss mit dem Smalltalk. Warum sind Sie hier?«

Sie sah zum Basset, der wie zum Schutz zwischen ihr und Sneijder saß und sie neugierig anblickte. »Beißt der Hund?«

»Nur wenn jemand in der dritten Person über ihn spricht.«

Dr. Ross versuchte zu lächeln, dann zog sie einen Brief aus ihrer Mappe. »Ihr Kündigungsschreiben«, erklärte sie.

Erstaunt zog er eine Augenbraue hoch. »Das habe ich erst vor einer Stunde im BKA abgegeben.«

»Ich weiß«, sagte Dr. Ross. »Das Personalbüro war wegen irgendeiner EDV-Sache ausnahmsweise besetzt und hat mich sofort verständigt.«

»Am Sonntagabend?«

»Die haben sich Sorgen gemacht und wollten wissen, ob ich davon wusste. Habe ich natürlich nicht. Also bin ich hergefahren. Sicherheitshalber hat mich ein BKA-Beamter begleitet. Man weiß ja nie, ob Sie nicht vielleicht in Schwierigkeiten stecken …«

Sneijder spähte aus dem Fenster und sah den Wagen, der einige Meter vor dem Haus parkte. Hinter dem Steuer saß tatsächlich ein uniformierter Mann. So finster, wie der dreinsah, war er bestimmt vom Haussicherungsdienst. »Verschwinden Sie – ich habe zu tun.«

»Ach? Was denn?« Sie betrachtete den Brief, dann las sie ihn vor. »Nehmen Sie meine Kündigung mit sofortiger Wirkung zur Kenntnis. Die derzeitigen Umstände machen mir eine Weiterarbeit unmöglich. Mein ausständiges Gehalt leiten Sie an Familie Nemez in München weiter.« Sie sah auf. »Drei knappe und präzise Sätze«, stellte sie fest.

»Haben Sie etwas anderes von mir erwartet?«

»Nein, aber die Formulierung hat mir Sorgen bereitet.« Sie ließ das Schreiben in ihrer Mappe verschwinden. »Mehr als diese drei Sätze waren Ihnen die vielen Dienstjahre beim BKA nicht wert?«

»Wozu unnötige Worte verlieren?«

»Es scheint so, als hätten Sie nach dem, was kürzlich passiert ist, mit allem abgeschlossen. Haben Sie Ihren Antrieb verloren?«

»Wie scharfsinnig.« Er stemmte die Arme in die Hüften und starrte sie an. Die ist hartnäckig und wird nicht so leicht abhauen. »Drei meiner engsten Kollegen sind tot«, lenkte er ein, »und die langjährige Freundschaft zu meinem Vorgesetzten ist auf grausame Art und Weise zerbrochen.«

Sie nickte verständnisvoll. »Wenn zu viele Pfeiler, die das Leben stützen, gleichzeitig wegbrechen, ist es selbst für die stärkste Psyche zu viel.«

»Hören Sie auf, zweitklassige Fachliteratur zu zitieren.«

»Ich weiß, tut mir leid, Sie haben selbst Psychologie studiert und bestimmt mehr Erfahrung als ich, aber sogar Leute wie Sie … oder gerade Leute wie Sie sollten manchmal fremde Hilfe annehmen.«

»Deshalb sind Sie hier?«

Nickend sah sie zu den drei Kuverts, die auf dem Tisch zwischen Kerzenständer und Aschenbecher standen. Bevor sie erkennen konnte, an wen die Briefe adressiert waren, griff er nach ihnen und ließ sie in der Hosentasche verschwinden.

»Sind das Abschiedsbriefe?«, fragte sie frei heraus.

»Wie kommen Sie darauf?«

Sie kniff die Brauen zusammen und blickte an ihm vorbei zum Badezimmer. Die dämliche Tür stand offen und bot ihr einen guten Blick auf das Tischchen mit der Waffe direkt neben der Wanne. Vervloekt! Sie wandte sich ihm wieder zu, sah ihn direkt an. »Sie wollten sich gerade das Leben nehmen, richtig?«

»Quatsch!« Er verzog das Gesicht.

»Mir können Sie nichts vormachen.«

Das habe ich gerade gemerkt.

»Außerdem unterliegt alles, was wir hier besprechen, der Schweigepflicht.«

»Wie rührend.« Er atmete tief durch. »Aber es gibt nichts zu besprechen.«

»Das sehe ich anders. Darf ich mich setzen?«

»Nein.«

»Gut, dann eben im Stehen.« Ihre Stimme zitterte. »Wir beide wissen, dass Sie gerade im Begriff waren, sich das Leben zu nehmen. Anscheinend bin ich genau im richtigen Moment gekommen.«

»Bilden Sie sich nicht zu viel auf Ihre Beobachtungsgabe ein.«

»Nein, keine Sorge, das tue ich nicht. Allerdings frage ich mich, warum Sie auf mein Läuten reagiert und mich stattdessen nicht ignoriert und Ihren Plan durchgeführt haben.«

Er kaute an der Unterlippe. »Dann setzen Sie sich eben«, seufzte er nun doch und ließ sich auf einen Stuhl beim Tisch sinken. Sie nahm ihm gegenüber Platz. »Ich habe soeben mit Sabine Nemez telefoniert.«

Sie starrte ihn entgeistert an. »Sie meinen, in Gedanken … in Ihrer Fantasie?« Sie hob leicht den Kopf, als wollte sie den Duft eines Marihuanajoints erschnüffeln. Aber da war nichts.

»Nein, in echt, das heißt, ich glaube, dass sie es war …« Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher.

»Ich dachte, sie sei …«

»Das dachte ich auch, aber anscheinend ist sie in der Bucht von Kaliningrad nicht mit dem Schiff untergegangen. Sie muss es irgendwie aus dem brennenden Wrack rausgeschafft haben.«

»Und warum ruft sie erst jetzt, eine Woche später, bei Ihnen an?«

»Wenn ich das wüsste.« Er ballte die Faust. »Sie hat nicht viel gesagt, nur, dass sie nicht wisse, wo sie sei und nur Gelegenheit für diesen einen Anruf habe. Danach war die Verbindung tot.«

»Und Sie sind sicher, dass Sie …?«

»Ja, vervloekt noch mal, ich bin sicher, dass ich mir dieses Telefonat nicht eingebildet habe.«

»Ja, okay, beruhigen Sie sich wieder«, sagte sie sanft. »Haben Sie schon zurückgerufen?«

»Unterdrückte Nummer.«

»Könnte sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt haben?«

»Das wäre ein verdammt geschmackloser Scherz.«

»Manche Leute neigen dazu, und gerade Sie haben jede Menge Feinde – sogar innerhalb des BKA«, gab sie zu bedenken.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie war es! Sie nannte mich bei meinem zweiten Vornamen.«

»Sie meinen den, wofür das S steht?«

Er nickte. »Den kennen nicht viele Menschen. Anscheinend wollte sie keine wertvollen Sekunden vergeuden, um zu beweisen, wer sie ist.«

»Puuuh …« Dr. Ross stieß die angehaltene Luft aus. »Verstehe. Und was machen wir jetzt?«

»Wir?« Er stand auf. »Sie werden jetzt gehen!«

»Gibt es denn nichts, was ich noch tun könnte?«

Sneijder kaute wieder an der Unterlippe. »Doch!« Er nickte zu ihrer Mappe. »Zerreißen Sie meine Kündigung. Und nehmen Sie mich mit nach Wiesbaden. Ich muss ins BKA. Ich brauche so schnell wie möglich eine neue Ermittlergruppe.«

2. Kapitel

Während der Autofahrt zum BKA hatte Sneijder einige Telefonate geführt und eine kurze WhatsApp-Nachricht an die Studenten aus Sabine Nemez’ Kurs an der BKA-Akademie verschickt. In zwanzig Minuten im Keller der Gerichtsmedizin. Anwesenheit dringend erforderlich. Danach war er in sein Büro gestürmt, um seinen Dienstausweis und ein Reservemagazin für die Glock zu holen. Anschließend war er mit dem Taxi, einem leise dahinschleichenden E-Auto, zur Gerichtsmedizin weitergefahren, wo er für die Studenten einen kleinen Eignungstest organisierte.

