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Hauptkommissar Werner Danzik ermittelt in einer Serie rätselhafter Frauenmorde: Drei wohlhabende Frauen, alle über sechzig, wurden tot und mit Müll überhäuft auf einer Bank im Hamburger Innocentia-Park aufgefunden. Danziks Freundin, die Medizinjournalistin Laura Flemming, weist ihn darauf hin, dass alle Opfer in einst ›arisierten‹ Wohnungen lebten. Und tatsächlich führen Spuren in die braune Vergangenheit …
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Seitenzahl: 258
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Monika Buttler
Dunkelzeit
Der dritte Fall für Werner Danzik
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2006
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von photocase.de
Gesetzt aus der 10,4/13 Punkt GV Garamond
ISBN 13: 978-3-8392-3268-2
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
»Es ist ein großer, dramatischer Fehler zu glauben, zu etwas Bösem seien nur böse Menschen fähig.«
Simon Wiesenthal
Für Mona
Sie hatte ihn erwartet.
Signalrotes knappes Kostüm, High Heels an schlanken Beinen, Kerzenlicht, schimmernd in Champagner-Kelchen. Mit geschlossenen Augen lehnt sie im Fauteuil. Sie spürt es warm und feucht werden in sich, erste Schauer, die sie aufzulösen scheinen, dann wieder Kälteattacken.
Und wenn es nur für eine Nacht wäre, denkt sie. Aber zum Frühstück sollte er schon bleiben. Knusprige Brötchen, Honig, ein stärkendes Ei nach männlichen Mühen. Und dann? Warum nicht für ein paar Monate? Oder noch länger. Für immer. Sie lächelt in sich hinein. Für immer und ewig. Noch einmal geht sie ins Bad. Ist sie, das alte Mädchen, sauber genug? Und der Duft, Chanel Nummer 19, ist er nicht schon verweht? Sie greift zum Flakon und begegnet sich ein letztes Mal im Spiegel. Für immer und ewig. Ihre Lacklippen gefrieren zum »cheese«.
Man fand sie auf einer Parkbank. Im Innocentia-Park. Stadtteil Harvestehude, feinstes Hamburg unweit der Alster. Gegenüber Reihenhausvillen mit Erkern und Türmchen, das Make-up der Fassaden so frisch, dass der Krieg nur in Erinnerung noch überlebt. Die meisten Häuser blendend weiß, manche blau oder türkis. Sie schauen auf den Park, ohne ihn zu sehen. Hohe Bäume und Hecken umrahmen das Rund, eine Insel, verborgen im Meer steinerner Patrizierpracht. Morgens, bei schönem Wetter, drängt die Spielgruppe des schwedischen Kindergartens durch die Pforte, schwärmt aus auf den Rasen zu Schaukeln und Klettergeräten. Mütter kreisen mit Kinderwagen um das Grün und halten ihr Gesicht in die Sonne.
Ein kleines Mädchen hatte die Tote entdeckt. »Mama, guck mal ...« Die Mama reißt das Kind zurück, dreht es schubsend um, dass es fast in die Büsche fällt. Dann ein Griff zum Handy. Wenig später ist die Polizei da.
»Wie eine Installation«, denkt Kommissar Werner Danzik. Er ist ein gebildeter Mann. Genauso war es bei der letzten und bei der vorletzten Toten gewesen.
Sie trägt noch das rote Kostüm. Eine Orgie in Rot. Nein, kein Blut. Aber Schuhe, Lippen, Fingernägel – alles eine Aufforderung, die nun ihren Sinn verloren hat. Jenseits der fünfzig muss sie sein. Ihren Zenit hat sie überschritten, konstatiert der Kommissar. Auch die beiden anderen waren nicht mehr taufrisch gewesen.
Sie sitzt auf der Bank. Fast jedenfalls. Nur der Kopf mit den blonden, kaum merklich nachgedunkelten Haaren ist ein wenig zur Seite gesunken. Über dem wütend zerfetzten Kostümstoff, wahrscheinlich Wildseide, halten ihre Hände eine Schnapsflasche. Ein polnischer Wodka, wie Danzik feststellt. Auf ihrem Kopf, auf ihrem quellenden Dekolleté, auf ihrem Schoß hat jemand den Unrat eines vollen Mülleimers ausgeleert: Kippen, Büchsen, Pommes-Schalen, gammelige Äpfel, Plastikbeutel, braune Kompostsoße.
Die rote Lady stinkt. Nach Fusel und Verfaultem.
Die Bank steht neben einem heruntergekommenen, nicht mehr benutzten Toilettenhäuschen.
Keine Spuren einer gewaltsamen Tötung. Und doch Gewalt, denkt Danzik. Ein Kübel an maßlosem Hass. Du, elegante, feine Dame, bist nur Müll. Alles bis ins Detail wie bei den beiden anderen. Die dritte weibliche Bankleiche im Innocentia-Park.
