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André Hassan Khan hat als Berufssoldat etwa 1500 Einsatztage in 27 Auslandseinsätzen absolviert, in Afghanistan, aber auch in Mali, Usbekistan oder Sarajevo. Er gehört zu den Pionieren im Bereich der ferngelenkten Luftfahrzeuge und versorgt als Sensorbediener die Truppen mit Informationen aus der Vogelperspektive. Eine wichtige Aufgabe, die er mit vollem Einsatz erfüllte – bis zu jenem Ereignis im Jahr 2017, das seine innere Welt ins Wanken brachte: Die Taliban griffen eine Militärbasis der afghanischen Armee an, mindestens 140 Menschen wurden niedergemetzelt, und Hassan Khan war dazu verdammt, tatenlos aus der Höhe zuzusehen. In der Presse wurde über die Tragödie berichtet, doch bald schon geriet sie in Vergessenheit. Für Hassan Khan aber begann an diesem Tag der Kampf gegen einen heimtückischen Feind: PTBS oder Posttraumatische Belastungsstörung. In seinem Buch erzählt André Hassan Khan über das, was er in Afghanistan erlebt hat, über seine Arbeit und seine Familie, vor allem aber über seine psychische Erkrankung. Sie drohte sein Leben zu zerstören, bis er sich ihr entschlossen entgegenstellte. Ein aufklärender und ermutigender Erfahrungsbericht.
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2024
André Hassan Khan
Ein Drohneneinsatz, ein Trauma und seine Folgen
André Hassan Khan hat als Berufssoldat etwa 1500 Einsatztage in 27 Auslandseinsätzen absolviert, in Afghanistan, aber auch in Mali, Usbekistan oder Sarajevo. Er gehört zu den Pionieren im Bereich der ferngelenkten Luftfahrzeuge und versorgt als Sensorbediener die Truppen mit Informationen aus der Vogelperspektive. Eine wichtige Aufgabe, die er mit vollem Einsatz erfüllte – bis zu jenem Ereignis im Jahr 2017, das seine innere Welt ins Wanken brachte: Die Taliban griffen eine Militärbasis der afghanischen Armee an, mehr als hundert Menschen wurden niedergemetzelt, und Hassan Khan war dazu verdammt, tatenlos aus der Höhe zuzusehen. In der Presse wurde über die Tragödie berichtet, doch bald schon geriet sie in Vergessenheit. Für Hassan Khan aber begann an diesem Tag der Kampf gegen einen heimtückischen Feind: PTBS oder Posttraumatische Belastungsstörung.
In seinem Buch erzählt André Hassan Khan über das, was er in Afghanistan erlebt hat, über seine Arbeit und seine Familie, vor allem aber über seine psychische Erkrankung. Sie drohte sein Leben zu zerstören, bis er sich ihr entschlossen entgegenstellte. Ein aufklärender und ermutigender Erfahrungsbericht.
André Hassan Khan, 1976 in Neumünster geboren, wurde nach seinem Grundwehrdienst Berufssoldat. 2010 gehörte er zur ersten Bundeswehreinheit, die mit der «Heron 1» ein unbemanntes Luftfahrzeug in Afghanistan einsetzte. 2017 erkrankte er an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Heute klärt er über diese «unsichtbare Krankheit» auf, die noch immer mit zu vielen Tabus verbunden ist.
Gideon Böss, geboren 1983 in Mannheim, ist Kolumnist und Autor. Zu seinen Büchern zählt unter anderem «Deutschland, deine Götter. Eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäusern», das sich mit der religiösen Vielfalt im Land beschäftigt. Zuletzt erschien von ihm das Sachbuch «Vom Urknall bis zum E-Auto. Ein Museumsführer durch (fast) 14 Milliarden Jahre Geschichte».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Jens Umbach/laif; Shutterstock
ISBN 978-3-644-01800-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Prolog
Alpha Aus sicherer Höhe
Bravo Der Tag X
Charlie Im Nebel der Erinnerung
Delta Der Geisterfahrer
Echo Konfrontation
Foxtrot Aufklärung
Golf Ins Offene
Für Jessy
Am Tiefpunkt meines Lebens angekommen, sitze ich bei meiner Psychologin und kann nicht mehr aufhören zu lachen. Ich kann nicht einmal sagen, worüber ich lache, denn es gibt keinen wirklichen Auslöser. Es überkam mich ebenso plötzlich wie unerwartet und tut mir gut.
