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Alfred Bekker Hexenmacht – Drei Romane mit Patricia Vanhelsing Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht. www.AlfredBekker.de INHALT Ein Hauch aus dem Totenland Hexenkabinett Hexenrache Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle. In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
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Seitenzahl: 375
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Alfred Bekker
Hexenmacht – Drei Romane
mit Patricia Vanhelsing
Ein CassiopeiaPress E-Book
© 1996 by Alfred Bekker
© 2013 der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
1. digitale Auflage 2014 Zeilenwert GmbH
ISBN 9783956173387
Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.
www.AlfredBekker.de
Cover
Titel
Impressum
Patricia Vanhelsing
Ein Hauch aus dem Totenland
Hexenkabinett
Hexenrache
Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.
Der Mann mit dem graumelierten Haar und den wässrig-blauen Augen war auf der Flucht.
Die Furcht saß Sir Gilbert Goram im Nacken. Seine Hände waren kalt und schweißnass, sein Puls raste. Während er mit der leichten Reisetasche in der Linken durch den Zug ging, blickte er sich immer wieder nach allen Seiten um.
Aber er - sein unbarmherziger Verfolger - war nirgends zu sehen.
Ich habe es fast geschafft!, versuchte er sich einzureden.
Dies war der Nachtzug von Plymouth nach London, der heute nicht besonders stark belegt zu sein schien. Sir Gilbert suchte sich ein leeres Abteil und stellte seine Tasche achtlos auf einen der Sitze. Sein Blick ging aus dem Fenster.
Er beobachtete aufmerksam die Menschen auf dem Bahnsteig.
Seine Augen wurden schmal und die Gesichtszüge wirkten angespannt.
Ich bin der Letzte!, dachte Sir Gilbert und es schauderte ihn bei diesem Gedanken. Der Letzte, auf den er es abgesehen hatte. Aber mich wirst du nicht bekommen!, ging es trotzig durch Sir Gilberts Kopf, wobei er unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte.
Draußen auf dem Bahnsteig wurde es hektisch. Die letzten Fahrgäste bestiegen den Zug. Für einen kurzen Moment sah Sir Gilbert eine finstere Gestalt in der Menge, gekleidet in einen langen dunklen Regenmantel und mit einer Mütze auf dem Kopf, deren Schirm einen Schatten auf das bleiche Gesicht warf.
Die Gestalt wirkte, als würde sie etwas suchen.
Oder jemanden.
Sir Gilbert trat etwas zur Seite. Er wollte nicht, dass man ihn durch das Fenster sehen konnte.
Angst kroch ihm eiskalt den Rücken hinauf. Er sank wie betäubt in den Sitz und saß dann ziemlich zusammengesunken und mit aschfahlem Gesicht da.
Dann gab es einen Ruck.
Endlich!, dachte Sir Gilbert.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Er wurde immer schneller.
Der Bahnhof von Plymouth blieb zurück, schließlich auch die Stadt und dann war nur noch eine hügelige Landschaft zu sehen, über die sich wie grauer Spinnweben die Dämmerung gelegt hatte.
Sir Gilbert fühlte Erleichterung.
Er erhob sich und begann dann, die Liegen auszuklappen.
Eigentlich hatte er einen Schlafwagenabteil haben wollen, aber dazu war seine Flucht zu überstürzt von statten gegangen. Es war alles schon besetzt gewesen. So musste er mit einem Liegewagen Vorlieb nehmen.
Jemand öffnete mit einem gewaltigen Ruck die Abteiltür. Sir Gilbert wirbelte erschrocken herum und blickte in die dunkelbraunen Augen eines sommersprossigen Mittdreißigers.
"Guten Abend!"
"Guten Abend", erwiderte Sir Gilbert.
"Ist hier noch was frei?"
