Hexen hexen - Roald Dahl - E-Book

Hexen hexen E-Book

Roald Dahl

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Beschreibung

Die Hexen sind unter uns

Hexen hassen Kinder. Hexen finden, dass Kinder stinken wie frische Hundekacke. Und jetzt plant die Hexengroßmeisterin, alle Kinder in Mäuse zu verwandeln. Kann irgend jemand sie aufhalten? Dies ist die Geschichte eines sehr kleinen, sehr mutigen Helden, dem genau das gelang!

»Ich war noch keine acht Jahre alt, da hatte ich selber nacheinander zwei Begegnungen mit Hexen. Aus der ersten ging ich unversehrt hervor, bei der zweiten Gelegenheit hatte ich leider weniger Glück. Mir sind Sachen passiert, die euch wahrscheinlich kreischen lassen, wenn ihr sie lest. Das lässt sich nicht ändern. Die Wahrheit muss ans Licht. «

Unerschrockene Helden und Heldinnen voller Kraft und Fantasie, die Kinder stark machen: Egal, wer und wo du bist, egal, wer dich kleinmachen will – mit Fantasie, Entschlossenheit und Mut kannst du deine eigene verrückte Geschichte selbst in die Hand nehmen und alles sein, was du willst. Die weltberühmten Kinderbücher von Roald Dahl erstmals in einer hochwertigen, farbig ausgestatteten Hardcover-Ausgabe, neu übersetzt von Andreas Steinhöfel sowie von Sabine und Emma Ludwig. Weitere Titel: Charlie und die Schokoladenfabrik, Matilda, James und der Riesenpfirsich, Der fantastische Mister Fox, Die Trottels, Das riesengroße Krokodil

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Seitenzahl: 183

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Mehr über Roald Dahl bei roalddahl.com

© der deutschen Ausgabe

2022 Penguin JUNIOR in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Text © The Roald Dahl Story Company Limited, 1983

ROALD DAHL ist ein eingetragenes Warenzeichen von The Roald Dahl Story Company Ltd.

Illustrationen © Quentin Blake, 1983, 2017

Kolorierung: Vida Kelly

Diese Ausgabe ist zuerst in England erschienen bei PUFFIN BOOKS,

Penguin Random House Ltd, 80 Strand, London WC2R 0RL

Covergestaltung: Miriam Wasmus

Coverillustration: Quentin Blake

ck · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a.A.

ISBN 978-3-641-28869-3V002www.penguin-junior.de

Für Liccy

Inhalt

Kapitel 1– Was man über Hexen wissen muss

Kapitel 2– Meine Großmutter

Kapitel 3– Woran man eine Hexe erkennt

Kapitel 4– Die Hexengroßmeisterin

Kapitel 5– Sommerferien

Kapitel 6– Die Tagung

Kapitel 7– Frittiert wie die Fritten

Kapitel 8– Formel 86 Verzögerungsmausmacher

Kapitel 9– Das Rezept

Kapitel 10– Das Verschwinden von Bruno Jenkins

Kapitel 11– Die Uralten

Kapitel 12– Verwandlung

Kapitel 13– Bruno

Kapitel 14– Hallo, Großmama

Kapitel 15– Die Einbrechermaus

Kapitel 16– Herr und Frau Jenkins bekommen Bruno vorgestellt

Kapitel 17– Der Plan

Kapitel 18– In der Küche

Kapitel 19– Herr Jenkins und sein Sohn

Kapitel 20– Der Triumph

Kapitel 21– Das Herz einer Maus

Kapitel 22– Frisch ans Werk!

Kapitel 1 Was man über HEXEN wissen muss

In Märchen tragen Hexen immer alberne schwarze Hüte und schwarze Umhänge, und sie reiten auf Besenstielen.

Aber das hier ist kein Märchen. Hier geht es um echte Hexen. Ihr erfahrt jetzt das Wichtigste, was ihr über echte Hexen wissen müsst. Also passt gut auf. Vergesst niemals, was jetzt kommt.

Echte Hexen tragen ganz normale Kleidung und sie sehen wie ganz normale Frauen aus. Sie leben in ganz normalen Häusern und sie haben ganz normale Berufe.