Ein solches Gefühl hatte ich seit Monaten nicht mehr gespürt. Doch jetzt saß ich hier, berichtete von meinem Leidensweg und konnte nicht mehr anders. Später erfuhr ich, dass es sich dabei um eine wichtige Reaktion des Körpers handelte. Um das Anspringen eines Motors, der viel zu lange nicht mehr funktioniert hatte. Dieses Lachen brach den Panzer auf, den meine Krankheit im Verlauf von drei Jahren um meine Gefühle und zunehmend auch um meinen Körper gelegt hatte.
Natürlich änderte dieser Moment nicht schlagartig alles. Von dort aus war es noch viel Arbeit, die schwere Krise zu überwinden, wegen der ich überhaupt in diesem Therapieraum saß. Aber es ist wichtig, dass der Körper Emotionen zulässt, und Lachen ist eine Emotion. Weinen wäre genauso gut gewesen und hätte sich vermutlich angemessener angefühlt. Aber jeder reagiert anders auf Extremsituationen, und in meinem Fall war es eben dieser Ausbruch an Freude, der mich gleichzeitig aber auch verunsicherte.
Meine Therapeutin hingegen nicht. Sie saß nur da und ermutigte mich, diese Emotionen zuzulassen. Ich war damals schon seit einigen Monaten bei ihr in Behandlung. Im Leben davor hatte ich es als Berufssoldat (der ich weiterhin bin) auf etwa 1500 Einsatztage in siebenundzwanzig Auslandseinsätzen gebracht. Meistens Afghanistan, aber auch Mali, Usbekistan oder Sarajevo im ehemaligen Jugoslawien. Ich gehörte zu den Pionieren im Bereich der ferngelenkten Luftfahrzeuge der Bundeswehr und versorgte als Sensorbediener die Truppe mit wichtigen Informationen aus der Vogelperspektive. Ich war derjenige, der nahezu in Echtzeit eine taktische Erstbewertung der Bilder vornahm, die von der Maschine geliefert wurden. Ich machte meine Arbeit gern. Sie verlangte mir zwar viel ab, aber sie erfüllte mich auch.
Bis zu jenem Ereignis, das meine innere Welt ins Wanken brachte. Die Taliban griffen eine Militärbasis der afghanischen Armee an und metzelten bis zu 256 Menschen nieder. Fast alle ihre Opfer waren unbewaffnet. In der deutschen Presse wurde darüber berichtet, doch bald schon geriet diese Tragödie in Vergessenheit und reihte sich ein in die schier endlose Liste an Anschlägen, Überfällen, Gefechten und Gegenschlägen, die von diesem fernen Ort in die Heimat gemeldet werden. Für mich war dieses Ereignis aber keine Meldung unter vielen. Für mich begann an diesem Tag der Kampf gegen einen heimtückischen Feind, dessen Existenz ich lange ignorierte und dessen Name ich erst viel später erfuhr: PTBS.
«PTBS» steht für «Posttraumatische Belastungsstörung». Eine emotionale Überforderung durch ein Ereignis, das in der Psyche schweren Schaden anrichtet, weil es nicht angemessen verarbeitet wird. In der Folge können eine Reihe von Störungen auftreten, die die Gesundheit dauerhaft ruinieren, wozu unter anderem Schlafstörungen, Angstzustände und Depressionen gehören. Jeder Mensch, der mit belastenden Situationen konfrontiert ist, kann daran erkranken. Bei mir war es eben dieser Anschlag, der mir meine Gesundheit und fast mein privates Glück raubte. Nach Jahren der Verzweiflung und des Leugnens, aber auch der Wutausbrüche und der Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen, die mir am nächsten stehen, sah ich endlich ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich überwand die Scham davor, wie die Kameraden wohl auf diese «Schwäche» reagieren würden, und suchte mir Hilfe.
Lange bevor mir bewusst wurde, dass ich schwer an der Psyche verwundet bin, hatte ich körperliche Veränderungen gespürt. Jede davon verminderte meine Lebensqualität und trug ihren Teil zur permanenten Abwärtsspirale bei. Mein Nacken war fast immer verspannt, und ich entwickelte ein Asthma, das erst im Laufe der Therapie wieder nachließ. Ich fühlte mich immer isolierter und isolierte mich dadurch selbst immer weiter, wie in einer toxischen Version einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Ich sprach in dieser Zeit mit niemandem über meine Probleme. Vor allem nicht mit meiner Frau. Warum auch? Was sollte sie mir dazu schon sagen können? Die Welt wird sehr eng, wenn sie nur noch von einem selbst bewohnt wird. So nahm auch die emotionale Unausgeglichenheit zu, und es folgten die ersten Panikattacken.