Eine halbe Stunde später befand er sich bereits wieder mit demselben Taxi auf dem Weg zum siebzehn Kilometer nördlich von Wiesbaden liegenden Hohenstein. Dort lag der Golfplatz Georgenthal. Sonntagabend kurz nach neunzehn Uhr hatte der zwar schon lange geschlossen, aber Sneijder hatte herausgefunden, dass dort gerade eine private Golfpartie zu Ende ging. Wer Mitglied war und genug dafür bezahlte, konnte den Platz fünf Stunden lang exklusiv für sich mieten. Und Staatsanwalt Franke hatte dieses Geld.

Sneijder betrat das Clubhaus, marschierte direkt zur Rezeption und knallte seinen Dienstausweis auf den Tresen. »Wo finde ich Staatsanwalt Franke?«

Der junge Mann starrte so lange auf das Logo des BKA, als wäre er sich unsicher, ob es echt war, dann hob er endlich den Kopf. »Auf dem Golfplatz.«

»Mann, das weiß ich, sonst wäre ich nicht hier«, schnauzte Sneijder, »aber wo?«

Der Junge warf einen Blick in den Computer. »Der Abschlag war vor drei Stunden. Vermutlich sind sie schon beim dreizehnten Loch.«

Auf dem Tresen lagen die Schlüssel einiger Golfcarts. Sneijder nahm einen beliebigen Schlüssel, an dem eine Marke hing. »Ist das Cart Nummer fünf aufgeladen?«

»Äh … ja, die sind alle aufgeladen, aber …«

»Danke.« Als Nächstes schnappte sich Sneijder eine Scorecard aus dem Drehständer, auf der die Spielpunkte eingetragen wurden. Auf der Rückseite befand sich ein Plan des Golfplatzes mit allen Bahnen. Er hatte sich bereits abgewandt und wollte das Clubhaus wieder verlassen, als der Junge ihm nachrief. »Ich darf Sie aus Sicherheitsgründen nicht allein auf den Golfplatz lassen!«

»Glauben Sie mir, für Sie ist es besser, wenn Sie hier bleiben.«

»Dann muss ich zumindest den Clubmanager holen.«

»Tun Sie das.« Sneijder war bereits draußen, suchte das Cart mit der Nummer fünf, setzte sich hinein und startete die Kiste. Obwohl er das Pedal ganz durchtrat, machte die Mühle nur schlappe fünfzehn km/h. Im Fahrtwind klappte er die Karte auf, orientierte sich kurz und fuhr rücksichtlos über die Wiese in Richtung des dreizehnten Lochs.

Lange würde die Golfpartie ohnehin nicht mehr dauern, denn über dem Platz zogen sich dunkle Wolken zusammen, Wind kam auf, und aus der Ferne drang dumpfes Donnergrollen. Beim dreizehnten Loch war niemand, woraufhin Sneijder eine Abkürzung über einen grünen Hügel nahm und auf der anderen Seite an einem Teich vorbei auf das zwölfte Loch zufuhr. Obwohl es bergab ging und er das Pedal immer noch ganz durchdrückte, gab die Elektrokarre trotzdem kaum mehr her. Von Weitem sah er an Loch zwölf drei Pärchen stehen, von denen die Männer bei seinem Anblick aufgebracht die Arme hochrissen und in seine Richtung mit ihren Schlägern durch die Luft wedelten.

Trotzdem hielt Sneijder direkt auf sie zu. Je näher er kam, desto lauter wurden die Rufe. So haltet doch die Klappe! Jetzt sah er, dass dort beim zwölften Loch auch noch ein kleines Snackbüfett auf zwei Tischchen aufgebaut war. Anscheinend veranstaltete Franke für seine Gäste ein abendliches Picknick mit privatem Catering vom Clubrestaurant. Sogar ein Kellner war dabei, der gerade einige Gläser aus einer Champagnerflasche füllte.

Sneijder bremste vor der Gruppe und stieg aus.

»Sind Sie wahnsinnig?«, rief einer der Männer.

»Verschwinden Sie sofort von der Bahn!«, rief der zweite. Die Frauen hielten sich indessen im Hintergrund. Auch sie hatten Schläger in der Hand – anscheinend spielten sie gerade zwei Flights, vermutlich Männer gegen Frauen.

»Wissen Sie überhaupt, wer wir sind?«, rief nun der erste wieder.

»Interessiert mich nicht im Geringsten«, knurrte Sneijder und ging auf Staatsanwalt Franke zu.

Der Mann war groß, grau meliert und trug eine rot-gelb karierte Hose, eine grüne Weste und eine Schirmkappe. Als er Sneijder erkannte, hob er die Arme, um seine Mitspieler zu beruhigen. »Ist schon okay, kriegt euch wieder ein. Sneijder, was wollen Sie? Und machen Sie es verdammt noch mal kurz!« Er blickte zum Himmel. »Wir wollen die Partie beenden, bevor uns der Regen wegspült.«

»Keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Ich brauche eine Anordnung von TKÜ-Maßnahmen.«

Franke lachte kurz gequält auf. »Ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Sehe ich so aus, als würde ich scherzen?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Sneijder die anderen beiden Paare, die ihn neugierig ansahen. Bis auf Frankes Frau kannte er niemanden davon. Sie waren alle etwa in Frankes Alter, Mitte fünfzig, vielleicht Freunde, die er zu der Partie eingeladen hatte, um sie zu beeindrucken. Sneijder zog sein Handy aus der Tasche. »Dieses Smartphone ist bei der Deutschen Telekom angemeldet. Ich habe heute um exakt siebzehn Uhr einen Anruf erhalten, der gerade mal fünfzehn Sekunden gedauert hat.«

»Ich nehme an, die Nummer war unterdrückt und Sie wollen wissen, wer Ihr heimlicher Verehrer ist.«

Sneijder nickte. »Ich muss sie haben.«

Franke verzog das Gesicht. »Alle Verbindungsdaten werden ein halbes Jahr lang gespeichert – egal, ob die Nummer unterdrückt wurde oder nicht. Hat das nicht Zeit bis morgen früh? Sie sehen doch, dass ich …«

»Wäre ich sonst hier? Ich brauche die Auskunft sofort!«

»Und warum kann das nicht bis morgen warten?«

Sneijder sah kurz zu den Paaren, die ihn immer noch betrachteten, als wäre er ein exotisches Wesen, und senkte die Stimme. »Ich habe Sabine Nemez vor vielen Jahren an die Akademie geholt und dort selbst zur Profilerin ausgebildet. Sie ist eine der besten Ermittlerinnen, die das BKA hat. Aber vor einer Woche ist sie bei einem Einsatz in Kaliningrad ertrunken. Heute Mittag war ihre Trauer- und Abschiedsfeier in München.«

»Sneijder, ich habe davon gehört, und es tut mir auch leid, dass Sie eine Kollegin verloren haben, aber …«

»Der Anruf kam von ihr.«

Franke sah ihn mit großen Augen an. »Sie ist am Leben?«

»Noch …«, sagte Sneijder, dann gab er Franke den Inhalt des Telefonats wieder.

Dieser nickte und kaute an der Unterlippe. »Ich verstehe … aber hätten Sie mir das nicht am Telefon sagen können?«

»Erstens hätten Sie den Anruf nicht angenommen, und zweitens hätten Sie mich auf morgen und einen Termin in Ihrem Büro vertröstet.«

Franke schielte zu seiner Frau. »Was sagt Ihnen, dass ich Sie jetzt nicht ebenso auf morgen vertröste?«

»Weil ich Ihnen mit meinem Golfcart nicht von der Seite weichen und Sie so lange nerven werde, bis Sie einen Fehler nach dem anderen machen und Ihr Score versaut ist. Es sei denn, ich erhalte einen vom Richter genehmigten Beschluss. Und zwar über die Herausgabe sämtlicher Telekommunikationsdaten zu diesem Gespräch.«

Franke senkte die Stimme. »Sneijder, Sie werden Ihrem Ruf als Kotzbrocken mal wieder mehr als gerecht«, zischte er.

»Sie wissen, dass ich so etwas immer als Kompliment auffasse – wobei ich Ihnen versichere, dass Sie den richtigen Kotzbrocken-Sneijder noch nicht mal annähernd kennengelernt haben.« Er starrte Franke fest in die Augen.