»Schön, schön, schön.« Laura strich über das Holz des langen Esstisches. »Und was sagt die Wohnredakteurin dazu?«
Gila lächelte ihr schwaches Lächeln. »Astrein. Im wahrsten Sinn. Pinienholz. Damit liegst du voll im Trend.«
Laura strich erneut über das Holz. Gut zu wissen. Wenn die Landhaus-Mode weiter anhielt, dann würde sie auch die ganzen Accessoires dazu bekommen. Küchenwagen in Pinie, Weinregal, zu den terrakottafarbenen Wänden vielleicht ein orangerotes Keramik-Service, Zwiebeln und Kartoffeln in hellbraunen Körben ... Ah, jetzt zu einem Kaufrausch starten. Sie konnte es sich leisten. Mit dem letzten Buch hatte sie nicht übel verdient. Das kritische Werk zur Organspende hatte für Aufsehen gesorgt, nicht nur in Medizinerkreisen. Allenthalben geriet man aneinander, belobigte oder beleidigte sie.
Laura bemerkte Gilas Blick, mit dem sie die Länge des Tisches maß. Wie sie dort wieder saß. Wie ver-
loren gegangen, einsam, als sei die Küche eine Mondlandschaft.
Die Sommersonne legte Wärme auf die Haut und spielte schattige Kringel in den Raum.
»Irgendwie mönchisch«, sagte Gila. »Wie ein Refektoriumstisch.«
»Mönche sind doch oft ganz lebensfroh. Jedenfalls in Italien. Für mich hat das Toskana-Atmosphäre.«
»Na ja, wenn’s erstmal dekoriert ist.« Gila schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an die Stuhlkante.
Ihre Augenschatten sind noch schlimmer als meine, dachte Laura. Und diese ausgefransten Haare. Warum macht sie nicht mehr aus ihrem Schwedenblond?
»Schönheit ist meine Rettung, sagst du doch immer.«
»Stimmt.« Gila öffnete die Augen. »Aber Tag und Nacht nur Einrichten im Kopf bringt’s auch nicht.«
Wie ein mauliges Kind, dachte Laura. Bin ich ihre Mutter? Nervig, wenn Frauen ohne Mann an ihrer Seite keine gute Zeit haben können. Aber sie ist meine Freundin. Seit – ja, seit zwanzig Jahren. Genau. Nein, neidisch auf sie und ihren Werner war Gila nicht. Oder war Traurigkeit eine verkappte Form von Neid? Dabei war sie selbst fast acht Jahre älter als Gila. 49. Noch. Natürlich, es war eine angenehme Überraschung gewesen, dass ihr plötzlich dieser Mann über den Weg gelaufen war, der sie nach emotionalen Mangeljahren elektrisierte und belebte. Ja, sie liebte wieder. Ihn, den 53-jährigen Kriminalkommissar Werner Danzik: graublondes Bürstenhaar, Schnauzer, genießerisch nicht nur bei Tisch. Sie fühlte plötzlich ihr eigenes Strahlen und suchte es sogleich zu dämpfen. Warum sollte sie Gila verletzen?
»Zu meinem Fünfzigsten lade ich euch alle in meine Küche ein. An den neuen Toskana-Tisch. Ich bekoche euch: Prosciutto mit Senffrucht, vielleicht mal eine livornesische Fischschüssel, Salat natürlich und nicht zu knapp, danach Trüffeleis ...«
»Hör auf!« Gila lachte leicht und strich an ihrer fülligen Figur entlang. Ihr wohliges Seufzen kippte in Schärfe um. »Und mit wem soll ich da sitzen? Vielleicht mit mehr oder weniger alten Weibern?«
»Bist du etwa kein Weib? Wenn auch erst 42. Lass das bloß nicht Alice Schwarzer hören. Nein, im Ernst: Ich werde schon ein paar männliche Wesen für dich ranschleppen.«
»Ja, das kenne ich. Homos im Doppelpack, Muttergeschädigte à la ›Psycho‹, autistische Gefühlskrüppel.«
Laura lächelte amüsiert. »Ganz schön heftig, was du da los lässt. Obwohl – was Wahres ist dran.« Sollte sie Werner etwas mehr hegen und pflegen statt sich als Medizinjournalistin immer nur in Bücher zu vergraben? »Du sitzt zu viel zu Hause. Immer nur fernsehen. Zum Fenster fliegt dir keiner rein. Du musst mal wieder auf die Piste gehen.«
»Piste? Auf welche denn??« Um Gilas sensibel geschwungene Lippen zuckte es.
»Natürlich nicht gerade Disco. Eher Tangoschule. Oder Salsa. Oder in einen richtigen Fitnessclub.«
Ziemlich Hüftgold angesetzt, die liebe Gila. Und dann so pinkige Farben tragen. Sie selbst dagegen. Noch immer die Mädchenfigur. Günstige Gene, dachte sie, da brauche ich mir nichts einzubilden.
»Fragen Sie Madame Laura, und alles wird gut.« Es war mehr Müdigkeit als Ironie, mit der Gila das Thema abschloss.
Unter dem Tisch sah Laura auf ihre strassbesetzte Uhr. Gleich würde Werner kommen. Vor ihnen ein Wochenende mit Junilicht und Övelgönner Strandweg. Ohne Mord und Totschlag hoffentlich.
