Abendfrieden - Monika Buttler - E-Book

Abendfrieden E-Book

Monika Buttler

4,7

Beschreibung

Ein neuer Fall für Hauptkommissar Werner Danzik: Die erfolgreiche Malerin Elisabeth Holthusen, 78-jährige Frau des Hamburger „Teekönigs“ Henri Holthusen, wird in ihrer Wohnung in Hamburg-Winterhude vergiftet aufgefunden. Sofort fällt der Verdacht auf ihre Schwiegertochter, die von der Ermordeten seit Jahren tyrannisiert wurde. Aber diese hat ein Alibi und Danziks Ermittlungen fördern immer neue Verdächtige zu Tage. Erst als sich ein zweiter Todesfall ereignet - wieder trifft es eine alte Frau, die mit Sohn und Schwiegertochter unter einem Dach lebte - begreift Kommissar Danzik allmählich die Hintergründe des Verbrechens …

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Monika Buttler

Abendfrieden

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

©2005 – Gmeiner-Verlag GmbH

ImEhnried5, 88605Meßkirch

Telefon 07575 / 2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book-Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung 

Für Ulli und Jürgen

»Man soll so weit von der Schwiegermutter weg wohnen,

dass man eine Jacke anziehen muss.«

Sprichwort

Alle Charaktere in diesem Kriminalroman sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit existierenden Personen und Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Der zweite Schlaganfall war tödlich gewesen.

Die Beerdigung seines Vaters war erst drei Tage her, aber Hauptkommissar Werner Danzik hatte ihn gleich doppelt begraben: auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf und in seinem Gedächtnis. Klappe zu und weg. Erstaunlich, dass negative Dinge einfach verschwanden und nicht unaufhörlich nagend präsent waren, wie er immer gedacht hatte.

Danzik blickte vom zweiten Stock seiner Altbauwohnung hinunter auf den Eingang des gegenüberliegenden Jugendstil-Hauses. Vier junge Leute stopften gerade achtlos Möbel in einen Transporter: eine dunkel gebeizte Kommode, eine Stehlampe mit vergilbtem gekraustem Schirm, zuletzt eine weiß gestrichene Küchen-Vitrine.

Ein schönes Stück, dachte Danzik, als er auch schon stutzte. Das waren ja alles Sachen vom alten Herrn Wohlers. War der allein stehende Mann plötzlich gestorben? Was war da los? Danzik eilte auf die Straße hinunter.

»Was ist mit Herrn Wohlers? Warum bringen Sie die Sachen weg?«

»Weiß nicht. Kommt alles auf den Recycling-hof.« Der junge Mann mit dem Drei-Tage-Bart sah ihn kaum an.

Danzik hob seine Stimme. »Kann mir hier irgendjemand sagen, was mit Herrn Wohlers passiert ist?«

»Der ist tot. Mehr wissen wir aber nicht.« Das junge Mädchen, an dessen Nase ein Ring klemmte, warf ein Sesselpolster in den Wagen.

Danzik wandte sich schweigend ab. Was war schlimmer: dass Möbel zerstampft wurden und mit ihnen eine ganze Existenz, oder dass sie überlebten, als Gemälde, auf denen weiter Rosen blühten, als Porzellantassen, aus denen nun andere tranken, während man selbst schon unter der Erde lag?

Sein Blick streifte die Sträucher vorm Haus, aus deren Gezweig sich die ersten hellgrünen Spitzen hoben, in dem einen hing etwas verloren ein Nest. Daneben lugten schon ein paar gelbe Blüten aus dem großen Forsythien-Busch. Der Frühling kam. Wieder ein Frühling, zuverlässig wie jedes Jahr, das reinste Wunder. Er kam für ihn und für Laura, seine neue, sechs Monate junge Liebe. Während der alte Herr Wohlers ...

Wie viele Frühlinge hatte der wohl erlebt? Jedenfalls eine Menge mehr als er. Er, Werner Danzik, war im April wieder dran. Dann wurde er 53. Manche dachten da schon an Pensionierung. Beschwingt nahm der Kommissar die letzten Stufen. Nein, er war weder berufs- noch liebesmüde. »Aufhören werde ich erst fünf oder zehn Jahre nach meinem Tod«, hatte der 73-jährige Blues-Sänger B.B. King über den Ruhestand gesagt. Ein köstlicher Spruch. Werner Danzik hatte ihn aufgeschrieben.

Er setzte sich auf das rote Velours-Sofa, das ihm seine Ex-Frau gelassen hatte, und schenkte sich einen »Il Grillo« ein. Die fast prickelnde Frische des Weißweins belebte ihn, er schmeckte sie in langen Schlucken und überlegte, ob er sich neu einrichten sollte. Diesmal zu hundert Prozent, wieeres wollte, also eine schicke anthrazitgraue Ledergruppe, Regale und Tische in einem warmtonigen Holz, dazu einen neuen komfortableren Fernsehsessel ... Aber nein, das ging ja gar nicht. Wenn Laura sich wirklich entschließen würde, mit ihm zusammenzuziehen, dann würde sie natürlich ein Wörtchen mitreden wollen, Frauen dominierten nun mal beim Einrichten. Und immer musste bei ihnen alles weiß sein, das nannten sie dann eine »wunderschöne, freundliche Atmosphäre.« Steriles, todeskaltes Weiß ...