»Also gut«, seufzte Franke, »ich kümmere mich darum.« Sneijder blieb stehen. »Was noch?«, fragte Franke.

»Jetzt!«, beharrte Sneijder.

Franke zog die Schultern hoch. »Ich habe mein Handy gar nicht dabei.«

Sneijder drückte ihm seines in die Hand und nannte ihm die Nummer des Richters, der gerade Wochenenddienst hatte. Franke atmete tief durch, dann wählte er.

Das Gespräch dauerte nur zwei Minuten, in denen Franke den Sachverhalt knapp und präzise erklärte und am Schluss darauf hinwies, dass Gefahr im Verzug war. Danach wartete er kurz, bedankte sich und reichte Sneijder das Handy. »Morgen, gleich in der Früh, sollten Sie das Ergebnis haben.«

Sneijder steckte sein Handy ein. »Danke.«

»Und das nächste Mal …«

»Leider kann ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten«, unterbrach Sneijder und warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich muss weiter!« Er stieg in sein Golfwägelchen und fuhr los.

Auf dem Weg zum Clubhaus, wo das Taxi immer noch auf ihn wartete, dröhnte lautes Donnergrollen über ihm, Blitze zuckten und die ersten Regentropfen fielen.

3. Kapitel

Der Kulkwitzer See am westlichen Stadtrand von Leipzig lag völlig ruhig in der Abenddämmerung da. Das helle Funkeln seiner glatten Oberfläche, in der sich die untergehende Sonne spiegelte, stach fast schon in die Augen.

Hatty schob sich die Sonnenbrille auf die Nase. Bis auf das moderne Luxuswohnmobil mit dem großen Zeltvorbau, das Hattys Eltern gehörte, und ihr eigenes Zweimannzelt war die Liegewiese fast leer. Wegen des gestrigen miesen Wetters hatte sich der Andrang in Grenzen gehalten. Die nächsten Wohnwagen und Zelte befanden sich ziemlich weit entfernt unter den Bäumen. Hatty hatte die Lage schon abgecheckt. Keine jungen Männer weit und breit, nur alte Knacker ab vierzig.

Das war ja garantiert eine tolle Location, wenn man so wie Ben ein sechsjähriger Junge war und großen Spaß daran hatte, Kröten durchs Schilf zu jagen, Fische mit dem Netz zu fangen und auf der Luftmatratze hinaus zu der verankerten Floßinsel zu paddeln. Eher weniger, wenn man so wie Hatty neunzehn war, gerade das schriftliche Abitur hinter sich hatte und das hier die letzten Sommerferien waren, bevor im Herbst das Fremdsprachenstudium in Berlin beginnen würde.

Aber Hatty hatte ihrem Bruder versprochen mitzufahren. Schon allein deshalb, weil Ben seit zwei Jahren sehr verändert war, im Lauf der Zeit immer weniger gesprochen hatte und seit Monaten fast gar nicht mehr redete. Irgendetwas musste passiert sein, und Hatty wollte in dieser gemeinsamen Zeit unbedingt herausfinden, was mit ihm los war.

Im Moment trieb Ben, den sie seit seinem ersten Lebensjahr wegen seiner roten Haare liebevoll Feuermelder nannte, auf seiner delfinförmigen Luftmatratze draußen auf dem See herum. Für Hatty war das Wasser Anfang Juni noch zu kalt, erst recht abends, aber Ben schien das nicht zu stören. Sie sah noch einmal zu ihm hinüber, dann spuckte sie den Kaugummi in den Mülleimer neben der mickrigen Pinie.

Soeben kroch auch Hattys Schulfreundin Jasmin auf allen vieren aus dem Zweimannzelt. »So, fertig«, rief sie. Sie trug knappe ausgewaschene Jeansshorts und über dem Bikini ein kariertes Hemd, das sie vor ihrer Brust verknotet hatte. »Suchen wir Brennholz fürs Lagerfeuer?«

Hatty verzog das Gesicht. »Dürfen wir hier überhaupt eines machen?«

»Dein Vater hat gesagt, das sei ihm egal. Er hat neben dem Zelt eine Grube ausgehoben und einen Steinkreis gemacht.«

»Er ist nicht mein Vater.«

»Ja, sorry«, stöhnte Jasmin auf. »Der nette ältere Herr, den deine Mama geheiratet hat und auf dessen Kosten wir hier zwei Wochen Urlaub verbringen dürfen.«

»Toll.«

»He, ich darf dich daran erinnern, dass dumich angefleht hast mitzukommen.«

»Ja, und du hast zugesagt, weil alle deine richtigen Freundinnen die Ferien im Ausland verbringen.« Hatty starrte Jasmin herausfordernd an. Sie hatte vor drei Tagen überraschenderweise kurzfristig doch zugesagt mitzukommen. Zum Glück! Offenbar hatte sie es satt, in den Ferien mit ihrem Vater daheim zu versauern. Jasmin war zwar nicht ihre beste Freundin – genau genommen hatte Hatty gar keine echten Freundinnen –, aber sie war die Einzige gewesen, die Hatty sich getraut hatte zu fragen. Denn Jasmin war wirklich nett und eine der wenigen Mitschülerinnen, die Hatty nicht schon nach wenigen Minuten tierisch nervte.

Schließlich lächelte Hatty. »Tut mir leid, war gemein von mir. Danke, dass du mitgekommen bist. Zwei Wochen voller Abenteuer und Action zwischen einer Horde von Zombies und Grufties – das wird sicher grandios.«

Jasmin lächelte zurück. »Machen wir das Beste daraus.«

»Du hast recht.« Jetzt schlüpfte auch Hatty in ihre Sandalen. »Komm, suchen wir die Scheißäste und fackeln damit den Strand ab.«

Das Areal um den See war riesengroß, und Heinz Gerlach, ihr Stiefvater, hatte ihnen bereits während der Autofahrt davon vorgeschwärmt.

Sie gingen zu den dicht beieinander stehenden Bäumen und sammelten die Äste ein, die der Sturm gestern Abend heruntergerissen hatte. Angeblich sollte es morgen Abend noch einmal kräftig regnen, danach aber zumindest eine Woche lang Schönwetter geben. Dann würden die Wohnmobilstellplätze gerammelt voll sein.

»Was hast du eigentlich gegen deinen Stiefvater?«, fragte Jasmin. »Ich finde ihn total nett.«

»Meine Mutter kennt ihn erst seit zwei Jahren und hat ihn schon nach eineinhalb Jahren geheiratet.«

»Und?«

»Und?«, wiederholte Hatty. »So einen älteren Typen! Findest du das normal?«

Jasmin zuckte mit den Achseln. »Wenn sie sich lieben.«

»Ich bitte dich … uärghhh.« Hatty steckte sich den Finger in den Hals. »Gerlach ist neunundsechzig Jahre alt – nächstes Jahr wird er siebzig. Siebzig! So alt möchte ich nie werden!«

»Wenn du weiterhin so gemein bist, wird dich vorher sicher jemand erschlagen.«

»Haha, sehr witzig, Mutter Teresa!«

»Er war doch Richter?«

»Und?«, fragte Hatty.

»Jetzt ist er im Ruhestand. Was kann deiner Mutter Besseres passieren als ein Mann, der gut verdient hat und jetzt nur noch Zeit für sie hat? Nach dem, was ich bisher beobachtet habe, vergöttert er deine Mutter. Außerdem kümmert er sich um Ben und ist auch nett zu dir, selbst wenn du das gar nicht mitkriegst.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, murmelte Hatty.

Jasmin kniff die Brauen zusammen. »Du hast schon in der Schule immer alles schwarzgesehen. Das ist der Grund, warum du keine Freunde hast.«

Hatty warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Sorry«, lenkte Jasmin ein. »Ich wäre froh, wenn mein Vater endlich eine neue Freundin finden würde. Für meinen Geschmack ist er schon viel zu lange allein.«

Hatty sagte nichts, sondern sammelte weiter Äste ein, die sie sich dann unter den Arm klemmte. »Deine Mutter ist gestorben, richtig?«, fragte sie schließlich. Allzu viel wusste sie nicht über Jasmin, außer, dass sie eines der beliebtesten Mädchen der Schule war.

