13,99 €
Sie war das denkende Herz der Baracke und ihre Aufzeichnungen machten sie weltbekannt: Etty Hillesums Werk gehört zu den spirituellen Klassikern und zugleich ist sie als Persönlichkeit so faszinierend wie widersprüchlich. Mitten aus einem Leben gegen die damaligen Konventionen wird sie durch den II. Weltkrieg gerissen und von den Nazis später in Auschwitz ermordet. Ihr Leben und ihr Werk faszinieren Heiner Wilmer schon lange, immer wieder hat er sich mit ihr beschäftigt. Doch noch nie so: Er schließt sich Tage lang für Exerzitien ein und setzt sich dabei nur mit einem Menschen auseinander: mit Etty Hillesum. Er liest in ihren Aufzeichnungen, meditiert, denkt nach – und schreibt. Er schreibt einen fiktiven literarischen Dialog mit Etty, stellt Fragen, forscht nach. Heraus kommt ein völlig ungewöhnliches Werk, voller Verve, mit mitreißenden Gedanken und großer Sprachgewalt. Ein Buch, das unbekannte Facetten Ettys zeigt und den Leser tief in die spirituelle Welt Heiner Wilmers blicken lässt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 185
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,die sich über die Dinge ziehen.Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturmoder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke
HEINER WILMER
HERZSCHLAG
Etty Hillesum – Eine Begegnung
Mit Vorworten von Michael Fürst und Dana von Suffrin
Die Zitate aus dem Tagebuch von Etty Hillesum sind zitiert nach der deutschen Übersetzung von Maria Csollány:Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher 1941–1943. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány, Deutsche Erstausgabe Verlag F. H. Kerle, Freiburg / Heidelberg 1983, Neuausgabe Verlag Herder 2021.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Umschlaggestaltung/Umschlagmotiv: © Christoph Pittner (Pittner-Design)Autorenfoto: © privat
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-451-03492-3ISBN E-Book 978-3-451-83493-6
Von Michael Fürst
»Gott, lass mich keine Kraft, kein bisschen Kraft an Hass verlieren, an sinnlosen Hass gegen diese Soldaten. Ich werde meine Kraft für andere Dinge aufsparen.« Diese Worte betete die 28-jährige Etty Hillesum, als sie im Frühjahr 1942 die ersten deutschen Soldaten auf dem Gelände des Eislaufclubs in Amsterdam erblickte. Es ist eine von vielen kleineren und größeren bewegenden Episoden, die die junge Jüdin in ihr Tagebuch schrieb. Es ist ein großes Geschenk, dass ein großer Teil der Tagebücher und viele Briefe, die sie zwischen 1941 und 1943 verfasste, und sogar einige Postkarten, die sie im Zug nach Auschwitz schrieb und aus dem fahrenden Zug warf, bis heute erhalten geblieben sind. Ein Thema, das Etty Hillesum immerzu umtrieb: der Hass. Zutiefst war sie überzeugt: »Jedes kleine bisschen Hass, das man dem bereits existierenden vielen Hass hinzufügt, macht diese Welt noch unwirtlicher und unbewohnbarer.«
Etty Hillesum wurde 1914 in Middelborg in den Niederlanden geboren. Ihr Vater war Altphilologe und sollte später Rektor eines Gymnasiums werden, ihre Mutter, eine emigrierte Russin, Russischlehrerin. Waren ihre Großeltern noch tief im Amsterdamer Jodenhoeck und im jüdischen Schtetl verwurzelt gewesen, so hatten ihre Eltern die geschlossene jüdische Gemeinschaft verlassen und pflegten zahlreiche Kontakte zu jüdischen und nicht-jüdischen Bekannten. Sie förderten, dass ihre Tochter auf dem Gymnasium den Hebräischunterricht besuchte, legten aber auch viel Wert auf ihre humanistische Bildung und versorgten sie schon im Alter von 15 Jahren mit Werken von Dostojewski. Auch wenn ihre Tochter sich aus pragmatischen Gründen für ein Jurastudium einschrieb, galt ihre große Leidenschaft der russischen Literatur.