Laura würde da nicht anders sein. Ihre helle, mit ein paar Farbakzenten aufgeheiterte Dachwohnung in einer alten Harvestehuder Villa war doch der beste Beweis. Aber sie würden sich schon einigen. Im Übrigen gab es wichtigere Dinge. Und am Ende blieb doch nur jenes Möbel, in das man vor kurzem Herrn Wohlers gelegt hatte.

Unversehens musste Werner Danzik doch an seinen Vater denken. Wie so viele vor ihm war er in Ohlsdorf gelandet. Ohlsdorf und Friedhof waren ein Synonym in Hamburg. »Der ist reif für Ohlsdorf« oder »Endstation Ohlsdorf« – da wusste jeder, was gemeint war. Schon deshalb konnte man eine Aversion dagegen kriegen und sich nach einem idyllischen Klein-Friedhof sehnen, auch Danzik empfand das so. Andererseits war Ohlsdorf nun mal der größte und schönste Park-Friedhof Europas, und sicher war es keine Schande, in der Nachbarschaft der Sievekings oder Münchmeyers oder einer Ida Ehre zu ruhen.

Vor drei Tagen, als sie an der Grube standen, war noch ein zu kalter Wind durch die hohen, alten Bäume gefahren, und jeder hatte sich kontaktlos in seinem Mantel verkrochen. Nur seine Mutter, klein und dürr, hatte ihre Hand in seinen Arm gekrallt, durch den Stoff hindurch hatte er es mit Ekel gespürt, ohne etwas dagegen tun zu können. Das Nichtige und Graue ihrer Existenz berührte ihn unangenehm, immer war sie grau gewesen, auch an diesem Tag, in schwarzer Trauerkleidung, hatte sie sich fahl und besitzergreifend an sein Leben gehängt.

Schaufel für Schaufel Erde war auf den Sarg geploppt, und er hatte gedacht, wie analog dazu Wort für Wort wohlwollende Lügen aus dem Mund des Pfarrers gekommen waren. Auch für seinen Vater galt das ungeschriebene Gesetz der Beschönigung. Dabei war er ein chronischer Fremdgeher gewesen. Peinlich für den Sohn, wenn der Vater mit kühler Unverschämtheit die Frauen musterte, dick und schwitzend, wenn er dröhnend ein Lachen losließ, die Hand in der Hüfte, dass fast das Jackett platzte. Aber irgendetwas mussten sie an ihm gefunden haben. Vielleicht das volle graue Haar, das ihm mit einer Strähne charmant ins Gesicht fiel oder das Grübchen im Kinn. Manche Frauen mochten wohl einfach diese sichere Selbstgefälligkeit, in deren Windschatten sie anstrengungslos mitsegeln konnten. »Nun trink endlich deinen Köm aus!« oder »Du willst ein Mann sein und wirst mit der Zigarre nicht fertig?« Wie er diese erzwungenen Initiationsriten gehasst hatte. Zum Glück hatte er nach dem Abitur auf die Polizeischule fliehen können ...

Und was war von Bruno Danzik, gestorben mit 76, nun übrig geblieben? Der große Baumarkt in der Straßburger Straße. Sein Vater hatte ihn Ende der 50er gegründet, damals einer der ersten in der Stadt. DANZIK MACHT’S GUT stand über dem Tor. Und weil das stimmte, florierte das Unternehmen. Während sein Vater sich abends im »Club d’Amour« vergnügte, hatte seine Mutter noch über der Buchhaltung gesessen ...

Vorbei. »Sui mortuis nihil nisi bene« – »Über die Toten nichts außer Gutes.« Werner Danzik kippte mit Schwung einen Schluck Wein hinunter. In diesem Moment klingelte sein Handy.

2

Anja Holthusen stellte mit zitternden Händen das feine weißblaue Geschirr auf den Tisch. »Musselmalet von Royal Copenhagen«, hatte ihre Schwiegermutter doziert. »Aber dafür hast du ja keinen Sinn. Wenn es nach dir ginge, würden wir aus Pappbechern trinken.« Anja trat einen Schritt zurück und ließ den Blick über den Tisch schweifen. Hoffentlich hatte sie nicht wieder was vergessen. Heute, am Sonntag, hatte sie wie immer die weiße Leinendecke mit der Hohlsaum-Stickerei aufgelegt und den Leuchter aus englischem Silber hervorgeholt. In den vier Kristallgläsern brach sich glitzernd das Licht, das die Frühlingssonne durch die Erker-Fenster der Patrizier-Villa sandte.

Anja atmete tief durch. Sie spürte erneut, wie sich in ihrer Magengegend etwas zusammenzog, als hätte sich dort ihre gesamte Angst zu einem drückenden Klumpen konzentriert. Sie sah auf den Leinpfad-Kanal und bemerkte, wie sich von rechts ein Alsterdampfer in ihr Blickfeld schob. Leuchtend weiß, mit Menschen dicht an dicht, die wippten und klatschten, zu der jazzigen Live-Musik, die bis zu ihr herüberwehte. Ihre Augen wurden feucht, obwohl sie das Weinen fast verlernt hatte. Einsam unter diesen Menschen zu sein, wäre jetzt fast ein Genuss, »wildfremd« sagte man gedankenlos, während die Fremdheit in einer angeheirateten Familie doch so viel lastender sein konnte.