Irgendwann konnte ich kaum noch aus dem Haus gehen. Die Ängste, die sich in meiner Psyche festgesetzt hatten, verwandelten meinen Alltag in eine Horrorshow. Schon das Schlendern durch eine Einkaufspassage oder der Einkauf im Supermarkt war zeitweise ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Bewegung und jedes Geräusch konnten Erinnerungen an jenen Tag in Afghanistan wecken, der in meinem Kopf nie vergangen ist. Mit der Folge, dass ich sofort in Panik geriet.
An diesem Punkt meines Lebens war ich also angekommen, als ich im Behandlungszimmer meiner Therapeutin saß. Nicht mehr in der Lage, auch nur eine Packung Nudeln einzukaufen, meiner Frau und Familie entfremdet und innerlich ohne jede Freude. Wahrlich kein Grund zu lachen. Und doch war dieses Lachen eine Befreiung.
Mein Vater war Surfer. Genau genommen war er Soldat, aber als Kind sah ich in ihm immer nur den durchtrainierten Kerl, der unsere Urlaube auf dem Wasser verbracht hat. Mein Vater, sein Surfbrett und die Nordsee. Als Nordlichter fuhren wir immer auf die Insel Römö in Dänemark, wo meine Großeltern einen Saisoncampingplatz hatten. Anfangs reisten meine Eltern mit mir noch im VW-Bus an, später mit dem Wohnwagen. Nach langen Stunden am Strand klangen die Tage immer beim gemeinsamen Grillen aus, wobei es der Qualität des Fleisches nicht schadete, dass Opa Schlachtermeister gewesen war. Auch meine Mutter war in kulinarischer Hinsicht sehr versiert, da sie erst an einer Lebensmitteltheke gearbeitet hatte, bevor sie sich im Versicherungsbereich selbstständig machte und ein eigenes Unternehmen führte. Sie war ohne Zweifel die gute Fee der Familie, die alles am Laufen hielt, gerade auch in den Phasen, in denen mein Vater unterwegs war – und eigentlich ist sie das heute als stolze Oma immer noch.
So verbrachten wir damals unzählige Tage und Nächte am Strand, von dem aus man bei gutem Wetter sogar bis Sylt sehen konnte. Das war eine tolle Zeit, und vor Kurzem habe ich diese Tradition mit unseren drei Kindern wieder aufgenommen. Einmal Römö, immer Römö. Warum auch nicht, ich hatte schließlich eine schöne und behütete Kindheit. Es spricht also nichts dagegen, sich großzügig an dem zu orientieren, was meine Eltern richtig gemacht haben.
Dass ich durch und durch Nordlicht bin, würde beim Blick auf meinen Personalausweis kaum jemand vermuten. «André Hassan Khan» klingt nach allem, nur nicht nach einer Heimat in Schleswig-Holstein. Aus diesem Namen werden immer wieder die verschiedensten Dinge abgeleitet. Ich sei Moslem, ist dabei die populärste Vermutung. Sie ist aber ebenso falsch wie alle anderen.
Tatsächlich ist es kaum möglich, genauer herzuleiten, woher mein Name stammt. Wir wissen nur, wem wir diesen Exotenstatus zu verdanken haben. Meinem britisch-indischen Urgroßvater Noor Hassan Khan, einer fast sagenhaften Gestalt in unserem Stammbaum, deren Weg nach Deutschland weitgehend im Dunkeln liegt. Als er in Indien geboren wurde und aufwuchs, gehörte das Land als sogenannte Kronkolonie noch zum britischen Weltreich. Als junger Mann heuerte er schließlich auf einem Schiff an, das einer Bremer Werft gehörte. So reiste er als Matrose um die Welt und dabei auch mitten hinein in die politischen Stürme und Katastrophen jener Zeit. Was genau ihn letztlich nach Deutschland verschlug, ist nicht klar. Die Indizien sprechen aber dafür, dass die gesamte Besatzung während des Ersten Weltkriegs in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, nachdem das Schiff entweder von der Marine festgesetzt wurde oder bei Ausbruch der Kampfhandlungen gerade in einem deutschen Hafen lag und nicht mehr auslaufen konnte. Klar ist nur, dass er letztlich auch nach 1918 in Deutschland blieb, als er definitiv kein Gefangener mehr gewesen sein konnte. Und dass er eine Familie hier gründete.
