Herzlos - Rosmarie Schoop - E-Book

Herzlos E-Book

Rosmarie Schoop

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Beschreibung

Fito ist Dieselmotoren-Spezialist bei der Schweizer Firma Sulzer in Winterthur. Er arbeitet wie viele andere Winterthurer schon in dritter Generation beim Unternehmen und ist als Ausland-Monteur vor allem in Südamerika tätig. Für ihn und seine Arbeitskollegen beginnt eine Odyssee, als der Dieselmotorenbereich verkauft werden soll. Während eines Ausland-Einsatzes begegnet Fito im Salpeterwerk María Elena in der chilenischen Atacamawüste zufällig seinem verschollen geglaubten Onkel Enrique und dessen Familie. Durch Enrique spürt Fito zum ersten Mal, wie stark Familienbande sein können, denn seine Jugend war nicht unbelastet. Wenig später lernt er die geheimnisvolle Norma kennen und ist fasziniert von ihr. Sie ist charismatisch und anpassungsfähig, kann aber keinen Frieden schliessen mit ihrer Vergangenheit. Nach einer Zeit in Peru zieht das Paar in die Schweiz, die María Elena lässt sie aber nie los. Auch das Schicksal ihrer gemeinsamen Tochter Rosalie ist eng mit dem Salpeterwerk verbunden. Aus einem Herzstück Winterthurer Firmen- und Stadtgeschichte entspinnt sich ein feines Netz über Generationen und Kontinente.

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Für meine Eltern Hermann Schoop und

Lina Schoop Olivares

und für alle stillen Sulzer-Helden

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: 1965 bis 1980

Personenglossar

Glossar

Mosambik, März 1966

Ein Jahr zuvor im Salpeterwerk María Elena, März 1965

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Zurück in die Zukunft, März 1966

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Peru

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Abschied und Aufbrüche

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Winterthur

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Enrique, Lucrecia und Margrit, 1972

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Ungleichgewicht, 1973

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Krise in der Sulzer-Dieselmotorenabteilung, 1975

2. Kapitel

Peru

Kintsugi

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Margrit

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Chile, 1980

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Zweiter Teil: 1981 bis 1989

Personenglossar

Krisenjahre

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Valparaíso

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Rosalie und Camilo

2. Kapitel

3. Kapitel

Umherschwirrende Atome, 1988

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

María Elena

2. Kapitel

3. Kapitel

Inamorati

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Ja oder nein

2. Kapitel

Der Ausverkauf beginnt, 1989

2. Kapitel

3. Kapitel

I.H.R.

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Unwohlsein

2. Kapitel

3. Kapitel

Herzklopfen

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Humberstone

2. Kapitel

3. Kapitel

Aufregung

2. Kapitel

3. Kapitel

Dritter Teil: 1990 bis 2000

Turbulenzen

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

The blond at my office

2. Kapitel

Vollbracht

2. Kapitel

El sol, la luna

New Sulzer Diesel

2. Kapitel

Das Wiedersehen

2. Kapitel

Schöne und weniger schöne Wochen

2. Kapitel

Trauerzug

2. Kapitel

Endlich

2. Kapitel

Wiedervereinigung

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Geburtstag statt Familie

2. Kapitel

Überraschungen

2. Kapitel

Manuelito

2. Kapitel

Alptraum

2. Kapitel

3. Kapitel

Drei Wochen

Übersehen

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Lindenstraße

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Flucht in die Berge

2. Kapitel

Allein

2. Kapitel

3. Kapitel

Der Mann für alle Fälle

Alte Freunde

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Ein Ort für Touristen

Neue Wurzeln

Heinz

2. Kapitel

3. Kapitel

Die Schachtel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Nachwort

María Elena

Leserstimmen

Zu diesem Roman

Erster Teil 1965 bis 1980

Personenglossar

Fito

Sulzer

-Monteur, Spezialist für Dieselmotoren

Norma

Fitos chilenische Freundin und spätere Frau

Rosalie

Fitos und Normas Tochter

Andrés und Lorena

Normas Bruder und dessen Frau

Werni und Margrit

Fitos Eltern

Trudy

Fitos Schwester

Lotti und Max

Ehepaar, das Margrit bei sich zu Hause aufgenommen hat

Toni Brunner

Fitos Vorgesetzter

Heinz

Fitos Freund, auch

Sulzer

-Monteur

Enrique und Lucrecia

Fitos chilenischer Onkel und dessen Frau

Rosa und Hugo

Enriques und Lucrecias Zwillinge

Robert Sulzer

ehemaliger

Sulzer-

Chef

Georg Sulzer

ehemaliger

Sulzer-

Chef

Glossar

Caliche

Ausgangsstoff für die Gewinnung von Chile-Salpeter. Sandige, aus Natriumnitrat und anderen Salzen, Chloriden und Sulfaten bestehende Substanz

Campamento

Wohnsiedlung in einem Salpeterwerk. Hier befinden sich Schulen, Läden und die Kirche

Chile-Salpeter

In der chilenischen Atacamawüste gewonnenes Natriumnitrat

Charquicán

Eintopf aus Rinderhackfleisch, Tomaten, Kürbis und Kartoffeln

Cuadro Blanco

Ursprünglich

Academia de Educación física.

Im Jahr 1948 gegründete Sportakademie des Salpeterwerks

María Elena

Elenino/elenina

Bewohner / Bewohnerin von María Elena

Empanada

Teigtasche aus Weizenmehl, gefüllt mit Hackfleisch, Zwiebeln, gekochten Eierstücken, Oliven und Rosinen

Maestranza

hier werden Werkzeuge hergestellt, aber auch Teile der Produktionsanlage und der Eisenbahn, die die Wüste durchquert, repariert

Pampino/a

Person, die in einem Salpeterwerk geboren oder aufgewachsen ist oder dort gelebt und gearbeitet hat

Pebre

typische chilenische Beilage aus Tomaten, einer mittelgroßen Zwiebel, einer Tasse gehacktem Koriander und einer Tasse gehackter grüner Chili. Wird mit Öl, Salz, Zitronensaft und/oder Essig angerichtet

Pisco sour

Traubenbranntwein. Stark alkoholhaltiges chilenisches Nationalgetränk

Pulpería

Geschäft in einem Salpeterwerk

Salpeterwerk

Besteht aus dem

Campamento,

dem Verwaltungsgebäude, der

Maestranza

und dem Ort, wo Salpeter gewonnen wird

Mosambik, März 1966

Fito schraubte in Mosambik an einem Dieselmotor herum, als er plötzlich den Kopf schüttelte und das Werkzeug beiseitelegte. Im letzten Jahr war so viel passiert, er wunderte sich noch immer darüber. Morgens, wenn er aufwachte, fragte er sich oft, ob er alles nur geträumt hatte. Ausgerechnet ihm, der von Natur aus sehr rational war und nur glaubte, was er sah, war etwas Unglaubliches widerfahren.

Mitten in der chilenischen Atacamawüste im Salpeterwerk María Elena, zwischen Calama und Tocopilla, war er seinem Onkel Enrique begegnet. Sie hatten sich im Maschinenraum kennengelernt, für den Enrique verantwortlich war. Fito sollte dort einen Sulzer-Dieselmotor reparieren. Nur wenige Monate später war Norma in sein Leben getreten.

In der vorhergehenden Nacht hatte Fito kaum geschlafen, seine Gedanken ließen ihn kaum zur Ruhe kommen. Da er sich plötzlich sehr müde fühlte, beschloss er, im Schatten eines Baums ein Nickerchen zu machen.

Ein Jahr zuvor im Salpeterwerk María Elena, März 1965

Fito saß auf der Plaza der María Elena. Obwohl es schon recht spät war, wollte er nicht in sein enges Hotelzimmer zurück. Er sah zum klaren Sternenhimmel und streckte einen Arm in die Höhe, als würde er nach einem Stern greifen. Er lächelte, als er sich seiner Handlung bewusst wurde. Er war erfüllt von einem Glücksgefühl, das ihm neu war, und gleichzeitig angeheitert von den beiden Pisco sour.

Fito schloss die Augen. Immer wieder dachte er an den Augenblick, als Enrique vor ein paar Stunden nach dem gemeinsamen Familienabendessen zitternd vor ihm stand. «Ich bin dein Onkel, ich habe es selbst eben erst erkannt.» Fito schüttelte den Kopf. Da steht jemand vor dir, und es stellt sich heraus, es ist dein Onkel. Der verschollene Zwillingsbruder deiner Mutter, den man irgendwo in Brasilien vermutete. Nicht in Chile. Es war alles so überwältigend, und gleichzeitig fühlte sich alles richtig an. Enrique war ihm mittlerweile ebenso vertraut wie dessen Frau Lucrecia und ihre Zwillinge Hugo und Rosa.

Am selben Abend hatte ihm Rosa seinen Spitznamen gegeben, den er nie mehr ablegen würde. Fito sei die Koseform von Rodolfo, hatte sie ihm erklärt. Sie empfinde ihn liebevoller als seinen Taufnamen Rudolf, außerdem sei er kürzer.

2.

Enrique erkannte, dass sein Neffe es nicht gewohnt war, so viel Zuneigung zu erfahren. Als er ihn einmal dazu aufforderte zu sagen, wenn es ihm zu viel wurde, lächelte Fito. Die überschwänglichen Gefühlsäußerungen seiner Verwandten waren neu für ihn, aber er empfand sie als angenehm, weil er sich geliebt fühlte.