»Ja, ist aber schon lange her. Damals war ich noch klein. Warum haben sich denn deine Eltern getrennt?«

»Als Ben drei Jahre alt war, haben sie uns erklärt, dass sie sich auseinandergelebt haben.« Der Klassiker! »Was meine Mutter dabei nicht interessiert hat, war, dass Vater, Ben und ich uns ganz sicher nicht auseinandergelebt hatten.«

»Siehst du deinen Vater noch?«

»Wenn er mal in Leipzig ist schon, aber meistens ist er in England in seiner Firma oder bei seinen Kunden auf Curaçao oder Barbados.«

»Er ist Brite, richtig?«

Hatty nickte. »Verkauft Segelboote. Darum heißen wir auch Hatty und Ben, so wie die ersten beiden Boote, die er entworfen hat …« Sie hatte die Namen betont englisch ausgesprochen. »Allerdings besteht Mutter seit der Trennung darauf, dass wir unsere offiziellen Taufnamen benutzen, Benjamin und Henrietta – puuuh, wie das klingt!«

»Wer weiß, welche Probleme wir mal haben, wenn wir alt sind. Wobei … du wirst ja sowieso nicht alt!« Jasmin rammte ihr den spitzen Ellenbogen in die Seite, woraufhin Hatty erschrocken alle Äste fallen ließ.

Dieses Biest!

Aber kurz darauf lachte sie zum ersten Mal seit längerer Zeit befreit auf. In Wahrheit brauchte sie besonders jetzt genau so eine Freundin wie Jasmin.

Nachdem sie zurückgekommen waren, entzündete Gerlach ein Lagerfeuer, und während Ben mit Mutter Hühnerflügel marinierte, hielten Hatty und Jasmin Äste mit rosa Marshmallows in die Flammen, bis die Zuckermasse schwarz heruntertropfte. Völlig egal, ob sie sich damit den Magen verderben würden, wie Gerlach behauptete.

»Spielen wir heute Abend noch eine Partie Risiko mit deinem Bruder im Zelt?«, fragte Jasmin.

»Wird sich bestimmt nicht vermeiden lassen«, grummelte Hatty. Gerlach hatte Ben vor Beginn des Urlaubs die Game-of-Thrones-Variante des Spiels geschenkt. Hatty hatte eine aufblasbare Insel mit Palme bekommen, auf der sie über den See treiben und darauf sogar dank wasserdichter Seitentaschen das Handy mitnehmen konnte.

Vielleicht hatte Jasmin ja recht, und Gerlach bemühte sich wirklich darum, ein passender Vaterersatz für ihre zerrissene Familie zu werden. Ein neues tolles Wohnmobil mit jeglicher denkbarer Luxusausstattung hatte er ja schon mal springen lassen. Kunststück, er nagte garantiert nicht am Hungertuch. Ob sein Motiv allerdings wirklich so selbstlos war, wie er vorgab, blieb abzuwarten.

»Was hast du?« Jasmin schaute sie neugierig an.

Hatty atmete tief durch, dann blickte sie sich um. Gerade waren sie allein. Ben war mit ihrer Mutter in der Küche, und Gerlach steckte hinter dem Wohnwagen Solarleuchten in den Boden, um ihren Stellplatz abzugrenzen. Es wurde Zeit, dass Jasmin von ihrem Plan erfuhr. Hatty senkte die Stimme. »Ich muss dir was sagen …«

Jasmin runzelte die Stirn. »Bist du deswegen seit gestern so merkwürdig?«

»Möglich …«, Hatty kaute an der Unterlippe, »aber das muss unter uns bleiben.«

»Bist du schwanger?«, flüsterte Jasmin.

Hatty wich mit aufgerissenen Augen zurück. »Quatsch! Und wenn, würde ich das garantiert nicht dir auf die Nase binden.«

»Sorry, war ja nur eine Frage.«

»Schon gut.« Hatty rückte näher. »Es geht um meinen Stiefvater und Ben … Seit Mutter mit Gerlach zusammen ist, verhält sich Ben ganz merkwürdig.«

Jasmin zog den Ast mit den Marshmallows aus dem Feuer und steckte ihn zwischen die Steine. »Jungs sind generell merkwürdig.«

»Nicht Ben, er war immer quietschvergnügt und hat pausenlos geplappert.«

»Dein Bruder?«

»Ja! Dann wurde er im Lauf der Zeit immer ruhiger und verschlossener. Jetzt spricht er gar nicht mehr.«

»Ist mir aufgefallen. Und ich dachte, das liegt an mir, weil er mich noch nicht so gut kennt.«

Hatty schüttelte den Kopf. »Er ist seit Monaten so. Ich …« Sie stockte, da sie plötzlich spürte, wie ihre Brust eng wurde und Tränen in ihr hochstiegen, die sie sofort niederkämpfte. »Ich will meinen kleinen Bruder wiederhaben, so wie er früher war …«

»Hast du schon versucht, mit ihm darüber zu sprechen?«

»Hast du schon mal probiert, mit jemandem zu reden, der nicht redet?«

Jasmin seufzte. »War deine Mutter mit ihm schon bei einer Ärztin?«

»Bei einem Kinderarzt und einer Psychologin, aber das hat nichts gebracht.«

»Dann versucht es doch mal bei einer Logopädin.«

Hatty stöhnte auf. »Das habe ich ihr auch vorgeschlagen, aber O-Ton Mutter: Das werde ich dem Jungen nicht antun, ihn von einem Psychologen zum anderen zu schleppen! Sie meint, das wäre nur eine Phase, die manche Kinder durchmachen, und es würde sich schon wieder von allein geben, wenn er im September in die erste Klasse kommt.« Sie packte Jasmin am Arm. »Aber was, wenn es sich nicht wieder von allein gibt? Ich bin ab Oktober in Berlin an der Uni und komme nur an manchen Wochenenden und in den Ferien heim.« Jetzt kamen ihr doch die Tränen. »Wenn er nicht redet, kann ich nicht mal mit ihm telefonieren.«

»Schon gut.« Jasmin legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und deine Mutter geht da wirklich gar nicht weiter drauf ein?«

»Nein. Anscheinend hat sie vergessen, wie Ben früher einmal gewesen ist.«

»Mit früher meinst du … als sie noch nicht mit Gerlach zusammen war?«

Hatty nickte und wischte sich die Tränen von der Wange.

»Glaubst du, dass ihm euer Vater fehlt?«

Hatty schüttelte den Kopf. »Das dachte ich ursprünglich auch, aber ich glaube nicht, dass es daran liegt. Ich habe Ben beobachtet, in welchen Situationen er sich merkwürdig verhält.«

»Und?«

»Jedes Mal, wenn er mit Gerlach zusammen ist. Entweder im Bad oder in Bens Zimmer …«

Jasmin schluckte laut. Ihre Augen wurden ganz dunkel. »Was willst du damit andeuten?«

In diesem Moment kam Gerlach hinter dem Wohnwagen hervor, in Shorts und mit nacktem Oberkörper. Nur ein Handtuch hing über seiner Schulter und der grauhaarigen Brust. »Ist Ben schon mit dem Marinieren der Hühnerflügel fertig?«, rief er. »Dann kann er mir mit dem Elektrogrill helfen.«

»Keine Ahnung«, sagte Hatty laut und sah ihn dabei nicht einmal an. »Du weißt, was ich damit andeuten will«, flüsterte sie.

4. Kapitel

Das Taxi hatte Sneijder wieder zurück zur Gerichtsmedizin gebracht. Nun bezahlte er den Fahrer, der sich nach hinten zu ihm drehte. »Sicher, dass Sie mich heute nicht mehr brauchen?«

»Ganz sicher.« Sneijder hatte bereits die Hand am Türgriff. Das Gewitter tobte mittlerweile auch über Wiesbaden und drückte den Regen gegen die Scheibe. »Das da drinnen wird länger dauern.« Sneijder sprang aus dem Taxi, schirmte das Gesicht mit dem Arm ab und lief die Treppe zum Gebäude hoch.