Damit sind die halbwegs gesicherten Fakten auch schon vollständig wiedergegeben. Viel mehr weiß meine Familie nicht über unseren erstaunlichen Vorfahren. Es wurden durchaus erhebliche Mühen in die Ahnenforschung investiert, doch am Ende standen wir eher mit noch mehr Fragezeichen da als zuvor. So könnte unser geheimnisvoller Ahne womöglich Teil der winzigen jüdischen Gemeinde des Subkontinents gewesen sein, aber ebenso gut auch adeliger Abstammung, da dieser Name in Indien auch als Fürstentitel bekannt ist – und mit großer Wahrscheinlichkeit trifft weder das eine noch das andere auf ihn zu.
Im Jahr 1997 hätte ich möglicherweise an einem ganz unerwarteten Ort Neues über diesen Teil meines Erbes erfahren können. Ich war damals für meinen ersten Auslandseinsatz in Sarajevo und lernte dort in einem vom Militär betriebenen Laden, in dem sich die Einsatzkräfte mit allem Nötigen versorgen konnten, zwei indische Soldaten der UN-Truppe kennen. Sie waren ganz begeistert, als sie meinen Namen hörten, und luden mich noch für denselben Abend zum Essen ein. Leider kam es aber nie zu diesem gemeinsamen Abendessen, da mein Vorgesetzter den Ausflug, wohl aus Sicherheitsgründen, untersagte.
Fest steht also weiterhin nur, dass wir einen ganz erstaunlichen Zweig in unserem Stammbaum haben und dass dieser exotische Name in Deutschland regelmäßig falsch geschrieben wird. «Hassan Khan» ist nämlich der Nachname und kommt ganz ohne Bindestrich aus.
So verworren es auf der väterlichen Seite zugeht, so eindeutig stellt sich die Sache auf der mütterlichen dar. Die Familie meiner Mutter stammt aus Skandinavien, was für ein norddeutsches Kind deutlich naheliegender ist als eine Verbindung in den Fernen Osten.
Weniger gern als in Römö war ich übrigens in der Schule. Ich langweilte mich dort, das war nicht meine Welt, und so ging ich nach der neunten Klasse ab. Zwar mit einem Abschluss, aber eigentlich ohne eine Idee, was ich in Zukunft machen wollte. Grafikdesigner, Tierarzt, Goldschmied? Ich konnte mir alles Mögliche vorstellen, weil ich mir eigentlich nichts vorstellen konnte. Darum ging es erst einmal auf eine Berufsfachschule für Wirtschaft, die ich aber ohne Abschluss abbrach. Also stand ich weiterhin nur mit Hauptschulabschluss da und ohne genaue Vorstellung, was aus mir werden sollte. Immerhin wusste ich aber, was jetzt folgen würde: der Grundwehrdienst.
Für mich stand immer fest, dass ich nicht verweigern würde. Das hatte, so bilde ich es mir jedenfalls ein, nichts mit meinem Vater zu tun, obwohl er Berufssoldat war. Das mag im ersten Moment erstaunen, von außen betrachtet scheint die Sache schließlich eindeutig: Der Junge hat sich seinen Vater zum Vorbild genommen und wollte ihm nacheifern. Aber ich sah in ihm weniger einen Soldaten als einen Vater, der früh am Morgen aufsteht und das Haus verlässt und der nach seiner Rückkehr Sanierungsarbeiten an der Garage vornimmt oder andere Aufgaben übernimmt. Er war ziemlich diszipliniert und damit das genaue Gegenteil von mir in jener Zeit. Ich träumte auch nicht davon, zu werden wie er, sondern war von einer Musikrichtung mit dem zeitlos großartigen Namen «Happy Hardcore» begeistert und trat als DJ auf. Ich konnte mir vorstellen, Tierarzt zu werden. Oder Fotograf. Oder, wie schon erwähnt, Goldschmied. In keiner dieser Richtungen konnte ich in Fußabdrücke meines Vaters treten.