Fito freute sich, dass sich sein Onkel für alles zu interessieren schien, was mit ihm zu tun hatte. Auch für seine Lehre als Maschinenschlosser bei Gebrüder Sulzer und für seine Arbeit im selben Betrieb. Er war überrascht, dass Enrique einiges über die Firma wusste, die aus der Mitte der 1830er Jahre von Johann Jacob Sulzer gegründeten Gießerei hervorgegangen war. Ein Schweizer Ingenieur hatte Enrique vor über vierzig Jahren erzählt, dass Sulzer seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert Viertaktmotoren für dieselelektrische Kraftzentralen in der ganzen Welt gebaut habe. Über die Jahre hinweg waren viele Informationsfetzen über das Schweizer Traditionsunternehmen dazugekommen.

Enrique reagierte überrascht, als er von seinem Neffen erfuhr, dass in jeder Winterthurer Familie mindestens eine Person bei Sulzer angestellt war. Das Unternehmen sei einer der größten Arbeitgeber in der Stadt, erzählte Fito. Auch sein Großvater habe in der Elektrowerkstatt von Sulzer gearbeitet, bevor er sich als Schmied selbstständig gemacht habe. Und sein Vater Werni sei Sulzer nach der Lehre zum Maschinenschlosser bis zu seiner Pensionierung viele Jahre als Schweißer und zuletzt als Magaziner treu geblieben. Enrique lächelte. Vielleicht hätte auch er sein ganzes Berufsleben bei Sulzer verbracht, wären seine Adoptiveltern mit ihm nicht nach Chile emigriert.

3.

Onkel und Neffe saßen auf einer Sitzbank der Plaza. Enrique forderte Fito auf, ihm etwas über Sulzer zu erzählen, das in die Geschichte eingegangen sei. Fito dachte kurz nach und entschied sich für die Episode über den abgewendeten Streik.

An einem Sommertag im Juli 1937 sei sein Vater aufgelöst nach Hause gekommen. Die Arbeiter hätten sich in der Montagehalle für Großdieselmotoren versammelt, um über einen Streik abzustimmen. Viele hätten sich dafür ausgesprochen, eine schon lange fällige Lohnerhöhung zu erzwingen. Zusammen mit anderen habe Werni auf einer riesigen Maschine gesessen und von dort aus das Geschehen beobachtet. Eigentlich sei er für eine Arbeitsniederlegung gewesen. Aber der damalige Unternehmenschef Robert Sulzer habe die Mehrheit der Anwesenden davon überzeugt, nicht zu streiken, auch Werni. Vor wenigen Jahren sei die Produktion um zwei Drittel gesunken, was zu einem massiven Personalabbau geführt habe. Werni habe wie auch andere Angst gehabt, seine Arbeit zu verlieren, wenn er seine Hand erhob.

Enrique nickte nachdenklich. Die 1930er Jahre waren weltweit Krisenjahre gewesen. Auch das Salpetergeschäft lief damals so schlecht, dass in der Atacamawüste ein Salpeterwerk nach dem anderen stillgelegt wurde. «Noch im selben Monat unterzeichneten die Verbände der Metallindustrie das sogenannte Friedensabkommen», hörte er Fito sagen. Enrique glaubte, sich verhört zu haben. Ein Friedensabkommen. Das klang ja so, als ob sich die Arbeiter mit dem Abkommen dazu bereiterklärt hätten, nicht zu streiken.

Fito erriet die Gedanken seines Onkels. «Die Vereinbarung verpflichtete Arbeitnehmer und Arbeitgeber dazu, miteinander zu reden.»

Enrique schüttelte ungläubig den Kopf. Er war der Überzeugung, dass ein Streik in einem Land wie der Schweiz die stärkste Waffe des Arbeiters war, um etwas zu erreichen. In der Schweiz wurden Aufstände soviel er wusste nicht mit Militärgewalt beendet wie in Chile. Enriques Gesichtszüge hatten sich verhärtet. Zeit, das Thema zu wechseln, besann er sich. Er schlug seinem Neffen für den folgenden Tag eine Führung durch das Werk vor. Natürlich nur, falls er Lust dazu habe und ihm seine Gesellschaft nicht zu viel werde. Er lächelte gutmütig.

Auch Fito lächelte. Sein Onkel ahnte nicht, wie gerne er mit ihm zusammen war. Wie ein Schwamm saugte Fito jeden aufmerksamen Blick, jedes liebe Wort, jede liebevolle Geste von ihm auf. Unbewusst wollte er so jedes Zeichen der Zuneigung in jeder Zelle seines Körpers abspeichern.

Seit ihrer ersten Begegnung im Motorenraum der María Elena waren einige Wochen vergangen. Fito kam es vor, als habe er in dieser Zeit mit dem Onkel mehr geredet als sein bisheriges Leben mit dem Vater.

4.

Es war Samstagmorgen. Fito hatte schlecht geschlafen. Er konnte sich nicht an die hellhörigen Wände des Hotel del Pampino gewöhnen. Man hörte das Schnarchen, den Husten, das Niesen und manchmal sogar den Atem der Zimmernachbarn, als wären sie im selben Raum. Das Hotel del Pampino war kein gewöhnliches Hotel, sondern eine Arbeiterunterkunft, wo sich in einem schmalen Korridor Zimmer an Zimmer reihte.

Fito und Enrique befanden sich in der Nähe des Pavillons. Während sich der übermüdete Fito die Augen rieb, erzählte ihm sein Onkel, dass die Eleninos ihren Pavillon Odeón nennen würden und dort früher Orchester aufgespielt hätten. Es war das erste Mal, dass Fito in einem Salpeterwerk lebte. Meistens erfolgten seine Einsätze in einem Elektrizitätswerk außerhalb einer Stadt oder auf einem Schiff. Bis jetzt hatte er sich nur eingehend um die Dieselmotoren im Werk gekümmert. Eine richtige Einführung, wo er sich überhaupt befand, hatte Fito nicht erhalten. Umso gespannter hörte er Enriques Erklärungen zu. Von oben sei zu erkennen, dass die Plaza der María Elena das Zentrum eines Achtecks sei. Es bestehe aus vier längeren und vier kürzeren Seiten, und um dieses Achteck herum sei die Stadt entstanden. Die Häuser und Straßen seien kreisförmig angeordnet, keine Straße der María Elena sei länger als eintausend Meter. Der Onkel gestikulierte, was Fito amüsierte.

Als die beiden die Plaza Richtung Kirche überquerten, fielen Fito einmal mehr das unübersehbare Drahtgewirr und die staubigen ungeteerten Straßen auf. Das seien neben dem tagsüber stahlblauen Himmel seine ersten Eindrücke gewesen in der María Elena, sagte er zu seinem Onkel. «Und was mir hier am besten gefällt, ist das gleißend helle Licht, das sich über das Werk legt, bevor die Sonne langsam untergeht und sich der Himmel rosa verfärbt.»

Enrique lächelte. «Eine Vollmondnacht in der Wüste, die müsstest du einmal erleben. Das ist pure Magie.»

Als Fito überlegte, wann der nächste Vollmond sein würde, erzählte ihm sein Onkel, dass er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in Valparaíso verbracht habe. Fito hatte zwei Nächte in der von vielen Hügeln gesäumten Hafenstadt geschlafen, bevor er weiter Richtung Atacamawüste reiste. Die teils sehr farbigen Gebäude in Valparaíso und deren Architektur gefielen ihm. Sie unterschieden sich sehr von den schlichten und unauffälligen einstöckigen Wohnhäusern der María Elena. Nur das Verwaltungsgebäude verfügte über zwei Etagen.

Unterdessen waren Onkel und Neffe an einem Ende der Straße Latorre angelangt und standen vor der Kirche San Rafael Arcángel. Enrique machte Fito darauf aufmerksam, dass die Kirche eines der ältesten Gebäude der María Elena sei. Sie sei im selben Jahr errichtet worden wie die Pulpería, die Markthalle und die öffentlichen Bäder und Toiletten, der Wachposten, das Spital und das alte Theater. Auch das Amerikanische Viertel, die kleine Wohnsiedlung Pasaje Orella und die Post seien 1926 im Gründungsjahr der María Elena entstanden.

Fito erinnerte sich an seinen ersten Besuch in der nahegelegenen Post. Sie befand sich an der Avenida Prat, parallel zur Calle Latorre. Er war sich vorgekommen wie in einem Museum. Lange war er beim Posteingang vor den goldfarbenen, kleinen Postfächern mit den beiden eingestanzten Sternen darauf stehen geblieben. Dann hatte er an der Theke Briefmarken gekauft und seine Postkarten im etwas angerosteten Standbriefkasten vor dem Postgebäude eingeworfen.

Die beiden Männer spazierten zum Pasaje Orella. Hier kam Fito auf seinem Arbeitsweg zum Maschinenraum immer vorbei. Bis jetzt hatte er keine Ahnung gehabt, dass sich hinter dem Eisentor ein kleines Wohnviertel befand. Neugierig trat er hinter seinem Onkel durch das Tor in den Innenhof. Er näherte sich den Fenstern, um durch die Gitterstäbe hindurchzusehen. Die Räume waren sehr klein.

