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In einem Hamburger Stadtwald wird die Leiche der berühmten Schauspielerin Celia Osswald gefunden. Man hat ihr das vor kurzem implantierte Herz herausgeschnitten. Wer hat der Frau das Herz geraubt? Für Kommissar Werner Danzik beginnt eine nervenaufreibende Suche nach dem Täter: im privaten Umfeld der Schauspielerin, in der Hamburger "Transplantationsszene", im Kreis der Spenderfamilien. Ein Medizinkrimi, der sich dem Thema "Organspende" so beängstigend authentisch nähert, dass er an Spannung und Dramatik kaum zu überbieten ist.
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Seitenzahl: 239
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Monika Buttler
Herzraub
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Für Djamschid
Niemand kennt den Tod, und niemand weiß, ob er für den Menschen nicht das allergrößte Glück ist.
Ein Spaziergänger hatte die Leiche gefunden. Beim Pilze sammeln im Klövensteener Forst. Ein Routinefall, so schien es zunächst.
Ein Oktobertag. Feuchtgelbes, modriges Laub heftete sich an die Schuhe, der Himmel unnatürlich blau, stählern, in seiner Leuchtkraft fast schmerzend. In der Luft konnte man die erste Kälte schmecken. Der Rentner im grauen Anorak hatte per Handy die Polizei gerufen. Kurz darauf waren zwei Schutzpolizisten im Streifenwagen gekommen und hatten begonnen, den Fundort mit Absperrbändern zu sichern. Wenig später trafen Hauptkommissar Werner Danzik und sein junger Kollege Torsten Tügel ein.
Der Rentner erhob sich von seinem Wartesitz, einem Baumstamm, und kam zögernd auf den großen, leicht rundrückigen Werner Danzik zu.
»Da! Da hinten.« Er wies schräg hinter sich in ein Gebüsch mit dichten Laubhaufen.
Der Kommissar – grauer Bürstenhaarschnitt, grauer, appetitlich gestutzter Schnauzer – fixierte den älteren Mann aus hellen, blauen Augen. Handy mit über sechzig, offenbar ein wendiger Silbersurfer, konstatierte er. Die Leiche hatte ihn augenscheinlich nicht besonders verstört.
Danzik hatte in dreißig Berufsjahren alle Reaktionsvarianten beim Anblick einer Leiche kennen gelernt und in Typen klassifiziert: die Erstarrten, die sprachlos an ihrem Entsetzen schluckten; die Hysterischen, die es in ziellose Bewegung ummünzten; die Verdränger, die geschwätzig-wichtigtuerisch ihr Ego auslebten; ja, und die Sachlichen, die die Situation packten oder sich zusammenrissen. Dazu gehörte dieser –
»Ihr Name?«
»Ahrens. Wilhelm Ahrens.«
»Warten Sie.« Der Kommissar drehte sich um und ging auf die bezeichnete Stelle zu, sein Kollege folgte ihm.
Als sie zurückkamen, wirkte Danziks Miene versteinert, sein Assistent atmete hörbar aus.
»Wie genau haben Sie sich die Leiche angesehen?«, wandte sich der Kommissar an den Rentner.
»Nicht so genau. Man sieht doch gleich, dass da etwas – «
»Schon gut, Herr Ahrens. Sie haben also Pilze gesammelt.«
»Ja, das heißt nur einen Teil.« Der Rentner zeigte auf seinen spärlich gefüllten Bastkorb.»Ich wollte ja noch mehr sammeln, meine Frau ist heute nämlich nicht mit, sie hat Migräne.«
»Ist Ihnen unterwegs irgendjemand begegnet, ein anderer Sammler, ein Spaziergänger?«
»Nein.«
»Oder ein Radfahrer?«
»Auch nicht.«
»Herr Ahrens, Sie können dann gehen. Kommen Sie bitte morgen um neun ins Präsidium, damit wir das Protokoll machen. Torsten, nimm mal die Personalien auf.«
Werner Danzig hob grüßend die Hand – gerade waren Spurensicherer, Arzt und Fotograf aus ihren Autos gesprungen und auf ihn zugeeilt.
Er führte sie zum Fundort.
Aus dem Gebüsch ragten Beine in den Blick, in schwarzen, blickdichten Strümpfen, darüber, etwas hochgerutscht, ein türkisfarbener Minirock. Soweit noch nichts Ungewöhnliches. Doch dann, als die Blicke der Neuankömmlinge weiterwanderten, der gleiche Schock, der kurz zuvor die Magengruben der Kommissare attackiert hatte: eine türkisfarbene Kostümjacke, breit auseinandergerissen, offenbar in panisch gewaltsamer Eile, darunter ein zerfetzter schwarzer Spitzenbody. Beides der textile Restrahmen für einen Brustkorb, der, senkrecht aufgeschlitzt, diesen Menschen in eine einzige große Wunde verwandelt hatte.