Dass ich letztlich Soldat wurde, lag an meinen Erfahrungen im Grundwehrdienst, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben Verantwortung übernommen hatte und übernehmen musste. Dieses Gefühl, für andere da sein zu müssen, die sich auf einen verlassen, hat mich in meiner Entwicklung enorm vorangebracht, und ich merkte, dass mir diese Art zu arbeiten gefallen könnte. Dass ich später in der Bundeswehr immer wieder auf Kameraden meines Vaters stieß, die sich außerordentlich positiv über ihn äußerten und ihm zum Teil ihre Laufbahnen verdankten, freute mich natürlich. Mein Vater war immer einer von denen, die zögernden Kameraden «Mach das doch einfach!» sagten, wenn sie vor einem weiteren Karriereschritt unsicher waren. Aber letztlich muss ich jeden enttäuschen, der hier eine Art Familientradition erkennen will, denn die gibt es nicht. Die gibt es auch von meiner Seite aus nicht, denn ich werde meinen Sohn nicht drängen, sich für den Soldatenberuf zu entscheiden. Ich würde es ihm aber auch nicht ausreden wollen, wenn er sich dafür interessieren sollte. Das wird seine Entscheidung sein, so wie es damals meine Entscheidung war.
Als mein Grundwehrdienst begann, im Jahr 1995, verließ ich erstmals mein Elternhaus und zog von Neumünster nach Lüneburg, wo sich meine Kaserne befand. Beide Orte trennen zwar weniger als hundertfünfzig Kilometer, die über die Autobahn in neunzig Minuten zurückgelegt werden können, doch für junge Menschen ist das «weit weg». Der Grundwehrdienst tat mir gut. Ich musste Verantwortung übernehmen, wie schon erwähnt, und zwar nicht nur für meine Kameraden, sondern auch für mein Land. Überhaupt hat mir diese Zeit geholfen, mich weiterzuentwickeln und von einem unselbstständigen Teenager zu einem jungen Erwachsenen zu werden, der nicht nur die eigenen Interessen im Kopf hat, sondern auch einen größeren gesellschaftlichen Rahmen sieht. Ich erlebte etwas, fühlte mich gebraucht, und zu guter Letzt wurde ich natürlich auch dafür bezahlt, durch den Wald zu rennen, zu schießen und mich zu tarnen. Der berühmte Satz, dass die Armee die «Schule der Nation» ist, traf auf mich definitiv zu. Zum ersten Mal entwickelte ich für etwas wirklich Ehrgeiz.
Kurzum: Ich wollte weitermachen. Aber da war das Problem mit meinem Schulabschluss. Mit Hauptschule allein wäre ich nicht weit gekommen. Das merkte ich schon, als ich mich für eine Unteroffizierausbildung im Panzerbataillon interessierte. Dafür brauchte es Mittlere Reife oder Hauptschule mit abgeschlossener Berufsausbildung. Beides hatte ich bisher nicht, weswegen ich im Nachschubbataillon anfing und parallel in Cuxhaven eine sechsmonatige Ausbildung zum Bürokaufmann machte. Dadurch öffneten sich weitere Türen, und so wurde ich im Laufe der Zeit unter anderem Nachschubbuchführerunteroffizier und später Nachschubunteroffizier (ja, das sind zwei verschiedene Positionen). Damit gehörte ich dem Bereich Logistik an. Wir Logistiker achteten, grob gesagt, darauf, dass Schrauben, Reifen und sonstige Ersatzteile alle da waren, wo sie sein sollten. Und vor allem waren wir dafür verantwortlich, dass der Nachschub möglichst schnell und reibungslos bei den jeweiligen Truppenteilen ankam. Das machte ich bis zum Jahr 2000, also die ersten fünf Jahre bei der Bundeswehr.
Pünktlich zum Jahrtausendwechsel wechselte auch ich, und zwar zur Luftwaffe. Zu Beginn übermittelte ich als Flugdatenbearbeiter die Flugpläne an den Tower, später wurde ich Flugberatungsmeister und entwarf die Flugpläne selbst. Schließlich stieg ich in der Hierarchie zu so etwas wie dem Vorgesetzten der Flugberatungsmeister auf.
Im Jahr 2009 dann fiel mir die Ausschreibung einer höheren Kommandobehörde auf: Wer Interesse an einer Ausbildung an und mit dem ferngelenkten Luftfahrzeug Heron 1 habe, hieß es dort, solle sich gerne bewerben.
