Mose - Heiner Wilmer - E-Book

Mose E-Book

Heiner Wilmer

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Beschreibung

Mose, das ist kein Held und auch kein Vorbild im klassischen Sinne. Er taugt nicht als strahlendes Idol. Als Lehrer bleibt er ein Leben lang ein Lernender. Für Heiner Wilmer ist er gerade deshalb für uns wichtig. Sein Mose-Buch hat er den Zögernden gewidmet. Mit diesem Buch zeigt er: Durch Mose können wir uns mit unseren Abgründen und Tiefen, Gipfeln und Höhen wiedererkennen. Als Heiner Wilmer dieses Buch schrieb, ahnte er nicht, dass er wenig später zum Bischof von Hildesheim ernannt werden würde. In den Medien wurde der junge Bischof aufgrund seines Buchs als "Wüstenvater Wilmer" betitelt. Eines seiner Herzensanliegen, das Eintreten gegen den Antisemitismus, bringt er auch in diesem Buch zum Ausdruck.

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Den noch Zögernden

Feuer.

Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs,

nicht der Philosophen und der Gelehrten.

Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Frieden.

Der Gott Jesu Christi.

Deum meum et deum vestrum.

Dein Gott ist mein Gott.

Blaise Pascal

Heiner Wilmer

unter Mitarbeit von Simon Biallowons

Mose

Wüstenlektionen zum Aufbrechen

Wo nicht anders angegeben, ist als Bibelübersetzung zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutschsprachige Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

Außerdem wurde verwendet: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

© 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten. (EÜ)

Aktualisierte Neuausgabe 2022

Originalausgabe erschienen unter dem Titel »Hunger nach Freiheit. Mose – Wüstenlektionen zum Aufbrechen«

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Vergoldet: © oleskalashnik – shutterstock_770264464

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-03304-9

ISBN E-Book 978-3-451-82653-5

Inhalt

Vorwort

Mensch Mose

Der fremde Totschläger

Der zerbrechliche Zerbrecher

Der Nachdenkende

Der Neugierige

Der Brennende

Der Rebell

Der Stotterer

Der Aufbrechende

Der Einsame

Der Verratene

Der Treue

Der Freie

Nachwort

Dank

Bibliografie

Nachweise

Die Autoren

Vorwort

Stellen Sie sich vor, jemand würde Ihnen sagen, Sie seien zu einer großen Liebe fähig. Zu einer einzigartigen Liebe, völlig neu und unerhört. Zu einer Liebe, die sich selbst hergibt, sich völlig verschenkt. Doch mit Ihrem Tod würde die Erinnerung an Ihre Liebe ausgelöscht. Klänge das nicht äußerst merkwürdig?

Doch so außergewöhnlich das bereits wäre, es wäre noch etwas fordernder, wenn derselbe, der zu Ihnen von dieser Liebe spricht, Ihnen kurz zuvor gesagt hätte, Sie seien ein Totschläger. Nein, kein Scherz und keine bloße Metapher: ein wirklicher Totschläger. Und zwar einer, der von null auf hundert dazu geworden sei. Ohne Vorstrafenregister. Schließlich stecke das in jedem.

Und als ob all das noch nicht genügte: Wirklich schwierig wird es, wenn diese Person Ihnen überdies sagt, Sie hätten das Zeug zur Führungspersönlichkeit. Tatsächlich! Sie sollten ganz auf die Macht der Sprache setzen. Denn nicht die Wirklichkeit bringe das Wort hervor, sondern im Gegenteil: das Wort führe zur Wirklichkeit. Das ist nicht ganz leicht zu akzeptieren, versteht sich, vor allem, wenn man bedenkt, dass Sie stottern.

Klänge all das nicht reichlich seltsam und außergewöhnlich in Ihren Ohren?

Warum erzähle ich Ihnen das? Weil es in diesem Buch um Mose geht, was aber eigentlich heißt: Es geht um Sie und um mich. Wer sich selbst verstehen will, wer bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele dringen will, der kommt an Mose nicht vorbei, an seiner Leidenschaft, seinem Streben, seiner Angst, seinem Hass, seiner Liebe, seinem Blick für das unendlich Schöne, das nie Dagewesene und Geheimnisvolle. Mose, das ist der größte und älteste Schlüssel zu unserer Seele, aber auch zu unserer abendländischen Kultur, Politik und Führung.

Und Mose ist der Schlüssel zu Gott, selbst in seinem Aufstand gegen Gott. Seiner Rebellion. Wie können wir im Leben wachsen, ich meine, richtig frei werden, wenn wir uns nicht an Gott messen?

Mensch Mose

Tod in Venedig

Die Müdigkeit und die Anspannung stecken mir noch tief in den Knochen, als ich durch die pittoresken Gassen Venedigs laufe. Wir sind in der Karwoche, und ich fühle mich ziemlich kaputt. Seit wenigen Tagen bin ich wieder in Europa, zurück von einer Reise. Einer langen und vor allem harten Reise, vermutlich einer der härtesten meines ganzen Lebens.

Ich stamme von einem Bauernhof im Emsland, und früher bedeutete Reisen für mich, in die Stadt zu fahren oder auch nur in einen anderen Ort. Das sollte sich aber rasch ändern, ich hatte in Freiburg, Paris und Rom studiert. Vor drei Jahren wählten mich die Mitbrüder zum Leiter meines Ordens, Generaloberer nennt man das bei uns. In diesen drei Jahren bin ich sehr, sehr viel gereist, war auf allen Kontinenten unterwegs, abgesehen einmal von Australien oder der Arktis.