Ein weiblicher Mensch. Weißblonde Pagenfrisur, die noch immer einen hervorragenden Schnitt erkennen ließ, die Züge edel, im Profil wahrscheinlich noch edler.
Doktor Hajo Urban, der bullige, kahlköpfige Gerichtsmediziner, sah noch einmal genau hin.»Kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Das ist beziehungsweise war Celia Osswald«, sagte Danzik.
Im Gesicht des Arztes stand noch immer ein Fragezeichen.
»Die Schauspielerin. Der Fernsehstar.«
»Ja, natürlich. Da gab es doch grad diese Serie – «
»Die Klatschreporterin‹.«
»Richtig.« Doktor Urban beugte sich wieder über die Leiche. Erneut richtete er sich auf und wandte sich zu dem Kommissar.
»Celia Osswald. Das ist doch die Schauspielerin, die kürzlich durch eine Herzoperation in die Schlagzeilen gekommen ist. Der ein fremdes Herz implantiert worden ist.«
»Genau.« Danzik fühlte, wie sich in seiner Magengegend etwas verkrampfte, er musste ein leichtes Würgen niederzwingen.
»Weißt du, was hier los ist?« Der Arzt betrachtete den Brustkorb, als gehöre dieser nicht mehr zu Celia Osswald.
»Du wirst es mir sagen.«
»Die Leiche hat kein Herz mehr. Das Herz ist rausgeschnitten worden.«
Aus Danzik kam nur ein»Oh« heraus, er blickte noch einmal auf die Wunde, konnte aber nichts Genaues eruieren. Er verabschiedete sich und ging mit seinem Kollegen zum Auto zurück.
Torsten Tügel fuhr sich durch seine blonden Locken, die wie ein Nest auf seinem Kopf thronten.»Das ist ja wirklich ein Hammer.«
»Ist dir Celia Osswald ein Begriff?«, fragte Danzik.
»Ja, irgendwie schon. Hab aber nicht viel mit ihr gesehen. Ist nicht grad der Jahrgang, der mich interessiert.«
»Sie ist – sie war um die fünfzig.« Danzik befühlte seinen nicht mehr ganz straffen Hals.
»Tja, traurig.« Der junge Kollege zupfte an seinem silbernen Ohrring und schien bereits an etwas anderes zu denken.
Am Jungfernstieg fuhr Danzik scharf an die Seite.»Dann zisch mal ab. Feierabend.« Er grinste freundlich und sah mit einer Spur Wehmut, wie der Jüngere, ohne sich umzublicken, davonfederte.
In seiner stuckverzierten Altbauwohnung in der Hallerstraße machte sich Werner Danzik einen ›Il Grillo‹ auf. Mal was anderes. Spritzig, frisch, ein Gaumenkitzler. In der letzten Zeit hatte er sich etwas stabilisiert. Seit Ines, seine inzwischen Geschiedene, vor zwei Jahren ausgezogen und den Avancen eines deutlich jüngeren Bauunternehmers erlegen war, hatte er kaum noch was Vernünftiges zu sich genommen. Hatte im Wechsel mal zu Hochprozentigem, dann wieder zu Schlaftabletten gegriffen, noch mehr als sonst gearbeitet und mit mitleidsvoller Selbstbeobachtung verfolgt, wie seine Augen immer umschatteter und glanzloser wurden.
Das war nicht mehr der charmante Blick, der bei den Frauen so gut ankam. Nur noch Wrackhaftigkeit war es gewesen, er hatte sich keine Illusionen gemacht. Und endlich, nach zwei lähmenden Jahren, hatte er eine Art Bilanz gezogen: Ja, es stimmte, er war regelmäßig zum couch potato mutiert, wenn er nach unzählbaren Überstunden zu Hause landete, hatte jede von Ines’ Initiativen abgewehrt. Bis sie dann allein losgezogen war. ›Wollenberg‹, ›Seeterrassen‹ und so weiter. Dabei war Ines genauso alt wie er. 52. Oder vielleicht gerade deshalb. Midlife-Crisis und Wechseljahre in einem.
Danzik lächelte verächtlich. Der Neue hatte eine Latifundie auf Mallorca. Da hatte sie also auch den richtigen Griff getan. Konnte jetzt alle zwei Wochen in den Jet steigen und würde ihn nie wieder mit südlichen Inseln triezen. Jede andere Frau wäre nur zu gern zu Hause geblieben, hätte zärtlich blickend ›danke‹ gesagt, wenn er sie, wie er es getan hatte, mit selbst kreierten italienischen Feinschmeckereien verwöhnt hätte.
Langsam ließ er den nächsten Schluck Wein durch die Kehle rinnen. ›Jede andere Frau‹ war allerdings noch nicht in Sicht. Trotzdem fühlte er sich besser. Er würde wieder anfangen zu kochen, nur für sich. Er würde zum Single-Genießer werden. Der Mensch war schließlich auch allein was wert. Zehn Jahre Ehe? Und wenn schon. Abhaken und weitergehen.