Umgangssprachlich und in den Medien werden Maschinen wie die Heron 1 meist als «Drohnen» bezeichnet, was aber nicht korrekt ist, weswegen ich diesen Begriff nicht verwende. Auf meinem Instagram-Account, auf dem ich seit Langem über meinen Beruf und meine Einsätze informiere, habe ich dazu vor Jahren eine Begründung veröffentlicht:
Immer wieder hört man die verschiedensten Begriffe zur unbemannten Luftfahrt. Wie z.B.: UAV-Drohne RPA UAS RPAS MALE HALE FEMALE UCAV LOS BLOS PO TacOp AVO RP RPA-F WSOp – und was nicht noch alles.
Nehmen wir mal Begriffe, die meinen Job betreffen.
Unsere Besatzung besteht aus 2 Operatoren. Links sitzt der TacOpMstr oder TacOpOffz (Tactical Operator Meister/Tactical Operator Offizier) und bedient die Sensorik + taktischen Funk mit unseren Bedarfsträgern. Rechts sitzt der RPA-F (Remotely Piloted Aircraft-Führer), dieser führt das Luftfahrzeug und macht den Flugfunk und taktischen Funk, wenn nötig. Zusammen bilden wir die RPAS (Remotely Piloted Aircraft System) Besatzung. Und unterstützen uns gegenseitig, wenn es die eigene Workload zulässt.
Das RPA (Remotely Piloted Aircraft) ist eines der MALE (Medium Altitude Long Endurance) Klasse und ist als «normaler» Teilnehmer im Luftraum zulassungspflichtig.
Wir können unter LOS (Line Of Sight), also Richtfunkverbindung, oder BLOS (Beyond Line Of Sight), sprich Satellitenkommunikation, unterwegs sein.
Eines möchte ich betonen, wir sind keine Drohne. Denn das sind eher Männchen der Honigbiene mit etwas größerem, plumperem Körper, die keinen Stachel besitzen und sich überwiegend von den Arbeitsbienen füttern lassen.
So viel zu meiner Sicht auf dieses Thema, die den meisten vermutlich übertrieben vorkommt, zumal sogar die Bundeswehr selbst salopp von «Drohnen» spricht. Aber als Experte hat man eben so seine Empfindlichkeiten.
Zurück zur Ausschreibung. Erstaunlich an ihr waren gleich mehrere Dinge. Zum einen, dass die Bundeswehr damit endlich den Aufbau einer eigenen Staffel von ferngelenkten Aufklärern anging, um damit eine klaffende Lücke in den Fähigkeiten der Armee zu schließen. Immerhin wurden diese Fluggeräte schon seit Mitte der Neunzigerjahre intensiv eingesetzt. Der Predator der Amerikaner etwa hatte im Jahr 1995 seinen Erstflug. Die Bundeswehr hinkte der Entwicklung dramatisch hinterher. Wobei das nicht heißt, dass sie gar keine ferngelenkten Luftfahrzeuge besaß, nur waren diese in allen Bereichen eingeschränkter als die Heron 1. Sie hatten geringere Reichweiten (140 Kilometer zu 1000 Kilometern), geringere Flughöhen (4000 Meter zu 10000 Metern), geringeres Startgewicht (172 Kilogramm zu 1,2 Tonnen) und eine geringere Höchsteinsatzzeit (6 Stunden zu 27 Stunden). Die Heron 1 verhielt sich zum bisherigen Bestand wie ein Porsche zu einem Dreirad, um es ein wenig überspitzt auszudrücken.
Mit ihr begann ein neues Zeitalter in der Bundeswehr, das der unbewaffneten und ferngelenkten Luftfahrzeuge. Als ich die Ausschreibung las, hatte ich sofort Lust, Teil dieser Geschichte zu werden. Ungewöhnlich war auch, dass die Ausschreibung explizit darauf hinwies, dass Bewerbungen an den eigenen Vorgesetzten vorbei eingereicht werden konnten. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass diese einen Wechsel erfolgreich verhinderten. Fachkräfte waren damals schon so rar gesät wie heute.