Enrique folgte seinem Neffen und erklärte ihm, dass in den etwa hundert Zimmern zu Beginn nur die ledigen Arbeiter gelebt hätten. Mit der Zeit seien sie von ganzen Familien aus dem südlichen Chile abgelöst worden. Enrique zeigte Richtung Pfefferbaum mitten im Innenhof, darunter befand sich eine hölzerne Sitzbank. Die beiden setzten sich, und Enrique wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. «Was willst du über mich wissen?» Ein warmes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Fito war überrascht. Derart direkte Fragen war er nicht gewohnt. Er brauchte deshalb etwas Zeit, bis er antwortete. «Du hast mir vor kurzem erzählt, dass die 1930er Jahre für das Salpetergeschäft Krisenjahre gewesen seien. Wieso bist du denn damals nicht nach Valparaíso zurückgekehrt?»

Enrique sah zu Boden und begann mit seinem rechten Fuß zu wippen. Das machte er oft, wenn er über seine Vergangenheit redete. Er blickte Fito in die Augen. «Wer sagt denn, dass ich nicht ging? Als das Salpeterwerk La Palma geschlossen wurde, das war 1932, zog ich mit meinen Eltern und meiner Patentante nach Valparaíso auf den Cerro Alegre zurück. Das Haus gehört übrigens noch immer mir. Aber wir lebten uns nicht ein, uns fehlte die Wüste.»

Enrique bezeichnete wie alle Pampinos das, was sich außerhalb der Wüste befand, als draußen. Obwohl sie in ihrem Mikrokosmos isoliert waren, fehlte es ihnen an nichts. Als die Palma 1934 unter dem Namen Humberstone wiedereröffnet wurde, ging Enrique mit Eltern und Patentante in die Wüste zurück. Sie waren hoffnungsvoll, obwohl sie wussten, dass die Blütezeit des Salpeters längst vorbei war. Mit funkelnden Augen erzählte Enrique, dass die Regionen Antofagasta und Tarapacá, der Große Norden Chiles, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Landes gewesen sei, als er als junger Mann im Jahr 1918 in die Wüste aufgebrochen war.

Onkel und Neffe erhoben sich und schritten durch das Tor des Pasaje Orella. Sie gingen nach rechts Richtung Hauptstraße. Auf der anderen Seite weiter hinten befand sich das Bahngleis, welches Produktionsanlage und Campamento voneinander trennte. Die beiden bogen bei der Hauptstraße rechts ab und spazierten zum Bahnhof. Das weiße Bahnhofsgebäude war Fitos Lieblingsbau in der María Elena. Er mochte das geschwungene Dach und die kleinen Türme an jeder Ecke. Es war im neokolonialistischen Stil gebaut, ebenso wie die Kirche Arcángel San Rafael und die Schule in der Nähe der Plaza.

Als die beiden Männer durstig wurden, machten sie sich zur Markthalle auf, einem gelben Gebäude am äußeren linken Rand einer Straße, die die Plaza säumte.

Zu Fitos Erstaunen brachte man ihnen zwei Tassen Tee. Er hatte damit gerechnet, dass sie ein kaltes Bier trinken würden. Enrique glaubte, eine gewisse Enttäuschung in Fitos Blick zu erkennen und lächelte. Sein Neffe würde schon noch merken, dass es nicht von ungefähr kam, dass viele Pampinos Tee tranken. Heißer oder warmer Tee kühlte den warmen Körper besser ab als kalte Getränke.

Enrique nahm einen Schluck und zeigte zum blau angemalten Lokal vor ihnen. In der Peluquería del Sindicato ließ er sich schon seit Jahren die Haare schneiden. Dann deutete er auf den Laden Caraman, wo er seine Schuhe kaufte. Von den Schuhputzern der Markthalle ließ er sie regelmäßig auf Hochglanz bringen. Enrique nahm einen letzten großen Schluck Tee und schlug vor, nun in die entgegengesetzte Richtung zu spazieren. Auch Fito trank seine Tasse aus, obwohl er Tee noch nie besonders gemocht hatte. Erstaunt stellte er fest, dass er sich erfrischt fühlte.

Vor dem Marktausgang zeigte Enrique nach links. «Die Pulpería an der Straßenecke siehst du dir am besten mal allein an, falls du nicht schon drin warst.» Enrique ging nicht gerne in die Pulperías, die als Einkaufszentren der Atacamawüste galten, wo man von Lebensmitteln über Kleider bis zu Möbeln fast alles bekam. Er wunderte sich immer über die Menschen, die sich stundenlang in der Pulpería aufhielten. Er selbst kaufte lieber in den kleineren Läden ein.

Enrique zeigte seinem Neffen die typischen Häuserblocks des Arbeiterviertels, die Manzanas genannt wurden. Fito erkannte schon von Weitem, dass je zwei Gebäude parallel zueinanderstanden und zusammen mit den anderen Reihen bildeten, die von Straßen oder Durchgängen unterbrochen wurden. In Winterthur gab es ähnliche Viertel, sie waren typisch für eine Industrie- und Arbeiterstadt. Gespannt lauschte er Enriques Erklärungen. In der María Elena würden die Innenhöfe zwischen den Reihenhäusern meistens über zwei Toiletten verfügen, eine für Frauen und eine für Männer. Manchmal seien für einen ganzen Häuserblock aber nur zwei vorhanden. Erst seit Anfang der 1960er Jahre gebe es in der María Elena flächendeckend fließendes Wasser, Toiletten und Duschen.

In unmittelbarer Nähe des Arbeiterviertels befanden sich die sportlichen und kulturellen Einrichtungen der María Elena. Enrique wollte seinem Neffen aber zuerst den Ortsteil mit den Buques zeigen. Wie im Pasaje Orella wohnten dort einst nur die ledigen Arbeiter.

Als die beiden die rechteckigen Häuser begutachteten, begriff Fito, wieso die Gebäude zu ihrem Namen gekommen waren. Ihre rechteckige langgezogene Form erinnerte an große Frachtschiffe. Im langen, engen Raum befanden sich Schlafzimmer und Kochnische. Als Enrique mit seiner Familie 1959 in die María Elena gezogen war, stand noch eine riesige Mauer um die Buques. Niemand sollte ungesehen herein- und herauskommen. Die Buques wurden überwacht, weil sie von Prostituierten aufgesucht wurden, so wie auch die Calle Prat und die Calle O’Higgins. Da die Arbeiter donnerstags ihren Lohnvorschuss erhielten, kamen die Prostituierten an diesem Tag in die María Elena. Mittlerweile war das Viertel zu einem schönen Ort geworden, wo Familien und Alleinstehende durchmischt wohnten. Es verfügte sogar über eine von Bäumen gesäumte Pergola. Fito lachte, als er erfuhr, dass das Sinfonieorchester in den Buques seinen Sitz hatte. So änderten sich die Zeiten.

Die beiden Männer spazierten weiter zum peripher gelegenen Amerikanischen Viertel, wo der Direktor und die Angestellten des Werks in sogenannten Chalets lebten. Deshalb nannte man den Ortsteil auch Chalet-Viertel. Es befand sich auf einer kleinen Anhöhe im Nordwesten der María Elena. Fito bestaunte die Bäume, Büsche und die kleinen Gärten, die fast rund um die Uhr bewässert wurden. Das Amerikanische Viertel war eine Idylle. Plötzlich verstand er die Zweiklassengesellschaft. Hier oben lebten der Werkdirektor und die Angestellten, die beigefarbene Arbeitsuniformen aus weichem Stoff trugen. Die einfachen Arbeiter in ihren Kleidungsstücken aus festem Jeans hingegen wohnten im unteren Teil des Werks. Die beiden Wohnbereiche wurden von der Rohrleitung getrennt.

«Noch vor einigen Jahren durften sich die Kinder der einfachen Arbeiter nicht in diesem Viertel aufhalten», erklärte Enrique. «Wenn ihr Schulweg durch diesen Ortsteil führte, mussten sie einen Umweg machen.»

Während es im Amerikanischen Viertel schön grün war, herrschte in der restlichen María Elena Sand und Staub vor. Deshalb wurde sie spaßeshalber als María Polvillo und die Einwohner als Cometierras bezeichnet. Der Staub wurde von der Anlage erzeugt, die die Caliche zermalmte. Der Wind hob das Gemisch aus Staub und Sand auf, und dieses wirbelte dann durch das Werk.

Die beiden Männer schlenderten wieder Richtung Plaza und kamen an der neuen Feria redonda vorbei. Das runde Marktgebäude beherbergte zahlreiche Stände mit Gemüse und Früchten. Fito amüsierte sich über die Kinder, die vor dem Marktgebäude Zelte aus Leintüchern errichteten. Einige Mädchen und Jungen benutzten die Treppe der Feria als Rutschbahn. An einem Verkaufstisch wurden kleine Gipsfiguren angeboten. Fito überflog das Angebot und blickte dann zu den beiden Wassertürmen auf Stelzen. Weil die Sonne ihn blendete, kniff er die Augen zusammen. Er war fasziniert von den ehemaligen Wasserspeichern der María Elena, dem Wahrzeichen des Werks.