Als Etty Hillesum mit dem Tagebuchschreiben begann, waren es vor allem die Gedanken rund um ihre Sitzungen bei ihrem Therapeuten Julius Spier, die sie notierte. Julius Spier war 1939 aus Berlin nach Amsterdam emigriert und hatte sich dort mit einer Praxis für Psychochirologie einen Namen gemacht. Der C. G. Jung-Schüler führte mit seinen Patienten nicht nur therapeutische Gespräche, sondern analysierte auch ihre Handlinien.
Etty Hillesum war jedoch nicht nur von seinem ungewöhnlichen therapeutischen Ansatz fasziniert. Begeistert stürzte sie sich auch auf seine riesige Bibliothek mit psychologischen Fachbüchern sowie zahlreichen religiösen Werken wie Rilkes »Stundenbuch« oder den Schriften des Hl. Augustinus. Spier war es, unter dessen Einfluss sie auch anfing, in der Bibel zu lesen. Ihre undogmati schen Gedanken über Gott, das Schicksal, das Leid und ihre Gebete notierte sie in ihrem Tagebuch.
Als die Situation für Etty, ihre Familie und alle anderen Juden in den Niederlanden immer dramatischer wurde, entdeckte sie ihre Berufung: »Ich möchte später die Chronistin unseres Schicksals sein. Ich muss mir für die Ereignisse eine neue Sprache zurechtschmieden und sie in mir aufbewahren, wenn ich nicht mehr die Gelegenheit haben werde, etwas niederzuschreiben.«
Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum schließlich gemeinsam mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert, wo sie im November 1943 ermordet wurde. Sie wurde 29 Jahre alt.
Heute wird Etty Hillesum mal als unkonventionelle Kreative mit Schreibblockaden, mal als moderne Mystikerin, mal als freiheitsliebende Feministin porträtiert. Auch Heiner Wilmer zeichnet in seinem Buch letztendlich ein einseitiges Bild von Etty Hillesum, wenn er sich vor allem mit ihrer Spiritualität und ihren Gedanken zu Gott, Versöhnung und Hass auseinandersetzt. Darf er das? Darf ein katholischer deutscher Bischof ein Zwiegespräch mit einer von den Nazis in Auschwitz ermordeten jungen Jüdin führen?
Jeffrey Shandler, Professor für Jewish Studies an der Rutgers University, New York, hat sich dieser Frage in seiner Auseinandersetzung mit Anne Frank gestellt und kommt zu dem Schluss: »[…] Holocaustopfer, Kämpferin für Menschenrechte, Mädchen, früh gereifte Autorin, Tagebuchschreiberin und Feministin. Keine dieser Zuschreibungen passt genau oder bietet eine vollständ ige Erklärung für ihre Bedeutung; der Schlüssel zum Verständnis Annes als Ikone liegt gerade in der Gesamtheit dieser Paradigmen.«* Und er fährt fort: »Die unterschiedlichen Bewertungen von Annes Leben und Werk widerspiegeln das Ringen von Menschen verschiedener Nationalitäten, Religionen und Ideologien bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust.« Wer heute das Tagebuch lese, werde Teil eines großen, weltweiten Kreises von Lesern, die ihr Tagebuch aus ihrem jeweils individuellen Blickwinkel sehen und auf vielfältige Weise darauf reagieren.
Darum ist dieses Buch für mich eine Einladung, nach der Lektüre von »Herzschlag« wie Heiner Wilmer selbst zu Etty Hillesums Tagebuch zu greifen und es aus meinem Blickwinkel zu lesen.
Als Heiner Wilmer mich bat, den Entwurf seines Buches über Etty Hillesum zu lesen, war da noch nicht sein Wunsch, ein Vorwort zu schreiben. Ich habe die Bitte nur zögernd angenommen. Ich – Jurist –, ich – Jude –, dessen Großeltern im KZ Riga umgebracht wurden und ihr Sohn, mein Vater, nach der Befreiung die Jüdische Gemeinde seiner Heimatstadt Hannover wieder aufbaute. Oder die andere Großmutter das KZ Theresienstadt überlebte und ihre Töchter, so also auch meine Mutter, überlebten, weil mein christlicher Großvater sich von seiner Frau Henny nicht scheiden ließ.