"Tut mir leid. Ich meine …"
"Ich verstehe schon!", erwiderte der Sommersprossige etwas beleidigt. "Naja, ist ja heute genug Auswahl. Wissen Sie, ich nehme diesen Zug zweimal die Woche und besonders am Freitag bekommt man nicht einmal mehr einen Stehplatz auf dem Flur. Aber heute …"
Er ging weiter und Sir Gilbert atmete auf. Er wollte jetzt niemanden um sich haben. Mit zwei schnellen Handgriffen hatte er die Rollos seines Abteils heruntergezogen, so dass man vom Flur aus nicht mehr hineinsehen konnte.
Vielleicht habe ich es jetzt überstanden!, dachte er bei sich, während er etwas nervös auf und ab ging. Und dann fiel ihm ein, dass er sich noch nicht überlegt hatte, was er tun sollte, sobald er in London angelangt war.
Er hatte keinerlei Pläne.
Einzig und allein der Gedanke, dass er so schnell und so weit wie möglich weg musste, beherrschte ihn. Er hatte seine Kreditkarten in der Innentasche seines Jacketts. Geld würde zunächst für ihn kein Problem sein. Warum nicht einfach einen Flieger nach Kanada oder Australien nehmen?, ging es ihm durch den Kopf. Je weiter weg, desto besser. Am besten, er nahm das erste Flugzeug, das einen Platz für ihn frei hatte …
Und dann?
Eins nach dem anderen!, sagte er sich. Er konnte jetzt keine großen Pläne machen. Er war noch am Leben - mehr konnte er nicht verlangen.
Und das war bereits erstaunlich genug, wenn man an den schauderhaften Verfolger dachte, der hinter ihm her war.
Keine Macht der Welt konnte Sir Gilbert vor ihm schützen und insgeheim wusste der Landadlige aus Cornwall, dass seine Flucht eine hoffnungslose Sache war.
An der Abteiltür klopfte es.
"Ja?", fragte Sir Gilbert wie automatisch, während ihm gleichzeitig die Knie zitterten.
War es der Schaffner? Oder kam der sommersprossige Mittdreißiger zurück, weil er doch nirgendwo anders einen freien Platz gefunden hatte?
Oder …
Sir Gilbert wagte dies nicht einmal zu Ende zu denken.
Die Tür ging auf und es war, als ob ein eiskalter Atem hereinblasen würde, ein eisiger Hauch, der binnen eines Augenaufschlags das gesamte Abteil zu erfüllen schien. Sir Gilbert fühlte, wie eine Gänsehaut seinen Körper überzog.
Starr vor Schreck blickte Sir Gilbert auf die hoch aufragende, breitschultrige Gestalt, die in der Tür stand.
Die Gestalt sah aus wie ein Seemann.
Der dunkle Mantel wirkte abgetragen, die Schirmmütze etwas fleckig.
Das Gesicht war bleich und von unzähligen Falten durchzogen. Ein hartes, kantiges Männergesicht, das einerseits so wirkte, als sei es vom Wetter gegerbt worden, das aber andererseits von einer ungesunden Blässe war.
Der Mund mit den dünnen, aufgesprungenen Lippen war zunächst ein gerader Strich, dann verzog er sich leicht, wie zu einem halb höhnischen, halb triumphalen Lächeln.
"Nein!", flüsterte Sir Gilbert mit fast tonloser Stimme.
"Nein …" Er fühlte sich so entsetzlich kraftlos, so als hätte eine geheimnisvolle Macht ihm von einem Augenblick zum anderen den letzten Rest an Energie und Überlebenswillen geraubt …
Eine grausame Erkenntnis stieg in ihm auf.
Es ist zu Ende!, ging es ihm durch den Kopf, während sich seine Augen fast unnatürlich weiteten.
"Niemand kann seinem Schicksal entgehen, Gilbert Goram", wisperte der bleiche Fremde indessen. "Wussten Sie das nicht? Haben Sie es nicht wenigstens geahnt?"
"Ich will nicht …"
Sir Gilbert kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Der Düstere schloss die Abteiltür hinter sich und trat einen Schritt auf Sir Gilbert zu. Schon in der nächsten Sekunde wurde Sir Gilbert von einer knorrigen Hand am Arm gepackt, einer Hand, von der eine schier unmenschliche Kälte auszugehen schien.