Enrique war es ein Bedürfnis, seine Führung mit ein paar Sätzen auf einer schattigen Sitzbank der Plaza abzurunden. Die María Elena gelte als größtes Salpeterwerk der Atacamawüste, begann er. Zusammen mit der Pedro de Valdivia sei sie zudem das modernste. In ihrer Blütezeit hätten beide um die vierzehntausend Einwohner gezählt. Armut und Ungerechtigkeit, die man früher mit der Herstellung von Salpeter verbunden habe, seien jetzt kein Thema mehr. Das sei auch dem Guggenheim-Verfahren zu verdanken, der effizientesten und kostengünstigsten Art, um Salpeter zu produzieren. Dadurch sei in der María Elena früher viermal mehr Salpeter erzeugt worden als in der nahegelegenen Chacabuco. Das ehemals größte Werk der Atacamawüste sei 1940 stillgelegt worden und habe als eines der letzten Werke mit der Shanks-Methode gearbeitet. Während bei diesem Verfahren nur hochwertige Caliche verwendet werden dürfe, könne mit der Guggenheim-Methode das enorme Vorkommen des minderwertigen Rohmaterials genutzt werden. Aber auch die hohen Stromkosten hätten zum frühen Ende der Chacabuco beigetragen. Im Gegensatz zur María Elena und Pedro de Valdivia sei die Sonnenwärme dort nicht genutzt worden.

Während Fito dankbar zu seinem Onkel sah, überlegte sich dieser, mit seinem Neffen bald einmal zur Chacabuco zu fahren. Die Infrastruktur war noch erstaunlich gut erhalten, und hinter dem braunen Schornstein der Anlage sah man die schneebedeckten Andenkordilleren. Das Panorama war eindrücklich.

Enrique gähnte. Jetzt war Zeit für eine ausgedehnte Siesta, später würden sie sich ja wiedersehen.

5.

Fito legte sich in seinem Zimmer im Hotel del Pampino aufs Bett. Viel mehr konnte er dort auch gar nicht tun. Nicht einmal ein Schreibtisch fand im winzigen Raum Platz. Aber Fito war kein Mensch, der sich von widrigen äußeren Faktoren beirren ließ. Seinen Gedanken konnte man schließlich überall nachgehen.

Er staunte über sein neues Leben. Von außen gesehen war es immer noch dasselbe, aber jetzt fühlte es sich intensiver an. Die Erkenntnis, dass die Gefühle, die er jetzt hatte, diejenigen waren, nach denen er sich fast sein ganzes Leben lang gesehnt hatte, tat weh. Sein eigener Vater hatte ihm emotional nicht viel mitgegeben. Wirklich dankbar war ihm Fito nur für seinen Taufnamen. Er war eine Hommage an Rudolf Diesel, dem Dieselmotor-Erfinder, den sein Vater wie einen Helden verehrte. Und jetzt hatte er seinen Namen, auf den er immer so stolz gewesen war, abgelegt. Weil für ihn sein neuer Name für sein neues, erfüllteres Leben stand.

Durch die vielen Erzählungen über Rudolf Diesel hatte irgendwann auch Fito begonnen, den Deutschen zu bewundern. Rudolf Diesel war zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn Kälteingenieur, der Eismaschinen konzipierte und reparierte. Weil er aber lieber über seine künftige Erfindung nachdachte, verlor er bald das Interesse an seinem erlernten Beruf. Diesel wollte einen Motor bauen, der günstig, effizient und leistungsfähig war, und dessen Wirkungsgrad denjenigen der Dampfmaschinen weit übertraf. Im Jahr 1892 hatte er es geschafft. Der Dieselmotor war geboren, und Rudolf Diesel ließ sich seine Erfindung patentieren.

Zusammengepresstes Gas entzündet sich durch die aus dem Druck entstehende Hitze. Bis zu zweitausendfünfhundert Grad Celsius sind möglich, murmelte Fito vor sich hin. Er lächelte, als er sich an die Erdnussöl-Anekdote erinnerte, die sein Vater immer wieder gerne erzählte. Im Jahr 1900 an der Weltausstellung in Paris zeigte Diesel auf, dass man seinen Motor auch mit pflanzlichen Ölen wie Erdnussöl laufen lassen konnte.

Fito streckte sich auf seinem schmalen Bett aus und sah an die Decke. Er dachte an das erste und bis anhin letzte Mal, als er seinen Vater weinen sah. Es war, als dieser ihm von Rudolf Diesels Tod erzählte. Im Jahr 1913 befand sich der Fünfundfünfzigjährige zusammen mit einem Geschäftsfreund auf einem deutschen Postschiff von Antwerpen nach Harwich. Sie hatten vor, in Ipswich an der Einweihung einer neuen Fabrik für Dieselmotoren teilzunehmen. Aber am Morgen stellte man fest, dass Rudolf Diesel die Nacht nicht in seiner Kajüte verbracht hatte. Sein Pyjama lag unberührt auf seinem Bett. Das Meer war in dieser Nacht ruhig gewesen und die Reling zu hoch, als dass man hätte darüber fallen können. Ein Unfall war ausgeschlossen. Zwei Wochen später sei eine Leiche im Ärmelkanal gesichtet worden, die aber nicht geborgen werden konnte. Weil das Wetter an jenem Tag sehr schlecht oder weil die Leiche zu verwest gewesen sei, hieß es. Der wirkliche Grund wurde nie bekannt. Aber den Kleidern der Leiche waren Sachen entnommen worden. Einer von Diesels Söhnen hatte das Brillenetui, die Geldbörse, die Pillendose und das Taschenmesser seines Vaters erkannt.

An diesem Punkt seiner Erzählung hatte Werni geweint. Er bedauerte, dass Rudolf Diesel nur zum Teil miterlebt hatte, wie Sulzer mit den langsam laufenden Zweitakt-Schiffsantriebsmotoren im Laufe der Jahrzehnte zum globalen Marktführer aufgestiegen war. Nachdem Sulzer die Dieselmotoren in sein Fabrikationsprogramm aufgenommen hatte, begann eine neue Ära der industriellen Entwicklung. Mit der eigenen Weiterentwicklung von Rudolf Diesels Ideen gelang es Sulzer, sich einen festen Platz in bestimmten Segmenten zu sichern. Die Firma lieferte große stationäre Einheiten von Zweitakt-Dieselmotoren an Elektrizitätswerke weltweit und stattete Schiffe mit Dieselmotoren als Generatoren für die Stromerzeugung aus.

6.

Ein paar Stunden später saßen sich Enrique und Fito in einem kleinen Lokal, wo sie einen Apéro einnehmen wollten, gegenüber. Fito begann seinem Onkel vom Lizenzkonzept, das Diesel erfunden hatte, zu erzählen. Schon seit Jahrzehnten würden die Lizenznehmer Sulzer eine Gebühr entrichten, um selbst Dieselmotoren herstellen, testen, vermarkten und verkaufen zu können.

Enrique horchte sofort auf. Ein Unternehmen, das einen Teil seiner Produktion auslagerte? Das war doch schlecht für die heimische Wirtschaft!

Fito ließ sich vom Unmut seines Onkels nicht beirren und erklärte, dass der Lizenzvertrag in der Regel für eine Zeitdauer von zehn bis fünfzehn Jahren abgeschlossen werde. In dieser Zeit würden die Lizenznehmer von allen Sulzer-Neuentwicklungen profitieren. Während der nominellen Laufzeit eines Lizenzvertrags würden meistens zwischen zwei und drei neue Motorentypen entwickelt.

Fito fuhr sich über die Stirn. «Es gibt doch sicher immer wieder Versuche von Lizenznehmern, die von Sulzer entwickelten Motoren zu kopieren und das Unternehmen damit zu konkurrieren, oder?»

Fito nickte. «Aber diese Versuche sind bis jetzt erfolglos geblieben.» Da er geahnt hatte, was sein Onkel vom Lizenzwesen halten würde, hatte er sich zurechtgelegt, wie er es verteidigen würde. Man müsse bedenken, fuhr er fort, dass Sulzer seine Motoren laufend weiterentwickelt habe. Damit habe die Firma ihr Tätigkeitsspektrum in einem solchen Umfang ausgebaut, dass es der Schweiz irgendwann an Arbeitskräften gemangelt habe. Schon ab den 1945er Jahren habe sich Sulzer an der Entwicklung von Projektil-Webmaschinen beteiligt, die effizienter arbeiteten als die herkömmlichen. Um sie in der Schweiz herzustellen, hätte das Unternehmen eine Fabrik bauen müssen.

Aber eine Fabrik ohne die nötigen Arbeiter mache keinen Sinn, bekräftigte Fito. Schließlich habe eine Lizenznehmerin aus den USA damit begonnen, die Sulzer-Maschine zu produzieren. Die Einnahmen aus dem Lizenzgeschäft würden direkt in die technisch-wissenschaftliche Forschung fließen.

Fitos Meinung nach war es ein zweckmäßiger Kreislauf, aber Enriques Gesichtsausdruck war noch immer kritisch. Fito lächelte. Sein Onkel war ja nicht der Einzige, der dem Lizenzgeschäft ablehnend gegenüberstand. Vor etwa dreißig Jahren hatte ein Politiker vom Winterthurer Stadtrat verlangt, er solle sich beim Bundesrat dafür einsetzen, Lizenzvergaben, wie sie Sulzer tätigte, zu verbieten. Das einzige Land, das die Abgabe von Auslandlizenzen verbiete, sei Hitlerdeutschland, konterten die Sulzer-Manager.