Bischof Wilmer verstand meine Zurückhaltung, und da hatten wir eine Übereinstimmung, die ich oben deutlich machte. Er, Katholik, befasst sich mit dem Innersten eines umgebrachten jüdischen Mädchens und ich, Jude, soll mich mit der Denke eines katholischen Bischofs auseinandersetzen. Kann ich das? Und … darf ich das?
Ich habe ihn dann tatsächlich gebeten, nicht als Lektor, sondern als Freund, hier und da die Person Etty, ihre teils intimen Gedanken nicht anzurühren.
Heiner Wilmer hat mich als Juden verstanden.
*Jeffrey Shandler, Anne Frank: von der Tagebuchschreiberin zur Ikone, auf: https://www.annefrank.org/de/anne-frank/vertiefung/anne-frank-von-der-tagebuchschreiberin-zur-ikone/, abgerufen am 24. Mai 2024.
Von Dana von Suffrin
Man muss sich Etty Hillesum gegen Ende ihres viel zu kurzen Lebens (sie wird mit 29 ermordet) als glückliche Frau vorstellen, und genau das widerstrebt mir. Mir missfällt, dass sie ihrem Impuls, die deutschen Besatzer, die sie bedrängen, schikanieren und schließlich töten, zu hassen, widersteht: Sie will nicht hassen, solange es unter den Deutschen zumindest einen einzigen Gerechten gibt. Sie hadert nicht, sie wütet nicht, sie schimpft nicht einmal, als die Deutschen schon die Hand ausstrecken, um sie zu ermorden. Sie wehrt sich auch nicht: Etty Hillesum will nicht untertauchen, selbst als ihre Freunde ihr das anbieten. Sie will das Schicksal ihres Volkes teilen, 1943 wird sie in Auschwitz ermordet. Ist ihre Geschichte nun eine schöne, weil sie von Würde und Größe handelt, oder eine schreckliche, weil sie von einer Frau erzählt, die keine drei Schritte vom Abgrund steht und vielleicht aus Resignation handeln muss? Ist es die Geschichte einer Frau, deren inn erer Raum größer expandieren musste, weil ihrem Außen täglich mehr verwehrt wurde? Wäre Etty in einer anderen Zeit eine ganz andere Frau gewesen?
Ettys Tagebuch beginnt im März 1941, Monate nach dem Überfall der Deutschen auf die Niederlande, und wird etwas mehr als anderthalb Jahre von ihr geführt. Die ersten Monate scheint es, als würde sie sich weigern, den Horror, dem sie plötzlich ausgesetzt ist, ernst zu nehmen, sie schreibt viel von sich selbst, sie ist unsicher und nachdenklich, vielleicht depressiv. Man erkennt schnell: Etty Hillesum ist intelligent, vielleicht genial, wankelmütig, launisch, witzig und äußerst unkonventionell. Sie lebt mit einem viel älteren Mann zusammen, den sie mit einem anderen Mann betrügt, mit letzterem probiert sie alle möglichen modernen Psycho- und Körpertherapien aus. Er rät ihr wohl auch dazu, Tagebuch zu führen, um konzentrierter zu werden. Vielleicht betrügt Etty ihren Lebensgefährten gar nicht, vielleicht gibt es Absprachen. In jedem Fall lebt sie ganz anders als die meisten bürgerlichen jüdischen Frauen ihrer Zeit, sie scheint viel freier als beinahe alle Frauen, die ich kenne. Etty interessiert sich fast fanatisch für Literatur, für Psychologie, für ihre individuelle Entwicklung und, so erzählt man später, für ihre Mitmenschen. Von ihrer Familie bekommt man nicht allzuviel mit, sie hängt sehr am Vater, den sie »mein kleiner Papa« nennt, und ist, wie fast jede Tochter, in einem Zwangsverhältnis gefangen: Er geht ihr auf die Nerven und gleichzeitig wird sie von Mitleid überflutet, wenn sie ihn in seiner unmodischen Kleidung sieht und sich seine kleinbürgerlichen Sorgen und Nöte vorstellt. Wenn er aus der kleinen Stadt, in der Etty aufgewachsen ist, nach Amsterdam kommt, steht sie den Tag nur durch, wenn sie ein ganzes Röllchen Aspirin nimmt. Sie hängt an ihm mit einer bedingungslosen, fast regressiven Liebe, obwohl er sie beim Lesen und beim Denken stört und sie körperlich und seelisch erschöpft. Die Mutter mästet sie, beschwert sich ständig, wie mager die Tochter geworden ist, und ist von der Haushaltsführung besessen – die Hillesums sind eine gewöhnliche jüdische Familie. Etty weiß, dass sie sich von dieser Familie weitgehend emanzipieren muss, zu ihrer Gedankenwelt hat die Familie keinen Zugang mehr. All das sind Aspekte an Etty, die mich interessieren.