Er betrat den Vorraum und wischte sich das Wasser von der Glatze. Im Vorbeigehen drückte er beim Portier am Empfang aus Gewohnheit seinen Ausweis an die Scheibe. »Gab es irgendwelche Probleme?«

»Nein.«

»Goed, goed.« Sneijder eilte bereits weiter zu den Fahrstühlen, als der Portier den Kopf aus der Kabine streckte und ihm nachrief: »Wie lange werden Sie den Raum noch brauchen?«

»Bin in höchstens einer Stunde fertig.« Sneijder erreichte den Lift, sah jedoch, dass die Kabinen in den oberen Stockwerken standen. Kurzerhand riss er die Tür zum Treppenhaus auf, biss die Zähne zusammen und eilte in das zweite Untergeschoss hinunter. Der Chirurg hatte schließlich gesagt, dass er sich bewegen sollte.

Sein Weg führte ihn an den Räumen vorbei, in denen die Autopsien vorgenommen wurden. Gleich daneben befand sich die Leichenkammer. Er drückte die Tür auf und schaltete die Leuchtstoffröhren an der Decke ein. Flackerndes weißes Licht erhellte den Raum.

Wie oft war er schon hier unten gewesen und hatte Leichenfunde oder deren klägliche Überreste betrachtet. Morde gab es überall, auch in Wiesbaden. Im Verhältnis zu Frankfurt oder Berlin war die Wiesbadener Leichenkammer aber kleiner. Es roch vertraut nach Formaldehyd, Scheuermittel und kalten Fliesen. Unwillkürlich kamen Erinnerungen an die brutalen Mordfälle der letzten Jahre in ihm hoch, doch er unterdrückte die Bilder. Nichts von alldem konnte er jetzt brauchen.

Er blickte auf seine Armbanduhr mit dem rot-weiß-blauen Zifferblatt in den Farben der niederländischen Flagge. Die Stoppuhr zeigte einundachtzig Minuten und zwanzig Sekunden an, als er sie anhielt. Länger als ursprünglich geplant.

Er ging zur rückwärtigen Wand und zog die Schubladen eins bis neun der Reihe nach heraus. Auf den Bahren lagen nicht wie sonst üblich nackte Leichen, sondern bekleidete junge Menschen. Sneijder beobachtete, wie sie langsam aus ihrer Starre erwachten, Arme und Beine bewegten, die Augen zusammenkniffen und sie mit den Handflächen vor dem grellen Deckenlicht abschirmten. Die Szene sah aus wie in einem der zahlreichen Albträume, die ihn regelmäßig heimsuchten. Nur dass sie diesmal real war.

Einige der Personen stöhnten auf, rutschten ungelenk von der Bahre herunter und ließen den Nacken kreisen. Alle waren zwischen dreiundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre alt – fünf Männer und vier Frauen. Es waren die Studenten aus Sabines Modul über die Profilerstellung bei geistig abnormen Rechtsbrechern, das sie bis kurz vor ihrem letzten Einsatz noch an der BKA-Akademie für hochbegabten Nachwuchs unterrichtet hatte. Die meisten standen kurz vor ihrem Abschluss.

Sabine und Sneijder hatten seinerzeit alle Bewerbungsunterlagen selbst gelesen, die jungen Leute ausgesiebt und diese Gruppe ausgewählt. Unter ihnen befanden sich die besten Nachwuchstalente, mit denen das BKA in den nächsten Jahren rechnen konnte. Und genau deshalb hatte er ihnen auch zuvor die WhatsApp geschickt und sie zu diesem unorthodoxen Treffen zitiert. Drei hatten nicht darauf reagiert, zwei hatten keine Zeit, aber alle anderen waren gekommen, obwohl er sie an einem Sonntagabend so kurzfristig zusammengetrommelt hatte.

Nun saßen sie aufrecht auf ihren Bahren und sahen Sneijder erwartungsvoll an, nachdem sie über eine Stunde lang auf engstem Raum in absoluter Finsternis gefangen gewesen waren. Er las in ihren Gesichtern die ganze Bandbreite an Emotionen, die von Neugier, Verstörung, Angst, Hass und Beklemmung bis zur langsam abklingenden Panik reichten. Bloß eine der Personen hatte sich noch nicht bewegt. Die junge Kriminalkommissaranwärterin Miyu, eine Halbasiatin mit deutschem Vater und japanischer Mutter. Sie lag reglos auf dem Rücken und hatte völlig entspannte Gesichtszüge. Nur ihre Augen wanderten unter den Lidern hin und her.

Sneijder ging zu ihr und rüttelte sie sanft an der Schulter, woraufhin sie die Augen öffnete. Überraschenderweise war sie sofort hellwach. »Ich hatte gehofft, Sie bleiben noch länger weg.« Miyus harter Berliner Akzent passte gar nicht zu ihren dunklen mandelförmigen Augen.

»Soll ich Sie wieder ins Fach schieben?«

Ohne zu antworten, schwang sie die Beine über die Kante und setzte sich auf.

»Hast du geschlafen?«, fragte einer der Studenten amüsiert.

»Ich habe Primzahlen aufgesagt«, antwortete Miyu kühl.

»Und wie weit bist du gekommen?«

»Bis zweihundertelf.«

Einige Studenten lachten. »Ist aber nicht viel«, sagte einer.

»Ich habe bei zehntausend begonnen und rückwärts gezählt.«

Nun ging ein Gemurmel durch den Raum.

»Okay, Schluss mit dem Geplänkel.« Sneijder klatschte in die Hände. »Es ist nicht meine Art, mich zu bedanken, und daher werden Sie so etwas auch nie wieder aus meinem Mund hören – aber danke, dass Sie sich Zeit für diese freiwillige Übung genommen haben.« Er betrachtete die Studenten. Jetzt würde sich zeigen, wer in die engere Wahl kommen würde. »Welche neuen Erkenntnisse hatten Sie? Wer will beginnen?«

5. Kapitel

Sneijder sah in die Runde der Studenten. Einige hoben zögerlich die Hand, woraufhin er Kimberly zunickte, einer jungen Frau mit brünetten Rastalocken. »Sie zuerst! Wie haben Sie sich gefühlt?«

»Die Frage lautet doch eher, was Sie jetzt von uns hören wollen. Meinen Sie wegen der Dunkelheit oder wegen der Enge?« Sie fuhr sich nervös durchs Haar. »Ich …«

Unbrauchbar! Sneijder hob die Hand und deutete zu dem jungen Mann neben ihr, dessen Namen er nicht kannte und dem nach der gerade überstandenen Tortur immer noch der Schweiß auf der Stirn stand.

»Sie sind ein verfluchtes Arschloch, Sneijder!«, presste er hervor. »Sie sagten eine Stunde. EINE STUNDE! Und dann waren Sie fast eineinhalb Stunden lang weg!«

»Es waren knapp zweiundachtzig Minuten«, sagte Sneijder völlig emotionslos, dann deutete er zur nächsten Studentin.

»Der Geruch hat mich fertiggemacht. Ich musste ständig daran denken, was da alles vor mir darin gelegen hat und ob die Putzfrau auch wirklich …«

Sneijder wandte sich Ahmet zu, einem großen jungen Mann mit breiten Schultern, dunkler Hautfarbe und schwarzem Vollbart. »In drei kurzen und präzisen Sätzen!« Ahmet sah ihn verunsichert an, da anscheinend niemand mehr von ihnen genau wusste, was er eigentlich hören wollte. »Ich habe mich die ganze Zeit nach dem Sinn dieser Übung gefragt. War das ein Test, um zu prüfen, wer von uns am besten einer psychischen Belastung gewachsen ist?«

Sneijder schüttelte den Kopf.

»Wollten Sie uns verklickern, wie es ist, wenn wir uns plötzlich in der Rolle des Opfers wiederfinden?«, versuchte es Dierk, ein Kerl, der fast zwei Meter groß war, im BKA-Basketball-Team spielte und eine rahmenlose Brille trug. »Oder sollten wir in die Rolle des Täters schlüpfen?«

Jetzt begann unter den Studenten ein Rätselraten um seine möglichen Motive, wobei alle wild durcheinanderredeten – alle bis auf Miyu. Sneijder ließ sie eine Weile gewähren, dann schritt er ein. »Stopp!«, rief er, da er sich den Quatsch nicht länger anhören wollte.