Danzik schaltete den Fernseher ein und hob die Füße auf den ledernen Ruhesessel. Er freute sich auf diese passiven Stunden, wo ihm niemand mehr das gewünschte Programm wegzappen würde.
Eine Spielszene kam ins Bild – und er erstarrte. Celia Osswald in ihrer Paraderolle als ›Klatschreporterin‹. Die Serie wurde offenbar wiederholt. Er beruhigte sich mit einem weiteren Schluck und sah genauer hin. Was war das für eine Frau? Er würde sie hier auf dem Bildschirm intensiv studieren, das konnte ihm bei seinen Ermittlungen nur helfen.
Sie spielte verdammt gut, darüber waren sich Kritiker und Publikum einig. Sie war keine Ich-Schauspielerin, die nur ihren eigenen Typ darstellte und dann immer nach Typ besetzt wurde. Nein, sie gehörte zu den Sie-Schauspielern, die in ihre Rollen so reinkrochen, dass nichts mehr von ihnen übrig blieb. Allein, wie sie diese Journalistin gab: hektisch, nur laufend, in der riesigen Business-Tasche wühlend, mit wippenden Ohrklunkern, die der Sportlichkeit einen femininen Touch gaben. Mit dunklen Haaren aus dem Fundus, sodass man kaum sehen, sondern schon wissen musste, dass sich dahinter die berühmte Celia Osswald verbarg.
In den Talkshows, mit der privaten Erscheinung, kam ihre ganze Arroganz rüber, mit der sie die Nation spaltete. Die Natur hatte bei ihr eine Augenbraue höher als die andere angesetzt, schon das wirkte arrogant. Danzik hatte sie, auch innerlich, bis ins Detail vor Augen und spürte erneut die faszinierende Ambivalenz, die sie auf ihn ausstrahlte. Die weißblonden Haare wie gemeißelt, nein: modelliert, er sollte es freundlicher sagen. Eine perfekte Damenfrisur, die jede andere nur mit einer Perücke erreicht hätte. Bevor sie überhaupt eine Antwort gab, machte sie stets eine wohldosierte Pause. Schaute aus grauen Augen spöttisch in die Runde, als überlege sie, ob dieses Publikum wirklich ihrer würdig war oder ob sie vielleicht doch wieder gehen solle. Als Ausgleich bezauberte sie mit einem lasziven Dauerlächeln. Ich bin Verführerin, sagte dieses Lächeln, immer und in jeder Sekunde.
Ah, man sollte diese Dame mal flach legen, durchrütteln, bis die Formfrisur und auch alles andere außer Fasson geriet … Danzik grinste über sich selbst. Er war zu intelligent, um nicht zu erkennen, dass auch er wie viele andere auf den Typ der coolen Hitchcock-Blondine abfuhr. Frauen, die man aufknacken musste, um sie – als Lohn – beherrschen zu dürfen. Ja, wie die Osswald auch das spielte: runde, weiße, schimmernde Schultern, Brustansatz raffiniert bemessen. Leidenschaft erregend, aber immer geschmackvoll.
Mein Gott, ich hab wohl Entzugserscheinungen. Zurück zur Sache, mein Lieber. Also: Wie sah ihr Umfeld aus? Nach einer gescheiterten Ehe ein Lebensabschnittsgefährte. Oder sagte man, nach acht Jahren Zusammensein, bereits Lebensgefährte? Wie auch immer, Marco Steinmann war ihr ständiger Begleiter. Ein großes, bäriges, hellhäutiges Mannsbild, vibrierend vor Kraft. Smart und athletisch zugleich. Früher war er Gastronom gewesen, jetzt fungierte er als Celia Osswalds Manager. Kümmerte sich nicht nur um sie, sondern auch um ihre Millionen. Die Pressefotos dokumentierten ihr Liebesglück: nein, kein aufschauender Blick, kein mädchenhaft schiefes Kopfhalten. Ihr Blick geradeaus, voller Besitzerstolz, die Hand fest um sein Handgelenk, während seine Tatze auf ihrer Schulter lag. Er hatte ihr sogar mit einem Buch gehuldigt. ›Celia‹ hieß es schlicht und war gerade dann erschienen, als sie die erste Zeit nach der Herztransplantation ein wenig weg vom Fenster geraten war. Ein nützlicher Wellenschlag, wahrscheinlich das Werk einer befreundeten Journalistin.