Heiner Wilmer interessiert sich für eine andere Etty, mit der er acht Tage Exerzitien verbringen möchte. Ihr Liebesleben und ihre Bigamie ist für ihn »nicht so sehr Thema«, ihre ungewollte und unterbrochene Schwangerschaft auch nicht. In gewisser Weise ist Etty für ihn ein größerer Mensch: Wilmer untersucht, wie es Etty gelingt, die ganze Welt zu lieben (und auch darüber schreibt sie: Die Liebe auf einen einzelnen Mann zu richten, steht laut Etty sogar der Emanzipation der Frauen im Weg, sie blockiert gewissermaßen Errungenschaften in Kunst und Wissenschaft). Heiner Wilmer begleitet sie in den Mystizismus, er arbeitet sich an ihrem übrigens sehr individuellen Glauben ab, er will, kurz gesagt, wissen, wie es ihr gelingen konnte, Etty zu sein. Sie ist für ihn Freundin, Spiegel, Ratgeberin, Lehrerin, Vorbild, Exerzitienmeisterin und vielleicht auch Heilige. Und die beiden scheinen sich zu verstehen, ob wohl Wilmer Mann, Angehöriger des Tätervolks (wie er selbst sagt) und Christ ist – vielleicht, weil unsere Sehnsüchte eben doch universell sind. In einer kurzen Episode verlässt Heiner Wilmer das Exerzitienzimmer und besucht ein Denkmal für eine zerstörte Synagoge auf dem Hildesheimer Lappenberg. Auf dem Denkmal ist die jüdische Leidensgeschichte gezeigt: von den Römern, die gerade den Tempel entweihen, bis zu den nationalsozialistischen Gräueltaten. So kann man die Geschichte der Juden erzählen, aber man muss nicht. Man kann auch eine andere Geschichte erzählen, und das könnte dann vielleicht Ettys Geschichte sein.
Etty wollte, dass ihre Tagebücher veröffentlicht werden. Vielleicht hat sie sich selbst Gedanken gemacht, wie sie in einem späteren Zeitalter, eines, in dem man Hass und Gewalt fast zu überwinden geglaubt hatte (und sich dann doch täuschen sollte), unterschiedlich auf ihre Leser wirken würde?
Ich glaube, sie wäre einverstanden gewesen mit diesem Buch, denn Etty war nie deckungsgleich mit Etty, sie hatte zu viele Facetten, zu viel Dynamik, zu viel Unruhe, sie bestand, wie sie selbst sagte, aus vielen verschiedenen Menschen. Und ist es nicht das, was wir in der Literatur suchen: Identifikation, Verständnis, Transzendenz? Jetzt muss ich spekulieren, aber ich glaube, ich täusche mich zumindest nicht ganz, wenn ich sage: Das suchen wir auch im Glauben. Vielleicht finde ich das später noch einmal heraus.