Es wurde ruhig, und er sah in die Runde. »Wer von Ihnen hat sich eigentlich meiner Anweisung widersetzt, die ganze Zeit über still zu sein und nicht zu versuchen, mit den anderen zu reden?«

Zögernd hoben einige die Hände, schließlich waren alle oben. Wieder bildete Miyu die einzige Ausnahme. Sneijder wusste, dass ihr psychologisches Profil Hinweise auf eine Störung im Autismus-Spektrum aufwies und sie nicht viel Wert auf Kommunikation legte. Ihr traute er tatsächlich zu, als Einzige über achtzig Minuten lang völlig ruhig in der Lade gelegen und in Gedanken Primzahlen aufgesagt zu haben. Nun sprach er sie direkt an. »Wie haben Sie sich gefühlt?«

»Ich verstehe die Frage nicht.«

»Wie ist es Ihnen ergangen?«, hakte er nach.

Offenbar verstand sie die Frage immer noch nicht. »Wie immer.«

Sneijder zog eine Augenbraue hoch. »Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre langen glatten schwarzen Haare, die unten völlig gerade abgeschnitten waren, bewegten sich kaum.

»Haben Sie etwas zu den Kommentaren der anderen beizutragen?«

Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und setzte dann doch an, etwas zu sagen. »Sie wissen, dass ich kein Talent habe, mich in die Seele von Opfern und Tätern hineinzuversetzen.«

»Nennen wir die Sache doch konkret beim Namen«, unterbrach er sie. »Sie haben nicht nur kein Talent dazu, sondern haben aufgrund Ihrer neuronalen Störung nicht einmal die geringste Möglichkeit, sich in die Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen. Im Gegenteil – Sie müssen Ihre eigenen emotionalen Zustände verdrängen, damit Ihr Verstand in einer Aneinanderreihung von Routinen ablaufen kann, da Reize und Umwelteinflüsse Ihr Hirn sonst überfordern würden.«

Eigentlich hätte jemand wie Miyu gar keine Chance gehabt, nach dem Eignungstest an der Akademie aufgenommen zu werden, aber er und Sabine hatten interveniert, weil sie sicher waren, dass diese junge Frau großes Potenzial besaß und unbedingt gefördert werden musste. Sie dachte präzise, klar und sachlich, würde nicht so leicht wie die anderen in Panik geraten und konnte mit der richtigen Ausbildung eine verdammt gute Ermittlerin werden. Allerdings barg ihre Störung auch zahlreiche Risiken. »Habe ich recht?«, fragte er nun, da sie ihm die Antwort schuldig geblieben war.

»Wann hatten Sie jemals unrecht?« Sie nickte. »Ich wusste ja nicht, worauf das Ganze hinausläuft. Deswegen habe ich mich zuvor in das Datenarchiv der Pathologie gehackt und die Namen und Hintergrundinformationen über die Toten rausgesucht, die im letzten Monat hier aufbewahrt worden waren.«

»Dazu hatten Sie gar keine Zeit.«

»Doch, gleich nachdem ich Ihre Nachricht erhalten hatte.«

»Okay, und wozu?«, erwiderte Sneijder. »Sie wussten ja gar nicht, in welches Fach ich Sie stecken würde.«

Sie sah ihn verständnislos an. »Ich habe mir alle gemerkt. In Fach sieben war zuletzt eine einundzwanzigjährige Frau, die von ihrem Vater seit ihrem achten Lebensjahr missbraucht worden ist, zwei Abtreibungen hinter sich hatte und sich schließlich mit Säure selbst das Leben genommen hat.«

Sneijder erinnerte sich an den Fall. »Und wie hat das auf Sie gewirkt?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hätte es nicht mit Säure getan.«

Einige schluckten, die anderen schwiegen.

»Interessiert es Sie denn nicht auch, worum es bei dieser Übung ging?«, fragte Sneijder sie.

Miyu schüttelte den Kopf. »Ging es denn überhaupt um irgendetwas Spezifisches?«

Jetzt nickte Sneijder zum ersten Mal. Er wandte sich an die anderen. »Tatsächlich ging es in Wahrheit nur darum, Sie besser kennenzulernen. Ich wollte Ihre unterschiedlichen Reaktionen sehen, wenn Sie ein und derselben Extremsituation ausgesetzt sind. Wie Sie sich verhalten, wie Sie denken, wie Sie argumentieren, welche Fragen Sie sich stellen – wie Ihr Geist arbeitet und funktioniert.«

Ahmet ließ den Bizeps unter seinem engen Rippshirt nervös auf und ab hüpfen, während er sich in der Runde umsah. »Und wer hat den Test nun bestanden?«

»Das war kein Test«, korrigierte Miyu ihn. »Er wollte uns nur besser kennenlernen.«

Sneijder verzog den Mund zu einem kalten Lächeln. »Okay, die Show ist vorbei. Sie können jetzt nach Hause gehen. Genießen Sie den Rest des Wochenendes.«

»Ha, witzig«, knurrte Dierk.

Obwohl Sneijder sie auffordernd ansah, bewegte sich keiner von ihnen, als wollten sie noch etwas länger bleiben, um weiter mit ihm zu diskutieren. Wann hatte man schon die Gelegenheit, ihn privat und bei halbwegs guter Laune zu erwischen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. »Gibt es noch was?«, fragte er scharf.

Kimberly räusperte sich. »Stimmt es, dass Sabine Nemez bei Ihrem letzten gemeinsamen Einsatz gar nicht gestorben ist?«

Schau dir diese kleinen Biester an! Nun war Sneijder tatsächlich überrascht. Die hatten das schon in Erfahrung gebracht, obwohl er es selbst erst seit wenigen Stunden wusste. Die Gerüchteküche im BKA hatte schon immer tadellos funktioniert. Offenbar hatte Dr. Ross es in ihrer Euphorie gleich den Leuten der Personalabteilung gesteckt, und die hatten sich ausnahmsweise einmal nicht so genau an die Verschwiegenheitspflicht gehalten. Nein, eigentlich kaum vorstellbar. Dann musste der Mann vom Haussicherungsdienst, der Dr. Ross zu ihm gefahren hatte, geplaudert haben. Aber letztendlich war es egal.

»Richtig.« Sneijder nickte. »Sie hätten es ohnehin morgen oder spätestens übermorgen an der Akademie erfahren. Ich habe heute Abend um siebzehn Uhr, also knapp eine Woche nach ihrem vermeintlichen Tod, einen Anruf von Nemez erhalten, der jedoch sofort unterbrochen wurde.«

»Ich wusste, dass es stimmt.« Kimberly klatschte mit der Faust in die Handfläche. Plötzlich rückten alle näher an ihn heran. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Noch nicht.«

»Aber Sie werden versuchen, es herauszufinden?«

»Exakt dafür werde ich eine neue Ermittlergruppe zusammenstellen.«

Ein Raunen ging durch die Kammer. »Und wann ist es so weit?«, fragte Dierk.

»Ich habe …«, er blickte auf die Uhr, »… gerade eben damit begonnen.«

6. Kapitel

Nachdem sie am Lagerfeuer die Hühnerflügel und Maiskolben verdrückt hatten, die Gerlach auf dem Elektrogrill zubereitet hatte, machten Hatty und Jasmin den Abwasch.

Hatty spülte das Geschirr und Jasmin trocknete es ab. Dabei sah Hatty durch das kleine ovale Küchenfenster des Campers, wie Ben mit Mutter und Gerlach im Licht der Solarleuchten Federball spielte. Der Ball war so ein seltsames Ding, das jedes Mal quäkte und bunt aufleuchtete, wenn man draufschlug. Ben und Mutter spielten gegen Gerlach, der für sein Alter noch ziemlich fit war. Und nach Mutters Lachen zu urteilen, schienen sie alle Spaß zu haben.

»Es könnte Millionen Gründe dafür geben, warum Ben sich merkwürdig verhält«, sagte Jasmin. »Das muss nicht unbedingt auf sexuellen Missbrauch hindeuten.«

Sexueller Missbrauch. Bei den Worten zuckte Hatty zusammen. »Du weißt ja noch nicht alles.« Diesmal musste sie nicht flüstern. Die Tür des Campers war zu, und Hatty hatte die drei beim Federballspiel gut im Blick.

»Ich weiß nicht, ob ich das hören will«, gab Jasmin zu.

Hatty warf ihr einen flehenden Blick zu. »Ich muss es einfach jemandem erzählen.«

»Also gut«, seufzte Jasmin.