Sie schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Sie würden pünktlich sein, »hanseatisch« nannten sie das. Ihr Schwiegervater Henri Holthusen, Inhaber der Teefirma »Holthusen Teehandel« in der Speicherstadt, kam dann aus der »Havanna Lounge« am Neuen Wall, wo er mit anderen Wirtschaftgrößen Zigarre rauchend den Vormittag verbrachte, ihr Mann Thomas kehrte befriedigt hechelnd von seinem Jogginglauf rund um die Alster zurück und Elisabeth, ihre Schwiegermutter, von ihrem Esoterik-Kreis.

Anja fühlte, wie ein Frösteln über ihre Haut lief. Sie zog ihren massig gewordenen Körper die Treppe hoch und schlurfte ins eheliche Schlafzimmer. Aus dem Schrank zog sie unter Handtüchern einen Flachmann hervor. Ah, das tat gut, so würde sie den Tag schaffen. Sie setzte sich aufs Bett und nahm noch einen Schluck. Während die Hitze des Aquavits sie durchströmte, fiel ihr Blick in den gegenüber stehenden Kommoden-Spiegel. Ein rundes verquollenes Gesicht sah sie an, matte Augen verschwanden fast in der verschatteten, kraterigen Haut, die kurzen stumpfgrauen Haare waren verstrubbelt. Instinktiv drehte Anja den Kopf, aber nun begegnete ihr das Foto, das Thomas so sehr liebte. Es zeigte eine junge Frau mit halblangen blonden Haaren und blauen Augen, heiter und offen schaute sie aus dem Bild, um ihre schlanke Taille lag ein dekorativer Ledergürtel. Anja starrte die Fremde, die sie selbst war, nein, gewesen war, sekundenlang an, in einer dumpfen, leeren Deprimiertheit. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie legte den Flachmann unter die Handtücher und stieg langsam die Treppe hinab.

In der Küche blieb sie unschlüssig vor dem Herd stehen. Sollte sie noch mal abschmecken? Ach, es würde ja doch nichts bringen. Sie ließ sich auf einem der Buchenholz-Stühle nieder, und wieder kreisten ihre Gedanken in derselben Bahn, ohne Hoffnung und ohne Antrieb, wie immer. Eine neue Stellung als Sprachlehrerin würde sie mit ihren 46 Jahren nicht mehr bekommen, von den privaten Instituten in Hamburg, die in Frage kamen, hatten zwei schon schließen müssen. Sie war gefangen, ein Weggehen wäre Selbstmord gewesen und Bettine, ihre gemeinsame Tochter, war so weit weg ...

Konnte sie sich ein Leben ohne Thomas überhaupt vorstellen? Natürlich nicht. Aber er wollte in der Villa am Leinpfad bleiben, befand sich fest in elterlicher Hand. Beim Vater geschäftlich und bei der Mutter ...

Anja fuhr zusammen. Ein Schlüssel hatte sich im Schloss gedreht. Hoffentlich kam »sie« nicht zuerst. Nein, es war Thomas, stellte sie erleichtert fest. »Erst mal duschen«, rief er und sprang die Treppe hoch. Seine blonden, sehr kurzen Haare sahen verklebt aus.

Zum zweiten Mal hörte Anja das Schließgeräusch, diesmal etwas bedächtiger. »Na, alles unter Kontrolle?« Henri Holthusen hatte seinen Burberry-Trench abgelegt, ging zielstrebig, ohne sie anzusehen, zu seinem ledernen braunen Ohrensessel und griff nach der ›Welt am Sonntag‹. Er sah wie immer aus: die grauen Haare sauber gescheitelt, schwarzgrauer Nadelstreifen-Anzug, Krawatte und Einstecktuch in Rot, risikolos im gleichen Dessin. Nur ein paar Sekunden später stand seine Frau in der Diele. Sie schaute in den Spiegel und zupfte an ihrem perfekt sitzenden altrosa Kostüm herum. Dann nahm sie die Sonnenbrille, die auf ihren weißblonden Haaren steckte, und verstaute sie in einem rosa Lederetui.

Im Wohnzimmer steuerte sie sogleich auf den rechteckigen Tisch zu, um den acht Mahagoni-Stühle im englischen Hepplewhite-Stil gruppiert waren. Prüfend umrundete sie die festlich wirkende Tafel. »Anja, komm doch bitte mal her!« Die Angerufene erschien mit rotem Kopf im Türrahmen. Was wollte die Alte schon wieder? Und dann diese kreischige Stimme. In den letzten Jahren schien sie noch höher geworden zu sein. »Hier – Messer mit der Schnittkante nach außen. Das darf doch nicht wahr sein. Du weißt genau, dass das Unglück bringt. Jemand wird durch ein Messer umkommen ...«

Anja hob die Schultern und holte die Speisen aus der Küche. Etwas zu laut setzte sie die Schüsseln auf die Platte.

Die Tischordnung war eigenartig: an der Stirnseite der Hausherr, rechts neben ihm seine Frau, gegenüber von ihr Thomas. An seiner Seite, entfernt von den anderen, hatte Anja ihren Platz. »Anhängsel«, dachte sie jedes Mal verbittert.

Elisabeth, die auf der Anrede Lissy bestand, riss ihrer Schwiegertochter die Reiskelle aus der Hand und füllte die Teller. »Guten Appetit!« Sie kaute intensiv auf den Körnern herum. »Zu matschig, die sind doch nicht al dente!«

Anja hielt ihre Gabel umklammert. Al dente, wie lächerlich! So lächerlich wie das Peugeot-Cabrio oder das Handy, mit dem ihre 78-jährige Schwiegermutter aktuellen Lifestyle demonstrierte. Eines Tages würde sie ihr die Reiskelle persönlich ins überschminkte Gesicht rammen ...