Gleichzeitig fühlte Sir Gilbert, wie der frostige Atem des Fremden ihn anblies.
Der kalte Hauch des Todes ließ Sir Gilberts Blick noch im selben Moment zu einer Maske reinen Entsetzens gefrieren.
*
"Nicht einschlafen, Patricia", sagte Jim und lachte mich dabei herausfordernd an. Ich hatte das Gähnen einfach nicht unterdrücken können.
Wir hatten eine anstrengende Bahnfahrt von Glasgow nach London hinter uns und waren hundemüde.
In Glasgow hatten wir Stella Jordan, eine alternde Filmdiva, in ihrer Villa besucht. Die London Express News, jene Zeitung, bei der ich als Reporterin und Jim als Fotograf angestellt waren, plante eine große Reportage über die Jordan. Einen Teil des Textes hatte ich bereits während der Fahrt mit dem Nachtzug in die Tasten meines Laptops gehackt, den Rest würde ich schreiben, sobald ich ein paar Stunden geschlafen hatte und wieder im Vollbesitz meiner Kräfte war.
Natürlich ging es bei der Sache um Zeit, so wie meistens in unserer Branche. Auch andere Blätter würden in nächster Zeit Geschichten über die Jordan bringen, spätestens wenn ihr neuester Film in die Kinos kam - der erste seit über zehn Jahren.
"Manchmal denke ich, ich habe mich falsch entschieden …", murmelte ich gedankenverloren.
Jim hob die Augenbrauen und sah mich mit seinen blauen Augen erstaunt an.
"Wovon sprichst du?"
"Na davon, dass ich auch Fotograf hätte werden sollen, anstatt mich der schreibenden Zunft anzuschließen! Dann hätte ich meine Arbeit jetzt schon so gut wie fertig!"
"Wahre Fotokunstwerke entstehen erst im Labor", verriet Jim mir sein Berufsgeheimnis.
Jim Field und ich waren beide 26 und alles in allem ein sehr gutes Team, jedenfalls was das Berufliche anging. Auch wenn Jim vielleicht hoffte, dass eines Tages mehr daraus werden könnte, so gingen wir privat getrennte Wege. Auf den ersten Blick wirkte Jim recht unkonventionell. Seine blonden Haare hätten dringend einen Frisör gebraucht, seine Jeans waren schon oft genug geflickt worden, um langsam den Status eines musealen Ausstellungsstücks zu erlangen und das Revers seiner Jacke hatte sichtlich darunter gelitten, dass er ständig eine Kamera um den Hals trug.
Er war spontan und witzig, aber sicherlich nicht der Typ Mann, der auf den Gedanken kam, einer Frau in den Mantel zu helfen oder ihr Blumen zu schenken.
Unser Zug hielt mit einem Ruck. Schon gleich, als wir den Zug verließen, hatte ich es im Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmte.
Auf dem gegenüberliegenden Gleis stand der Nachtzug aus Plymouth, wenn man der Anzeigentafel glauben schenken konnte.
Einige Bahnangestellte eilten nervös umher. Ich bemerkte dann auch Polizisten. Mindestens ein halbes Dutzend Uniformierter patrouillierte da herum.
Dazu kamen noch Beamte in Zivil.
"Da ist irgend etwas passiert", stellte ich nüchtern fest.
"Komm, lass uns weitergehen", beschwor Jim mich. Jetzt war er es, der gähnte. Kein Wunder, schließlich waren wir auch schon eine ganze Weile auf den Beinen und hatten seitdem kaum eine einzige Ruhepause gehabt.
Ich ging auf den Zug aus Plymouth zu und schulterte dabei meine Tasche, in der ich mein Laptop und meine Unterlagen sowie einige Reiseutensilien untergebracht hatte.
Jim folgte mir etwas widerwillig.
"Wir haben Feierabend", knurrte er. "Soll heute die Welt untergehen - meinetwegen können andere darüber berichten!"
"So etwas lass nie Michael T. Swann hören", erwiderte ich.
Michael T. Swann war unser leicht cholerischer, aber ansonsten recht sympathischer Chefredakteur.