Deshalb kriegt man sie auch kaum zu fassen.

Eine echte Hexe hat für Kinder nur glühend heißen Hass übrig, und der ist glühender und heißer als jeder Hass, den man sich überhaupt vorstellen kann.

Eine echte Hexe schmiedet ununterbrochen Pläne, wie sie die Kinder aus ihrer näheren Umgebung loswerden kann. Es ist ihre größte Leidenschaft, sie plattzumachen, eins nach dem anderen. Sie denkt den lieben langen Tag an nichts anderes. Selbst wenn sie als Kassiererin in einem Supermarkt arbeitet, als Sekretärin in einem Büro Briefe tippt oder in einem schicken Auto durch die Gegend fährt (und sie könnte jedes dieser Dinge tun), heckt sie Pläne aus und schmiedet sie Ränke, und ihr Verstand flammt und fiebert und zischelt und zuckt, während sie sich die mörderischsten, blutrünstigsten Dinge ausmalt.

»Welches Kind«, fragt sie sich den ganzen Tag, »welches Kind genau nehme ich mir als nächstes vor, um es zu zermatschen?«

Das Zermatschen eines Kindes macht einer echten Hexe genauso viel Spaß wie euch das Auslöffeln eine Schälchens voller Erdbeeren mit Schlagsahne.

Sie versucht, im Schnitt etwa ein Kind pro Woche verschwinden zu lassen. Gelingt ihr das nicht, bekommt sie richtig schlechte Laune.

Ein Kind pro Woche, zweiundfünfzig im Jahr! Zerquetscht sie, zermatscht sie, und dann kocht sie gar!

So lautet das Motto aller Hexen.

Eine Hexe wählt ihr Opfer zunächst mit größer Sorgfalt aus. Anschließend verfolgt sie das unglückliche Kind, so heimlich, wie sich ein Jäger im Wald an ein Vögelchen heranschleicht. Ihre Schritte sind unhörbar. Ihre Bewegungen sind lautlos. Näher und näher kommt sie. Und schließlich, als alles so weit ist … pfffft! … stößt sie nieder! Funken stieben. Flammen lodern. Öl brodelt. Ratten kreischen. Haut schrumpelt. Und weg ist das Kind!

Eine Hexe, müsst ihr wissen, schlägt Kindern nicht den Schädel ein, durchbohrt sie mit einem Messer oder ballert sie mit einer Pistole ab. Menschen, die so etwas tun, werden von der Polizei erwischt.

Eine Hexe wird niemals erwischt. Vergesst nicht, dass Magie ihr bis in die Fingerspitzen reicht und dass ihr Blut überschäumt vor Teufeleien. Sie kann Steine zum Springen bringen wie Frösche und sie kann Flammen auf Wasser züngeln lassen.

Diese magischen Kräfte sind sehr beängstigend.

Zum Glück gibt es heutzutage nur noch sehr wenige echte Hexen auf der Welt. Aber doch immer noch beunruhigend genug. In England leben schätzungsweise etwa einhundert von ihnen. In manchen Ländern gibt es mehr, in anderen weniger. Kein Land der Welt ist völlig frei von Hexen.

Eine Hexe ist immer eine Frau.

Ich möchte nicht schlecht über Frauen reden. Die meisten Frauen sind überaus liebenswert. Dessen ungeachtet sind aber alle Hexen Frauen. So etwas wie eine männliche Hexe gibt es nicht.

Andererseits sind Menschenfresser immer männlich, genau wie Finsterhunde. Beide sind gefährlich. Aber keiner von beiden ist auch nur halb so gefährlich wie eine echte Hexe.

Was Kinder betrifft, so sind echte Hexen für sie die gefährlichsten Kreaturen auf der ganzen Welt. Gerade die Tatsache, dass sie so harmlos aussehen, macht sie doppelt gefährlich. Selbst wenn man um ihre Geheimnisse weiß (von denen ich euch gleich erzählen werde), kann man nie sicher sein, ob man gerade eine Hexe vor sich hat oder nur eine nette Dame. Wenn ein Tiger sich in einen großen, schwanzwedelnden Hund verwandeln könnte, würdet ihr euch ihm vermutlich ahnungslos nähern und ihm den Kopf tätscheln. Und das wäre dann euer Ende. Mit Hexen ist es nicht anders. Sie sehen allesamt aus wie nette Damen.