Hatty blickte wieder durchs Fenster, während sie die Pfanne scheuerte, in der ihre Mutter die Kartoffeln gebraten hatte. »Seit einem halben Jahr wohnen wir in Gerlachs Villa.«

»Ich weiß, ich habe dich mal daheim abgeholt.«

»Ja, richtig.« Sie fuhr sich mit der nassen Hand über die Stirn. »Dann kennst du ja das Haus. Im oberen Stockwerk hat Gerlach ein Büro, in dem er extrem viel Zeit verbringt. Fast immer abends und jeden Sonntagvormittag. Keine Ahnung, was er dort treibt. Vor einem Monat habe ich das Büro zufällig durchsucht und …«

»Wie kann man zufällig ein Büro durchsuchen?«, unterbrach Jasmin sie.

»Na ja …«, wich Hatty aus. »… ich wollte wissen, was er dort stundenlang macht.«

»War es gar nicht abgesperrt?«

»Doch, aber ich habe einmal gesehen, wie seine Putzfrau nach dem Reinigen des Zimmers den Schlüssel in eine Vase gelegt hat.«

»Okay, und weiter?«

»Es hätte ja sein können, dass er ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat und heimlich mit ihr chattet. Also habe ich einen Blick in seinen Schreibtisch geworfen und nach Bildern gesucht. Aber anscheinend steht er gar nicht so sehr auf Frauen, wie ich dachte.«

»Weil ...?« Jasmin hielt den Atem an.

»… ich in seiner Schublade eine Mappe mit Schwarz-Weiß-Fotos … von nackten Jungs gefunden habe.«

»Kleinen … Jungs?«

»Ja, sehr kleinen.« Jetzt ist es endlich draußen! Erleichtert ließ sie die Schultern sinken, wagte aber nicht, Jasmin dabei anzusehen.

»Das ist schlimm …« Jasmin klang ziemlich betroffen. »… aber wer hat heutzutage noch ausgedruckte Fotos?«, grübelte sie. »Das ist doch mittlerweile alles digital auf dem Rechner. Oder hat er gar keinen PC?«

»Doch, ein kleines blaues Notebook, aber warte ab, es kommt noch schlimmer …« Sie sah auf und atmete tief durch. »Als Gerlach kurz darauf wie immer den Sonntagvormittag in seinem Büro verbracht hat, musste Mutter mit Ben wegen irgendeines Ausschlags zum Arzt, und ich war mit Gerlach allein. Dann wurde er angerufen und musste selbst rasch weg. Keine Ahnung, es ging, glaube ich, um seine ältere Schwester, die zu der Zeit im Krankenhaus lag. Jedenfalls ist er überstürzt losgefahren.«

»Ich ahne, was du gemacht hast«, murmelte Jasmin.

»Hättest du es nicht getan? Ich musste die Chance nutzen, also bin ich noch einmal in sein Büro. In seiner Eile hatte Gerlach sein Notebook nur zugeklappt. Es lief noch. Kein Bildschirmschoner, kein Passwort. Ich habe mir den Browserverlauf im Internet angesehen.«

»O Gott!«, stöhnte Jasmin auf.

»Genau! Und der hat zu ziemlich eindeutigen Seiten geführt. Seitdem weiß ich, was das Darknet ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was er sich da alles angesehen hat. Kleine Jungs und …«

»Hör auf!« Jasmin starrte nun ebenfalls durchs Fenster und beobachtete Gerlach, wie er lachend den Federball über die Wiese drosch.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Hatty. »Wie kann sich so ein netter Kerl so einen ekeligen Mist ansehen. Im Grunde genommen könnte es mir ja egal sein, worauf er steht und was er sich in seiner Freizeit reinzieht. Tatsächlich ist es das Problem meiner Mutter und nicht meines. Aber …« Sie sah Jasmin fest in die Augen. »… wenn er Ben mit seinen Drecksgriffeln auch nur ein einziges Mal angefasst hat, mache ich ihn fertig. Das schwör ich dir!«

Nachdenklich wandte Jasmin den Blick vom Fenster ab und senkte den Blick. »Du kannst aufhören, die Pfanne zu scheuern.«

Normalerweise hätten sie jetzt beide laut aufgelacht, aber ihnen war nicht zum Lachen zumute.

»Glaubst du, dass er Ben missbraucht hat?«, fragte Jasmin.

Hatty legte die Pfanne weg. »Warum sollte mein Bruder sonst schon seit Monaten nicht mehr sprechen? Ich habe mir das Gehirn zermartert, aber mir fällt kein anderer plausibler Grund ein.«

»Möchtest du, dass wir mit deiner Mutter darüber sprechen?«

»O Gott, nein!«, entfuhr es Hatty lauter, als ihr lieb war. »Lieber beiße ich mir die Zunge ab.«

»Willst du zur Polizei gehen?«

»Mit welchen Beweisen? Dass er sich im Darknet Videos ansieht? Ich habe mich erkundigt. Gerlach war mal ein echt angesehener Staatsanwalt, bevor er Richter wurde. Der hat bestimmt immer noch so gute Beziehungen, dass es zu keiner Anklage gegen ihn kommt. Die kehren doch immer alles unter den Tisch.«

»Teppich meinst du.«

»Ja, von mir aus. Und dann stehe ich schön blöd da.«

»Dann hast du einen anderen Plan?«, vermutete Jasmin.

Hatty nickte. »Später erzähle ich dir mehr darüber.«

Nachdem sie mit dem Abwasch fertig waren, spielten sie mit Ben in ihrem Zweimannzelt im Licht zweier Solarleuchten noch eine Partie Risiko. Dabei taten sie alles, um Ben gewinnen zu lassen. Wie eine Horde Heuschrecken marschierte er mit seinem Heer über das Spielbrett und freute sich über jedes eroberte Land. Zunächst machte er sich mit Gesten verständlich, sprach dann aber sogar ein paar Worte, als hätte er vergessen, dass er eigentlich stumm sein wollte. Später brachte ihn seine Mutter im Wohnmobil zu Bett, und Hatty und Jasmin boten sich an, den Abfall zum Müllplatz zu bringen.

Absichtlich gingen sie die längere Strecke am Ufer entlang in Richtung des kleinen rot-weiß gestreiften Leuchtturms mit dem angrenzenden Schiffsrestaurant. Sie schwiegen eine Weile und hörten den Wildenten im Unterholz beim Schnattern zu, bis Hatty schließlich das Thema wieder aufgriff. »Ich will Gerlach auf frischer Tat ertappen.«

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Jasmin.

Sie kamen an einer Bungalowanlage vorbei. In einer der Hütten kläffte ein Hund, aus einer anderen dröhnte ein Fernsehgerät.

»Ich habe mir in einem Outdoorladen eine Mini-Wildtierkamera mit eingebautem Bewegungsmelder gekauft.«

»Im Outdoorladen?«, entfuhr es Jasmin. »Wieso nicht übers Internet?«

»Bist du bescheuert? Falls es Gerlach irgendwie schafft, sich meinen Account anzusehen, weiß er doch sofort, was ich vorhabe.«

»Das ist wie in einem schlechten Spionagefilm«, stöhnte Jasmin. »Und weiter?«

»Was weiter? Ich brauche absolut wasserdichte Beweise gegen Gerlach, und deshalb werde ich die Kamera heimlich im Wohnmobil verstecken.«

»Und dann? Die ganze Zeit filmen?«

»Die hat Infrarot für Nachtaufnahmen und filmt nur, wenn sich etwas bewegt. Die Batterien sind neu, und die microSD-Speicherkarte reicht für insgesamt drei Stunden Aufnahme.«

»Und wie groß ist das Ding?«

Hatty zeigte mit den Händen die Umfänge eines Funkgeräts.

»Sehr unauffällig«, ätzte Jasmin.

»Ich hab schon eine Idee, wo und wie ich es verstecken könnte.«

»Ich weiß nicht …« Zögernd verzog Jasmin den Mund.