Werner Danzik keuchte zu Lauras Dachwohnung in der Feldbrunnenstraße hinauf. Er wollte in ihre Arme hinein, Haut an Haut die Erschöpfung der Woche ausatmen, aber er bemerkte, wie ihm Laura ein Zeichen machte. Ah, in der Küche die Freundin. Gila, die Anhängliche. Kam sie nicht etwas zu oft? Keine Feier ohne Meier, sprich: Gisela Osterkamp. Hübsch war sie ja, feines rundes Gesicht, feine Nase, sanfter Mund. Aber diese Tranigkeit. Tranige Romantik, falls es so etwas gab. Zu labil für seinen Geschmack, kam leicht aus der Spur. Dieser immer etwas verängstigte Blick aus großen graublauen Murmelaugen. Wer tat ihr denn was? Mit Geld war sie jedenfalls gesegnet. Von Hause aus und von Berufs wegen.
Und Laura immer in der Rolle der Aufrichterin. Was fand sie bloß an der? Weil alles schon so lange ging, oder war es der ergänzende Kontrast? Frauenkluckerei – als Mann verstand man es sowieso nicht.
»Hallo, Gila!« Schönes Wetter heute, wie geht’s? Lieber nicht. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Hallo, Werner. Du siehst nach einem schweren Tag aus.«
»Jeder Tag ist schwer.« Laura lachte, nicht ohne eine Portion Liebe im Blick. »Ich mach dir eine Weinschorle.«
»Für mich auch, bitte.« Gila beugte sich vor. »Was für einen Fall hast du denn gerade?«
Danzik empfand die vertrauliche Anrede noch immer als etwas Ungewohntes, als fremdes Element im sonst normalen Fluss ihrer Gespräche. Das Du hatte er Laura zu verdanken (»Nun ziert euch nicht. Wa-rum das Leben kompliziert machen?«). Gut, er hatte nichts gegen sie. Gila Osterkamp dachte und nervte wie die meisten in seiner Umgebung: Verbrechen waren aufregend, so lange sie einen nicht selbst betrafen. Man tratschte und plauderte darüber, in sicherer Ferne und erfolgreich praktizierter Verdrängung. Er registrierte ihren gespannten Blick und fühlte Abwehr aufkommen.
»Hmm«, machte er. Auf seiner Stirn schoben sich Falten zusammen.
»Jetzt guck doch nicht so muffig«, sagte Laura. »Es zwingt dich ja keiner. Obwohl – ich wüsste auch schon gern, wie weit du mit diesen beiden Mordfällen –«
»Es sind drei«, unterbrach Danzik. »Jetzt sind es drei.«
»Wieder eine Frau?«
»Ja, wieder eine Frau.«
Danzik nahm einen Schluck und schmeckte darauf herum. Die Pause dehnte sich.
»Also, eine Serie«, warf Gila ein. Sie schüttelte sich, als sei ihr plötzlich kalt geworden. »Ab drei spricht man von Serie, oder?«
»Kann man so sagen.« Werner Danzik schwieg wieder.
»Ist diese Frau auch erdrosselt worden?«
»Ja.« Er war jetzt eigentlich auf das Kartoffelgratin mit Spinat eingestellt, das Laura heute machen wollte.
»Zwischen Erdrosseln und Erwürgen gibt es einen Unterschied, oder?«
Die wollte es aber genau wissen. Am besten, er verschreckte sie so massiv mit Details, dass sie nicht zum Essen blieb.
»Ja, ganz richtig. Bei der Würgung werden die Venen verschlossen, in den Arterien läuft das Blut weiter und staut sich dort –«
»Muss das sein?« Laura schüttelte leicht den Kopf.
»Wenn es deine Freundin so interessiert. Die Strangfurche durch das Erdrosseln zum Beispiel –« Er registrierte mit Genugtuung, wie sich Gila an den Hals fasste.
»Schluss jetzt«, bestimmte Laura. »Wir wollen noch unsere Schorle genießen.«
Gila nahm die letzten Schlucke. Sie sah etwas verstimmt aus. »Ich geh dann mal«, begann sie. Danzik sprang auf.
»Hier, das Buch.« Laura gab ihrer Freundin den neuen Single-Ratgeber. »Kannst du gern behalten, ich brauch es nicht mehr.«
»Danke.« Gila legte sich Abschied küssend in Lauras Arme. Laura küsste zurück. »Vielleicht nützt es ja.«
Werner Danzik reichte seine Hand. Als Gila verschwunden war, hob er aufatmend die Beine aufs Sofa. Plötzlich leuchtete signalhaft das Bild der roten und toten Frau in ihm auf, verschmolz mit den beiden anderen Opfern zu einer einzigen bizarren Erscheinung. Er sah zu Laura, wie sie den Tisch abräumte. Sein Blick hielt sie fest, als wolle er sie beschützen.
Das Single-Dinner war ein Fiasko gewesen. Es war schon eine Weile her, aber die Erinnerung daran löste bei Gila erneut einen Schamanfall aus. Sie saß zu Hause auf ihrem pinkfarbenen Lippen-Sofa, einem maßvoll teuren Dali-Imitat, und befühlte ihre Wange. Heiß. Heiß und rot. Sie konnte noch immer schlagartig erröten. Und nicht nur bei solchen Erinnerungen. Es brauchte nur jemand ohne Vorwarnung ein Sexualwort ins Gespräch zu werfen, und schon verfärbte sie sich zur Tomate. Eine ziemlich unzeit-
gemäße Reaktion, wie sie fand, dabei hatte sie im Praktizieren des Aktes doch weiß Gott Erfahrung. Sie hob die Hände und begann zu zählen. Lächerlich. Sie ließ die Hände wieder sinken. Das war doch nichts, worauf man stolz sein konnte. Wie sie damals, zu Studentenzeiten, einen der beiden Bettanwärter nehmen wollte, sich nicht entscheiden konnte und dann gewürfelt hatte. Tempi passati.