Seid einfach mal so nett und betrachtet dieses Bild. Welche der zwei Damen ist eine Hexe? Das ist eine kniffelige Frage, aber eine, die jedes Kind beantworten können sollte.

Nach alldem wäre es also durchaus möglich, dass gleich neben euch eine Hexe wohnt.

Sie könnte die Frau mit den leuchtenden Augen sein, die euch heute Morgen im Bus gegenübergesessen hat.

Sie könnte die Frau mit dem strahlenden Lächeln sein, die euch vor dem Mittagessen auf der Straße ein Bonbon aus einer weißen Papiertüte angeboten hat.

Sie könnte sogar – das wird euch jetzt erschrecken –, sie könnte sogar die überaus beliebte Lehrerin sein, die euch gerade in diesem Moment diese Worte vorliest. Betrachtet diese Lehrerin sehr sorgfältig. Kann sein, dass sie lächelt, als wäre das ein völlig unsinniger Verdacht. Aber lasst euch davon nicht täuschen. Vielleicht ist sie einfach nur unglaublich gerissen.

Selbstverständlich will ich euch nicht auch nur für eine Sekunde einreden, eure Lehrerin sei womöglich tatsächlich eine Hexe. Ich sage lediglich, dass sie eine sein könnte. Es ist höchst unwahrscheinlich. Aber – und hier kommt das ganz große »Aber« – es ist nicht unmöglich.

Ach, gäbe es doch eine Methode, um mit Sicherheit festzustellen, ob eine Frau eine Hexe ist oder nicht, dann könnten wir sie alle einfangen und durch den Fleischwolf drehen. Leider gibt es keine solche Methode. Aber wenigstens gibt es eine Reihe fast unmerklicher Zeichen, auf die ihr achten könnt, kleine, aber auffällige Besonderheiten, die allen Hexen zu eigen sind. Wenn ihr die kennt, wenn ihr sie euch gut merkt, dann entkommt ihr eventuell dem Zermatschen, bis ihr zu alt dafür geworden seid.

Kapitel 2 Meine GROSSMUTTER

Ich war noch keine acht Jahre alt, da hatte ich selber nacheinander zwei Begegnungen mit Hexen. Aus der ersten ging ich unversehrt hervor, bei der zweiten Gelegenheit hatte ich leider weniger Glück. Mir sind Sachen passiert, die euch wahrscheinlich kreischen lassen, wenn ihr sie lest. Das lässt sich nicht ändern. Die Wahrheit muss ans Licht. Dass ich überhaupt noch hier bin und zu euch sprechen kann (auch wenn ich dabei ein bisschen merkwürdig aussehe), ist einzig und allein meiner wunderbaren Großmutter zu verdanken.

Meine Großmutter ist Norwegerin. Die Norweger kennen sich mit Hexen bestens aus, denn von dort, aus Norwegen mit seinen düsteren Wäldern und eisigen Gebirgen, kamen die allerersten Hexen. Mein Vater und meine Mutter waren ebenfalls Norweger, aber weil mein Vater eine Firma in England leitete, war ich dort zur Welt gekommen, aufgewachsen und auf eine englische Schule gegangen. Zweimal im Jahr, zu Weihnachten und im Sommer, kehrten wir nach Norwegen zurück und besuchten meine Großmutter. Die alte Dame war, soweit ich das wusste, meine einzige verbliebene Verwandte von beiden Seiten der Familie. Sie war die Mutter meiner Mutter und ich liebte sie über alles. Wenn wir beisammen waren, sprachen wir entweder Norwegisch oder Englisch, das war egal. Wir beherrschten beide Sprachen fließend, und ich muss gestehen, dass ich mich meiner Großmutter näher fühlte als meiner Mutter.

Mein siebter Geburtstag war noch nicht lange her, da fuhren meine Eltern mich wie gewöhnlich über Weihnachten zu meiner Großmutter nach Norwegen. Und es geschah dort, als mein Vater und meine Mutter und ich bei Schnee und Eis nördlich von Oslo unterwegs waren, dass unser Auto schlitternd von der Straße abkam und sich einen felsigen Abhang hinab überschlug. Meine Eltern waren auf der Stelle tot. Ich hatte fest angeschnallt auf der Rückbank gesessen und bekam nur einen Kratzer auf der Stirn ab.