Wen würde er noch unter die Lupe nehmen müssen, überlegte Danzik. Ihren Sohn natürlich. Ergebnis ihrer kurzen stürmischen Ehe mit dem Schauspieler Claus Saalbach. Einem Charmeur, der sie mit seiner chronischen Untreue immer wieder enttäuscht und gedemütigt hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass er keine Rollen mehr bekam und jetzt ein vergessenes Dasein als Synchronsprecher fristete. Wie sie belebte auch der Sohn die Gazetten: Alexander, ein Sensibelchen. Immer ein unruhiger Blick, weiche volle Lippen, ein Frauenmund. Als Jung-Regisseur besetzte er die Hauptrollen seiner ersten TV-Filme mit seiner Mutter, und es war nicht ganz klar, wer von beiden mehr profitierte …
Werner Danzik schaltete den Fernseher ab. Er musste wieder an das herausgeschnittene Herz denken. Eine symbolträchtige, beziehungsreiche Angelegenheit. War es vielleicht ein Racheakt? Wieso hatte Celia Osswald eigentlich so schnell ein fremdes Herz bekommen? Von wegen Warteliste. Das sah doch eher nach Promi-Bonus aus bzw. nach dem Muster ›Der Scheck heiligt die Mittel‹. So was kam ja durchaus vor. Dieser Fürst aus Süddeutschland zum Beispiel, der hatte in kurzer Zeit drei frische Herzen verschlissen und war dann doch gestorben. Herz und Schmerz, Liebesschmerz – bevor seine Gedanken das magische Organ noch weiter umranken konnten, war Werner Danzik eingeschlafen.
Die Come-together-Party der Spenderfamilien und Organempfänger fand in der rauchblau gestalteten ›Orangerie‹ des Hotels ›Esplanade‹ statt. Geladen hatte die DSO, die ›Deutsche Stiftung Organtransplantation‹. Einesteils, um die Angehörigen der Toten im Glauben an ihre christliche Tat zu bestärken und weitere Spenderausweise unters Volk zu bringen, andernteils, um ihrer prominentesten Schirmherrin die Ehre zu geben: Celia Osswald, die große Schauspielerin, würde heute ihren zweiten Geburtstag feiern. Vor zwei Jahren hatte ihr Professor Korte in der Uni-Klinik das fremde Herz eingepflanzt, das seither unbeschadet schlug und schlug, und heute würde Celia allen vorbildhaft beweisen, dass das zweite Leben ein Leben voller Power war. Dazu hatte sie auch finanziell ihr Scherflein beigetragen – die Partygäste durften sich auf Musik, Tanz und eine Tombola freuen.
Der Hoteldirektor, der selbst mit einer Lebendnierenspende seine eigene Schwester gerettet hatte, hatte den Wintergarten ebenso sinnig wie geschmackvoll dekorieren lassen: Blutrote Lampions in Herzform schaukelten sanft über den Korbmöbel-Gruppen, Stoffbahnen im Herzmuster-Rapport bedeckten bodenlang die Tische, rote Servietten ragten aus herzförmigen Lalique-Väschen. Damit hatte man zwar viele Empfänger benachteiligt, aber Nieren, Lebern und Hornhäute waren als Lampions eben nicht zu bekommen.
Die Herzempfänger standen vorerst in einem Nebenraum an Stehtischen beieinander, gaben aber mit Stickern sich und ihre Sonderstellung zu erkennen. Sie sogen in kurzen Abständen an ihren alkoholfreien Cocktails, sodass die Kellner schon vor der Eröffnungsrede für Nachschub sorgen mussten. Die Spenderfamilien drängten sich, noch ohne miteinander bekannt zu sein, an den übrigen Stehtischen zusammen. Einige dämpften ihre Nervosität, indem sie immer wieder um den großen Mitteltisch schlenderten, auf dem eine überdimensionale Torte in Herzform mit einer cremigen ›ZWEI‹ arrangiert war.
Es lag die Unruhe von etwa vierzig Personen in der Luft, und alle fragten sich, wann wohl Celia Osswald der Warterei ein Ende machen und ihren Auftritt zelebrieren würde.
»Komisch, ich habe jetzt selber Herzklopfen.« Die verhärmte, etwa vierzigjährige Frau mit den gelbblonden Haaren warf ihrem Mann einen hilflosen Blick zu.»Wenn ich denke, dass unser Sven vielleicht hier ist, im Körper von einem der Leute da drüben …«
»Das ist doch ein gutes Gefühl. Schau mal, wie gesund die alle aussehen.«
»Diese Spekulationen führen zu nichts«, schaltete sich neben ihnen ein älterer Mann mit blondem Kinnbart ein.»Ich habe meinen Bruder zur Spende freigegeben, aber der Empfänger muss ja nicht grad auf dieser Party rumlaufen. Im Übrigen sind viele Empfänger längst tot, das sagt man uns nur nicht.«
»Wirklich?« Die Verhärmte bekam einen erschreckten Ausdruck.
»Gut, dass das Ganze anonym bleibt.« Ihr Mann griff entschlossen nach seinem Glas.