Jetzt hockte sie allein hier. Ihr gegenüber, auf dem weiß lackierten Flohmarkt-Stuhl, nur Puppe Tina. Die treue, langjährige Begleiterin. Treu wie ein Tier, nur nicht so anstrengend. »Schaff dir doch ein Tier an«, hatte Laura neulich gesagt. »Soweit bin ich noch nicht«, hatte sie pikiert geantwortet. »Katzen als Männerersatz, nein danke.«
Dieses schreckliche Single-Dinner. Schon der Ort war falsch gewesen. Das Lokal, in das man sie bestellt hatte, hieß ›El Gaucho‹. Nicht mal weiße Tischtücher hatten sie gehabt, nur verflecktes rohes Holz, in den Ecken Trockensträuße und hinter der Bar eine Fototapete.
Zwei Männer für drei Frauen. Eine Unverschämtheit. Einfach das Drei-Männer-Angebot zu reduzieren und trotzdem die 50 Euro zu nehmen. Der grauhaarige Bademeister in der Runde, gockelhaft mit den beiden Enddreißigerinnen beschäftigt, hatte sie anhaltend ignoriert, und ihr war nur der schweigende verschwitzte Maurer geblieben.
Eine Szene zum Vergessen: Aus den Lautsprechern überdröhnendes Musical-Geschrei, um den Tisch kreist unablässig ein durchtrainierter Kellner, hobelt Fleisch vom Spieß, blutig direkt auf die Teller, wieder und wieder. Ein doppelter Affront: Als Frau und als Vegetarierin war sie bald hinausgeflüchtet, hatte dann lange und leider ohne angequatscht zu werden, auf eine Taxe gewartet.
Und jetzt ein neuer Versuch. Ein Zurück gab es nicht mehr. Sie war angemeldet zum Merengue-Salsa-Kurs. Eigentlich verrückt. Von Südamerika, siehe ›El Gaucho‹, müsste sie doch kuriert sein. Aber was konnten diese fetzigen, beschwingenden Tänze dafür? Gestern Abend hatte sie ihre Anprobe absolviert, hatte sich erst für das schwarze Etuikleid, dann für das helle aus Leinen entschieden, um schließlich bei lässigen weißen Hosen zu landen. Dazu ein rosa Top mit Spaghetti-Trägern und halb hohe Pumps. Oder lieber ganz flach? Die Aufregung machte sie schwach in den Knien, gern würde sie sich jetzt mit Wein enthemmen, aber sie wollte das Auto nehmen.
Jedes Mal war es dasselbe Gefühl. Dieses Du-musst-jetzt-in-die-Arena. Der Magen, der sich umzustülpen schien, dieses Kaputtsein von der Anstrengung, die Nerven nicht entgleisen zu lassen. Wie damals in Milano. Als sie fast im Hotel geblieben wäre und damit ohne Abendessen hätte zu Bett gehen müssen. Aber dann die Überwindung und wie blind ins nächste Restaurant hinein. Der ältere Dottore, der sie mit ersten, hofierenden Worten gleich erlöste. Später war alles so einfach gewesen. Tanzen in einer Bar, am nächsten Tag Blumen, der Besuch in seinem Atelier.
Gila schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Sie ging zur Tiefgarage.
Der Empfangsraum von »Tanzfieber« hatte zwar eine Bar, im Ganzen aber den Charme eines verwaisten Callcenters. Über dem grauen Plastikmobiliar hing Rauchgeruch, ein Ventilator war nicht zu sehen. Hinter den Panorama-Fenstern verdunkelte ein plötzlich einsetzender Juniregen den Himmel und ließ die gegenüber liegenden Gründerzeit-Häuser grau erscheinen. Der Regen fiel in unerschütterlicher Eintönigkeit.
Was hatte sie denn erwartet? Bunte Karibik-Träume, blau, grün und orange in Gläsern mit Sonnenschirmchen? Serviert von einem geschmeidigen, sonnenbank-braunen Knackarsch-Typen? Einem Typen, der ihr – das war das Mindeste – gleich tief in ihre murmelschönen Augen schauen würde? Die Bar war unbesetzt, und das nicht nur mit Cocktails.
Gila legte eine abwartend-muntere Miene auf. Sie sah zu der breiten Eisentür und betrachtete die Kursteilnehmer, die hereintröpfelten: Junge Frauen und Männer, uniformiert in Levi-Blau, sie schüttelten Schirme und Jacken aus, grüßten freundlich und verletzten mit einem Bonus, für den sie nichts konnten: Sie waren höchstens dreißig.
Gila fühlte, wie sie zusammen sank. Sollte sie wieder gehen? Die vierzig Euro unter der Rubrik »Erfahrung« abschreiben? »Du siehst mindestens sieben Jahre jünger aus«, hatte Laura schon oft gesagt, »aber du machst nichts draus.« Gila hatte jedes Mal gelächelt, in der gequält dankbaren Art, mit der man unpassende Geschenke annimmt, dann hatte sie das Thema weg geschoben. Vielleicht sah sie wirklich jünger als 42 aus, aber warum sich damit aufhalten, da einen die Zeit ohnehin überholte?