Doch diese Reise, die gerade hinter mir liegt, war anders. Mehrere Monate durch Mosambik, Angola, den Kongo, Kamerun, Tschad und nach Madagaskar. Noch nie zuvor war ich längere Zeit in Afrika gewesen, geschweige denn in Ländern wie dem Kongo, die sicher nicht zu den beschaulichsten und ruhigsten Flecken dieser Erde gehören. Fast vierzehn Wochen war ich unterwegs, um die Mitbrüder meiner Gemeinschaft in diesen afrikanischen Ländern und in Madagaskar zu besuchen, in Flugzeugen und Baumbooten, in großen und kleinen Autos, über Flüsse und Huckelpisten.

Vor meiner Reise war ich nervös gewesen, angespannt, hatte Respekt und ein bisschen Sorge – vor Krankheiten wie Malaria oder dem Denguefieber. Vor nicht langer Zeit war unser stellvertretender Generaloberer an einer Gehirnmalaria verstorben, und der einzige deutsche Generalobere vor mir, Pater Alphons Maria Lellig SCJ, war kurz nach einer Afrikareise in den Fünfzigerjahren ebenfalls von einer Krankheit dahingerafft worden. Kein gutes Omen für meine Reise, die ich im Januar 2017 antrat.

Jetzt, vier Monate später, bin ich nicht nur erleichtert, diese Reise heil überstanden zu haben, sondern auch dankbar, weil ich unglaublich viele Menschen getroffen habe, weil ich Erfahrungen habe sammeln können, die mein Bild vom Leben verändert haben, hoffentlich verändert haben, die meine Überzeugungen beeinflusst haben. Ich habe in meinem Leben viele Überzeugungen gehabt und nicht wenige davon wieder verworfen. Gleichzeitig habe ich viele neue gefasst, manche davon auch wieder verworfen, andere aber behalten. Sie haben sich verfestigt, verfestigen sich sogar immer weiter – ein Prozess. Überzeugungen, die wachsen und stärker werden, weil ich sie im täglichen Erleben bestätigt sehe und fühle.

Zu diesen Überzeugungen, die über die Jahre in mir gewachsen sind, gehört die, dass ich die moderne Kunst für einen Seismografen unserer Zeit halte. Es hat etwas gedauert, bis ich die Kunst – die moderne sowieso – für mich entdeckt habe. Für mich als Mensch, für mich als Ordensmann ist sie inzwischen unverzichtbar geworden. Ich glaube, dass sich in der Kunst das widerspiegelt, was die Menschen einer Zeit umtreibt, was sie beschäftigt, was sie lieben und hassen, was sie ersehnen und verabscheuen, was ihnen Hoffnung gibt und was ihnen Angst einjagt.

Eine meiner prägenden Kunsterfahrungen habe ich gemacht, als ich in der Bronx in New York als Lehrer arbeitete, vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Eines Tages hatte ich die Gelegenheit, in das Solomon-R.-Guggenheim-Museum zu gehen, und ich war fasziniert. Nicht nur von der Ausstellung, auch von Guggenheim selbst. Später begann ich, über ihn nachzulesen, und meine Faszination wuchs immer weiter. Begeistert war ich schließlich auch von Peggy Guggenheim, seiner Nichte, die selbst eine berühmte Galeristin war. Zwanzig Jahre nach meinem Besuch im Solomon-R.-Guggenheim-Museum bin ich nun auf dem Weg Richtung Peggy-Guggenheim-Sammlung, diesmal nicht in New York, sondern Tausende Kilometer entfernt, eben in Venedig.

Die Peggy-Guggenheim-Sammlung im Palazzo Venier dei Leoni ist für mich nicht nur wegen meiner Faszination für moderne Kunst, wegen meiner New Yorker Vergangenheit wichtig, sondern auch aus einem anderen Grund einzigartig: Es ist vielleicht das einzige Museum, in dem der Galerist selbst begraben liegt, in diesem Fall: die Galeristin. »L’ultima dogaressa«, die »letzte Dogaressa«, wie man die Guggenheim nennt, hat ihr Grab hier – zusammen mit ihren Hunden.

Ich muss an ihre Biografie denken, wie sie als Frau für ihre Freiheit gekämpft hat, wie sie während des Weltkriegs in die USA flüchten musste, wie sie von Neuem anfing, sich immer wieder aufmachte, wie sie nach dem Krieg nach Venedig zurückkehrte und wie sie immer wieder mit den Konventionen brach. Diese Gedanken beflügeln mich, meine Schritte werden schneller. Vorbei geht es an den Prachtbauten, stein- und marmorgewordene Zeugen der einstigen Größe und Bedeutung der Stadt.

Mein Weg führt mich Richtung Peggy-Guggenheim-Sammlung und dann zur Punta della Dogana, dem alten Handelsgebäude, ganz an der Spitze einer Halbinsel, direkt im berühmten Dorsoduro-Sestiere, einem der sechs Viertel der Stadt. Die Punta della Dogana verkörpert wie kaum ein anderes Gebäude das, was Handel für die einstige Republik bedeutete: Wohlstand und Einfluss, ausgedrückt durch zahlreiche Kuppeltürme, die sich majestätisch erheben. Auf der Hauptkuppel befindet sich eine Statue des Atlas, des mythischen Titans, der die Welt auf seinen Schultern trägt – ein unmissverständlicher Hinweis auf das Selbstverständnis Venedigs. Gegenüber, nur durch die Lagune getrennt, liegt der Dogenpalast und dahinter der Markusdom – wirtschaftliche, politische und religiöse Größe zusammengefasst in drei Bauwerken.

Mein Spaziergang zur Punta hat allerdings weniger mit dem fantastischen Ausblick zu tun als eher mit dem, was das Gebäude heute beherbergt, ein Kunstmuseum. Und mit der Ausstellung, die gerade dort geboten wird, von einem der wichtigsten, aber auch umstrittensten Künstler unserer Zeit: Damien Hirst.