»In Deutschland, ja«, sagte der Bärtige.»Aber in Amerika, da gab es sogar eine Talkshow, wo Spenderfamilien und Empfänger zusammengeführt wurden. Und die Empfänger trugen ein Foto mit dem verstorbenen Spender am Revers. Muss ziemlich herzzerreißend gewesen sein.«
In dem Moment trat ein kleiner, korpulenter Herr hinters Mikrofon und hieß die Gäste im Namen der DSO, also der ›Deutsche Stiftung Organtransplantation‹, willkommen. Er drückte gekonnt auf die Gefühlstube, sprach von Taten der Nächstenliebe, von der Chance auf ein neues Leben, von einem kostbaren Geschenk und unendlicher Dankbarkeit, und man konnte bemerken, dass tatsächlich die eine oder der andere eine Träne wegdrückte. Nein, auf Frau Osswald wolle man nun nicht mehr warten, sie würde mit Sicherheit dem Fest ein wenig später Glanz verleihen, doch nun –»Verehrte Gäste, das Buffet ist eröffnet.«
Der Discjockey legte als Hintergrund eine Musik ein, die einige Ältere als ›Liebling, mein Herz lässt dich grüßen‹ identifizierten. Im Übrigen wurde die musikalische Ouvertüre jetzt vom Lärm klappernder Bestecke, scharrender Füße und raunender Kommentare überlagert.
Natürlich war auch die Presse vertreten. Die attraktive Journalistin und der Fotograf lehnten noch immer an den Stehtischen. Sie: ein mädchenhafter Typ, langbeinig, mit blond gesträhnten Haaren, die für eine Frau von Ende vierzig vielleicht ein wenig zu lang waren. Er: schlaksig-groß, dunkel, mit Drei-Tage-Bart und mindestens fünfzehn Jahre jünger als sie.
Laura Flemming ließ ihren Kugelschreiber auf- und zuschnappen.»Wir sollten jetzt irgendwie anfangen. Dann mach ich das Interview mit der Osswald eben am Schluss.«
»Ich hab schon ein paar Motive geschossen.«
»Geschossen!« Laura Flemming schüttelte den Kopf.»An diesen Ausdruck werde ich mich nie gewöhnen.«
»Wenn ihr Schreiber ›knipsen‹ sagt, kann man aber auch zu viel kriegen!«
»Mein lieber Jan, so unprofessionell bin i c h aber nicht.«
»Stimmt.« Der Fotograf erwiderte ihren gekonnten Augenaufschlag mit einem Lächeln.»Also, auf geht’s.«
Laura überlegte gerade, auf welche Gruppe sie zuerst zusteuern sollte, als ein vielstimmiges»Ah!« alle aufhorchen ließ. Herztransplanteur Professor Doktor Günther Korte sprang die Stufen zum Wintergarten hoch und eilte ›seinen‹, ihm heftig applaudierenden Empfängern entgegen. Er war ein massiger, halsloser Typ von Mitte fünfzig, die graublonden Haare trug er militärisch gescheitelt, passend zu dem festlichen Anlass hatte er sich in Schwarz mit roter Fliege gekleidet.
Der Professor verbreitete sogleich eine beruhigende, jovial gute Laune.»Na, Kinderchen, alle gut drauf?«
»Frau Osswald ist noch nicht da!« Die Stimme der kleinen, mageren Muriel, einer Studentin mit braunschwarzen Kulleraugen, klang kläglich.
»Nur ruhig Blut, meine Herzblätter. Eine Diva darf auch mal zu spät kommen.« Der Professor spähte zu den Tabletts mit den Weingläsern hinüber, griff dann aber in seine Jackett-Tasche.
»Aber, Herr Professor!« Die fette Stimme neben ihm gehörte seiner Oberschwester, einer blondierten Frau um die fünfzig, die ihre Rundlichkeit unter einem nachtblauen Seidenensemble versteckt hatte. Korte zuckte zusammen und ließ die Pall-Mall-Packung in die Tasche zurückgleiten. Im selben Moment fiel sein Blick auf Laura Flemming, und er breitete die Arme aus.
»Da sind Sie ja, meine Liebe. Kommen Sie, kommen Sie!« Er nahm die Journalistin an der Schulter und schob sie auf seine Schützlinge zu.»Ich hab ja schon davon erzählt: Das ist Frau Flemming, eine Wissenschaftsjournalistin, die ein Sachbuch über die Transplantationsthematik vorbereitet. Also, dann gebt der Dame mal ordentlich Futter!«
Korte bedachte die Gruppe mit einem letzten, aufmunternden Blick, dann strebte er den Rotweingläsern zu.
Laura stellte ihr Aufnahmegerät auf einen Stehtisch, bat die drei Frauen und die drei Männer, sich um sie zu scharen und notierte ihre Namen.
»Hier!« Die magere Muriel zog mit blitzenden Augen eine Autogrammkarte aus ihrer Schultertasche und hielt sie der Journalistin entgegen.
»›Meiner lieben Muriel – herzlich gewidmet von Celia Osswald‹«, las sie vor. Die erste Silbe von ›herzlich‹ war gemalt.»Wirklich sehr süß«, bekräftigte Laura Flemming.