Klar, mit einer Toten zu reden, das ist schon irgendwie speziell. Ich weiß. Zudem, wenn es praktisch hundert Stunden am Stück sind. Doch keine Person hat mich in den vergangenen Jahren so aufgerüttelt wie Etty Hillesum. Kaum eine Lektüre hat mich in der letzten Zeit so getröstet wie ihr Tagebuch. Sie lebt ihr Leben. Ihr ganz eigenes Leben. Von niemandem lässt sie sich verstellen. Sich ihre Überzeugung nehmen. Von niemandem lässt sie sich das Herz aus der Brust reißen. Ein Herz, das groß ist für jeden, für alle, ja für die ganze Welt. Und darüber hinaus sogar, und das ist das Unfassbare, auch für ihre Feinde.
Sie fasziniert mich. Aber ich weiß nicht, ob ich ihren Humor behielte, ihren Blick für das Große und das Schöne. Ja, für dieses Leben, das groß und schön ist, wie sie sagt. Auch dann, wenn die Katastrophe kommt, wenn sich Krankheit einstellt, wenn Freunde sterben, andere sich das Leben nehmen, ja, wenn es heißt, verleumdet zu werden, gehasst, auf der Straße gemieden, ja, wenn es heißt, sogar ins Arbeitslager zu gehen. Völlig unschuldig. In ein Lager, das vielleicht nur ein Übergang ist, an dessen Ende ein anderes steht, nämlich Auschwitz.
Lernen will ich von ihr. Lernen will ich von ihrem Sinn für das Schöne, für die Überraschung des Lebens. Lernen will ich nicht nur, wie sie mit den verschiedenen Worten umgeht, sondern auch, was zwischen den Worten ist: die Lücke, die Stille und das Schweigen. Der Blick, der mehr sagt als so viele Worte. Lernen will ich von ihrer Sehnsucht nach etwas, das größer ist als das eigene Leben, nach etwas, das sich nie aufbraucht.
Sie besucht keine Synagoge, keine Kirche. Den religiösen Institutionen ist sie entwachsen. Doch sie wächst von Tag zu Tag hinein in das große Geheimnis, hinein in den Glauben, hin zu jenem ganz Großen, dessen Name unaussprechlich ist. Sich selbst beschreibt sie als jenes Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch auf einer Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer lernte.
Bei ihr lese ich, wie ich mich abhärte, ohne zu verhärten. Wie ich mich innerlich stark mache, ohne zu erstarren. Die Liebe zum Leben, zur Natur, zu den Menschen, zu den Freunden und Nachbarn, auch zu jenen, denen sie auf der Straße begegnet, im Geschäft, all diese Menschen, es ist einfach großartig. Ihr Schalk im Nacken unnachahmlich. Ihre Tagebücher drängen mich so sehr, dass ich mit ihr re den muss. Um nichts anderes geht es in diesem Buch. Ich muss mit Etty Hillesum reden. Und ich habe tausend Fragen an sie, mindestens tausend. Auch zum Jasmin, der vor ihrem Fenster blüht.
Heiner Wilmer
Schon länger wollte ich dir schreiben. Aber ich weiß nicht einmal richtig, wie ich beginnen soll. Wie soll ich dich anreden? Soll ich sagen, wie ich es gelernt habe, »Liebe Etty«, oder soll ich einfach sagen: »Etty«? So wie ich dich einschätze, wärst du mit »Etty« völlig einverstanden. Aber ich will doch bei dem bleiben, was mich prägt, und fange an: Liebe Etty, ich muss mit dir reden. Ich kann nicht anders. Es drängt mich. Mir ist dein Tagebuch in die Hände gefallen. Es ist schon eigenartig, im Tagebuch eines anderen Menschen zu lesen, diese vertrauten, intimen Dinge. Es ist unfassbar, was in dir vorgeht, welche innere Welt sich auftut, in welchen Spannungen du lebst, welche Hoffnungen du hast, welche Zuversicht. Wie du dir die Freiheit behältst.