Mose – Schlüssel zu mir selbst

Wenn meine Überzeugung stimmt, dass die moderne Kunst ein Seismograf für die Befindlichkeit des Menschen ist, dann lohnt es sich umso mehr, sich mit dem Werk Damien Hirsts zu beschäftigen. Ich hatte, ehrlich gesagt, vor meinem Venedig-Aufenthalt noch nie von ihm gehört. Etwas peinlich, gehört er doch zu den einflussreichsten Künstlern derzeit, und er gilt sogar als der reichste überhaupt. Er ist Maler und Bildhauer, überrascht mit Installationen und anderen Konzeptkunstwerken. Vor allem in Formaldehyd eingelegte Tierkörper sind sein Markenzeichen, zum Beispiel der riesige Tigerhai, dem er den Namen gegeben hat: »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living«.

In dem alten Speichergebäude in Venedig geht es in diesen Tagen des Jahres 2017 unter dem Titel: »Treasures from the Wreck of the Unbelievable« wieder um Konzeptkunst. Ich trete in das Gebäude, stehe vor zahlreichen Exponaten, mein Blick fällt durch die halbkreisförmigen Fenster, die die Aussicht auf die Lagune freigeben, und ich komme mir vor wie im Bauch eines gewaltigen Schiffes. Ich bleibe immer wieder stehen, gebannt und fasziniert, zum Beispiel von einem gewaltigen Fuß, der am Knöchel endet und in Ledersandalen mit Schnallen und Riemen steckt. Darauf eine kleine Maus und ein riesiges Ohr, völlig überdimensioniert. Ich bleibe länger stehen, irgendetwas ist da, das ich noch nicht fassen kann – später wird es sich plötzlich für mich einfügen in zahlreiche Gedanken, die mich seit meiner Reise nach, durch und zurück von Afrika beschäftigen, aufwühlen, antreiben.

Ich brauche eine Pause und verlasse kurz das Museum. Ein schneller Mittagshappen, dann zieht es mich schon wieder zurück. Erneut versinke ich in den Exponaten und dieser Welt, die Hirst aufgebaut hat. Bis ich plötzlich etwas bemerke, was mir vorher entgangen war: eine Leinwand mit einem Film. Der Film trägt den Titel »Treasures from the Wreck of the Unbelievable« – »Schätze aus dem unglaublichen Wrack«. Dieses unglaubliche Wrack, so geht es los, sei im Jahr 2008 gefunden worden. Vor der Südküste Afrikas, also nicht weit entfernt von dort, wo ich gerade gewesen war.

Das Schiff, so der Film weiter, sei vor 2000 Jahren versunken und habe einem freigelassenen Sklaven aus dem Römischen Reich gehört, der damals der größte Kunstsammler seiner Zeit gewesen sei. Der Name des Schiffes: »Apistos« – die Unglaubliche. Die Bergung, so Damien Hirst, habe er finanziert und darüber einen Film machen lassen. In diesem Film sieht man nun Taucher, wie sie das Schiff untersuchen, dann wird gezeigt, wie das Wrack von einem gewaltigen modernen Industrieschiff geborgen wird, wie wunderbare Kunstschätze zum Vorschein kommen, Schätze, die jetzt im Museum ausgestellt werden. Und plötzlich eine Micky Maus. Ja, eine Micky Maus. Und vorher eine pharaonenhafte Statue eines amerikanischen Sängers, Pharell Williams. Pharell Williams und Micky Maus vor 2000 Jahren auf dem Schiff eines ehemaligen römischen Sklaven? Die Auflösung ist simpel: Es ist wirklich ein unglaubliches Wrack, weil es kein echtes ist. Die gesamte Geschichte ist erfunden. Aber extrem lebendig.

Ich verlasse die Ausstellung, doch das Gesehene arbeitet in mir weiter. Ich lese über Damien Hirst nach, schaue mir andere Kunstwerke an. Bis ich zu einem anderen Formaldehyd- Tier komme: einem toten Bullen, den Hirst hat einlegen lassen, um ihn dann in einem Aquarium aufzustellen. Ich komme von einem Bauernhof und kenne mich mit Bullen aus, und dieser Bulle wirkt nicht etwa künstlich, sondern er ist ein wirkliches Tier. Er verfügt über eine ausgeprägte Muskulatur, das Fell ist dicht und kräftig, die Hufe sind fest. Der Bulle strotzt vor Kraft und hat zwei imposante Hörner. Goldene Hörner, wie auch die Hufe golden sind. Darüber eine goldene Scheibe, wie aus dem alten Ägypten. Und der Titel: »Goldenes Kalb«. In diesem Augenblick begreife ich. Die Steinchen »Goldenes Kalb«, »Ägypten« und »Schiff« fügen sich zu einem Mosaik zusammen. Dem Mosaik einer der wichtigsten Gestalten der drei großen monotheistischen Religionen. Einer Gestalt, der ich auf meiner Reise durch Afrika immer wieder begegnet bin und die in diesen Tagen der Karwoche wieder vor meinem inneren Auge auftaucht.

Vom Exodus wird die Rede sein, vom Jungen aus Ägypten, der in ein kleines, aus Schilf gefertigtes Schiffchen gelegt wurde, damit er nicht umkommt, vom Mann, der aus Ägypten floh und wieder dorthin zurückkehrte, um das Unglaubliche zu tun. Diese Gestalt hat mich durch Afrika begleitet und lässt mich auch hier in Venedig nicht los. Durch die Ausstellung von Hirst steht sie plötzlich ganz dicht vor mir: Die Rede ist von Mose.