Die Lizenzverträge spielten in der Winterthurer Maschinenindustrie schon seit langem eine wichtige Rolle. Die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur, kurz SLM und oft Loki genannt, war schon 1909 zur ersten Lizenznehmerin von Sulzer geworden.

Fito sah seinen Onkel ernst an. «Um an Motoren forschen zu können, braucht man Geld. Und das Lizenzgeschäft bringt dieses ein.»

Während Enrique nachdenklich nickte, überlegte sich Fito, ob er seinen Onkel überzeugt hatte. Er entschied sich für einen Themawechsel und erzählte von einer japanischen Tradition. Sein Monteurschulkollege Heinz habe sie bei einem Lizenznehmer in Japan miterlebt. Dort werde ein neuer Motor gesegnet, bevor er zum Schiffswerk geschickt werde. Man schreite mit einem Becher Sake um ihn herum und schmiere mit dem Schnaps jede Komponente ein, die ein Problem verursachen könnte. Fito freute sich, als er seinen Onkel lächeln sah.

Die Kellnerin brachte die Pisco sour, und Fito erhob sein Glas. «Auf Rudolf Diesel.»

Enrique nickte. «Und auf die Motoren im Allgemeinen. Mit ihnen muss man reden wie mit Frauen, sonst laufen sie dir davon.»

Noch während beide lachten, sahen sie, wie ihnen Lucrecia entgegenkam.

7.

Lucrecia hatte ihren Mann schon überall gesucht. Die Hauptprobe des Theaterstücks war auf 17 Uhr angesetzt, und sie brauchten Publikum. Schon in ihrer Kindheit hatte Lucrecia Dramen und Komödien erfunden und ihren Eltern aufgeführt. An jenem Abend wurde Der Verdacht gespielt nach dem Kriminalroman von Friedrich Dürrenmatt. In den Theatern der Atacamawüste wurden auch internationale Theaterstücke gezeigt. Zufällig hatte Der Verdacht einen, wenn auch kleinen, Bezug zu Chile.

Fito war es peinlich, dass er das Stück nicht kannte. Enrique fiel auf, dass er errötete. «Da haben wir ja schon wieder eine Gemeinsamkeit, Neffe. Mich hat Kultur nie besonders interessiert. Erst durch Lucrecia habe ich in dieser Beziehung dazugelernt.» Er blickte liebevoll zu seiner Frau. «Liebling, du kannst mit uns rechnen.»

Lucrecia lächelte den beiden Männern zu und eilte wieder zur Tür hinaus. Es ging nicht lange, und sie kam in Begleitung einer jüngeren Frau wieder. Norma spielte im Theaterstück Frau Dr. Marlok. Sie stellte sich als Assistentin des Werkdirektors vor und lächelte.

Etwas unbeholfen, fand Fito. Als die beiden Frauen das Lokal verließen, sah er fragend zu seinem Onkel. «Irgendwie kommt es mir vor, als hätte uns Lucrecia ihre Freundin vorgeführt.»

Enrique machte eine wegwerfende Handbewegung. So war Lucrecia, manchmal etwas ungestüm und impulsiv, aber sie würde nie jemanden bloßstellen. Schon gar nicht eine Freundin. Die beiden Frauen hatten sich in der Pulpería kennengelernt und schnell miteinander angefreundet.

Fito wirkte verwirrt auf Enrique. Als sein Neffe gedankenverloren von ihm wissen wollte, welches Stück denn gespielt werde, begriff er. Es war Norma, die seinen Neffen durcheinandergebracht hatte. Vielleicht fing er sich ja wieder, wenn er ihm etwas über das Theaterstück erzählte, Lucrecia hatte ihm letzte Nacht davon berichtet. Es handelte vom sadistischen Schweizer Arzt Fritz Emmenberger, der als Nazi-Arzt Nehle in einem Konzentrationslager ohne Narkose operiert hatte und diese Praxis in einer teuren Schweizer Privatklinik weiterführte, nachdem er einige Jahre lang in Chile gelebt hatte.

Fito war nur mäßig auf das Stück gespannt. Viel mehr interessierte ihn Normas Auftritt. Er wunderte sich selbst darüber, dass sie einen solchen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.

8.

Fito und Enrique standen zusammen mit Hugo und Rosa vor dem Theater, das sich gegenüber der Plaza befand. Es war ein würfelförmiges weißes Gebäude im Art-Deco-Stil. Fito sah fasziniert zum einen und dann zum anderen überdimensionalen Werkarbeiter aus Eisen an den beiden Seitenflügeln des Gebäudes. Der Arbeiter auf der linken Seite stützte sich mit seiner linken Hand auf seine Schaufel. Dabei hielt er den rechten Arm angewinkelt an seine Hüfte. Stolz blickte er zum Himmel empor. Der Minenarbeiter auf der rechten Gebäudeseite bohrte ein Loch in den Wüstensand. Beide Skulpturen hatten nackte Oberkörper und waren sich zugeneigt. «Das ist unser Theater Metro», hörte Fito plötzlich Rosas Stimme.

Fito runzelte die Stirn. Metro? Was für ein seltsamer Name. Das Theater sei von den Ingenieuren und Architekten des Metro-Goldwyn-Mayer Filmstudios konzipiert und gebaut worden.

Fito machte sich nicht viel aus Spielfilmen und zeigte sich unbeeindruckt, was Rosa enttäuschte. Er würde schon noch merken, wie wichtig das Theater für die Eleninos war. Obwohl sie vom Rest der Welt abgeschnitten lebten, werde ihnen einiges geboten, fuhr sie fort. Eine der zahlreichen Freizeitaktivitäten sei der Besuch des Theaters, das auch Kino sei. Das Metro umfasse achthundertsechzig Quadratmeter. Gleich daneben befinde sich das ehemalige Kulturhaus der María Elena, das jetzt Sitz der Industriegewerkschaft sei und als Sindicato N° 3 bezeichnet werde.

Fito hörte Rosas Ausführungen nur halbherzig zu, im Moment interessierte ihn nur Normas Auftritt. Er versuchte, sich an die Handlung zu erinnern. Es war hoffnungslos, immerzu musste er an Norma denken. Wie alt war sie? Mitte dreißig vielleicht.

Dann kam sie. In ihrem weißen Kittel wirkte sie gleichzeitig vornehm und zurückhaltend. Zunächst schwieg Norma alias Frau Dr. Marlok während des Gesprächs zwischen Kommissar Bärlach und dem Arzt Emmenberger im Operationssaal. Erst auf die Frage des Kommissars, worum es sich bei den beiden rötlichen Pillen handle, die sie ihm gegeben hatte, erklärte sie, dass diese ihn beruhigen würden. Emmenberger würde Bärlach am folgenden Tag untersuchen, um festzustellen, ob seine Krankheit lebensbedrohlich sei.

Dann kam es zu einem Szenenwechsel, sechs Tage waren vergangen. Fito erkannte Norma fast nicht wieder. Als sie ins Krankenzimmer des Kommissars trat, sah ihr Gesicht alt und verschwollen aus. Bärlach konnte seinen Ekel vor ihr nicht verbergen. Dann hielt Frau Dr. Marlok ihren Rock hoch und spritzte sich etwas durch den weißen Strumpf in den Oberschenkel. Darauf nahm sie in aller Ruhe einen Handspiegel aus der Tasche und schminkte sich. Es ging nicht lange, und sie wirkte wieder so schön, frisch, stolz und unnahbar wie bei ihrem ersten Auftritt.

«Morphium», riet Bärlach.

«Das braucht man in dieser Welt.» Frau Dr. Marlok zog ein Etui hervor und nahm eine Zigarette daraus. Sie streifte ihren rechten Ärmel hoch, auf ihrem Unterarm war eine Ziffer eingebrannt. Von allem unberührt begann sie ihre Geschichte zu erzählen. «Edith Marlok, Häftling 4466 im Vernichtungslager Stutthof bei Danzig.» Um nicht zu sterben sei sie, in vergangenen Zeiten Kommunistin, Emmenbergers Geliebte geworden. Obwohl sie um seine Gräueltaten im Konzentrationslager gewusst habe.

Fito war gleichzeitig fasziniert und erschreckt von der Ärztin, der die Menschen offenbar gleichgültig geworden waren, ihren Geliebten miteingeschlossen. Gespannt sah er ihr zu, wie sie Bärlach das Konzept der Klinik erklärte. Sie sei für reiche Menschen geschaffen worden, die so sterben wollten, wie sie gelebt hätten, im Luxus. «Der Reiche stirbt anders. Er ist kultiviert und klatscht beim Krepieren in die Hände. Das Leben ist eine Pose, das Sterben eine Phrase, das Begräbnis eine Reklame und das Ganze ein Geschäft.» Was die Reichen in die Klinik führe, sei ihre Hoffnung. Dafür seien sie bereit, eine Operation ohne Narkose über sich ergehen zu lassen. «Der Chef gibt den Menschen, was sie von ihm wollen, und das sind Qualen.»

Der Kommissar starrte die Ärztin mit weit aufgerissenen Augen an. «Diesen Emmenberger muss man doch vernichten!»