Die Ältere stocherte inzwischen ihr Hähnchenfleisch an. »Nicht kross genug.«

»Nun lass doch mal, Mutter.« Thomas sah besorgt zu seiner Frau.

Henri Holthusen schüttelte langsam den Kopf. Dann legte er die Gabel ab. »Vielleicht solltest du mal wieder das Regiment übernehmen«, wandte er sich an seine Frau. »Misch dich da bitte nicht ein. Ich weiß schon, was hier zu tun ist.«

Der Hausherr ließ sich die Zurechtweisung nicht anmerken und betrachtete erneut das Etikett der Weinflasche. »Ein wirklich guter Tropfen. Bei ›Gröhl‹ kauft man doch immer noch am besten. Tradition zahlt sich eben aus, nicht wahr Thomas?«

»Wenn du damit auch unsere Firma meinst ...«

»Natürlich, mein Junge. Was gibt’s denn Neues im Kontor?«

»Es läuft.« Thomas war nicht gewillt, die erhofften Details zu liefern. »Das sagst du immer.« Sein Vater griff zum Glas und schmeckte mit Kennermiene den Weißwein durch.

Elisabeth Holthusen war auf den Dialog nicht eingegangen. Sie tupfte sich ihre schmalen Lippen ab und blickte angewidert zu ihrer Schwiegertochter hinüber. »Nein, nicht noch ein Glas, ich denke, du hast jetzt genug«, sagte sie scharf. Gleichzeitig fixierte sie den großen dunklen Fleck, der sich auf deren heller Bluse abzeichnete. »Du hast wieder ohne Schürze gekocht!«

In dem Moment krümmte sich Anja in einem plötzlichen Stöhnen über dem Tisch zusammen. Der Schmerz war so grell und schneidend, dass sich ihr Gesicht verzerrte. »Ich habe Bauchschmerzen – hier.« Sie drehte sich zu ihrem Mann. »Ich glaube – ich muss – mich hinlegen.«

»Mein Gott, was hast du denn?« Thomas wirkte irritiert. »Nur ruhig Blut«, sagte Henri Holthusen. »Deiner Frau ist wohl irgendetwas nicht bekommen.«

»Nicht bekommen?« Elisabeth lachte hysterisch auf. »Das Essen hat sie doch selbst gekocht!«

»Aber, Mutter! Das kann doch noch gar nicht wirken. Liebes« – er fasste seine Frau um die Schulter – »hast du vorher was Falsches zu dir genommen? Soll ich dich hochbringen?«

»Nein, nein.« Anja richtete sich mühsam auf. »Kann auch psychisch sein.« Henri nahm den letzten Löffel seiner Zitronencreme.

»Da hast du ausnahmsweise mal Recht. Reizkolon. Hab ich neulich in der Apothekerzeitung gelesen.« Elisabeth legte ihr Besteck auf schräg.

Während Anja zur Treppe wankte, gingen die drei zu der cremefarbenen Sitzgruppe mit dem Butler-Tisch hinüber. »Ich mach uns einen Tee«, sagte die Schwiegermutter. »Und dann halten wir ausführlich Familienrat. Wir sind uns sicher einig, dass es so mit ihr nicht weitergehen kann.«

*

Es war kein frei stehendes Haus, nur ein unauffälliger Gelbklinker, gleich hoch eingefügt zwischen zwei spitzgiebeligen Stadtvillen. Zwei Stockwerke plus Dachgeschoss, das Dach leicht angeschrägt, um es den Villen anzupassen. Hier hatte es aus irgendwelchen Gründen, vielleicht durch den Krieg, eine Lücke gegeben, die später schlicht und unspektakulär gefüllt worden war. Aber die Adresse war noch immer eine der besten in Hamburg: Parkallee, Harvestehude. Wer hier wohnte, hatte es geschafft.

Regine Mewes konnten die Harvestehuder Bauschutz-Regelungen egal sein, sie hatte hier nur eingeheiratet. Da blieb man doch immer Gast, hatte sie schon oft gedacht, und manchmal sogar ein unerwünschter oder nur geduldeter.

Mit einem Ruck riss sie das große Fenster auf. Was für ein unerträglicher Gestank! Ob sie im Alter auch mal so stinken würde? Vielleicht war das eine Art Gesetz. Jeder würde im Alter stinken, keiner konnte dem entgehen. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind mit demonstrativ zugehaltener Nase durch das Zimmer ihrer Großmutter gelaufen war, das sie täglich von ihrem Mansardenzimmer aus passieren musste. »Mach sofort das Fenster zu! Willst du, dass ich mir den Tod hole?« Die rauchgeschädigte heisere Bass-Stimme ihrer Schwiegermutter riss sie in die Gegenwart zurück. »Jaaa doch! Mach ich gleich. Aber mal muss doch Sauerstoff herein. Oder willst du noch ersticken?«

»Das käme dir wohl zupass, mein Erbe verjubeln. Aber da kannst du lange warten.«

Regine schüttelte nur den Kopf und sog ein paar Portionen Luft ein. Dann schloss sie das Fenster.