So wie moderne Kunst die Welt des Menschen in verschiedenen Brechungen zu fassen versucht, so glaube ich, dass Mose die Verkörperung des modernen Menschen ist. Er ist ein Mensch mit Sehnsüchten und Hoffnungen. Aber auch ein Mensch mit Ängsten, mit Kanten, mit Abgründen. Dieser Mann, der so zentral für Judentum, Christentum und auch für den Islam ist, das ist kein Heiliger von Anfang an, das ist ein Totschläger, ein Jähzorniger, ein komplizierter Mensch. Einer, der hadert, der sich gegen sein Schicksal und Gott auflehnt, der nicht gehorchen will. Aber eben auch einer, der sich fügt, der seine Aufgabe annimmt, der sich für sein Volk aufopfert. Er ist Sohn und Bruder, aber auch Anführer und Prophet. Vor allem aber ist Mose einer, der den gleichen Hunger hat wie der moderne Mensch: den Hunger nach Freiheit.

Über Mose haben zahlreiche große Geister geschrieben oder seine Geschichte in Kompositionen verwandelt. Gioachino Rossini zum Beispiel mit seiner Oper »Mosè in Egitto«. Oder Arnold Schönberg mit seinem Werk »Moses und Aron«, das er allerdings nicht fertigstellte und das das zweite Gebot ins Zentrum rückte. Dann, auch sehr berühmt, Sigmund Freud und sein Buch »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in neuerer Zeit Jan Assmann mit »Moses der Ägypter« und natürlich die Erzählung »Das Gesetz« von Thomas Mann. An Mose kommt man nicht vorbei, so scheint es. Mose, das ist nicht nur irgendein Wüstenprophet vor Tausenden von Jahren, sondern das ist ein Schlüssel zu den großen Religionen dieser Welt und ein Schlüssel zu unserem eigenen Leben. Die Lektionen, die Wüstenlektionen, die Mose hat lernen müssen, die er hat lernen dürfen, können auch Lektionen für unser Leben sein.

Das alles ist mir in dieser Karwoche in Venedig so präsent wie nie zuvor. Vor allem aus zwei Gründen: Ich muss hier immer wieder an »Tod in Venedig« denken, die Novelle von Thomas Mann, und ich frage mich, weshalb ein so genialer Geist, der ein solches Werk wie »Tod in Venedig« schreibt, sich später in seinem Leben auch so intensiv mit Mose beschäftigt hat. Und gleichzeitig wird mir bewusst, wenn ich auf das Wasser in der Lagune schaue, dass ich gerade aus Afrika komme, dem Kontinent, der auch die Heimat von Mose, dem Ägypter, war. Mir wird schlagartig bewusst: Dort, wo ich gerade mehr als drei Monate verbracht habe, dort war die Heimat Moses. Viele von den Landschaften, die ich gesehen habe, hat auch Mose gesehen. Vielleicht keine Regenwälder wie im Kongo. Aber die Wüstenerfahrungen, die sein und unser Leben prägen, die kenne ich jetzt nicht nur aus Büchern.

Im Tschad zum Beispiel erstreckt sich die Sahara, in Mosambik wiederum weite Flächen von Savanne, mit Grasland, mit Akazien und Johannisbrotbäumen wie in Ägypten. Meine Reise, das spüre ich plötzlich tief in mir, das war auch eine Reise auf den Spuren Moses. Eine Reise hin zu dem Hunger nach Freiheit, der Mose angetrieben hat und der auch uns antreiben kann. Dieser Hunger sitzt tief, tief in uns. Er gehört zu unserer menschlichen Natur, er zeigt, dass wir leben, dass wir vital sind, dass wir Energie brauchen, dass wir sie verbrauchen.

Man sagt im Italienischen zwar, etwas sei »hässlich wie der Hunger«, doch eigentlich stimmt das nicht. Hunger kann unendlich produktiv wirken, kann uns antreiben. Wer Hunger nach Erfolg hat, kann unglaublich viel bewirken. Wer Hunger nach Wissen hat, kann unglaublich viel lernen. Wer schließlich Hunger nach Leben hat, kann viel leben und erleben, kann unglaublich leben.

Nur: Wie Mose zu Beginn seines Lebens haben auch wir unendlich viele Möglichkeiten gefunden, diesen Hunger zu betäuben, uns mit spirituellem Fast Food den Bauch vollzustopfen. Das echte Brot, das spirituelle Manna, das suchen wir nur selten, manchmal allein deshalb, weil wir Angst davor haben, dass die Suche etwas dauern könnte. Dass sie uns in die Wüste führen, in Gefahren bringen könnte. Wir scheuen das Gefühl, das der Hunger mit sich bringen kann, dieses Nagen, das latent da ist, das zunimmt und immer stärker wird, bis es sogar schmerzen kann. Wir haben Angst davor, Hunger zu spüren. Nur: Wir nehmen uns damit die Chance auf das, was diesen Hunger wirklich stillen kann. Das, was Mose irgendwann begonnen hat zu suchen – auf seinem Weg der Wüstenlektionen seines Lebens.

Der fremde Totschläger

Camus und Mose muss man in Afrika lesen

Unser Jeep ruckelt und zuckelt, er wirbelt Dreck auf und noch viel mehr Staub, immer wieder schlägt er hart in kleine oder größere Löcher. Wir verlassen gerade die Stadtgrenzen Luandas, der Hauptstadt Angolas, laut einigen Statistiken für Ausländer die teuerste Stadt der Welt. Neben mir sitzt Pater Léopold, der aus Kamerun stammt. Er ist in unserem Orden als Generalrat für Afrika zuständig und begleitet mich über all die Monate auf meiner Reise. Wir sind noch ganz am Anfang unserer Tour d’Afrique und erst vor wenigen Stunden in Luanda angekommen, vorher waren wir drei Wochen in Mosambik unterwegs.