Von diesem entsetzlichen Nachmittag werde ich nicht erzählen. Mir läuft es immer noch kalt den Rücken herab, wenn ich nur daran denke. Zuletzt war ich dann, natürlich, wieder im Haus meiner Großmutter, die mich fest in den Armen hielt, während wir beide die ganze Nacht hindurch weinten.

»Was machen wir jetzt bloß?«, fragte ich sie unter Tränen.

»Du bleibst hier bei mir«, sagte sie, »und ich kümmere mich um dich.«

»Muss ich nicht zurück nach England?«

»Nein«, sagte sie. »Das bringe ich nicht fertig. Meine Seele mag dem Himmel gehören, aber mein Fleisch und Blut gehört Norwegen.«

Bereits am nächsten Tag begann meine Großmutter, mir Geschichten zu erzählen, um uns beide von unserer Traurigkeit abzulenken. Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin, die mich wirklich zu fesseln verstand. Aber so richtig aufregend wurde es erst, als sie auf Hexen zu sprechen kam. Ganz offensichtlich war sie, wenn es um diese Geschöpfe ging, eine regelrechte Expertin, und sie ließ nicht den leisesten Zweifel aufkommen, dass diese Hexengeschichten, anders als alle anderen, keinesfalls erfunden waren. Sie entsprachen allesamt der Wahrheit. Der wirklichen Wahrheit. Sie waren Geschichte. Was auch immer sie mir über Hexen erzählte, war tatsächlich geschehen, und ich tat besser daran, ihr das gefälligst zu glauben. Schlimmer, viel schlimmer war allerdings die Tatsache, dass es Hexen noch immer gab. Sie lebten mitten unter uns, und ich tat noch besser daran, ihr auch das zu glauben.

»Ist das wirklich die Wahrheit, Großmama? Die wirkliche echte Wahrheit?«

»Schätzchen«, sagte sie, »du wirst in dieser Welt nicht allzu lange überleben, wenn du nicht weißt, wie man eine Hexe erkennt, wenn man sie sieht.«

»Aber du hast gesagt, Hexen sähen wie ganz normale Frauen aus, Großmama. Wie soll ich sie dann erkennen?«

»Hör einfach zu«, sagte meine Großmutter. »Das, was ich dir jetzt sage, darfst du niemals vergessen. Und dann bleibt dir bloß noch Hoffen und Beten.«

Wir saßen im großen Wohnzimmer in ihrem Haus in Oslo und ich war schon bereit fürs Zubettgehen. Im ganzen Haus wurden niemals die Vorhänge zugezogen, und durch die Fenster sah ich große Schneeflocken auf eine Welt hinabtrudeln, die in tiefstes Schwarz gehüllt war. Meine Großmutter war unglaublich alt und runzlig, ihr ausladender, schwerer Körper verhüllt von unzähligen Schichten grauer Spitze. So saß sie majestätisch in ihrem Lehnstuhl, der unter ihr völlig verschwand. Nicht mal eine Maus hätte sich noch zu ihr quetschen können. Ich selber, gerade sieben Jahre alt, kauerte auf dem Fußboden zu ihren Füßen, in Schlafanzug, Morgenmantel und Hausschuhen.

»Schwörst du, dass du mich nicht auf den Arm nimmst?«, drängte ich sie. »Schwörst du, dass du dir das nicht alles bloß ausdenkst?«

»Pass mal auf«, sagte sie. »Ich kenne nicht weniger als fünf Kinder, die einfach so vom Angesicht dieser Erde verschwunden sind und nie wieder gesehen wurden. Sie wurden alle von den Hexen geholt.«

»Ich glaube immer noch, du willst mir nur Angst machen«, sagte ich.

»Was ich will«, sagte sie, »ist, sicherzustellen, dass es dir nicht genauso ergeht. Ich liebe dich, und ich möchte, dass du bei mir bleibst.«

»Erzähl mir von den verschwundenen Kindern«, sagte ich.