Du ringst mit dem Leben. Nein, das ist es vielleicht gar nicht mal. Viel mehr ringst du mit den Worten, um das Leben zu beschreiben, um die Menschen wie Hieroglyphen zu lesen, um die Natur zu verstehen, um das zu fassen, was um dich herum passiert. Du willst dir dieses Leben bewahren, du willst es in deinem Inneren aufbewahren. Du brauchst keine Fotos mehr von den Menschen, du willst ihre Gesichter und Gebärden aufheben, innerlich speichern. Das ist dein Ansatz. Du willst dich im Innern so reich machen, dass dich niemand mehr arm machen kann. Du willst für die Katastrophe vorbereitet sein. Mal sprudeln die Worte aus dir hervor und du kommst dir vor wie ein Brunnen, aus dem das Wasser fließt, es plätschert und läuft und strömt. Dann wieder suchst du lange nach den richtigen Worten, um die Bilder zu treffen. Eine großartige Beobachterin bist du. Alles willst du beschreiben, jedes winzige Ding, jedes Detail.
Schreiben willst du, alles festhalten, alles notieren. Aufheben willst du es für später, wenn die große Not vorbei ist, die Katastrophe vorbei ist, vor allem diese Katastrophe. Du weißt, es wird wieder neue Katastrophen geben, fürchterliche Dinge, die wir Menschen uns antun, Grauen und Entsetzen werden uns bleiben. Aber du hoffst auf eine neue Zeit, darauf, dass du erzählen kannst. Leben, um es zu erzählen. Das ist es, was dich zeitlebens geprägt hat. Und doch ist es noch etwas anderes, etwas völlig anderes. Es geht dir um die Liebe, diese Größe, die alles umfasst. Was wären wir ohne die Liebe? Was wären wir mit all unseren Talenten, unserem Vermögen, unserem Besitz, gäbe e s die Liebe nicht? Du bist eine fantastische, eine geniale Liebhaberin des Lebens.
An sich wollte ich in diesen acht Tagen bei den Trappisten in Orval sein. Dort im Süden Belgiens, unweit der französischen Grenze, in den Ardennen. Dort, wo die Dörfer im letzten Jahrhundert durch zwei Weltkriege heimgesucht worden sind. Die vielen Friedhöfe und Soldatendenkmäler erzählen davon. Das aber ist jetzt nicht möglich. Überhaupt ist Reisen in dieser Zeit nicht möglich. Das Virus und die strengen Maßnahmen zum Lockdown verhindern das. Ich habe mich entschlossen, dennoch eine innere Einkehr zu halten, mich zurückzuziehen, auch streng. Hier zu Hause habe ich mir dafür einen kleinen Raum eingerichtet. Am wichtigsten ist mir hier der Tisch und eine gute Lampe. Ein eigener Tisch, ein zusätzlicher zum Schreibtisch. Ich habe mir fest vorgenommen, mein Büro nicht zu betreten. Nicht zu telefonieren, keine Post zu lesen oder zu beantworten, auch keine neueren technischen Medien zu benutzen, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Kein Radio, kein Fernsehen. Nein, auch keinen Kontakt mit den Menschen, die im Haus arbeiten. Nur das Allernötigste.
Wie gesagt, bei einem solchen Rückzug bin ich in den vergangenen Jahren, inzwischen sind es sogar Jahrzehnte, immer wieder eingetaucht in den Rhythmus der alten Klöster. Was ich mir für die Woche in den Klöstern mitgenommen hatte? Nicht viel, vor allem alte Kleidung, um bei Wind und Wetter durch die Felder laufen zu können. Dann die Bibel, ein oder zwei gute Bücher und ein Tagebuch. Jetzt ist alles anders. Ich bin zu Hause geblieben, zum ersten Mal. Das ist neu. Ich weiß, ich habe für diese Tage ein eigenes Zimmer. Und es ist eben nicht mein Büro, das ist schon Luxus. Für diese Tage bin ich etwas radikaler geworden. Ich habe nur dein Tagebuch auf dem Tisch und etwas zum Schreiben. Sonst nichts. Möchte lesen, wie du in dich »hineinhorchst«, und dabei auch in mich selbst »hineinhorchen«. Gern nutzt du dieses deutsche Wort, das ins Holländische zu übersetzen dir nicht leichtfällt. Eines der Worte, die du in deinem in Niederländisch geschriebenen Tagebuch auf Deutsch schreibst, oft nach Gesprächen mit S.