«Dann müssen Sie die Menschheit vernichten.»

Norma alias Frau Dr. Marlok trat von der Bühne und ließ Fito, der seit ihrem Auftritt nach vorne gelehnt war, begeistert in seinen Theatersessel zurückfallen.

9.

«Da hast du ja eine gewaltige Metamorphose durchgemacht im Stück», meinte Enrique zu Norma, als nach der Hauptprobe hinter der Bühne angestoßen wurde.

Fito schaffte es, Norma zu ihrem Auftritt zu gratulieren, ohne zu stottern. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen. Am liebsten würde er sich allein mit Norma unterhalten, ohne seine Familie im Rücken, die jedes Wort von ihm hören konnte. Es gelang ihm, wenn auch etwas stockend, zu fragen, was sie in die María Elena verschlagen habe.

Norma lächelte. «Eine ausgeschriebene Stelle, die gut zu meinem Lebenslauf passte.» Zuvor habe sie zehn Jahre lang als Hilfskraft in der Personalabteilung der Compañía Salitrera de Tarapacá y Antofagasta in Iquique gearbeitet.

Als Lucrecia, Enrique, Hugo und Rosa begannen, sich mit anderen zu unterhalten, löste sich Fitos Verkrampfung. «War dein Umzug in die Wüste nicht sehr einschneidend für dich?» Vor einiger Zeit hatte er für Sulzer in Iquique gearbeitet. Er hatte die Stadt als sehr lebendig in Erinnerung.

Norma seufzte kaum hörbar. «Manchmal muss man Opfer bringen für sein eigenes Glück. Ich wollte nicht immer nur Assistentin einer Assistentin bleiben. Als sich mir hier die Möglichkeit einer guten Stelle bot, griff ich zu.» Energisch strich sie sich eine Strähne aus der Stirn.

Einen Moment lang glaubte Fito, etwas Trauriges in Normas Augen zu sehen. Als sie von ihrem irischen Großvater väterlicherseits erzählte, strahlten ihre Augen aber schon wieder. Er habe Irland verlassen, um in einer chilenischen Salpetermine zu arbeiten. In welcher, sei nicht überliefert. Dafür sei in der Familie bekannt, dass der Familienname Leighton von den chilenischen Zollbeamten kurzerhand in Leyton abgeändert worden sei. «Es fühlt sich für mich an, als sei ich auf den Spuren meines Großvaters», fügte Norma leise hinzu.

Fito legte sich seinen Satz zurecht. «Machen wir an einem der nächsten Feierabende zusammen einen Spaziergang durch das Werk?»

Norma ließ sich nicht anmerken, was in ihr vorging. «Hol mich doch morgen Abend von der Arbeit ab.» Ihre Stimme klang fest und klar.

Fito überlegte sich, weshalb Norma bei ihrem ersten Aufeinandertreffen einen schüchternen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Jetzt kam sie ihm sehr selbstsicher vor.

10.

Es war viel Betrieb in Normas Büro, als Fito am nächsten Tag gegen 18 Uhr dort eintraf. Jedes Mal, wenn er sie begrüßen wollte, klingelte das Telefon. Er blieb an der Theke stehen und beobachtete sie. Ruhig, aber bestimmt gab sie Auskunft, dass der Direktor nicht gestört werden wolle. Morgen sei schließlich auch noch ein Tag. Dann räumte sie ihre Sachen zusammen.

Fito hielt ihr einen Notizblock entgegen, den er auf der Theke entdeckt hatte. «Ist das Stenografie?»

Norma blickte ihn ernst an. «Das ist meine Geheimschrift. Eigentlich bin ich Geheimagentin.» Als sie Fitos verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte, tat er ihr leid. Geduldig erklärte sie, dass sie sogar den Einkaufszettel auf Steno schreibe. Sie rieb sich die Schläfen, sie wollte nur noch an die frische Luft. Die beiden einigten sich darauf, ziellos durch die María Elena zu schlendern.

Als Norma von Fito wissen wollte, wieso er so gut Spanisch spreche, strahlte er. Komplimente war er nicht gewohnt. Dass eines von Norma kam, freute ihn umso mehr. In der Sekundarschule hatte er Französisch gelernt. Das hatte ihm geholfen, als er als junger Monteur ohne ein Wort Spanisch zu sprechen nach Mexiko gekommen war. Fito arbeitete schon seit Jahren in Südamerika, meistens in stationären Dieselanlagen. Seine Spanischkenntnisse hatte er sich von Tag zu Tag angeeignet. Nach seinem jahrelangen Einsatz in Mexiko wurde er nach Costa Rica geschickt. Als er schließlich nach Chile kam, beherrschte er die Sprache schon gut.

Während die beiden entspannt nebeneinander durch die María Elena flanierten, tauschten sie sich auch über Iquique aus. Sie lachten, als sie sich ausmalten, wo überall sie sich hätten begegnen können.

Fito wunderte sich, wie wohl ihm mit Norma war. Es fühlte sich sogar gut an, wenn sie schwiegen.

Auch Norma machte sich ihre Gedanken. Dieser gutaussehende und sympathische Mann hatte bestimmt schon viele Freundinnen gehabt. Mindestens eine in jedem Land, wo er arbeitete. Sie bemühte sich, möglichst neutral zu Fito zu blicken. Sie hatte viele Fragen, traute sich aber nicht, sie zu stellen. Nur eine Frage, deren Antwort sie aber nur mäßig interessierte, schien ihr legitim. «Bist du tatsächlich Ingenieur?» In Chile wurde jemand, der sich um Motoren kümmerte, schnell einmal als Ingenieur bezeichnet. Für Norma spielte es keine Rolle, welchen Beruf Fito erlernt hatte. Es würde nichts an ihren Gefühlen für ihn ändern.

Einen Augenblick lang war Fito irritiert. Vielleicht wäre es Norma ganz recht, wäre er Ingenieur. Die Lateinamerikaner und ihre Statussymbole. Als er das erste Mal mit Ingenieur angesprochen wurde, hatte er sich gewundert. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und korrigierte die Leute nicht mehr. «Ich bin Montageinspektor.» Zu seiner Erleichterung wirkte Norma nicht enttäuscht, zumindest ließ sie sich nichts anmerken.

Etwas schüchtern blickte sie zu Fito. «Du lernst bei deinen Einsätzen sicher viele Menschen kennen, oder?» Viele Frauen, hatte sie sagen wollen, aber das schien ihr zu plump.

Fito merkte nicht, worauf Norma hinauswollte. Zu ihrem Erstaunen fing er an zu lachen. Als er sich beruhigt hatte, erzählte er, dass es besonders interessant gewesen sei, mitten in der Wüste auf seinen Onkel zu treffen.

Norma wusste von Lucrecia davon, auch von Fitos Kindheit und Jugend ohne seine leibliche Mutter. Das hatte sie berührt, denn sie selber hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter gehabt. Ohne leibliche Mutter aufzuwachsen, stellte sie sich schrecklich vor. Mitfühlend sah sie zu ihm. «Wie war es für dich, als deine Mutter plötzlich aus deinem Leben verschwand?»

Die Frage traf Fito unvorbereitet. Sein ganzes bisheriges Leben lang hatte sich kaum jemand für sein Aufwachsen ohne Mutter interessiert. Und jetzt wollte man innerhalb kurzer Zeit dasselbe von ihm wissen, Rosa hatte ihn etwas Ähnliches gefragt. Unsicher sah er zu Norma. Die Wärme und das Wohlwollen in ihren Augen rührten ihn. Diesem Blick zuliebe nahm er sich zusammen. Seine Mutter sei immer wieder weg gewesen von zu Hause, begann er. Für ein paar Wochen oder ein paar Monate, so genau wisse er es nicht mehr. Nur an die Begründung erinnere er sich. Sie sei weggegangen, damit sich ihre Nerven beruhigen konnten. Einmal habe sie einige Monate lang in einer psychiatrischen Klinik in der Stadt Zürich verbracht. Von dort sei sie erholt und heiter nach Hause zurückgekommen. Aber nur ein Jahr darauf sei sie wieder in dieselbe Klinik eingeliefert worden. Von da an seien seine Erinnerungen an seine Mutter nach und nach verblasst. Wenn er sich alle paar Jahre das Foto ansehe, das ihn als Kind auf ihrem Schoß zeige irgendwo im Wald auf einem Baumstrunk, blicke er einer Fremden ins Gesicht.

Norma sah mitfühlend zu Fito. «Deine Mutter ist dir wohl langsam entglitten.»

So hatte er es noch nie betrachtet. Seine zwei Jahre jüngere Schwester Trudy und er hatten die Mutter während Jahren in ihren Ferien und über die Feiertage auf dem Hof ihrer Tante in Unterstammheim gesehen. Aber dann lag sie meistens teilnahmslos im Bett. Dieselbe Tante hatte die Mutter aus der Zürcher Klinik zu sich geholt. Aber irgendwann wurde es ihr zu viel mit ihr. Denn die Mutter schrie oft und war nicht zu beruhigen, und irgendwann begannen sich die Nachbarn zu beschweren. Schließlich wurde sie von Tante und Hausarzt in die psychiatrische Klinik Bodenau am Bodensee eingeliefert. Fito war damals acht Jahre alt. Der Vater eröffnete seinen Kindern in knappen Worten, dass ihre Mutter nun für immer in der Anstalt bleiben würde. Am Anfang erkundigten sich die Geschwister noch regelmäßig nach ihr. Aber irgendwann befahl der Vater, sie nicht mehr zu erwähnen.