Hier in Angola ist allerdings nicht Luanda unser Ziel, diese Metropole mit ihren teils absurden Kontrasten aus Arm und Reich, aus jämmerlichen Hütten in den Muceques, den Slums, und hypermodernen Funktionsbauten in Kilamba Kiaxi, einem gewaltigen Städtebauprojekt für mehr als fünfhunderttausend Menschen. Wir lassen Luanda, diesen Moloch mit seinen fast acht Millionen Einwohnern, Tendenz rasant steigend, hinter uns und fahren weiter Richtung Viana. Viana ist eine katholische Hochburg in einem Land, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung zum Christentum bekennt, ein Erbe der portugiesischen Missionare. Der Übergang von Luanda nach Viana ist schleichend, aber deutlich erkennbar. Die palmengesäumte Prachtpromenade der Hauptstadt Angolas liegt weit hinter uns, nicht nur emotional, und auch die breiten, mehrspurigen Highways werden schmaler. Sie verengen sich immer mehr, an der Seite werden die Akazien und Palmen seltener, dafür tauchen kleine Geschäfte auf, Straßenhändler, Hütten aus Ton und mit Strohdächern. Irgendwann sind die Straßen keine Straßen mehr, sondern Sandpisten, die für einen normalen Golf unbefahrbar wären und selbst unseren Jeep in einen schnaubenden Gaul verwandeln.

Ich kämpfe gegen Müdigkeit und Übelkeit gleichermaßen und versuche die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Etwas, was mir auf der Reise nie ganz gelingen wird, höchstens im Ansatz. Zu viel Neues und auch Fremdes strömt auf mich ein. So fühle ich mich immer wieder auch, obwohl ich von Freunden empfangen werde: fremd.

In Viana hat mein Orden seit fünfzehn Jahren eine kleine Niederlassung, junge Menschen studieren dort. Hier hören nicht nur die Straßen auf, sondern auch die Wasserleitungen. Das Wasser, das man aus dem Brunnen holen kann, ist nicht genießbar, nicht einmal zum Duschen oder Geschirrspülen taugt es. Die Menschen leben von Lieferungen in Tankwagen, zu uns kommt ein- bis zweimal im Monat einer mit rund fünfundzwanzigtausend Litern und füllt das Wasser in die Zisterne. Eine heiße oder kalte Dusche, wann immer man Lust darauf hat, das ist europäischer Luxus und weit, weit weg. Als wir bei unserer Niederlassung endlich ankommen, verschwitzt und gerädert, bin ich aber für jede noch so kleine Erfrischung dankbar und vor allem froh, dass heute noch keine offiziellen Termine anstehen. Ich muss ein wenig abschalten und durchschnaufen, muss kurz für mich sein, wenn auch nur für ein oder zwei Stunden. Am besten kann ich das beim Spazierengehen, das war schon immer so. Wichtige Reden oder Predigten gehe ich am liebsten draußen durch, ich gehe sie auch im übertragenen Sinne durch. In Bonn früher am Rheinufer, in Rom heute in der Villa Doria Pamphilj und in Angola jetzt auf dem kleinen Campus unserer Niederlassung. Ich schlendere herum und komme zu der kleinen Bibliothek für die Studenten, brandneu und sogar ziemlich gut sortiert. Bibliotheken geben mir überall ein Gefühl von Heimat, man trifft dort auf alte Bekannte, auf Autoren und Gedanken, die Kontinente, Kulturen und sogar Jahrhunderte verbinden.

Literatur kann Heimat sein, sie kann uns zumindest die Heimat näherbringen, und mir tut das auf dieser Reise von Zeit zu Zeit gut. Ich beginne zu stöbern in dieser kleinen Bibliothek in Angola, und plötzlich lese ich den Namen Albert Camus und dann den Buchtitel: »L’Étranger« – »Der Fremde«.

Ich schlage das Buch auf und stoße auf diesen Satz: »Ich habe gespürt, dass ich glücklich war, und ich bin es noch immer.« Der Satz trifft mich, reißt mich aus meiner Müdigkeit, plötzlich bin ich voll da. Ich lese weiter und versinke in der Geschichte. Ich erinnere mich an einen Filmabend im Ludwig-Windthorst-Haus in Lingen vor fast vierzig Jahren, als wir mit unserem damaligen Lehrer die Verfilmung des Romans durch Luchino Visconti ansahen. Plötzlich erinnere ich mich wieder an das Blenden des Lichts, das gezogene Messer, in dem sich die Sonne spiegelt, die den Zuschauer blendet und alles drehen lässt. Neue Bilder steigen in mir auf, wieder Camus, diesmal »Die Pest«, die Fliegen, der Gestank. Das alles, die flirrende Hitze, der Gestank, das Ungeziefer, die Sonne, die zusticht wie das Messer von Meursault, dem Fremden.

Das alles erlebe ich auf meiner Reise durch Afrika ganz neu. Auf einmal sind das nicht nur irgendwelche Buchszenen, sondern Erfahrungen, die ich selbst mache. Ich stehe in dieser kleinen Bibliothek in Viana und denke plötzlich: Um Camus zu verstehen, muss man ihn in Afrika lesen. Und, dann einen Wimpernschlag später: Um Mose zu verstehen, muss man ihn in Afrika lesen. Die Exodusgeschichte, mit der sengenden Sonne, die verzweifelte Suche nach Wasser, die Plagen mit dem Ungeziefer, all diese Erfahrungen, die Mose macht, die erlebe ich in Afrika hautnah. Hautnah im wahrsten Sinne des Wortes. Ich tauche aus der Geschichte und aus meinen Gedanken auf und klappe das Buch zu. Noch einmal fällt mein Blick auf den Titel: »Der Fremde«, und ich denke: Ein Fremder, das war Mose auch.