Sie drehte sich zu ihrer Schwiegermutter, die bereits im Rollstuhl saß. Dick und schwer, in einer ausufernden Korpulenz, die den ganzen Raum einzunehmen schien. In ihrem flächigen, breit ins Kinn übergehenden Gesicht fielen sofort die Augen auf. Klein und grau blickten sie in unnachgiebiger Schärfe auf alles und jeden. »Wo bleiben meine Tabletten?«, fauchte sie. »Hol ich doch schon.« Regine ging zur Nussbaum-Kommode hinüber.

Das Schlimmste erledigte zum Glück eine Pflegerin. Dörte, eine stämmige junge Frau, die einen mit ihrer gnadenlosen frühmorgendlichen Munterkeit stets aufs Neue zusammenzucken ließ. Waschen, anziehen, das Bett machen und Toilettengang. Letzteres wollte sich Regine lieber nicht vorstellen. Dabei war sie durchaus nicht etepetete, eher im Gegenteil. Zupackend und patent, was sie als ehemalige Arzthelferin ja auch sein musste. Vor mehr als zwanzig Jahren, als sie bei Doktor Fiedler in der Internisten-Praxis in der Hansastraße arbeitete, hatte sie Amalie Mewes’ Sohn Blut abgenommen – so hatten sie und Norbert sich kennen gelernt. Noch immer war ihr Mann an demselben Umwelt-Institut tätig und erforschte als Geophysiker Klimazonen oder so was, und inzwischen schien er dort beinahe zu übernachten. »Ja, da müssen wir jetzt durch, wir können Mutter schließlich nicht ins Heim geben«, hatte er gesagt und mit »wir« selbstverständlich sie gemeint. Und so hatte sie ihren Job aufgegeben und sich auf die »Betreuung« seiner Mutter eingelassen. »Für die eigentliche Pflege engagier ich natürlich jemanden«, hatte er sie beruhigt. Diese Dreimal-pro-Tag-Hilfe im »Minutentakt« – was für eine unwürdige Erfindung – kostete bereits 1400 Euro im Monat. Nun gut, das war Norberts Sache. Wenn das Erbe seiner Mutter dahinschmolz, sich aufbrauchte durch zunehmend aufwändigere Pflege ... Aber vielleicht reichte es ja auch. Amalie Mewes’ Vater war Teilhaber bei einer der berühmten Schokoladen-Fabriken in Hamburg-Wandsbek gewesen, und davon zehrte die Tochter noch immer. Ein süßes Erbe, das ihr Körper ihr äußerst übel genommen hatte.

Denn inzwischen war Amalie Mewes multimoribund. Diesen Ausdruck hatte Regine in der Zeitung gelesen. Es bedeutete, dass ein Mensch viele Krankheiten auf einmal hatte und dafür dementsprechend viele Medikamente nehmen musste.

Dafür war sie, Regine, zuständig. Sie griff nach der länglichen Schachtel, einer gefächerten Palette, wie man sie in Krankenhäusern verwendete und nahm die Tabletten für ›morgens‹ heraus. Mit einem Glas reichte sie alles ihrer Schwiegermutter. Tabletten gegen Diabetes, Herzschwäche, Arthrose und Osteoporose.

Grausam. Vielleicht musste sie selbst auch bald welche gegen Knochenerweichung schlucken? Schließlich war sie 46. »Bist du eigentlich schon im Wechsel«, hatte Norberts Mutter neulich gefragt, »oder hast du noch deine – «

»Ich glaube, das geht dich nun wirklich nichts an«, hatte sie gezischt und war kurz davor gewesen, der Alten ins Gesicht zu schlagen. Aber erstens war sie nicht gewalttätig und zweitens – Regine schüttelte sich innerlich. Die Alte anfassen? Undenkbar. In ihren Gedanken war sie nur ›die Alte‹, obwohl man so etwas doch weder sagte noch dachte, fast kam da bei ihr ein schlechtes Gewissen auf.

Sie riskierte einen Blick und bemerkte, wie Amalie Mewes’ Gebiss an einer Seite bis zur Unterlippe heruntergerutscht war. Verdammt! Das musste Dörte aber am Mittag richten! Bevor die Essensarie losging. »Du musst jetzt deine Übungen machen«, sagte Regine. Sie hatte bereits die Krücken in der Hand und näherte sich mit angehaltenem Atem dem Rollstuhl. »Das Wasser war wieder eiskalt«, erwiderte Amalie Mewes, ohne darauf einzugehen.

»Leitungswasser ist nie eiskalt.«

»Doch, ist es. Du bringst mir jetzt sofort meine Zigaretten.«

Warum wieder übers Rauchen diskutieren, dachte Regine. Sollte sich die Alte doch zu Tode rauchen. Außerdem war es einfacher, eine Schachtel Zigaretten von der Kommode zu nehmen, als die zweihundert Pfund schwere Amalie Mewes vom Rollstuhl auf die Beine zu stellen. Natürlich hatte sie, wenn es anstand, die richtigen Griffe drauf. Hatte ihr Dörte beigebracht. Sie und Dörte sahen sich irgendwie ähnlich, fand Regine. Beide mittelgroß und kräftig, sie selbst leider etwas kurzbeinig. Ihre beige-braunen Haare waren auf Oberkante Ohr geschnitten.

»Feuer!«, befahl die Alte.