Der größte Teil der Tanzschüler war zu zweit erschienen. Paare, die schon jetzt küssend die Welt vergaßen, bevor der Erotik-Sound der Karibiktänze überhaupt durch die Lautsprecher geflutet war. Die Dunkelhaarige mit Glut in den Augen musste wohl ihrem Exotik-Image als ›rassige Tänzerin‹ gerecht werden und sich den Salsa-Schwung erst einverleiben, wahrscheinlich war sie über Barmbek noch nicht hinaus gekommen. Die Blonde wirkte unauffällig, aber dann legte sie ihr Jäckchen ab, und was da an prall gefüllter Hose und Bluse zum Vorschein kam, machte augenblicklich klar, dass sie der Männermagnet des Abends werden würde. Gila wusste es sofort, jede instinktsichere Frau wusste es.
Die füllige Rothaarige an der Garderobe hatte Gila fast unbewusst wahrgenommen. Aber jetzt nestelte diese ein Paar turmhohe rote High Heels aus dem Beutel, stieg hinein, stach das spitze Wunderwerk in den Boden und näherte sich mit schwingender Selbstverständlichkeit der Bar.
»Hei, cariña! Du siehst zau-ber-haft aus!« Spiralig gurrte es aus tiefster Kehle.
»Hei, Rosita!« Die junge Tanzlehrerin, bauchfrei-muskulös und mit Kurzhaarschnitt, legte sich über den Tresen, um sich beidseitig gründlich küssen zu lassen.
Umschlungen gingen die beiden zu einer halb geöffneten Tür, die den Blick auf einen lagergroßen Parkettboden freigab.
Was will die hier?, dachte Gila. Die ist doch jenseits von fünfzig oder sechzig oder siebzig. Jenseits der Empfängnisfähigkeit war das sowieso egal. Gehörte die vielleicht zum Inventar? War extra importiert worden aus Südamerika? Nein, das war ein europäisches Gesicht. Wenn nicht gar ein deutsches. Ein Nordlicht unter wilden Haaren in falschem Milva-Rot. Eine gerade, fast edel wirkende Nase, blaugraue Augen, die immer wieder südländisch aufblitzten. Eine couragierte Dame, stellte Gila fest. Trug Rot zu roten Haaren. War das farbtechnisch überhaupt erlaubt?
»Merengue«, rief die Tanzlehrerin. Sie machte einige Schritte zur Seite, bewegte kaum merklich die Hüften. Es schien, als sei sie auf der Stelle geblieben und wolle sich lustvoll in den Boden bohren. »Und nun von der Trockenübung zur Musik.«
Aus den Boxen entlud sich Karibik pur. Afrikanisches Getrommel, vermischt mit mehrstimmigem Bluesgesang und dem strahlenden Übermut der Blechbläser.
Gila tappste mit ihrem spargeligen Partner dem Rhythmus hinterher und schaute zu einem dunkelhaarigen jungen Mann, der den Hüftschwung auch noch nicht heraus hatte. Sympathisch, dachte sie. Alles an dem Mann war anziehend dunkel. Haare, Augen, sogar die Kleidung. Und er war schlank.
Jetzt nicht an Männer denken. Wollte sie nicht überdies ein paar Tänze erlernen? Was für ein animierendes Bild: Vor ihr wogte die Rothaarige, bestampfte langsam-lasziv das Parkett, während der Jüngling an ihren Händen ihre Schwünge wie hypnotisiert imitierte. »Muy bien, poquito, muy, muy bien.« Die Augen des Jungen strahlten auf, er ließ sich jetzt in die Musik fallen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt.
Rosita wiegte sich mit zunehmender Energie auf der Stelle, er schlängelte fast synchron, sie warf den Kopf hoch, ihr Feuerhaar zuckte, während sie ihn mit immer intensiverem Kreisen anfachte, in provozierendem Lächeln hob sie ihr Kinn, suchte mit Verführungsblick seine Augen, und er wurde zum Schatten, der mitglitt, mitgezogen und mitgesogen von ihrer Kraft. Als die Musik verstummte, standen alle klatschend im Kreis. Der poquito machte eine kleine Verbeugung, dann wischte er sich mit einem Taschentuch den Nacken ab.
Pause. Gila folgte der Gruppe in den Empfangsraum. In wenigen Sekunden waren die runden Tischchen zu Raucherinseln mutiert. Der Dunkle stand mit einem Glas Wasser an der Bar. Jetzt, dachte Gila.
»Der reinste Sport, nicht wahr?«
»Ja, wirklich. Ich tanze zwecks Kondition. Anderen Sport finde ich langweilig.«
Wunderbar. Die erste Gemeinsamkeit. Dazu Hände, schlank und gepflegt, die – noch – keine Zigarette hielten.
Auf keinen Fall würde sie jetzt dieses »Und was machen Sie beruflich?« als Dialogbrücke benutzen. Eine Brücke, die mehr eine Krücke war. Noch mal beim Sport anknüpfen? Irgendetwas von Ausgleich und ungesunder Bürositzerei ins Spiel bringen?