»Muriel will ein großer Star werden«, spottete Hans-Peter, ein älterer, bebrillter Mann mit hängenden Schultern.»Und mindestens so berühmt wie die Osswald. Tja, in ihr schlägt jetzt ein Schauspielerherz.«
»Und du bist ein trostloser Zyniker geworden.« Bernd, ein breit gebauter, durchtrainierter ehemaliger Sportlehrer, knabberte schon an der zweiten Schokoladentafel.»Der war früher Diakon«, wandte er sich an die Journalistin,»jetzt hört man ihn nur noch lästern und fluchen.«
Laura Flemming sah auf das Band, das sich regelmäßig voranspulte. Alles unter Kontrolle. Das war ja phantastisch, was hier so zutage kam. Hatten die etwa alle die Eigenschaften ihrer Spender angenommen?
»Und ich fress nur noch Süßigkeiten«, sagte Bernd, als hätte er ihre Gedanken erraten.»Hier« – er wies auf seinen Bauch –»Mister Universum kriegt Fettrollen.«
»Und Sie Eddy? Haben Sie sich auch verändert?«
»Überhaupt nicht. Alles Quatsch. Ich bin und bleibe Autohändler.« Der stämmige Mann mit dem dichten, grauen Haar spielte an seiner goldenen Rolex.»Klar, vor einem Jahr, als ich am Abkratzen war, da war mein Herz sozusagen ein Kleinwagen. Und jetzt fahr ich wieder Porsche. Weil ich eben gesund bin.«
»Komm Darling, wir wollten doch tanzen.« Andrea, eine Rothaarige mit breitem Mund, zirka Mitte dreißig, fasste nach Eddys Handgelenk. Sie hatte bisher nur wenig gesagt und stattdessen unaufhörlich auf der Stelle getänzelt.
»Dann viel Spaß!« Laura sah ihnen lächelnd nach.
»Ja, das ist Leben.« Dorothea, eine Hausfrau mit braungrauer Dauerwelle, lächelte matt. Sie hielt ihr Glas wie mit letzter Kraft umklammert, ihr Rücken beugte sich über den Tisch, als wolle sie ihr Herz vor etwas schützen.
»Dorothea glaubt, dass sie ein Schrottherz gekriegt hat.« Hans-Peter blickte die Journalistin provozierend an.
»Lass das!« Bernd legte den Arm um die blasse Frau.
»Ja, ein krankes Herz. Ich werde bald sterben.« Dorotheas Stimme war nur noch ein Flüstern, und Laura Flemming atmete auf, als jetzt in voller Dröhnung Rockmusik einsetzte.
Die Spenderfamilien würde sie in ihren privaten Wohnungen interviewen, die Visitenkärtchen hatte sie schon in der Tasche. Nun, dieses medizinische Thema war eine Auftragsarbeit, und sie hatte noch nicht besonders intensiv darüber nachgedacht. Aber in so einem lärmigen Umfeld Eltern über den Todestag ihrer verunglückten Söhne und Töchter zu befragen, das schien auch ihr, der toughen Journalistin, Menschenverachtung pur zu sein. Todestag für die einen, Geburtstag für die anderen …
Laura reichte zum Abschied einer sympathischen Dame in mittleren Jahren die Hand, die sie fast beschwörend um einen Besuch gebeten hatte. Vom Band röhrte Bonnie Tyler»It’s a heartache …«
»Ache heißt Schmerz«, sagte die Dame,»anhaltender Schmerz. Aber das weiß hier wohl keiner.«
Plötzlich tauchte Jan vor seiner Kollegin auf.
»Ich hab alles im Kasten. Und du?«
»Ich auch. Lass uns abhauen. Diese Tombola können wir uns schenken.«
Im selben Moment trat der Herr von der DSO ans Mikrofon. Sein Gesicht wirkte so erstarrt, dass augenblicklich Stille eintrat.
»Ich habe Ihnen eine schreckliche Nachricht mitzuteilen. Celia Osswald, die Schirmherrin unserer Gesellschaft, wurde ermordet. Eben wurde es im Radio durchgegeben …«
Die Stille dauerte nur Sekunden. Dann brachen entsetzte, immer lauter werdende Schreie los. Wenig später stürmten Sanitäter herein. Dorothea, eine der Organempfängerinnen, war, die Hand über dem Herzen, bewusstlos zusammengesackt.
Ungefähr zur selben Zeit, während die Party lief, saßen Hauptkommissar Werner Danzik und sein Kollege Torsten Tügel in einer weiß verputzten Villa am Nonnenstieg und tranken Darjeeling aus blauweißen Schalentassen, die Kenner mühelos als ›Royal Copenhagen‹ erkannt hätten. Eine junge Frau mit weißem Schürzchen hatte sie in das gemeinsame Heim von Celia Osswald und ihrem Lebensgefährten Marco Steinmann gebeten, und Danzik wusste nicht, was ihn mehr verwirrte: die Tatsache, dass es noch so was wie Hausmädchen gab oder der Busen dieser aus Polen stammenden Ewa, der auch ohne die abgrundtief sichtbare Dekolletéspalte sensationell zu nennen war.