Regine ließ das Streichholz aufflammen. »Ich mach dir jetzt Frühstück.«

»Aber nicht wieder so Körnerkram. Und gib mir schon mal meine Schokolade.«

Die Schwiegertochter warf ihr eine Tafel in den Schoß und ging in die Küche. Während der Kaffee durch die Maschine gurgelte, stellte sie den Oldie-Sender an. Der Hörgenuss dauerte nur Sekunden. »Was ist das für ein Krach?«, blaffte es wütend aus dem Nachbarzimmer. »Stell sofort die Negermusik ab.«

Regine drehte das Radio aus und atmete langsam und tief durch. Als sie das Frühstückstablett füllte, stellte sie fest, dass ihre Hände bebten. Noch einmal zog sie die Luft ein.

Dann ging sie zurück und knallte das Tablett auf den Beistelltisch. »Hier!« Schon war sie wieder an der Tür. »Die Äpfel sind nicht klein geschnitten – «, hörte sie noch, bevor sie die Tür zuwarf und sich die Ohren zuhielt.

Im Obergeschoss, wo sie sich ein persönliches Zimmer eingerichtet hatte, ließ sie sich entnervt auf ihre helle Couch fallen und wählte Norberts Nummer. »Wann kommst du heute nach Hause?«

»Warum?«

»Warum, warum ...« Regines Aggression steigerte sich. »Also, wann kommst du?«

»Ich hab hier noch eine ganze Menge – «

»Ich erwarte dich Punkt 19 Uhr. Zur Übergabe.«

»Übergabe?«

»Ja, natürlich, oder meinst du, ich werde hier bis Mitternacht die Stellung halten?«

Nach weiterem unerquicklichem Hin und Her versprach Norbert, zu der geforderten Zeit einzutreffen.

Als er kam, saß seine Mutter empfangsbereit im Rollstuhl und hielt ihm ihre Wange hin. Norbert neigte sich ein wenig vor und berührte sie nur mit seiner Schläfe. Regine beobachtete die Szene und registrierte wie immer, dass er seiner Mutter wenigstens nicht ähnlich sah: dunkles, immer ein wenig zu langes Haar, eine gerade schöne Nase, hellblaue Augen. Nur der Körper des 46-jährigen war schon recht füllig geworden, was seine 1,80-Meter Größe etwas beeinträchtigte. »Nobbylein«, schmollte seine Mutter. »Kannst du nicht jeden Tag so pünktlich sein? Du bist doch das Einzige, was ich habe. Und du ahnst ja nicht, was einem alles passieren kann, wenn man hier den ganzen Tag so allein und hilflos sitzen muss – «

»Allein?« In Norberts Gesicht spiegelte sich eine unwirsche Abwehr. »Regine ist doch da ...«

»Ja, deine Regine.« Amalie Mewes sagte es so süffisant, dass ihre Schwiegertochter es vorzog, das Zimmer zu verlassen. »Ich muss dir was erzählen«, flüsterte die Alte und winkte ihren Sohn zu sich. »Deine Frau will mich umbringen.«

»Was redest du denn da?« Norbert richtete sich auf. Mit Ekel im Gesicht bewegte er sich zur Tür. »Hier geblieben!« Die Alte haute auf die Rollstuhllehne. »Du denkst, deine alte Mutter ist nicht mehr klar im Kopf. Aber ich sage dir, was sie gemacht hat: Sie hat meinen Rollstuhl plötzlich über die Terrassentreppe geschoben, ich hing quasi über dem Abgrund und wäre fast runtergestürzt. Im letzten Moment hat sie dann den Rollstuhl zurückgezogen.«

»Sie ist eben manchmal etwas forsch.«

»So nennst du das. Nobby, du musst mich schützen.«

Aber Amalie Mewes’ Sohn hatte schon die Tür erreicht.

3

Danzik fühlte sich wohl in Lauras Schlafzimmer. Alles war in einem frischen Schilfgrün eingerichtet, die Atmosphäre erinnerte an einen Wintergarten: Chintz-Gardinen im Palmen-Dessin, üppig auslaufend bis auf den hellen Parkettboden, ein Bistrotisch mit zwei alten Thonet-Stühlen, seidig glänzende Bettwäsche. Über dem Bett ein violett leuchtendes Tulpenfeld in Acryl. So etwas konnten nur Frauen hinkriegen, dachte er. Das war nicht nur ein Schlafraum, »Wohnschlafzimmer« nannte man das, obwohl Laura ja auch noch ein Wohnzimmer hatte.

Beide lehnten, aneinandergeschmiegt, an der gepolsterten Rückwand des Doppelbettes und genossen das ›Danach‹, allerdings ohne die obligate Zigarette. Geraucht hatten sie nie, daher vermissten sie es auch nicht. Herrlich, so ein freier Tag, dachte Danzik. Hoffentlich passierte nicht gerade heute was, und er wurde hier weggerufen. Wie sich Laura wohl fühlte? Aber jetzt bloß nicht quatschen oder gar fragen, das wäre das Letzte. Er jedenfalls fühlte sich phantastisch. Lebendig und wie aufgeweckt, dabei gleichzeitig tief zufrieden. So etwas hatte er seit seiner Scheidung vor elf Jahren nicht mehr erlebt. Gut, es hatte Begegnungen gegeben, aber sie waren belanglos und überflüssig gewesen, Zwischenspiele, die er schon wieder vergessen hatte.