Er konnte recht ungemütlich werden, aber so war er eigentlich nur deswegen, weil er mit ganzer Seele dafür lebte, dass die London Express News eine gute Zeitung blieb.
Swann war Perfektionist und Perfektionisten können eben mitunter anstrengend sein. Ich ließ mich nicht beirren.
"Was ist hier passiert?", fragte ich einen der Beamten.
"Ma'am, gehen Sie bitte weiter und machen Sie kein Aufsehen", kam die kühle Erwiderung des Uniformierten.
"Hat keinen Zweck, Patti", raunte Jim mir zu. Aber ich wäre eine schlechte Reporterin gewesen, wenn ich mich derart leicht hätte abwimmeln lassen.
Ich setzte noch einmal an, aber als ich den Mund halb geöffnet hatte, sah ich aus dem Zug einen alten Bekannten treten.
Es war Inspektor Craven von Scotland Yard.
Ich kannte ihn durch meine Recherchen an verschiedenen Mordfällen. Vermutlich mochte er mich nicht besonders, aber inzwischen, so glaubte ich zumindest, respektierte er mich wenigstens.
Jedenfalls begrüßte er mich freundlich.
"Na, was suchen Sie hier? Sagen Sie nicht, es wäre Zufall, dass die London Express News gleich mit zwei Leuten zur Stelle ist …"
"Es ist tatsächlich Zufall. Was ist passiert?"
Er verzog das Gesicht, während Jim die Gelegenheit bereits nutzte und ein paar Bilder machte. Man konnte ja nie wissen …
"Hören Sie, Miss Vanhelsing. Bin ich vielleicht eine Auskunftei?", nörgelte Craven.
"Nun, die Tatsache, dass Sie hier sind, heißt, dass es einen Toten im Zug gab."
"Das kann ich nicht bestreiten", sagte Craven gedehnt. In diesem Moment trat ein Mann mit grauem Haarkranz und Vollbart aus dem Zug heraus. Der Tasche nach, die er in der Rechten hielt, war er Arzt.
"Inspektor?", fragte er und Craven wandte sich sofort zu ihm herum. "Also ich bin etwas in Eile und Genaues kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen …"
"Wie üblich", brummte Craven.
"…aber ich nehme an, dass die Todesursache Herzversagen war."
"Also kein Fall für uns", stellte Craven fest.
"Rätselhaft ist die Sache schon", erwiderte der Arzt in gedämpftem Tonfall. "Der Tote hatte Erfrierungen an Nase und Ohren, obwohl in dem Liegewagenabteil eine ganz normale Temperatur herrschte, so um achtzehn, zwanzig Grad würde ich sagen. Wenn ich den Mann unter anderen Umständen gefunden hätte, würde ich vermuten, dass die Unterkühlung der Grund für den Herzstillstand war."
"Sie meinen, der Mann ist erfroren?", fragte Craven mit ungläubigem Staunen in der Stimme.
Der Arzt zuckte die breiten Schultern. "Ein Erfrierungsfall, wie er im Lehrbuch steht, wenn Sie mich fragen. Allerdings, wenn man die Umstände berücksichtigt, ist das natürlich völlig unmöglich. Ich lege mich nicht gerne fest, was den Zeitpunkt angeht, zu dem der Tod eingetreten ist, aber eins steht fest: Der Mann muss sich bereits im Zug befunden haben, als er starb. Schließlich ist er seiner Fahrkarte nach ja schon in Plymouth eingestiegen."
Craven nickte.
"So ist es. Das bedeutet also, dass die Leiche nicht aus irgend einem Kühlhaus - oder einem anderen kalten Ort - in den Zug transportiert wurde."
"Dafür erkenne ich keine Anhaltspunkte."
"Ich danke Ihnen."
"Wiedersehen, Inspektor."
Der Arzt ging an Inspektor Craven vorbei, sah mich kurz an, so als würde er einen Moment lang überlegen, ob er mich vielleicht von irgendwoher kannte und entfernte sich dann mit schnellen Schritten.