Als Danzik, der Ältere und Erfahrenere, die Mordnachricht überbringen wollte, stand Marco Steinmann startbereit im Tennisdress vor ihnen.
»Herr Steinmann, wir haben eine schlechte Nachricht für Sie.« Der Kommissar machte eine Pause und blickte in helle Augen, deren Blick schon seit ihrer Ankunft von einer Richtung in die andere geflackert war.»Wir haben Ihre Lebensgefährtin Celia Osswald tot aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass sie ermordet worden ist.«
»Ermordet?« Der blonde Hüne, dessen Naturburschencharme von einem Rundum-Bart komplettiert wurde, ließ sich sofort auf eines der cremefarbenen Sofas fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Endlich kam er wieder zum Vorschein.»Das ist ja furchtbar. Ich kann das gar nicht glauben. Wie ist das denn – ich meine – wie ist sie …«
»Die Todesursache kennen wir noch nicht. Aber wir haben Frau Osswald tot im Klövensteener Forst gefunden. Und zwar ohne« – Danzik zögerte –»ohne ihr Herz.«
»Ohne ihr Herz?« Marco Steinmann griff sich instinktiv an die linke Körperseite, dann bewegte er sich schwerfällig zu einem Glastisch, auf dem sich Hunderte von Flaschen drängten.
»Ja, das Herz ist rausgeschni-, also ist entfernt worden.«
Marco Steinmann schüttelte den Kopf. Dann schenkte er sich einen Whisky ein und kippte ihn in einem Zug hinunter.
Die Kommissare sahen sich an, dann fragte Tügel:»Herr Steinmann, wo haben Sie sich die letzten zwei Tage aufgehalten? Wir bitten um einen lückenlosen Nachweis.«
Steinmann stellte das Glas klirrend auf die Konsole. In seinen Augen funkelte Wut auf.»Soll das heißen, Sie wollen ein Alibi von mir? Ein Alibi, wo ich grad erfahre, dass ich meine Frau verloren hab?«
»Routine«, erwiderte Tügel, selbst schon routiniert, wie Danzik mit Blick auf seinen jungen Kollegen amüsiert feststellte.»Wir ermitteln in jede Richtung. Auch wenn es für Sie jetzt schwer ist, bitte bemühen Sie Ihr Gedächtnis.«
»Gedächtnis …« Steinmann nahm einen Schluck, als wolle er ihn gleich wieder ausspucken.»Also, da muss ich in meinen Terminer gucken.«
Die Kommissare folgten ihm in ein Arbeitszimmer, funktionell eingerichtet in den Telecom-Farben, in dem sich offensichtlich seine Manager-Tätigkeit abspielte.
Tügel sah auf seine Notizen.»Dann waren Sie also, bis auf Ihr Tennis-Training, die ganze Zeit zu Hause.«
»Ist das verboten?« Der Hüne knallte den Terminer auf den Schreibtisch zurück.
»Natürlich nicht«, besänftigte Danzik.»Kann Ihre Anwesenheit jemand bezeugen?«
Alle saßen wieder auf den cremeweißen Sofas, und Steinmann ließ seine Finger knacken.»Ewa kann das bezeugen. Unser Hausmädchen.«
»Gut, wir werden das nachprüfen.« Tügel verließ den Salon, um die atemberaubende Polin unter vier Augen zu sprechen, während Danzik mit der Befragung fortfuhr.
»Wann haben Sie Ihre Lebensgefährtin zuletzt gesehen?«
»Vor zwei Tagen. Wir haben wie immer zusammen gefrühstückt« – er wies auf eine Essgruppe mit Thonet-Stühlen –»dann hat sie das Haus verlassen. Als sie in der Nacht nicht zurückkam, habe ich die Vermisstenanzeige aufgegeben.«
»Richtig. Und was hatte sie an dem Tag vor?«
»Weiß ich nicht.«
»Sie wissen es nicht?« Danziks Ton wurde scharf.
»Nein, verdammt. Sich mit irgendjemand treffen.«
»Ja, aber mit wem? Hat sie Ihnen nie erzählt, mit wem sie sich traf?«
»In letzter Zeit nicht mehr.« Steinmann schlug wieder die Hände vors Gesicht.»Meine Celi, meine arme kleine Celi«, flüsterte er. Seine schwache, ersterbende Stimme stand in seltsamem Gegensatz zu seiner kraftmeierischen Erscheinung.
»Herr Steinmann, bitte beruhigen Sie sich. Wir lassen Sie auch gleich allein. Aber beantworten Sie noch eine Frage: Hatte Ihre Lebensgefährtin Feinde?«
Der Einsneunzig-Mann blickte auf seine schaufeligen Hände und begann erneut mit dem Fingerknacken. Er wartete mit der Antwort, als könne sich in der Frage eine Falle verstecken.