Fremd und ausgesetzt

Die Fremdheit Moses zieht sich durch sein gesamtes Leben. Es ist eine Fremdheit sich selbst und der Welt gegenüber, die exemplarisch für jene Fremdheit ist, die viele von uns nicht selten in ihrem Leben spüren.

Die Fremdheit steht bei Mose am Anfang. Er ist »Hebräer« von der Abstammung her. Aber nicht ohne Grund trägt das wichtige Buch von Jan Assmann den Titel: »Moses der Ägypter«. Schon der Name Mose ist nicht hebräischen Ursprungs. Früher hatte man (in Anlehnung an die in Ex 2,10 erwähnte Erklärung des Namens) versucht, ihn vom hebräischen Wort für »ziehen«, von »msh«, abzuleiten.

Die meisten Forscher heute gehen dagegen davon aus, dass das altägyptische Wort »mesi«, was so viel bedeutet wie »gebären«, »hervorbringen«, Grundlage seines Namens ist. Ganz geklärt ist diese etymologische Frage zwar nicht, doch verweisen die meisten Spuren darauf, dass der Name Mose ägyptischer Prägung und ägyptischen Klanges ist. Damit steht das Ägyptersein und damit das Fremdsein seiner eigenen Abstammung, seinen eigenen Wurzeln gegenüber am Anfang des Lebens des Mose.

Diese Wurzeln werden sehr früh gekappt, und sie werden brutal gekappt. So lesen wir in der Bibel, im ersten und zweiten Kapitel des Buches Exodus: »Da gab der Pharao seinem ganzen Volk den Befehl: Werft alle Knaben, die den Hebräern geboren werden, in den Fluss; die Mädchen aber lasst am Leben!« Und dann weiter: »Ein Mann aus dem Hause Levi ging hin und nahm eine Levitin zur Frau. Die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn. Da sie sah, dass er schön war, verbarg sie ihn drei Monate lang. Als sie ihn nicht länger verbergen konnte, verschaffte sie sich für ihn ein Kästchen aus Papyrusschilf und dichtete es mit Asphalt und Pech ab. Dann legte sie das Kind hinein und setzte es in das Schilf am Ufer des Nil. Seine Schwester aber stellte sich in einiger Entfernung hin, um zu sehen, was mit ihm geschehen werde. Da kam eine Tochter des Pharao an den Nil herab, um zu baden, während die Dienerinnen am Nilufer auf und ab gingen. Sie sah das Kästchen im Schilf und schickte ihre Magd hin und diese holte es. Sie öffnete es und sah ein Kind, das weinte. Da empfand sie Mitleid mit ihm; sie dachte: Das ist eines von den Kindern der Hebräer. Da sagte seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich gehen, dir eine Amme von den Hebräern holen, damit sie dir das Kind stillt? Die Tochter des Pharao antwortete ihr: Ja, geh! Das Mädchen ging und holte die Mutter des Kindes. Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Nimm dieses Kind mit und still es mir; ich will dir dafür den Lohn geben. Die Frau nahm das Kind und stillte es. Als der Knabe größer geworden war, brachte sie ihn der Tochter des Pharao. Diese nahm ihn als Sohn an und nannte ihn Mose; denn, sagte sie, aus dem Wasser habe ich ihn gezogen.«

Ich habe bei meinen Reisen durch die Welt gewaltige Ströme gesehen. Die Kraft des Wassers fasziniert mich bis heute. Doch wenn ich an die Flüsse denke und dann an diese Stelle, frage ich mich: Was für eine Mutter ist das, die ihren Sohn auf so einem Fluss, auf einem Fluss wie dem Nil aussetzt? Mit seiner enormen Kraft, mit seinen bedrohlichen Tieren, mit all den Gefahren, die so ein Strom birgt. Was ist das für eine Mutter – oder wie groß muss ihre Verzweiflung sein, dass sie es übers Herz bringt, ihren Sohn dort zurückzulassen?

Und dann, noch weiter: Das Ausgesetztsein des Mose ist eine Grunderfahrung des Menschen. Wir alle sind ausgesetzt, dem Leben, der Welt, unseren Mitmenschen. Wir leben in einer Welt mit all ihren Gefahren, Unwägbarkeiten, Freuden, Chancen und Überraschungen. Und wie häufig fühlen wir uns wie Mose in einem kleinen Kästchen dem Strom des Lebens ausgesetzt, ein kleines, zerbrechliches Kästchen. Und wir fragen uns, wie wir überleben sollen.

Gerade in Krisen hadern wir, es kommen uns vielleicht auch Fragen wie die, die ich mir stelle, wenn ich an Mose und seine Mutter und den Nil denke, und wir übertragen das auf Gott und das Leben: Was ist das für ein Gott, der uns da aussetzt?

Diese Frage ist eine grundsätzliche, und sie kann quälend sein angesichts einer Welt, die uns erschreckt mit Krieg, Terrorangriffen und anderen Bedrohungen. Doch gerade deshalb ist der Blick auf die Mosegeschichte so wichtig, denn: Mose wird gerettet. Und er ist eigentlich auch nie völlig allein gewesen, sondern seine Schwester blieb am Ufer stehen, um nach dem Kleinen zu sehen. Da gibt es jemanden, der Ausschau hält nach uns, das ist auch eine Botschaft dieser Sequenz. Und zugleich taucht hier wieder die Erfahrung der Fremdheit auf, die Mose und uns kennzeichnet: Mose wird gerettet, aber nicht durch jemanden aus seinem Volk, sondern von der Tochter des Pharao, einer Fremden.