Er drehte sich lächelnd herum. »Ich liebe dich.«

Laura lächelte zurück. Wie so oft nur mit den Augen. Dieses tiefe Blau, dachte er, ein Blau, bei dem man poetisch werden konnte. »Ich dich auch.« Sie machte eine Pause. »Und weißt du, warum ich dich jetzt noch mehr liebe? Weil du es gesagt hast, weil du es ausgesprochen hast.«

»Hmm.«

»Ja, die meisten Männer können das nicht. Liebe und Krankheit – die großen Tabuthemen der Männer.«

»Meine kluge Medizinjournalistin – wenn du das sagst, wird es stimmen. Dabei fällt mir ein« – Danzik griff nach einem Tütchen auf dem Nachttisch – »dass ich als Allergiker einen Bronchialbonbon gebrauchen könnte.«

»Gib mir auch einen.« Wie aufs Stichwort fing sie plötzlich an zu niesen. Dreimal hintereinander. Dann konnte sie wieder reden. »Das ist der Staub über der Heizung, das reicht schon. Man braucht nur aufzudrehen, und schon – «

»Ja, ohne kommt man aber schlecht aus. Für März ist es doch noch saukalt. Und wenn man Liebe am Nachmittag macht ...«

»... will man auch nicht frösteln.« Laura lachte. »Du musst es ja wissen – bei deinem Erfahrungsschatz.« Dann schob sie sich langsam den Bonbon in den Mund. »Halb so wild. Du bist ja auch nicht ohne.« Danzik beugte sich zu ihr, küsste ausführlich erst ihre Ober-, dann ihre Unterlippe. »Ah, wie das kitzelt.« Laura zupfte an seinem sauber geschnittenen graublonden Schnauzer. Werner Danzik wollte gerade zum Hals und zu den Schultern hinuntergleiten, als sein Handy klingelte. »Mist, verdammter.« Er fuhr hoch und griff zu dem Gerät, das auf dem Nachttisch lag. »Danzik.« – »Ja, ich komme.«

Er lief zu einem weißen Korbstuhl und begann, in seine Sachen zu steigen. »Ein Einsatz. Eine Tote in einer Villa am Leinpfad.«

Laura war aufgestanden und hatte sich in einen weißen Bademantel gehüllt. »Hier, dein Jackett.« Sie half ihm in die Ärmel.

Es war eine der typischen Leinpfad-Villen: strahlend weiß, zweistöckig und mit einem Erker-Vorbau samt Balkon darüber. Danzik sah an dem roten Honda, dass sein junger Kollege schon eingetroffen war. Er parkte seinen silbrigen Opel daneben und stieg die wenigen Stufen zu dem Haus hinauf. Die schwere Holztür mit dem Messinggriff stand offen. »Hallo!« Danzik hob grüßend die Hand. »Wo?«

Torsten Tügel, Anfang 30, mit blonden Locken, die nestartig auf seinem schmalen Kopf thronten, wies zum Badezimmer. »Sieht schlimm aus.«

Danzik näherte sich schweigend dem Bad und erfasste alles auf einen Blick: die weiße Verfliesung mit goldtürkisfarbener Bordüre, die Messing-Armaturen, die türkisfarbenen Handtücher – und die Frau, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Eine alte Dame. Der Kopf mit den weißblonden Haarwellen berührte den Fliesenboden, der Körper lag gebogen auf dem Badeteppich, auch dieser in Helltürkis. Elegante Kleidung, registrierte er: ein altrosa Kostüm mit seidiger Schlaufenbluse, Goldschmuck, braune Kroko-Schuhe. Die lagen allerdings ungeordnet neben der Toten. Sie hatte offenbar in wilder Panik Waschbecken und Toilette gleichzeitig benutzen wollen, Erbrochenes, Blut und Kot waren um sie herum verteilt und hatten ihre Kleidung verschmutzt.

Danzik zog sich wieder zurück. Jedermann – jederfrau, dachte er flüchtig in Anlehnung an das berühmte Theaterstück. Der Tod trifft auch die in den schönsten Hüllen und zieht sie in seinen Verwesungsschmutz.

In dem Moment drängte schon das gesamte Team in die Diele: Gerichtsmediziner Doktor Hajo Urban in seiner kahlköpfigen freundlichen Bulligkeit, der Polizeifotograf und die drei Spurensicherer in ihren weißen Schutzanzügen. »Hier«, sagte Tügel und zeigte dem Gerichtsmediziner den Weg. Der sah ins Bad. »Wer ist die Tote?«

»Elisabeth Holthusen, die Dame des Hauses.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von der Putzfrau. Die sitzt da drüben im Wohnzimmer und hat die Tote gefunden.«

»Gut. Dann geht mal hinein.« Doktor Urban ließ die Spurensicherer ins Badezimmer.