Meine Großmutter war die einzige mir bekannte Großmutter, die Zigarren rauchte. Jetzt zündete sie eine an, eine lange schwarze Zigarre, die nach verbranntem Gummi stank. »Das erste Kind, das ich kannte und das verschwand, hieß Ranghild Hansen. Ranghild war zu dieser Zeit etwa acht und sie spielte mit ihrer kleinen Schwester draußen im Garten. Ihre Mutter, die in der Küche beim Brotbacken war, kam raus, um frische Luft zu schnappen.

›Wo ist denn Ranghild?‹, fragte sie.

›Die ist mit der großen Frau weggegangen‹, sagte die kleine Schwester.

›Was für eine große Frau?‹, sagte die Mutter.

›Die große Frau mit den weißen Handschuhen‹, sagte die kleine Schwester. ›Sie hat Ranghild bei der Hand genommen und ist mit ihr weggegangen.‹«

»Und niemand«, sagte meine Großmutter, »hat Ranghild je wiedergesehen.«

»Haben sie denn nicht nach ihr gesucht?«, fragte ich.

»Im Umkreis von vielen, vielen Kilometern. Die ganze Stadt half bei der Suche, aber sie wurde nie gefunden.«

»Was geschah mit den anderen vier Kindern?«, fragte ich.

»Sie verschwanden genau wie Ranghild.«

»Wie denn, Großmutter? Wie verschwanden sie?«

»Jedes Mal wurde, kurz bevor es geschah, eine merkwürdige Dame draußen vor dem Haus gesehen.«

»Aber wie verschwanden sie denn?«

»Der zweite Fall war sehr seltsam«, sagte meine Großmutter. »Da gab es diese Familie namens Christiansen. Sie lebten oben in Holmenkollen, und in ihrem Wohnzimmer hing ein Ölgemälde, auf das sie sehr stolz waren. Das Gemälde zeigte ein paar Enten auf einem Bauernhof. Menschen waren auf dem ganzen Gemälde keine zu sehen, bloß diese Handvoll Enten auf einem Flecken Rasen und im Hintergrund das Bauernhaus. Es war groß, das Gemälde, und recht hübsch. Nun ja, eines Tages kam ihre Tochter Solveg aus der Schule nach Hause, sie kaute einen Apfel. Sie sagte, den hätte ihr eine nette Dame auf der Straße geschenkt. Am nächsten Morgen lag Solveg nicht in ihrem Bett. Ihre Eltern suchten überall nach ihr, konnten sie jedoch nirgends finden. Aber plötzlich schrie ihr Vater: ›Da ist sie! Da ist Solveg, sie füttert die Enten!‹ Er zeigte auf das Ölgemälde, und was soll ich dir sagen, Solveg war tatsächlich darin zu sehen. Sie stand mitten auf dem Hof und warf den Enten Brotstückchen aus einem Korb zu. Der Vater stürzte auf das Bild zu und berührte sie. Aber es half nichts. Sie war zu einem Teil des Gemäldes geworden, nicht mehr als ein auf Leinwand gepinseltes Bild.«

»Hast du dieses Gemälde mit dem kleinen Mädchen drauf jemals gesehen, Großmama?«

»Mehr als nur einmal«, sagte meine Großmutter. »Und das Sonderbare ist, dass Solveg ständig ihren Standort in dem Bild wechselte. Einmal befand sie sich sogar drinnen im Bauernhaus und man sah sie zum Fenster rausschauen. Ein andermal stand sie am äußersten linken Bildrand, wo sie eine Gans auf den Armen hielt.«

»Hast du gesehen, wie sie sich in dem Gemälde herumbewegt hat, Großmutter?«

»Das hat keiner je gesehen. Wo auch immer sie auftauchte, ob draußen beim Entenfüttern oder drinnen, aus dem Fenster schauend, blieb sie doch immer unbewegt, nur eine in Ölfarbe gemalte Figur. Das war alles sehr merkwürdig«, sagte meine Großmutter. »Wirklich mehr als merkwürdig. Und am allermerkwürdigsten war, dass sie, während die Jahre vergingen, in dem Bild immer älter wurde. Nach zehn Jahren war aus dem Mädchen eine junge Frau geworden, nach dreißig Jahren eine Frau mittleren Alters. Und dann, plötzlich, vierundfünfzig Jahre, nachdem all dies seinen Anfang genommen hatte, war sie auf einmal aus dem Gemälde verschwunden.«

»Du meinst, sie ist gestorben?«, sagte ich.