»Ja, man braucht einen Ausgleich«, sagte er. »Immer nur am Computer. – Ich bin Journalist.« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Ich auch. Ich bin Journalistin.«
»Wo?«, fragte er nach einer Perplexsekunde.
»Beim Orbit-Verlag, bei der Zeitschrift ›Interieur‹.«
»Fest angestellt?«
»Ja, fest angestellt.« Sie lächelte, nun in einem Gefühl der Sicherheit. »Als Redakteurin«, setzte sie hinzu.
»Ich schreibe über Film, Musik, Design. Alles freiberuflich.« Er reichte Gila seine Visitenkarte. »Vielleicht können wir irgendetwas zusammen ... vielleicht kann ich für euch ...«
»Bestimmt.« Gila steckte die Karte in ihre blaue Second-hand-Tasche und gab ihm die eigene Visitenkarte.
»Ich ruf dich an«, sagte der Dunkle und sah ihr mit dunklem Blick in die Augen.
Mit den Rauchgesättigten kehrten sie in den Saal zurück.
»Salsa«, rief die Tanzlehrerin.
Neuer Tanz, neuer Partner. Wieder ein Modell Übergröße, nicht gerade Gilas Geschmack.
»Machst du das als Job?« Sie zwang sich zu einem Anfang.
»Ich bin sonst im Kurs für Standardtänze.«
»Kriegst du das bezahlt, dass du hier als Single einspringst?«
»Nein.«
Du meine Güte. Auf welchem Trip war sie denn jetzt? Plumper ging’s ja wohl nicht. »Schöner Gigolo, armer Gigolo ... man zahlt, und du musst tanzen.« Nein, das war Unsinn, so weit war sie noch nicht. Diese Rosita vielleicht.
Die hatte sich wieder in die Rolle der bewunderten Vortänzerin geworfen. Als Einzige im Kleid, das wie ein roter Klecks die Palette der Blau- und Grauhosigen aufmischte. Die doppelten Schulterbänder des raffinierten Outfits rutschten immer wieder auf die entblößten Schultern hinab, und Gila fragte sich, wie lange der Stoff Rositas ausufernden Formen und mehr noch ihrem Temperament standhalten könnte.
Plötzlich fing Gila einen Blick der Älteren auf. Er kam absichtslos, aber ein zunickendes Strahlen lag darin, eine aufmunternde, fast mütterliche Wärme, die speziell ihr, Gila Osterkamp, zu gelten schien.
Die Tanzstunde war zu Ende. Gila ging an die Bar und bestellte sich ein Glas Wasser. Nein, »Er« kam nicht an die Bar. Inmitten der eilig Wegstrebenden schob er mit der Blonden hinaus, hatte nur noch Hände und Augen für sie. Gila wrang sich den Schweiß aus den Haaren, spülte, wie zur Kühlung einer Wunde, in großen Schlucken das Wasser hinunter. Hinter den Panorama-Fenstern plärrte der Regen.
»Du bist eine kleine Trauerweide, stimmt’s?« Die Rote stand neben ihr und legte ihr sanft eine manikürte Hand auf den Arm.
Gila schaute hoch, wie ein ertapptes Schulmädchen. Dann straffte sie sich. »Eigentlich nicht. Eigentlich bin ich –«
»Natürlich, cariña, ich weiß.« In Rositas blaugrauen Augen lag plötzlich Trauer. Seelenverwandt, dachte Gila.
Dann ein ebenso plötzliches Aufblitzen. »Komm, cariña – wie heißt du eigentlich? – , wir gönnen uns noch einen Absacker. Ich kenn da eine richtig nette Kneipe ...«
Durch das Dachfenster fiel die Dämmerung. Laura wartete, bis sich das Blau des Bildschirms verdunkelt hatte, dann ging sie mit schnellen, leichten Schritten ins Wohnzimmer hinüber.
»Hast du gewusst, dass es 30 Einleitungsmethoden für Hypnose gibt?«
Werner Danzik blickte auf. Seine einsachtzig oder mittlerweile einsachtundsiebzig füllten Lauras mintgrün gepolstertes Korbsofa, auf seinem Schoß lag die Akte ›Frauenmorde Innocentia-Park‹. Er ließ seinen Schnauzer los und zog die Mundwinkel nach oben.
»Also ich kenne nur eine. Die wird von einer Frau angewandt.«
»Ach, Werner, nun mal im Ernst: Ist das nicht faszinierend?«
»›Faszinierend‹ gefällt mir nicht. Hört sich nach Kaninchen und Schlange an.«
Laura schenkte sich einen Trebbiano ein und ließ sich in einen Korbsessel fallen. »Jedenfalls ist das Thema hochspannend. Langsam fängt das Projekt an, mir Spaß zu machen.«
»Vielleicht wird es diesmal sogar ein Bestseller. ›Die fremde Kraft‹ – klingt gut. Oder: ›Der fremde Wille‹. Wäre das nicht noch besser?«
»Nein, nein, Werner. Das ist es ja gerade nicht. Es ist –«
»– so oder so gefährliches Terrain. Wie bei der Organspende.« Danzik schüttelte den Kopf, besorgt und ergeben zugleich. Dann blieb sein Blick an der Akte hängen. Er seufzte anhaltend, las sich fest und steckte fest. Wieder einmal. Drei vernichtete Schicksale und weitere in Gefahr. Es gab Morde, die sich zur Serie ausweiteten und über Jahrzehnte gingen. In den USA zum Beispiel ... Aber mit der DNA-Analyse hatte man doch schon einiges aufgeklärt. Bei dem Fall Mooshammer war es ja wie der Blitz gegangen. Doch wenn es nichts gab zum Abgleichen?