»Was?«

»Ich habe deinen Bruder beobachtet. Ja, stimmt, er wirkt verstört, aber nicht nur, wenn er mit deinem Stiefvater allein ist, sondern auch … generell.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass es vielleicht gar nichts mit Gerlach zu tun hat.«

»Und weiter?«

»Möglicherweise könnte es auch an deiner Mutter liegen, immerhin fasst sie ihn schon manchmal harsch an und …«

»Blödsinn!«, fuhr Hatty sie an. »Denk daran, was ich in Gerlachs Schublade und auf seinem Notebook gefunden habe. Er ist es, vor dem Ben sich fürchtet.«

»Wenn es wirklich so ist, dann ist das unglaublich dramatisch und auch traurig … aber ich spioniere hinterrücks keine Leute aus, die vielleicht gar nicht schuldig sind. Schon gar keinen ehemaligen Richter.«

»Du hast doch nicht etwa Angst vor ihm?«

»Nein!«, fuhr Jasmin sie an. »Aber die ganze Herangehensweise ist einfach viel zu laienhaft. Wenn Gerlach uns erwischt, sind wir beide dran. Egal, ob er Dreck am Stecken hat oder nicht.«

»Aber wenn er schuldig ist?«

Jasmin gab keine Antwort darauf. Sie rümpfte nur die Nase. Es roch nach Moder und Abfall. Sie hatten den Müllplatz erreicht und warfen die Säcke in den Container. Dann gingen sie wieder retour.

Lange Zeit sagten sie nichts, bis Hatty wieder den Mund aufmachte. »Aber wir könnten doch …«

»Nein«, unterbrach Jasmin sie. »Von meinem Vater weiß ich, dass solche Aktionen meistens schiefgehen.«

»Richtig, dein Vater ist ja bei der Polizei …«, stellte Hatty fest. »Er könnte doch …«

Abrupt blieb Jasmin stehen, und Hatty sah im Licht der Laternen, wie Jasmins Augen groß wurden. »Jetzt wird mir klar, warum du mich unbedingt bei diesem Urlaub dabei haben wolltest.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Hatty eine Spur zu schnell.

»Bullshit!«, zischte Jasmin. »Von wegen, ich würde zu Hause versauern und wir könnten zwei Wochen am See verbringen. Mini-Golf und Wasserskifahren. Toll! In Wahrheit geht es dir doch nur um meinen Vater, weil der bei der Kripo ist.«

»Es tut mir ja leid, aber ich war verzweifelt.«

»Prima!«

»Wir könnten ihn doch um Rat fragen.«

»Vergiss es, Mata Hari!«, fauchte Jasmin. »Ich lasse nicht zu, dass du meinen Vater in diese Sache hineinziehst. Das sind doch alles wild zusammengeschusterte Vermutungen.«

Das ist ja gründlich in die Hosen gegangen. »Warum glaubst du, sind wir ausgerechnet hier?«, versuchte Hatty es noch einmal. »Mitten auf einem Campingplatz? Warum nicht in einem Hotel? Auf einem Schiff? Auf einem Städtetrip? Einer Rundreise? In einer Wellnesstherme?«

»Wie meinst du das?«

»Campingplatz!«, rief Hatty. »Denk an den Kinderpornoring am Campingplatz von Lügde in NRW. Dort hat auch einer Fotos und Videomaterial gehortet, und es gab über hundert Missbrauchsfälle.«

Jasmins Mund klappte auf. »Du bist doch verrückt!«

Hatty spürte, wie ihre Halsschlagadern anschwollen. »Ach, bin ich das?«

7. Kapitel

Eine Woche zuvor: Die Nacht auf Dienstag, den 29. Mai

Die Explosion im Inneren des Schiffsrumpfs riss Sabine Nemez von den Beinen. Sie spürte die Druckwelle und wurde im gleichen Moment mit dem Kopf gegen die Bordwand geschleudert. Im nächsten Moment klatschte sie ins Wasser, das den Korridor bereits knietief geflutet hatte.

Der Druck der Detonation lag auf ihren Ohren, und sekundenlang hörte sie nur den schrill sirrenden Nachhall. Du musst aus diesem Schiff raus!

Zum Glück hatte sie durch die Wucht der Explosion ihr Pick-Set nicht verloren. Sie hielt das Etui immer noch krampfhaft in den klammen Fingern und öffnete es nun. Vorsichtig nahm sie jenen Dietrich heraus, mit dem sie die Handschellen am besten öffnen konnte, und ließ den Rest ins Wasser fallen. Der Sog trieb das Pick-Set sofort weg und spülte es in eine Nische.

Während das Wasser im Deck nun sekündlich schneller stieg, drehte Sabine die Handschelle so zu sich, dass sie das Eisen direkt vor sich sah. Besser ging es nicht, da sich das Regal, an das sie gekettet war, so blöd im Gang verkeilt hatte, dass sie ihren Arm verbiegen musste.

Nur keine Panik jetzt!

Das eiskalte Salzwasser reichte ihr mittlerweile bis zur Hüfte. Sabines Zähne klapperten vor Kälte. Mit steifen Fingern führte sie die beiden Teile des Dietrichs ins Schloss und drehte sie so lange darin herum, bis die Zahnräder aufsprangen. Dann streifte sie die Handschelle vom Gelenk und watete durch den Gang in Richtung Treppe.

Das Schiff hatte eine so starke Schlagseite erreicht, dass sie sich an der Wand abstützen musste. Das Licht im Gang flackerte, dann fiel der Strom ganz aus. Sabine spürte ihre Zehen schon gar nicht mehr, während sie weiter durchs Wasser stapfte.

Als sie den schmalen Niedergang erreichte, der ins obere Deck führte, wurde das Containerschiff von neuerlichen Explosionen erschüttert. Vermutlich gingen gerade weitere Öl- und Chemiefässer der Reihe nach hoch. Sabine wurde nach vorn auf die Treppen geworfen, wobei sie sich an einer scharfkantigen Stufe die Stirn aufriss. Sogleich lief ihr warmes Blut übers Gesicht.

Über ihr hing eine aus der Verankerung gerissene Lampe von der Decke und schlug gegen die Seitenwand. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Feuer die weiteren chemischen Abfälle und vor allem die Gasflaschen erreichen würde, die an Deck des Frachters lagerten. Dann würde das Gas die gesamten oberen Decks in einem gigantischen Feuerwerk in die Luft jagen.

Rasch kletterte sie auf allen vieren über die Treppe nach oben. Von unten stieg das Wasser weiter, von oben schlug ihr Rauch entgegen. Mit einer Hand hielt sie sich das nasse T-Shirt vor Mund und Nase.

Nachdem sie zwei weitere Decks geschafft hatte, gelangte sie durch eine Luke seitlich ins Freie. Endlich wieder frische Luft atmen! Röchelnd klammerte sie sich an die Reling, um nicht kopfüber von Bord zu stürzen. Der Frachter lag schon sehr schief im Wasser. Die eigentlich sternenklare Nacht wurde immer wieder durch schwarze Rauchwolken verdunkelt, die der Wind in alle Richtungen zerriss. Beißender Qualm lag in der Luft.

Vor ihr glitzerte die schwarze Meeresoberfläche, in der sich das lodernde Feuer der oberen Decks spiegelte. In etwa fünfhundert Metern Entfernung sah sie die Lichter des Kaliningrader Hafens. Die Kräne und Werfthallen wurden von den Scheinwerfern in einen rötlichen Schimmer getaucht.

Sabine stand an der Schlagseite des Schiffs, die sich immer tiefer neigte. Sneijder und die Matrosen, die sich aus dem Frachter gerettet hatten, befanden sich auf der anderen Seite auf einer Felsbank, wo sie auf ein Rettungsboot warteten. Es wäre klug gewesen, sich zu ihnen vorzuarbeiten, doch angesichts der verheerenden Schräglage des Schiffs, die es ihr unmöglich machte, das Deck zu überqueren, verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Es schien nur noch eine Alternative zu geben. Du musst springen! Ängstlich sah Sabine hinunter. Das Wasser erstickte zwar den Großteil der Flammen, aber um sie herum sprudelten die Luftblasen in die Höhe wie bei einem wild gewordenen Geysir.

Wenn sie es nicht rechtzeitig vom Schiff runterschaffte, würde sie der Sog mit in die Tiefe reißen. Noch einmal klammerte sie sich an die Reling und schrie laut um Hilfe, gab den Versuch aber gleich wieder auf. Über ihr brachen die Container quietschend aus der Verankerung und stürzten mit lautem Knall ins Wasser. Auf der anderen Seite würde sie niemand hören.