»Wer weiß?«, sagte meine Großmutter. »In der Welt der Hexen geschehen die sonderbarsten Dinge.«

»Das waren jetzt zwei, von denen du erzählt hast«, sagte ich. »Was passierte denn mit der dritten?«

»Die dritte war die kleine Birgit Svenson«, sagte meine Großmutter. »Sie wohnte in unserer Straße, gleich gegenüber. Eines Tages begannen ihr am ganzen Körper Federn zu wachsen. Nach einem Monat hatte sie sich in ein großes weißes Huhn verwandelt. Ihre Eltern hielten sie jahrelang in einem Freigehege im Garten. Sie legte sogar Eier.«

»In welcher Farbe?«, sagte ich.

»Braune«, sagte meine Großmutter. »Die größten, die ich je im Leben gesehen habe. Ihre Mutter buk Omeletts daraus. Richtig lecker waren die.«

Ich schaute rauf zu meiner Großmutter, die wie eine steinalte Königin über mir auf ihrem Thron saß. Ihre Augen waren von nebelhaftem Grau und schienen auf irgendetwas gerichtet, das weit, weit entfernt war. Nichts wirkte real an ihr in diesem Moment, nur die Zigarre und deren Rauch, der in bläulichen Schwaden um ihren Kopf waberte.

»Das kleine Mädchen, das in ein Huhn verwandelt wurde, verschwand aber nicht?«, sagte ich.

»Nein, Birgit nicht. Sie lebte noch viele Jahre lang und legte ihre braunen Eier.«

»Aber du hast gesagt, alle Kinder wären verschwunden.«

»Dann habe ich mich halt getäuscht. Ich werde alt. Ich kann mich nicht mehr richtig an alles erinnern.«

»Was geschah denn mit dem vierten Kind?«, sagte ich.

»Das vierte war ein Junge namens Harald«, sagte meine Großmutter. »Eines Morgens begann seine Haut sich zu verändern und wurde gräulich-gelb. Dann wurde sie hart und rissig wie eine Nussschale. Bis zum Abend hatte der Junge sich in Stein verwandelt.«

»In Stein?«, sagte ich. »Du meinst, in echten Stein?«

»Granit«, sagte sie. »Wenn du willst, kann ich ihn dir mal zeigen. Er steht immer noch bei ihnen zu Hause herum, im Flur, eine kleine steinerne Statue. Besucher stellen ihre Regenschirme an ihm ab.«

Ich war vielleicht jung, aber das bedeutete nicht, dass ich alles glaubte, was meine Großmutter mir erzählte. Allerdings sprach sie mit solcher Überzeugungskraft, mit einem so tiefen Ernst, und ohne dass auch nur das kleinste Lächeln, das winzigste Aufblitzen der Augen ihre Miene erhellte, dass ich langsam unsicher wurde.

»Erzähl weiter, Großmutter«, sagte ich. »Du hast gesagt, es wären fünf Kinder gewesen. Was geschah mit dem letzten?«

»Würdest du gerne mal an meiner Zigarre paffen?«, sagte sie.

»Ich bin erst sieben, Großmutter.«

»Mir doch egal, wie alt du bist«, sagte sie. »Zigarren zu rauchen, ist gut gegen Erkältungen.«

»Was war denn nun mit Nummer fünf, Großmama?«

»Nummer fünf«, sagte sie und kaute dabei auf ihrer Zigarre herum wie auf einer köstlichen Spargelstange, »war ein ziemlich interessanter Fall. Ein neunjähriger Junge namens Leif machte Sommerferien mit seiner Familie an einem Fjord, und dort picknickten sie und badeten zwischen den Felsen vor einer dieser kleinen Inseln. Der kleine Leif tauchte, und seinem Vater, der ihn beobachtete, fiel auf, dass er ungewöhnlich lange unter Wasser blieb. Als er endlich wieder auftauchte, war er nicht mehr Leif.«

»Was war er denn, Großmutter?«

»Er war ein Tümmler.«

»War er nicht! So was gibt’s ja gar nicht!«

»Er war ein prächtiger junger Tümmler«, sagte sie. »Und so freundlich, wie man nur sein konnte.«

»Großmama«, sagte ich.