»Mein Werner-Schatz, du siehst ja ganz unglücklich aus.«
Bin ich auch, dachte er. Es war erneut ein Gefühl der Ohnmacht, das sich wie ein bleiernes Netz über ihn senkte. Lähmung, Stillstand – sollte er seinen Beruf nicht endlich aufgeben? Verdammtes Selbstmitleid.
»Das ist ja zum –« Danzik schlug auf die Akte. »Ja, wir schwimmen herum. Im Kreis. Wir alle. Und Kleinschmidts schlechte Laune potenziert sich ins Unendliche.«
»Lassen wir mal diesen blöden Kriminaldirektor und gehen die Fakten durch. Du hast selbst gesagt, dass ständiges Referieren auch kleinster Kleinigkeiten am Ende zum Erfolg führt.«
»Führen kann.« Danzik schaute wieder mit melancholischer Energielosigkeit ins Leere.
»Komm, Werner.« Laura drückte ihm ein Glas in die Hand.
»Gut. Fall eins: Carla Westphal – willst du sie sehen?«
»Aber bitte nicht als Leiche.«
»Ich habe auch ein anderes Bild.«
Laura nahm zögernd das Foto. Eine Frau um die sechzig, blondgraue wellige Haare, die von einem Stirnband zurückgenommen wurden, Brillant-Sticker an den Ohren, auf dem Revers des marineblauen Blazers war eine Brosche in Form eines ›C‹ angesteckt.
»Sehr hanseatisch. Bis auf das seltsame Jungmädchen-Band.«
»Sie war die Erste, die wir quasi als Müll-Leiche gefunden haben. Auf der Bank im Innocentia-Park. Keine Handtasche mit Papieren und keinerlei Hinweise auf den Täter. Wie beim zweiten und nun auch beim dritten Opfer. Natürlich hat die Spurensicherung den ganzen Müll eingesackt. Allein die Schwierigkeiten bei der Identifizierung. Ohne die Presse wüssten wir heute noch nicht, dass es sich um Carla Westphal aus dem Jungfrauenthal handelt.«
Laura konzentrierte sich mit einem Schluck Wein. »Dann kommt ihr nur über ihr persönliches Umfeld weiter.«
»Und da gibt es eben keins! Eine Nachbarin hat sie identifiziert und uns das Spärliche mitgeteilt: abgebrochene Kunsthistorikerin, kinderlos, verwitwet. Ihr Mann war der Antiquitätenhändler und Immobilienkaufmann Eberhard Westphal.«
»Der Eby? Der alte Häuser gekauft und restauriert hat?«
»Ja, der. Man muss also von einem beträchtlichen Erbe ausgehen. Und bis jetzt ist nicht der allerfernste Verwandte in Sicht. Sie hat völlig zurückgezogen gelebt und Bücher über ihren Mann geschrieben.«
Wie arm man als Reicher sein konnte, dachte er. Diese Einsamkeitsgesellschaft verschlingt uns alle. Arme wie Reiche. Ermordet, mit Müll-Insignien auf einer Bank, oder allein und von allein zum Kompost in der Wohnung werden – irgendwie war es das Gleiche. Oder fast das Gleiche. Aber er hatte keine andere Aufgabe, als die Wahrheit zu finden, das war genug, zu mehr würden seine Kräfte nicht reichen.
»Gibt es das, einen Menschen ohne Verwandte?« Laura sah ihn an, als erhoffe sie ein ›Nein‹.
»Zumindest Menschen, die ihre Verwandten überleben. Die wenigen, die sie noch haben. Verwandte sind leider eine aussterbende Gattung geworden.«
»Ich liebe Wahlverwandte!« Laura prostete ihm zu.
»Ich auch.« Sie trägt mich, dachte er, ihre Vitalität ist wunderbar.
»Wie hat Carla Westphal gewohnt?«
»In einer Fünf-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss, opulent mit teuren Antiquitäten und sehr gepflegt.«
»Sicher findet ihr da was.«
»Sie hat umfangreiche schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen, vielleicht sind sie der Schlüssel, der uns einige Türen öffnen kann.«
Laura lehnte sich zurück. »Was haben die beiden Fälle noch gemeinsam, außer dass die Damen mit Müll dekoriert wurden?«
»Viel. Auch Marianne Lundbek war 62 Jahre alt, verwitwet, reich und lebte in einer 5-Zimmer-Wohnung eines Jugendstil-Hauses. Am Eppendorfer Baum, wieder sehr nah zum Innocentia-Park. Und wie gesagt: Alle Frauen, auch das dritte unbekannte Opfer, wurden erdrosselt.« Er reichte ihr ein Foto von Marianne Lundbek.