Norma nahm Fitos Hände und küsste sie kurz. Sie spürte, dass er zusammenzuckte. Solche Zärtlichkeitsbekundungen war er sich offenbar nicht gewohnt. Norma tat, als bemerke sie nichts und schlug vor, in ihr Lieblingslokal zu gehen.

11.

Da der Werkdirektor für ein paar Tage nach Iquique gereist war, nutzte Norma ihre vorübergehenden Freiheiten. Dazu gehörten auch die verlängerten Mittagspausen.

Um die Mittagszeit stand sie vor dem Maschinenraum und beobachtete, wie Fito und Enrique an einem größeren Motor arbeiteten. Als Fito sie sah, bat er sie, ihm die Zange zu reichen, die sich in ihrer Nähe befand. Norma tat, als würde sie vom Gewicht des Werkzeugs in die Knie gezwungen.

Fito lachte und winkte sie näher herbei. «Die Zangen für die richtig großen Motoren, die solltest du mal sehen. Die müsstest du mit beiden Händen umfassen, so schwer sind die.»

Norma ahnte, was sie erwartete. Sie wusste um Fitos Leidenschaft für Motoren. Obwohl sie sich nur mäßig dafür interessierte, gab sie sich erwartungsvoll.

Fito erklärte, beim Motor handle es sich um einen Viertakter. Diese Motorart funktioniere mit voneinander getrennten Arbeitstakten. Er zeigte ihr die beiden oberhalb des Kolbens im Zylinderdeckel eingebauten Ventile. «Vier Bewegungen des Kolbens sind notwendig. Ansaugen, Verdichten, Arbeiten und Ausstoßen. Dabei macht die Kurbelwelle zwei Umdrehungen. Siehst du?»

Norma verdrehte die Augen. Sie hatte es nicht unterdrücken können und erschrak. Aber Fito hatte nichts von ihrer Gefühlsregung bemerkt, im Gegensatz zu Enrique, der sie angrinste. «Bei den Zweitaktmotoren», hörte sie Fito, «werden jeweils zwei Takte gleichzeitig ausgeführt. Zweitakter bestehen aus weniger Bauteilen als Viertakter und sind dadurch leichter. In der Regel haben sie keine Ventile, sondern Schlitze an der Zylinderwand. Der Kolben bewegt sich auf und ab, wenn der Motor in Betrieb ist. So werden die Schlitze abwechselnd verschlossen und wieder freigegeben.»

Normas Begeisterung hielt sich noch immer in Grenzen, aber sie wollte Fito nicht verletzen. Eine ihrer Stärken war, sich schnell in eine Materie hineinzudenken. Schnell hatte sie eine Frage formuliert. «Wenn Zweitakter aus weniger Bauteilen bestehen als Viertakter, sind sie dann günstiger herzustellen?»

Fito nickte und schenkte Norma einen anerkennenden Blick. Ein anderer Vorteil der Zweitakter sei, fuhr er fort, dass deren bewegte Masse kleiner sei als diejenige der Viertakter. Deshalb würden sie mehr Drehzahlen erreichen. Auch die Reparatur sei bei einem Zweitakter günstiger. Aus diesen Gründen sei man in der Maschinenbauindustrie vom Viertakt- auf das Zweitaktsystem übergegangen. Der Motor mache etwa fünfzehn Prozent der Schiffskonstruktionskosten aus, da spiele es schon eine Rolle, ob er kostengünstiger hergestellt und repariert werden könne.

Norma unterdrückte ein Gähnen. Ihr guter Wille und vor allem ihre Konzentration ließen nach, auch weil sie hungrig war. Sie war froh, als Enrique sich ins Gespräch einbrachte.

«Der Motor, den Rudolf Diesel für Sulzer entwickelt hatte, war doch ein Viertakt-Dieselmotor, oder?» Norma wich einen Schritt zurück, so als wollte sie Enriques Worten Platz verschaffen.

Fito nickte abermals. Diesel habe einen dezentralen Viertaktmotor gebaut, dessen Antriebe mit kleinen Einheiten versehen seien, führte er aus. Aber der damalige Sulzer-Chef Jakob Sulzer-Imhoof habe sich nicht auf Viertakter beschränken wollen, sondern auch auf große Zweitaktmotoren bestanden. Die Dieselmotorenabteilung von Sulzer sei übrigens im Jahr 1903 gegründet worden. Ein Jahr später habe die Firma den weltweit ersten umsteuerbaren Schiffsdieselmotor gebaut, der die Schraubenwelle in beide Richtungen antreibe. Dieser Zweitakt-Dieselmotor sei umweltfreundlich, verlässlich, leicht zu unterhalten und zu bedienen, vorhersehbar und zudem nicht zu teuer. An der Weltausstellung 1906 in Mailand habe er großes Aufsehen erregt. Obwohl sich dieser Motor von Anfang an bewährt habe, würden die Schiffe auch mit Viertaktmotoren ausgestattet. Die Viertakter seien beliebt für Fähren und Kreuzfahrtschiffe.

Norma hörte erst wieder richtig zu, als sie sah, wie Fitos Augen funkelten und sein ganzes Gesicht erhellten. «Arbeitskollegen bezeichnen Monteure, die sich wie ich vor allem um Viertakter kümmern, manchmal als Hosensack-Monteure.» Er grinste. «Aber das ist mir egal. Wer auf Viertakter spezialisiert ist, kann ebenso gut riesige Zweitakter reparieren. Jeder, der eine Ahnung von Motoren hat, weiß das.»

Norma lächelte, während sich Fito mit einem Tuch die schmierigen Finger abrieb. Sie sah ihm nach, wie er zum Waschtrog schritt und sich dort sorgfältig die Hände wusch.

12.

Fito und Norma hatten schon am Vorabend vereinbart, dass sie zusammen picknicken würden. Beide trugen etwas dazu bei. Sie spazierten zur Plaza und legten die Decke, die Norma mitgebracht hatte, auf den sandigen Boden unter dem Pfefferbaum. Sie packten die gekauften Empanadas, den von Norma gemachten Pebre und die hart gekochten Eier aus. Fito öffnete die Rotweinflasche, und die beiden stießen auf Normas cheffreien Tage an.

Auf einmal blickte Norma ernst zu Fito. «Deine Mutter ist traurig darüber, dass du und deine Schwester aus ihrem Leben verschwunden seid.»

Fito verschluckte sich und glaubte, sich verhört zu haben. Was sagte Norma da? Hatte sie einen Sonnenstich? Er betrachtete sie besorgt.

Sie aber lachte ihm ins Gesicht und klärte ihn auf. Ihren ausgeprägten sechsten Sinn habe sie schon seit ihrer Kindheit. Irgendwann habe sie verstanden, dass sie Verstorbenen als Kanal diene, um sich mit deren Angehörigen zu verständigen. Manchmal erhalte sie auch Nachrichten von lebenden Menschen, die in irgendeiner Art und Weise in sich gefangen seien. Wie Fitos Mutter.

Bisher war Fito noch niemandem mit übersinnlichen Fähigkeiten begegnet. Eigentlich glaubte er nur das, was er sah. Aber es schien ihm unfreundlich, Normas Worte anzuzweifeln. Sein Gesichtsausdruck jedoch verriet ihn. «Du glaubst mir nicht», hörte er Norma flüstern. Er war froh, dass sie lächelte.

Norma konnte ihm seine Reaktion nicht verübeln. Sie hatte ja selbst lange gebraucht, um diese Seite von ihr ganz anzunehmen. Als Kind hatte ihre Mutter sie immer harsch unterbrochen, wenn sie etwas sagte, das rational keinen Sinn ergab. Unterstützung hatte sie von ihrer Großmutter bekommen, welche dieselbe Gabe besessen hatte. Es war sie, die sie ermutigte, sich so zu akzeptieren, wie sie war. Egal, was ihre Mutter oder sonst jemand davon hielt. Mit der Zeit lernte Norma, ihre Fähigkeit zu nutzen, um anderen zu helfen. Sie begann, den Angehörigen Verstorbener Nachrichten zu überbringen. Tote, die ihr aus irgendeinem Grund unangenehm waren, bat sie zu verschwinden. Für ihre Vermittlertätigkeit verlangte sie nie Geld. Sie sah Fito von der Seite an. Was er wohl über sie dachte?

Fito erkannte in ihrem Blick die Schüchternheit, die er bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen hatte. Ein warmes Gefühl der Zuneigung breitete sich in seinem Körper aus. Er fühlte sich so gefasst und präsent wie selten in seinem Leben. «Man könnte jetzt darüber diskutieren, wer heute mehr vom anderen abverlangt hat. Wohl eher ich mit meinen für dich wohl ermüdenden Ausführungen über Motoren.» Fito lachte und erhob sein Glas. «Auf die Lebenden und die Toten.»

Norma zögerte kurz. «Und ganz besonders auf deine Mutter.»

13.