»Ja, mein Schatz?«

»Hat er sich ganz wirklich in einen Tümmler verwandelt?«

»Wirklich und wahrhaftig«, sagte sie. »Seine Mutter und ich waren gute Bekannte. Sie berichtete mir alles. Sie erzählte, wie Leif der Tümmler den ganzen Nachmittag bei ihnen blieb und seine Brüder und Schwestern auf sich reiten ließ. Sie hatten unglaublich viel Spaß miteinander. Dann winkte er ihnen mit einer Flosse zu, schwamm davon und ward nie mehr gesehen.«

»Aber Großmama«, sagte ich. »Woher wussten sie denn, dass der Tümmler in Wirklichkeit Leif war?«

»Weil er mit ihnen geredet hat«, sagte meine Großmutter. »Die ganze Zeit, während er sie auf sich reiten ließ, lachte er und machte Witze.«

»Aber es muss doch einen riesigen Wirbel gegeben haben, als das geschah«, sagte ich.

»Eigentlich kaum«, sagte meine Großmutter. »Du darfst nicht vergessen, dass wir hier in Norwegen an solche Dinge gewöhnt sind. Hexen gibt es überall. Womöglich wohnt gerade jetzt eine genau hier in unserer Straße. So, und jetzt ist es Zeit fürs Bett.«

»Es kommt doch keine Hexe heute Nacht durch mein Fenster, oder?«, sagte ich mit ein wenig zitternder Stimme.

»Nein«, sagte meine Großmutter. »Eine Hexe würde niemals an Regenrohren raufklettern, bei den Leuten in Häuser einbrechen oder ähnlichen Blödsinn veranstalten. Unter deiner Decke bist du sicher. Nun komm, ich bring dich ins Bett.«

Kapitel 3 Woran man eine HEXE erkennt

Nachdem meine Großmutter mich am nächsten Abend gebadet hatte, nahm sie mich mit ins Wohnzimmer und erzählte weiter.

»Heute«, sagte die alte Frau, »werde ich dir erzählen, woran man eine Hexe erkennt, wenn man einer begegnet.«

»Und das klappt jedes Mal?«

»Nein«, sagte sie, »tut es nicht. Und genau das ist das Problem. Aber du kannst es wenigstens eingrenzen.«

Überall auf ihrem Schoß landete Zigarrenasche, und ich konnte nur hoffen, dass sie sich nicht selber abfackelte, bevor sie mir erklärt hatte, woran man eine Hexe erkannte.

»Zunächst einmal«, sagte sie, »wird eine echte Hexe immer Handschuhe tragen, wenn du sie triffst.«

»Bestimmt nicht immer«, sagte ich. »Was ist denn im Sommer, wenn es heiß ist?«

»Sogar im Sommer«, sagte meine Großmutter. »Es bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig. Willst du wissen, warum?«

»Warum?«, sagte ich.

»Weil sie keine Fingernägel hat. Anstelle von Fingernägeln hat sie gebogene Krallen wie eine Katze, und damit die keiner sieht, trägt sie Handschuhe. Allerdings tragen jede Menge ehrenhafter Frauen Handschuhe, besonders im Winter, das ist also leider keine große Hilfe.«

»Mama hat Handschuhe getragen«, sagte ich.

»Aber nicht zu Hause«, sagte meine Großmutter. »Hexen tragen ihre Handschuhe sogar in der Wohnung. Sie ziehen sie nur zum Schlafengehen aus.«

»Woher weißt du das alles, Großmama?«

»Unterbrich mich nicht«, sagte sie. »Hör mir lieber genau zu. An zweiter Stelle musst du dir merken, dass eine echte Hexe grundsätzlich kahlköpfig ist.«

»Sie hat eine Glatze?«, sagte ich.

»Glatt wie ein Kinderpopo.«

Das haute mich um. Eine Frau mit Glatze, das fühlte sich irgendwie unpassend an. »Warum haben sie Glatzen, Großmama?«