»Oh, lala, das ist, beziehungsweise war ja eine richtige Diva. Oder Pseudo-Diva. Reichlich überschminkt und ziemlich viel Talmi um den Hals. Diese fransigen falschen Chanel-Kostüme sind jetzt wieder Mode. Die blonden Haare sehen nach Perücke aus.«
»Nein, die waren gefärbt.«
Laura gab das Bild zurück. »Sie hat was Glamouröses.«
»Ja, sie war früher Schlagersängerin, nannte sich Marina Moon und trat kurzfristig in dem Musical ›Evita‹ auf, bis sie der Alkohol von der Bühne warf.«
»Wo sie von einem reichen Mann aufgefangen wurde.«
»Richtig. Von dem TV-Produzenten Wolfgang Lundbek.«
Lauras Blick schweifte über ihre Möbel. »Hat sie auch so teuer gewohnt wie die Westphal?«
»Teuer ja, aber orientalisch bunt. Ihr Fernseh-Gatte hat viel von Reisen mitgebracht.«
Danzik schwieg. Laura meinte es gut, aber wie sollte sie etwas zur Aufklärung beitragen? Das hier war wie eine Plauderei am Kamin. Sie wärmte ihn, mehr aber auch nicht.
»Ach, Werner. Da ist man ja wie vernagelt. Und die Nachbarn, haben sie nichts gesehen? Oder ist dir irgendetwas in der Umgebung der Häuser aufgefallen?«
Danzik bearbeitete seinen Schnauzer. »In der Umgebung ... Vor beiden Häusern lagen diese Messing-Plättchen. Aber da habe ich nicht weiter hingeschaut.«
»Die Stolpersteine von dem Künstler Gunter Demnig. Mit den eingravierten Namen der NS-Opfer.«
»Ja, genau die.« Eine merkwürdige Aktion des Erinnerns. Stolpern und stehen bleiben sollte man auf dem Bürgersteig, um die Namen der Ermordeten zu entziffern, die vor ihrer Deportation in diesem Haus gewohnt hatten. Bei jedem Hinein- und Hinausgehen sollte man sich ihr Leid ins Gedächtnis rufen. Aber was taten die Vorübereilenden? Sie hielten nicht an, beugten sich nicht, um zu lesen, sie traten die Plättchen mit Füßen. War der Holocaust eine Sache, die man mit Füßen treten durfte? In Berlin turnten, turtelten und picknickten sie auf den Blöcken der neuen Gedenkstätte herum, anstatt sich still und respektvoll zu verhalten. Nein, man hatte es noch nicht geschafft, nichts war wirklich angemessen.
»Eine einmalig gute Idee, das mit den Stolpersteinen. Man muss sich stoßen und darüber stolpern, um das Vergangene und Vergessene wieder wahrzunehmen. Oder sich sogar einem Schmerz aussetzen, der ohnehin nur ein Körnchen dieses anderen großen Schmerzes sein kann.« Sie sah ihn an, wartete auf Zustimmung, aber er hing noch in seinen Gedanken. Als sie fortfuhr, war es eine Eingebung. »Und nun stell dir vor, Werner, zwischen diesen kleinen, 10 x 10 cm großen Plättchen und dem jeweiligen Haus gäbe es noch eine andere Verbindung. Nicht nur diese traurige, welche die jetzigen Bewohner beschämt und die alten, überlebenden Besitzer erneut verletzt. Sondern eine Verbindung der Rache. Eine, die Vergeltung sucht ...«
Danzik hob den Kopf. »Das ist verrückt, Laura. Weißt du, wie viele Stolpersteine es in diesem Viertel gibt? Die Isestraße, der Eppendorfer Baum, der Grindelhof – sie sind damit gepflastert. Wir sind zugemauert, frag mich nicht, an wie vielen solchen Häusern wir täglich vorbeigehen.«
»An vielen. Die Höchstzahl von Stolpersteinen habe ich vor einem Haus in der Isestraße gesehen. 15 Stück. Ein Mord-Rekord. Auch in Hamburg hat dieser Kölner Künstler schon hunderte von Plättchen in die Gehwege eingegraben.« Eingegraben, dachte Danzik. Das traf es wohl. Sie saßen auf Todesstätten, auch wenn die Opfer in Auschwitz oder Lodz gestorben waren.
»Harvestehude und das Grindelviertel«, hörte er Laura referieren, »waren ja vor der Nazizeit das beliebteste Wohngebiet der Hamburger Juden. Und denk an die Schulen: die Joseph-Carlebach-Schule am Grindelhof oder die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße. Oder die Synagoge am Bornplatz, die in der Pogrom-Nacht 1938 von den Nazis in Brand gesetzt und zerstört wurde.«
»Vor meinem Haus in der Hallerstraße liegt übrigens kein Stolperstein«, sagte Danzik.
»Vor meinem auch keiner. Aber kann uns das beruhigen?«
»Nein.« Danzik hätte jetzt am liebsten nach einer Pfeife gegriffen. Aber seine Sammlung war längst im Keller. Als Allergiker konnte er sich solche behag-lichen Betätigungen nicht mehr leisten.
»Der Innocentia-Park, Werner, ist umkreist von Stolpersteinen. Und gerade da waren deine Mordopfer zu Hause.«
»Vergeltung von jüdischer Seite? Das ist sozusagen nicht denkbar. Es ist politisch unkorrekt.«