Lucrecia sorgte sich um ihre Freundin, die wie eine jüngere Schwester für sie war. War Fito ernsthaft an Norma interessiert? Es beunruhigte sie, dass auch Enrique keine Antwort darauf hatte. Sie wusste, dass es ihrem Mann fern lag, Fito aus eigenen Stücken über dessen Liebesleben auszufragen. Deshalb nahm Lucrecia ihm das Versprechen ab, sich mit Fito über Norma zu unterhalten.

Ein paar Tage später fragte Enrique seinen Neffen etwas unbeholfen, wie er zu Norma stehe. Als er Fitos erstaunten Blick sah, errötete er. Er trat seinen Mitmenschen nicht gerne zu nahe. Leben und leben lassen war schon lange seine Devise. Enrique räusperte sich. «Lucrecia möchte wissen, ob du es ernst meinst mit Norma. Sie hat wohl Angst, dass du ihr das Herz brichst.» Enrique seufzte, als er Fitos verständnislosen Blick bemerkte. «Offenbar befürchtet Norma, dass du nach getaner Arbeit in die Schweiz oder sonst ein Land gehst. Und sie dann Geschichte ist.» Enrique bemerkte, dass Fito die Stirn runzelte. Verstand er noch immer nicht? Er räusperte sich nochmals, bevor er weiterredete. «Wenn du es ernst meinst mit Norma, wäre es jetzt an der Zeit, den nächsten Schritt zu machen.»

Fito blickte Enrique fast noch ratloser an. Dieser gab nicht gerne Nachhilfeunterricht in Sachen Liebe. «Mach es mir doch nicht so schwer, Junge. Du könntest Norma wissen lassen, dass sie wichtig ist für dich. Auf jeden Fall solltest du auf ihre Annäherungsversuche eingehen.» Jetzt konnte Enrique nicht anders. Er lachte über den verwunderten Gesichtsausdruck seines Neffen. «Jetzt sag mir bitte nicht, du hättest nichts bemerkt.»

Fito musste an Heinz’ Worte denken. Als sie zusammen die Monteurschule besuchten, meinte er einmal, er sei in Sachen Frauen unbeholfen, weil er ohne Mutterliebe aufgewachsen sei. Tatsache war, dass er bis jetzt keine feste Beziehung zu einer Frau eingegangen war. Enriques Gelächter holte ihn aus seinen Gedanken zurück. «Ich fühle mich sehr wohl mit Norma.»

Schnell wurde Enrique wieder ernst. «Wieso näherst du dich ihr dann nicht?»

Fito konnte seinem Onkel nicht mehr in die Augen schauen, weil er sich schämte. Tatsächlich hatte er schon einige Male überlegt, den Arm um Norma zu legen oder ihre Wange zu streicheln. Aber immer hatte ihn etwas davon abgehalten. «Norma fasziniert mich, aber ich kann sie nicht ganz fassen.»

Enrique lachte. «Frauen sind komplexe Wesen, Junge, die meiner Meinung nach nie ganz zu verstehen sind. Aber das ist auch gar nicht nötig. Denn so bleibt das Zusammenleben mit ihnen spannend. Nur Angst vor ihnen darfst du keine haben. Sonst ist an eine Beziehung nicht zu denken.»

14.

Norma und Lucrecia saßen in einem Kaffeehaus und sprachen über die kommenden Theateraufführungen, als Norma das Thema wechselte. Fito sei so anders als die Männer, die sie bis jetzt kennengelernt habe. Er sei gutaussehend und intelligent und trotzdem nicht überheblich. «Wenn ich mich für ein Wort entscheiden müsste, das Fito beschreibt, wäre es ehrenhaft.» Norma nickte und hielt einen Moment lang inne. «Ja, das trifft es gut. Fito ist für mich ein ehrenhafter junger Mann.»

Lucrecia pflichtete ihrer Freundin bei. Fito unterschied sich von den meisten Ausländern, die sie kannte. Er wirkte aufrichtig und authentisch. Sie hörte aufmerksam zu, als ihr Norma von der Episode erzählte, die sie vollends von ihm überzeugt hatte. Damals habe sie im Maschinenraum gestanden und auf Fito gewartet. Reflexartig habe sie zu seinem Protokollheft gegriffen. Sie sei davon ausgegangen, dass das Geschriebene vor Fehlern nur so strotzen würde. Weil Fito Ausländer sei und man doch sage, technisch begabte Menschen seien in der Regel sprachlich eher untalentiert. Zu Normas Erstaunen habe sie keinen einzigen Orthographiefehler gefunden. Sein schriftliches Spanisch war genauso gut wie sein mündliches. Obwohl Norma Orthographie- und Grammatikfehler fast körperlich wehtaten, verzieh sie sie Ausländern. Grundsätzlich aber verlor jemand, der unsorgfältig mit der Sprache umging, schnell an Glanz für sie. Umso glücklicher war sie über ihre unverhoffte Entdeckung.

Lucrecia lachte. «Du hast dich also in Fitos Protokollheft verliebt.»

Norma lächelte die Bemerkung ihrer Freundin weg. Natürlich waren es nicht nur seine guten Sprachkenntnisse und seine bescheidene Art, die sie für ihn einnahmen. Was sie besonders beeindruckte, war, dass sich Fito in jedem Land, wo er einen Einsatz antrat, neu behaupten musste. Sie war überzeugt davon, dass die vielen Auslandjahre als Monteur seinen Charakter geprägt hatten. Als letztes Glied in der Produktionskette seines Arbeitgebers war er auf sich allein gestellt. Oft sei er psychologisch und zeitlich unter Druck, hatte er ihr erzählt. Auch wenn seine Entscheidungen nicht immer Zuspruch fänden, dürfe er nicht von ihnen abweichen. Egal, wie groß der Druck sei, der auf ihn ausgeübt werde.

Norma erzählte Lucrecia von der Episode auf dem Containerschiff in Brasilien. Damals habe der Kapitän darauf gedrängt, dass der Dieselmotor spätestens am Tag, an dem das Schiff den Hafen verlassen müsse, repariert sein müsse. Ansonsten drohe eine Konventionalstrafe. Fito habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dass dies unmöglich sei. Der Dieselmotor habe immer wieder Aussetzer und sei alles andere als einsatzbereit. Aber anscheinend habe der Kapitän eine Strafe mehr gefürchtet als einen fehlerhaften Motor. Am letztmöglichen Tag habe er auf eigene Verantwortung den Befehl gegeben, den Hafen zu verlassen. Aber noch vor der Copacabana sei der Motor stehen geblieben, und der Anker habe geworfen werden müssen. Norma sah lächelnd zu ihrer Freundin. «Weißt du, was ich meine?»

Lucrecia grinste. «Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass du ganz schön verliebt bist.»

Eine andere Anekdote hatte Norma Fitos sensible Seite aufgezeigt. Der Vorfall hatte sich auf einem deutschen Schiff ereignet, das mit einem Sulzer-Dieselmotor angetrieben wurde. Der Motor lief nicht mehr, und der deutsche Mechaniker auf dem Schiff war ratlos. Neben ihm und Fito stand ein großer Teil der Mannschaft. Sie bildete einen Kreis um die beiden und sah ihnen über die Schulter. Fito stellte dem Mechaniker Fragen um Fragen, während er den Motor inspizierte. Irgendwann entdeckte er einen eingedrückten Hebel. Es war offensichtlich, dass der Mechaniker daran herumgemurkst hatte. Allen Umstehenden war jetzt klar, weshalb der Motor nicht mehr lief.

Dem Mechaniker war anzusehen, dass er seine Tränen unterdrückte. Bald wussten alle auf dem Schiff, dass er den Motor unsachgemäß behandelt hatte. Fito hatte Mitleid mit dem unfreiwillig bloßgestellten Mechaniker. Er wusste, dass er in seinem Berufsstolz gekränkt war und sich gedemütigt fühlte.

Norma sprach leise und richtete ihren Blick in die Ferne. Sie wirkte abgerückt. Lucrecia sah ihre Freundin ernst und gerührt an. Norma war eine schlaue Frau. Sie beobachtete und zog aus ihren Beobachtungen ihre Schlüsse. Jetzt war Lucrecia klar, dass ihre Freundin Fito nicht überhöhte. Sie war zurecht verliebt in diesen Mann. Zärtlich strich sie ihr über den Kopf.

Norma sah zu Boden. Als sie wieder aufblickte, hatte sie Tränen in den Augen. «Fito und ich sind noch nicht einmal zusammen, und ich habe schon Angst, ihn zu verlieren.»

15.

Fito wusste, dass er handeln musste. Norma gefiel ihm, und sein Einsatz wäre bald zu Ende. Enrique hatte recht. Sie musste wissen, dass er es ernst meinte mit ihr. Er beschloss, sie zu überraschen und sie im Büro abzuholen. Aber als er dort eintraf, war sie schon weg. Enttäuscht ging er Richtung Maschinenraum. Er atmete erleichtert auf, als er sie vor der verschlossenen Tür stehen sah. Gleichzeitig schlug sein Herz schneller, und er begann oberflächlich zu atmen.

Norma lächelte, als sie ihn bemerkte. Als sie sich in die Augen blickten, war es, als ob ein Uhrwerk in ihren Herzen einrasten würde. Sie kamen einander entgegen und nahmen sich an den Händen. Dann zog Fito Norma sanft zu sich. Ein Kuss besiegelte, was nicht ausgesprochen werden musste.