"Wer war der Tote?", fragte ich. "Die ganze Sache klingt ja ziemlich mysteriös …" Ich setzte das charmanteste Lächeln auf, das ich im Augenblick noch zu Stande bringen konnte und setzte dann noch hinzu: "Nun seien Sie nicht so, Inspektor. Eine Hand wäscht die andere. Ich werde mich schon bei passender Gelegenheit revanchieren, schließlich gibt es auch Informationen, an die wir von der Presse leichter herankommen als Sie!"
Craven seufzte.
"Der Mann hatte einen Ausweis bei sich. Er hieß Gilbert Goram und kam aus Glenmore in Cornwall. Sir Gilbert Goram, um genau zu sein."
"Und was ist Ihrer Meinung nach passiert?"
Craven hob die breiten Schultern und zog den Kopf ein.
"Tut mir leid, Miss Vanhelsing, habe ich habe nicht einmal den Hauch einer Ahnung. Im Zug erfroren sein kann er nicht, dazu war es nun wirklich entschieden zu warm. Außerdem haben Sie ja die Aussage des Arztes gerade eben mitbekommen …"
"Kann ich mir das Abteil von Sir Gilbert mal ansehen?"
Ich wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm sein Schweigen als Zustimmung und ging an ihm vorbei in den Zug. Als Jim mir folgen wollte, hielt Craven ihn jedoch zurück.
"Sie nicht!", erklärte er bestimmt.
Jim wirkte etwas verwirrt und sah hilflos in meine Richtung.
"Aber …", stammelte er.
Craven blickte ebenfalls in meine Richtung und erläuterte dann seine Entscheidung.
"Ich habe nichts dagegen, wenn Sie darüber schreiben, Miss Vanhelsing. Ungewöhnliche Vorfälle sind ja Ihre Spezialität. Aber ich will nicht, das Bilder von dem Toten gemacht werden!"
Jim wollte protestieren, aber ich warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf.
"Ist schon gut", meinte ich.
Jim zuckte die Achseln.
"Wie du meinst!"
"Ein Mindestmaß an Pietät sollte schließlich gewahrt bleiben", hörte ich Inspektor Craven dann sagen. Er schien das völlig ernst zu meinen, obwohl gerade er sich nicht durch übertriebenes Feingefühl auszeichnete.
Ich ging durch den schmalen Gang an den Abteilen entlang.
Craven folgte mir dicht auf.
Ein Beamter der Spurensicherung quetschte sich an mir vorbei. Er hatte noch seine Plastik- Handschuhe an und meinte an den Inspektor gewandt, dass sie jetzt so gut wie fertig wären.
Dann erreichte ich das Abteil, in dem Gilbert Goram allem Anschein nach auf äußerst rätselhafte Weise gestorben war.
Der Tote saß zusammengesunken in einer Ecke. Die Augen waren weit aufgerissen. Sein Gesicht wirkte wie das eines Menschen, der dem absoluten Entsetzen begegnet war …
Dieser Anblick jagte mir einen eisigen Schauder über den Rücken.
Ich musste schlucken.
Dann sah ich unwillkürlich zu Boden,vielleicht nur um dem starren Blick des Toten auszuweichen.
Dort war etwas Dunkles.
Ein Fleck …
"Was ist das?", fragte ich, nachdem ich mich niedergebeugt hatte. Jetzt sah es auch Craven.
"Sieht aus wie ein getrockneter Blutfleck“, meinte er.
"War Sir Gilbert denn verletzt?"
"Nein …"
Mein Blick glitt suchend über den Boden. Kurz vor der Abteiltür sah ich dann im Flur einen weiteren Fleck. Der Fußboden war nicht besonders sauber und deswegen konnte man den Fleck auf den ersten Blick leicht übersehen … Dutzende von Fußabdrücken waren zu erkennen. Ich machte ein paar Schritte zurück, sehr vorsichtig, um nicht noch mehr Spuren zu zerstören …
Offenbar waren Cravens Leute einzig und allein an Sir Gilberts Abteil interessiert gewesen. Aber das schien ein Fehler gewesen zu sein. Schon wenige Meter weiter hatte ich einen weiteren Fleck entdeckt und wies den Inspektor darauf hin.