Für mich kam diese Chance genau zur richtigen Zeit, denn in meiner bisherigen Tätigkeit hatte ich so langsam einen Punkt erreicht, an dem mich die Arbeit nicht länger ausfüllte und keine weiteren Karriereschritte zu erkennen waren. Außerdem kam mir entgegen, dass gute bis sehr gute Englischkenntnisse vorausgesetzt wurden. Zwar hatte ich nur einen Hauptschulabschluss, aber offenbar verfüge ich über eine gewisse Fremdsprachenbegabung, denn im Englischen war ich immer stark gewesen, und im Zuge der Ausbildung zum Flugberater hatte ich eine hervorragende Zusatzausbildung erhalten. Da ich auch sonst alle Kriterien erfüllte, entschied ich mich für eine Bewerbung.
Ich wurde tatsächlich ausgewählt. Neben meinen Englischkenntnissen spielte auch meine mehrjährige Erfahrung als Flugberater eine wichtige Rolle. Ein klassisches Bewerbungsgespräch fand übrigens nicht statt, und das aus dem einfachen Grund, dass niemand so wirklich wusste, was für einen Schlag Mensch es für diese Tätigkeit braucht. Wie gesagt, alle betraten damals Neuland. Auch die Bundeswehr selbst.
Noch im selben Jahr begann die Ausbildung. Sie fand nicht in Deutschland statt, sondern in einer der Nationen, die im Bau ferngelenkter Luftfahrzeuge führend sind: Israel. Mich hatte dieses Land immer fasziniert, und dass wir ausgerechnet dort nun die Bedienung der Heron 1 erlernten, machte diese Reise noch spannender.
Gerade Tel Aviv ist eine sehr westliche Stadt. Sie hat ein tolles Nachtleben, eine junge und multikulturelle Bevölkerung, schöne Strände und tolle Cafés. Ich liebe das Essen dort und die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen. Tel Aviv ist etwa bekannt für seine Toleranz gegenüber queeren Menschen, und das in einer Weltregion, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen ansonsten verboten sind und zum Teil mit dem Tod bestraft werden.
Die Ausbildung selbst dauerte von November 2009 bis März 2010, und sie war sehr intensiv, gerade für jemanden wie mich. Zwar kam ich aus der Luftwaffe und hatte vorher Flugpläne und Briefings erstellt, aber die Luftfahrt an sich war für mich, wie es so schön heißt, Neuland. Wir lernten also, wie man die Heron 1 bedient, was ebenso interessant wie anstrengend war. Was manchen Deutschen vielleicht erstaunen wird, ist die Herzlichkeit, die uns in Israel auch in der Uniform der deutschen Bundeswehr entgegengebracht wurde. Wir waren «The Germans», aber angesprochen wurden wir nicht auf die deutschen Verbrechen der Vergangenheit, sondern auf das Berliner Nachtleben der Gegenwart. Man hatte den Eindruck, jeder junge Israeli war schon mal in der deutschen Hauptstadt gewesen. Beim Barbier erhielten wir denselben Rabatt, den der Besitzer israelischen Soldaten aus Respekt und Dankbarkeit für ihren Dienst gewährte. Das Lernpensum war beträchtlich, aber zugleich war es eine bereichernde und ausgesprochen schöne Zeit.
Danach fing eine neue Phase in meinem Leben an. Ich war nun Sensorbediener für ein ferngelenktes Luftfahrzeug und gehörte damit zu den Pionieren in der Bundeswehr. Entsprechend nahm auch die Zahl der Auslandseinsätze zu. Bis 2020 sollten es 27 Einsätze beziehungsweise knapp 1500 Einsatztage werden, die meisten davon in Afghanistan.
Damit begann natürlich auch eine neue Phase in meinem Privatleben. Was vielleicht eine gute Gelegenheit ist, von meiner Ehefrau Jessy zu erzählen. Die Liebe meines Lebens, die mir in den dunkelsten Tagen zur Seite stand. Dabei war das zwischen ihr und mir zu Beginn eines ganz bestimmt nicht: Liebe auf den ersten Blick. Aber immerhin auf den zweiten oder, sagen wir besser mal, dritten Blick. Wir wuchsen beide in Neumünster auf und hatten Freundeskreise, die sich lose überschnitten. Gerade genug, damit ich wusste, dass Jessy ein verwöhntes Mädel war, das ein Pferd hatte und Cabrio fuhr. Darum kannte ich sie zuerst unter dem Namen «Cabrio-Else». Umgekehrt fiel ihre Ferndiagnose ähnlich aus: Sie hielt mich für einen Schnösel (der übrigens ebenfalls ritt, was noch eine Rolle spielen wird).