Sein Leben verdankt Mose deshalb zwei Menschen, die seine Zerrissenheit, seine innere Entfremdung ausdrücken: seiner hebräischen Mutter, gewissermaßen doppelt: durch seine Geburt und durch ihre Tat, die von außen gesehen nicht einfach zu verstehen ist. Und er verdankt sein Leben der ägyptischen Herrschertochter, die ihn aus dem Wasser aufnimmt und sagt: »Aus dem Wasser habe ich ihn gezogen.«

Der Satz »Aus dem Wasser habe ich ihn gezogen« wurde lange von Bibelexegeten mit dem Namen Mose in Verbindung gebracht, eben mit der schon angesprochenen hebräischen Wortwurzel von »ziehen«. Heute wird diese Erklärung überwiegend abgelehnt, wobei sie nie den Anspruch erhob, unseren heutigen etymologischen Kriterien zu entsprechen. Mag sie also im modernen sprachwissenschaftlichen Sinne auch unzutreffend sein; der Satz, der in ihr steckt, bleibt ein starker. Ich denke dabei an ein Gedicht von Theodor Storm, in dem er beschreibt, wie fünf Katzenjunge ertränkt werden sollen, weil es zu viele von ihnen gibt.

Genauso geht es den Hebräern in der ägyptischen Gefangenschaft: Sie haben zu viele Kinder, deshalb sollen ihre Söhne umgebracht werden. Doch statt ihr »Junges« töten zu lassen, bringt die Mutter Mose zwar auch zum Fluss, aber eben nicht, um ihn zu ersäufen. Wie ein Katzenjunges, dessen man sich erbarmt, wird der kleine Mose dann »aus dem Wasser gezogen« und gerettet. Und wie wenn ein kleines Mädchen ein Kätzchen vor den Augen seiner Eltern verbergen will, so versucht auch die Tochter des Pharao, den kleinen Mose erst einmal zu verstecken und großzuziehen, und es gelingt.

Dieses Gerettetwerden steht in einem Kontext, der die Mosegeschichte mit anderen entscheidenden Motiven der Bibel verbindet. Das hebräische Wort für das Binsenkästchen, das mit Pech und Teer abgedichtet ist und in das Mose gelegt wird, lautet nämlich »tēvāh«. Es wird in der hebräischen Bibel insgesamt 28 Mal verwendet, ganze 26 Mal, um einen anderen, besonders berühmten »Kasten« zu beschreiben: die Arche Noach. Der Begriff der »Arche« leitet sich vom lateinischen Wort »arca« ab, was wiederum so viel wie Kasten bedeutet, im Hebräischen dagegen steht dasselbe Wort wie bei Mose.

Norbert Clemens Baumgart hat auf dem wissenschaftlichen Portal der Deutschen Bibelgesellschaft prägnant dazu geschrieben: »Vom weiten Blickwinkel biblischer Gedankenführungen aus lassen sich die Bedeutsamkeiten beider Einsätze einer tēvāh beschreiben: Die Arche (Gen 6–9) ermöglichte in der erzählten Welt einen universellen Fortbestand von Mensch und dem größten Teil der Fauna (die Wassertiere waren von der Sintflut kaum tangiert) bis auf den heutigen Tag. Das Papyruskörbchen (Ex 2) ermöglichte das Überleben von Mose (Ex 2,10), welcher die menschliche Hauptfigur im Pentateuch ist (Ex 2 – Dtn 34) und an Gottes Formierung des biblischen Israel (Israel-Bezug) mitbeteiligt war.«

Diese Parallele ist faszinierend: Denn auch hier geht es um Wasser und um Schutz vor dem Ertrinken. Der Kasten Noachs wird zur Zuflucht für die Welt vor der großen Katastrophe. Das Kästchen, in dem Mose liegt, ist kleiner und bietet nur dem Säugling Schutz. Doch beide »tēvāh« drücken zwei existenzielle Grunderfahrungen aus: das Ausgesetztsein einerseits und das Gerettetsein andererseits.

Der Begriff »tēvāh« ist deshalb eine Antwort auf die Fragen, die mich beschäftigen: Wie kann eine Mutter ihren eigenen Sohn auf dem Nil aussetzen? Wie kann uns Gott einer Welt aussetzen, die mindestens so gefährlich sein kann wie der Nil? Beide können es, weil zu diesem Aussetzen immer auch das Retten gehört. Weil unser Ausgesetztsein immer einhergeht mit dem Gerettetsein. Das Miteinander von Ausgesetztsein und Gerettetsein wird bei Mose später noch zugespitzt, wenn es um den Exodus geht, wenn Gott seinen Propheten und sein Volk immer weiteren Gefahren aussetzt und zugleich immer wieder rettend eingreift.

An uns heute kann sich daraus eine äußerst starke und kraftspendende Botschaft richten: Ja, ihr seid in der Welt ausgesetzt, und ja, es kommen Gefahren auf euch zu, Wüstenjahre, Dürre­perioden. Das alles wird euch zugemutet, doch ihr seid auch immer schon gerettet. Das, was Paulus später so oft betonen wird und was Grundüberzeugung des Christentums ist, wird hier vorweggenommen.

Die beiden »tēvāh«, die des Noach und die des Mose, weisen außerdem auf etwas hin, was eine Grunderfahrung des Menschen ist, die ich zum Beispiel in Angola, angesichts der Abhängigkeit der Menschen von Wasserlieferungen, deutlich gesehen und gespürt habe: Wasser ist Leben und Tod, Wasser ist zutiefst ambivalent. Der Nil, der Mose zur ersten Wiege wird, verkörpert die Ambivalenz von Wasser wie kaum ein anderer Strom. Der Nil ist für die angrenzenden Länder essenziell, er gibt Leben und nimmt Leben. Und so ist Wasser allgemein Leben, wie es auch den Tod bringen kann. In dieser Ambivalenz wiederum drückt das Wasser auch die Ambivalenz Moses, seine Fremdheit aus, verkörpert in seinem schöpferisch-zerstörerischen Zwiespalt auch die Abgründe des Mose, der Befreier ist, aber auch Totschläger.