In deinem Tagebuch lese ich, wie zwei Männer dein Leben prägen. Mit dem einen Mann teilst du Tisch und Bett, mit dem anderen die Liebe zu Büchern. Den ersten nennst du »Papa Han«. Er ist 35 Jahre älter als du, zweiundsechzig, und du beschreibst ihn als bedächtigen alten Sozialdemokraten. Du bist siebenundzwanzig. Der andere ist vierundfünfzig. In deinem Tagebuch nennst du ihn S. Er ist dein Therapeut, der Experte, der dir aus der Hand liest, der von der modernen Kenntnis über die Psyche so fasziniert ist, dass er sein Leben als Geschäftsmann aufgegeben hat, dann dein Lehrer wird. Er war schon mal verheiratet, hat eine Verlobte in London, von der er dir immer wieder erzählt. Jetzt liest er dir aus der Hand.
S. war fasziniert von Carl Gustav Jung. Von ihm hatte S. dir erzählt, ihm war er persönlich begegnet. War es nicht Jung gewesen, der S. zur Handlesekunst, zur Psychochirologie ermuntert hatte? Hatte er nicht deshalb seinen alten Beruf aufgegeben? Du warst von Anfang an von S. fasziniert, hingst an seinen Lippen, wenn er das Leben aus der Perspektive von Jung deutete, ihm Sinn vermittelte. Dennoch, wenn du einigen deiner Bekannten von S. erzähltest, von seinen Methoden, seinem Handlesen, verzogen sie nur die Lippen und taten das als Scharlatanerie ab. Doch S. hatte Jung verinnerlicht, seine Schriften gelesen. Du hattest sie bei deinen Besuchen auf den Regalen gesehen, hast hineingeschaut, wenn du als die spätere Mitarbeiterin von S. eine gewisse Ordnung in seine Bibliothek gebracht hast. Was hat dich so an Jung fasziniert? War es, dass Jung in den dunkelsten Momenten unseres Lebens nicht nur eine Kraft sieht, die uns nach unten zieht, die uns eventuell zerstört, sondern auch einen Keim für Transformation und Wachstum? War es, dass Jung uns dazu anhält, unsere inneren Konflikte zu erkennen und zu integrieren, dass wir unseren eigenen Schatten, die dunkle Seite unserer Psyche, erkennen und annehmen müssen und nur so das Potenzial finden, um zu reifen und uns zu erneuern, auch angesichts von Krankheiten und großem Leid?
S. und du, ihr kommt euch auch körperlich näher. Wie seine anderen Klientinnen, so fordert er auch dich zum physischen Kräftemessen heraus. Aus heutiger Sicht erscheint es uns völlig inakzeptabel, dass ein Therapeut sich so verhält. Doch er behauptet, das sei der Ansatz seiner Therapie. Natürlich scheint es ihm dabei auch um Erotik zu gehen. So ganz nebenbei. Das fällt für ihn dabei ab, an sich will er nur seinem Beruf nachgehen, einem Beruf, mit dem er hier in Amsterdam nicht viel Geld verdient. Viel weniger a ls in seiner Zeit als Geschäftsmann. Aber es scheint ihn zu erfüllen. Und auch das mit dir. Wir bleiben ja sachlich, sagt er. Es geht um dich, das sagt er dir. Wir bleiben nüchtern, ich will dich ja nur heilen, damit du mit dir selbst zur Einheit findest. So redet er immer wieder. Darf ein Therapeut so mit seiner Patientin umgehen? Du hast deine Zweifel.