Danzik und Tügel machten die angelehnte Wohnzimmertür auf und sahen auf einem cremefarbenen Schabrackensofa eine Frau von zirka fünfzig Jahren sitzen. Orangefarbene Baskenmütze, eine orangefarbene Steppweste, die an Müllmänner erinnerte, der Gesichtsausdruck eher neugierig als betroffen. »Komm mal hierher.« Tügel zog seinen Kollegen zu einer Terrassentür, an die sich links eine Fensterfront und rechts ein Erker mit Essgruppe schloss. Vom Erker ging der Blick über den Garten auf den Leinpfad-Kanal, von der anderen Seite auf den Hauptteil des Gartens, der wie ein Park angelegt war. »Guten Tag«, sagte Danzik und ging an der Frau vorbei. »Hier die Tür – die Scheibe ist eingeschlagen, der Hebel wurde hochgedrückt. Jemand ist hier eingedrungen«, erläuterte Tügel. »Fragt sich, zu welchem Zweck.«

»Da lassen wir erst mal unsere Kollegen ran.« Danzik wandte sich zu der Frau. »Sie sind die Putzfrau, äh, die Putzhilfe.«

»Ja.«

»Ihr Name?«

»Gunda Thalheim.«

»Sie haben also die Tote gefunden. Wann war das?«

Gunda Thalheim setzte sich in Positur und zupfte ausgiebig an ihrer Baskenmütze herum. »Na?« Tügel klopfte auf die Tischkante. »So – so gegen halb sechs.«

Danzik blickte auf seine Uhr. »Jetzt haben wir achtzehn Uhr. Du schreibst alles mit, Torsten. Und notier die Personalien.«

»Klar doch, Chef.«

»Hatten Sie einen Schlüssel zu der Villa?«

»Ja, natürlich.« Gunda Thalheim zog mit wichtigtuerischer Miene eine Packung ›Marlboro light‹ aus der Tasche und gab sich Feuer. »Aber ich habe ihn zunächst nicht benutzt.«

»Wie das?« Auf Danziks Stirn bildete sich eine Senkrechtfalte. »Nun erzählen Sie mal ausführlich den Hergang, Frau – Thalheim.«

Die Putzfrau stieß etwas zu lange den Rauch aus. »Also, ich hab erst mal geklingelt, und als sich dann auch beim zweiten Klingeln nichts rührte, hab ich den Schlüssel genommen. Ich putze ja nur mittwochs– «

»Das war gestern«, unterbrach sie Tügel. »Aber warum sind Sie dann heute hier?«

»Will ich Ihnen sagen, junger Mann. Wenn Sie mich mal eben ausreden lassen. Heute bin ich noch mal gekommen, weil Frau Holthusen mir gestern mein Geld nicht geben konnte. Sie habe es grad nicht passend, sagte sie.«

»Kam das öfter vor?«, schaltete sich Danzik ein. »Ja, schon.« Gunda Thalheim drückte ihre angerauchte Zigarette aus. »War sie geizig?«

»Ja, kann man so sagen.«

»Jedenfalls mussten Sie sich deswegen extra noch mal auf den Weg machen. Wo wohnen Sie denn?«

»Am Poßmoorweg. Ich komme immer mit dem Fahrrad.«

»Ganz schöne Strecke«, stellte Danzik fest. »Was haben Sie nun bei Ihrem Eintreten ins Haus bemerkt?«

»Ich habe ziemlich genau das gesehen, was Sie jetzt auch sehen.« Die Thalheim nahm erneut eine Zigarette heraus, was Danzik zu einem leichten Aufseufzen brachte. »Natürlich war mir gleich klar, dass sie tot ist. Toter ging’s gar nicht.«

»Woran haben Sie das erkannt?«, fragte Tügel. »Na ja, Augen, Puls und so.«

»Und Sie haben nicht den Notarzt gerufen?«

»Nein, eben weil sie mausetot war. Und dazu die kaputte Terrassentür. Deshalb hab ich gleich die 110 gewählt.«

»Und wer wohnt hier noch?«

»Herr Holthusen, also ihr Mann, der Sohn Thomas und die Schwiegertochter.«

»Au ha«, Tügel grinste zu Danzik hinüber. »Das sieht nach Arbeit aus. Wie war denn so die Ehe?«

Gunda Thalheim blickte ihn erstaunt an. »Was Sie alles wissen wollen. Nun ja, normal eben. Er war ja meist nicht hier und wenn, dann haben sie kaum miteinander geredet. Oder sie hat ihm irgendwelche Anweisungen gegeben.«

Danzik musste innerlich lächeln. Wenn so etwas normal war, dann führten er und Laura sowieso keine Ehe, und das nicht nur, weil sie nicht miteinander verheiratet waren. Noch nicht ... »Frau Thalheim«, fragte er. »Was war Frau Holthusen für ein Mensch? Mit welchen Eigenschaften würden Sie sie bezeichnen?«

Die Putzfrau sah zur Tür, als könne die Tote jeden Moment hereinkommen. »Also, ich weiß nicht, ob man jetzt – ich meine, sie ist schließlich gestorben ... Warum wollen Sie das überhaupt wissen?« Sie beugte sich vor, ihre Stimme wurde leiser. »War es etwa Mord?«

»Das wird sich herausstellen. Bitte beantworten Sie meine Frage.«

»Ja, also, sie war ziemlich arrogant – «

»Wie hat sie Sie behandelt? Wie war das Arbeiten hier?«

»Schlimm hat sie mich behandelt.« Gunda Thalheim zermalmte die Zigarette im Ascher. »Immer noch perfekter musste es sein. Von dem Perser hob sie einen Flusen auf und hielt ihn mir unter die Nase, mit dem Finger strich sie immer über alle Oberflächen, und jedes einzelne Glas hat sie gegen das Licht gehalten.«

»Aber Sie sind geblieben.«

»Ja, Herr Kommissar.« Gunda Thalheim blickte in ihren Schoß. »Wir brauchen das Geld.«