Wasser kann geradeaus und in eine Richtung fließen, so wie das Mose tut, wenn er Gott gehorcht, wenn er das Volk aus Ägypten führt, zielstrebig und auf die Weisungen Gottes hin. Mose zeigt sich aber auch bockig, bäumt sich auf, er schäumt vor Wut, so wie die Gischt schäumt oder das Wasser hochspritzt, wenn es aus der Tiefe dringt. Mose ist jähzornig und gerät in Wut. Man sagt im Deutschen, dass sich dann das Gemüt oder Gesicht verfärbt – wie auch das Wasser, wenn es einen Strudel gibt oder eine Untiefe.

Die Komplexität, das Verborgene unter der Oberfläche, das machen Wasser und den Charakter Moses aus, und deshalb sind beide so faszinierend. Deshalb lohnt es sich, einzutauchen – ins Wasser und in die Geschichte Moses. Erst beim Tauchen entdecken wir die verborgene Schönheit, eine Exotik teilweise, die überrascht oder auch einschüchtert, die aber in jedem Fall fasziniert und inspiriert.

Moses Fremdheit zieht sich wie ein Gebirgsfluss durch sein Leben. Das dramatische, spektakuläre Entspringen, der kurvige, gewundene Weg danach, vorbei an Hindernissen und mitten durch sie hindurch, später das langsamere Dahinfließen, das aber nicht zum Ziel führt, weil der inzwischen zu einem mächtigen Strom angewachsene Fluss irgendwann stoppt, kurz bevor er ins Meer münden könnte. Das Motiv des Bergflusses für das Leben Moses ähnelt dem, was viele von uns heute erleben. Auch in früheren Zeiten hat es Hindernisse gegeben, Erlebnisse, die einen Menschen aus der Bahn werfen konnten. Doch während früher das Leben, war es einmal im Fluss, oft sehr gerade dahinfloss, verändert es sich heute immer mehr. Es gibt mehr Stromschnellen, das Leben ist dynamischer geworden, hektischer, es ebnet schneller ein. Die Flussbetten und seichten Stellen, die finden wir heute wie früher. Doch es scheint mehr Windungen und Krümmungen zu geben. Wer heute einen Beruf erlernt, wird ihn eher selten noch am Ende seiner Laufbahn ausüben oder gar im selben Betrieb arbeiten. Der Fluss heute bringt uns weiter weg, an exotischere Orte, endet oft später und seltener in einem beschaulichen Stausee. Insofern ist das Leben des Mose, das einem Gebirgsbach gleicht, voller Parallelen zu dem Leben, das viele von uns heute führen.

Zu diesem Lebens-Bergfluss des Mose gehört etwas, was gerade angeklungen ist: Er endet nicht im Meer. Es ist die große mosaische Tragik, die sich hier entfaltet. Sie hängt zusammen mit einer anderen Erzählung zu Wasserstellen in der Bibel. Die Rede ist vom Wasserwunder in der Wüste. Hier wird der Schöpfungsgedanke verquickt mit dem schöpfenden und nährenden Charakter des Wassers: Auf Gottes Wirken hin sprudelt aus einem Felsen Wasser, aus einem toten Gestein also, und zwar so viel Wasser, dass nicht nur die Anhänger Moses, sondern sogar noch das »Vieh« trinken kann: »Hierauf erhob Mose seine Hand und schlug mit seinem Stab zweimal an den Felsen. Da kam Wasser in Menge heraus und die Gemeinde samt ihrem Vieh trank davon.« (Num 20,11)

Dieses Schlagen ist übrigens ein Motiv, das kurz zuvor von großer Bedeutung ist. Dann nämlich, als Mose das erste Mal von Gott beauftragt wird, Wasser aus einem Felsen in Kadesch sprudeln zu lassen. Zuvor war Mirjam, die Schwester Moses, gestorben. Außerdem murrte das Volk, immer lauter und immer häufiger. Knapp vierzig Jahre war man unterwegs, vierzig Jahre wohlgemerkt in der Wüste: »Im ersten Monat kamen die Israeliten, die ganze Gemeinde, in die Wüste Zin und das Volk ließ sich in Kadesch nieder. Dort starb Mirjam und wurde auch dort begraben. Die Gemeinde hatte einmal kein Wasser mehr und sie rotteten sich gegen Mose und Aaron zusammen. Die Leute haderten mit Mose und riefen: Ach, wären wir doch auch umgekommen, als unsere Brüder vor dem Herrn sterben mussten! Warum habt ihr die Gemeinde des Herrn in diese Wüste gebracht? Nur damit wir zusammen mit unserem Vieh hier sterben? Warum habt ihr uns aus Ägypten herausgeführt? Nur um uns in diese trostlose Gegend zu bringen, in eine Gegend, wo keine Saat, kein Feigenbaum, kein Weinstock, kein Granatapfel gedeiht, wo es kein Wasser zu trinken gibt?« (Num 20,1–5)

Mose und Aaron gehen zu dem Offenbarungszelt, sie werfen sich nieder, und Gott gebietet ihnen, das Volk vor einem Felsen zu versammeln, mit dem Felsen zu reden, und es werde Wasser daraus sprudeln. Mose aber spricht nicht mit dem Felsen, sondern er schlägt zweimal mit seinem Stab darauf, und tatsächlich fließt Wasser. Für das Volk ein rettendes Wunder – für Mose eine verhängnisvolle Tat, weil er nicht klarmacht, wer es eigentlich war, der das Wunder gewirkt hat: »Der Herr aber sprach zu Mose und Aaron: Weil ihr mir nicht geglaubt und mich vor den Augen der Israeliten nicht heilig gehalten habt, darum dürft ihr diese Gemeinde nicht in das Land bringen, das ich ihnen gebe.« (Num 20,12)