»Celia und Feinde? Das ist ja absurd. Wissen Sie überhaupt, wer Celia Osswald ist – wer sie war? Eine der größten Schauspielerinnen unserer Zeit! Sie wurde bewundert, sie wurde angebetet …«
»Erfolgreiche Menschen haben oft auch Neider.«
Steinmann sah den Kommissar fast mitleidig an und schenkte sich einen weiteren Whisky ein.
»Hatte sie sich nach ihrer Herztransplantation verändert? War sie schwieriger geworden? Sie haben doch die ganze Zeit mit ihr zusammengelebt – als sie krank wurde und auch nach der Operation.«
Auf Steinmanns Stirn zeigte sich eine senkrechte Falte.»Nein, sie hat sich nicht verändert«, sagte er schroff.
Wenig später stand der junge Osswald im Salon, schwarze Motorradjacke, den Helm unter dem Arm.
»Kriminalpolizei? Ein Unglücksfall? Wo ist meine Mutter? Was ist mit ihr passiert?«
Danzik stand auf und führte ihn zu einem Sessel. Mit nur unwesentlichen Veränderungen teilte er Celias Sohn die Mordnachricht mit.
Alexander Osswald sagte gar nichts. Dann brach er in ein unkontrolliertes Schluchzen aus, das seinen Körper minutenlang erbeben ließ. Nähere Umstände des Todes wollte er nicht wissen. Danzik legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Sollen wir Ihnen einen Arzt rufen?«
»Nein, danke, es geht schon.«
Der Stief-Lebensgefährte reichte ihm ein Glas rüber.»Hier, nimm mal einen Whisky.«
»Ich brauch keinen Alkohol!« Es schien, als wolle Alexander ›Sascha‹ Osswald ihm das Glas aus der Hand schlagen. In seinem verweinten Gesicht flammte ein Hass auf, der sowohl Danzik als auch dem zurückgekehrten Tügel nicht verborgen blieb.
Der Hauptkommissar erhob sich.»Ja, dann würden wir uns gern noch mal die persönlichen Räume der Verstorbenen ansehen.«
»Bitte.« Steinmann führte sie mit verkniffenem Mund nach oben, das Whiskyglas behielt er in der Hand.
»Sie können ruhig wieder nach unten gehen«, wandte sich Danzik an den Hausherrn.»Wir wollen uns nur einen kurzen Eindruck verschaffen.«
Getrennte Schlafzimmer. Das Schlafzimmer der Schauspielerin in Blautönen. Azurblauer Satin, Kissen mit Glanzeffekt, Kirschholz-Möbel. Eine sehr weibliche Handschrift. Auf dem Sekretär ein Foto des Sohnes, jedoch kein Bild vom Lebensgefährten. An den Wänden das Übliche einer Divenwohnung: TV-Preise, Rollenfotos, Fotos mit Filmpartnern in Übergröße.
Tügel zog eine Schublade auf und stieß einen Pfiff aus.»Ein Tagebuch und jede Menge Briefe.«
Er öffnete die nächste Schublade.»Geschäftspapiere. Verdammt, und wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss.«
»Keine Sorge, Schlafzimmer und Bad werden versiegelt.« Danzik und klebte die Verschlussmarken auf.
Sie gingen wieder in den Salon.
»Was machen Sie da eigentlich so lange?« Steinmann blickte ihnen mit wutverzerrtem Gesicht entgegen.»Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«
»Der kommt noch. Vorerst haben wir Frau Osswalds Räume versiegelt. Und sie beide«, fuhr Danzik fort,»halten sich bitte zu unserer Verfügung.«
Steinmann führte die Kommissare schweigend hinaus. Der junge Osswald, das Gesicht auf den Knien, bewegte sich nicht.
Durch die Oberlichtfenster fielen die Strahlen der Oktobersonne in den großen Sektionssaal des Instituts für Rechtsmedizin. Goldenes, lebenssprühendes Licht traf auf die wächsern-bleiche Gestalt, die auf einem der Stahltische lag. Für Doktor Hajo Urban war es ein Tag wie jeder andere. Im grünen Kittel und in Latexhandschuhen hatte er die Tote untersucht und begann nun, das Protokoll der äußeren Leichenschau auf sein Diktiergerät zu sprechen. Er war ein Mann in mittleren Jahren und so kahlköpfig, dass man ihn unwillkürlich für komplett haarlos hielt. Bei seinem bulligen, muskulösen Anblick war Werner Danzik damals das Wort ›Schlächter‹ eingefallen. Doch wie sah ein Schlächter aus, hatte er überlegt, und im selben Moment war ihm klar geworden, dass er sich auf das gefährliche Terrain grober Vorurteile begeben hatte. Tatsächlich lag Doktor Urban nicht nur jeder Zynismus fern; er war im Gegenteil ein zugänglicher, kumpelhafter Typ, der den Ermittlern seine Ergebnisse ohne hochmütiges Zögern verständlich rüberbrachte.