"Es sieht aus wie eine Spur", murmelte ich. "Eine Spur, die direkt zu Sir Gilberts Abteil führt …"
"Ich weiß nicht", erwiderte Craven etwas unschlüssig und kratzte sich dabei nachdenklich am Kinn. "Es ist genauso gut möglich, dass diese Flecken gar nichts mit Gilbert Gorams Tod zu tun haben!"
"Untersuchen würde ich Sie trotzdem!"
"Wissen Sie was, Miss Vanhelsing? Wir werden gut miteinander auskommen, wenn Sie Ihre Arbeit tun und mich die meine machen lassen. In Ordnung?"
Ich sah ihn an und nickte dann.
"In Ordnung", erwiderte ich. Craven würde mir gegenüber kaum zugeben, dass ich recht hatte, aber ich konnte davon ausgehen, dass er seine Spurensicherer zusammenstauchen würde, sobald ich nicht mehr dabei war.
Als ich wenig später den Zug verließ, sah ich, dass auch auf einer Trittstufe ein solcher Fleck war. Ich blieb kurz stehen.
Vor meinem inneren Auge formte sich unwillkürlich das Bild eines bleichen, ungeheuer faltenreichen Gesichtes, dessen blassblaue Augen böse funkelten. Der dünnlippige Mund war erst ein dünner Strich. Dann verzogen sich die aufgesprungen Lippen zu einen höhnischen Grinsen.
"Heh, was ist los, Miss Vanhelsing?"
Die Stimme des Inspektors drang wie aus großer Entfernung an mein Ohr.
Das ganze dauerte nur einen Augenblick lang, dann war es vorbei.
"Sie sehen ganz blass aus, Miss Vanhelsing", sagte Craven.
"Es ist nichts", murmelte ich halblaut. "Vielleicht bin ich nur einfach ein bisschen übermüdet."
*
Es war am Abend des folgenden Tages, kurz vor Redaktionsschluss, als Jim und ich im Büro von Michael T. Swann Platz nahmen.
Swanns Schreibtisch war ein einziges Chaos. Riesige Stapel von Post und Manuskripten drohten jederzeit einzustürzen und das Durcheinander damit komplett zu machen.
Swann sah mich einen Augenblick lang nachdenklich an und ich erwartete das Urteil über den Stella-Jordan-Artikel.
"Ihre Arbeit war ganz ordentlich", brummte er dann vor sich hin. "Das gilt für Text und Bilder." Aus seinem Mund war das fast schon ein enthusiastisches Lob, denn Swann hing der Meinung an, dass man mit Lob sparsam umgehen sollte. "Und was die andere Sache angeht, die Sie mir da vorgeschlagen haben, Miss Vanhelsing … Es kommt eine Meldung über den Toten Gilbert Goram in die morgige Ausgabe. Wir haben sogar ein altes Foto von ihm ausgegraben, das ihn bei einem Empfang ihrer Majestät zeigt …"
"Wir sollten an dieser Sache dranbleiben", machte ich ihm nochmal meine Überzeugung deutlich. "Der Tod von Sir Gilbert ist äußerst mysteriös und bislang scheint auch Scotland Yard keine plausible Erklärung zu haben …"
Swann nickte.
"Meinetwegen bleiben Sie an der Sache dran und versuchen Sie, etwas über die Hintergründe herauszufinden. Aber ich möchte Sie warnen!" Sein Zeigefinger schnellte bei den letzten Worten in die Höhe, während er mich mit einem durchdringenden Blick bedachte. "Ich kenne ja Ihre Vorliebe für ungewöhnliche Vorfälle …Aber bedenken Sie dabei, dass die News zwar ein Blatt ist, das auf Sensationen aus ist, aber sauber arbeitet. Das heißt: einwandfreie Recherchen!"
Ich lächelte.
"Nun, Scotland Yard dürfte doch eine Informationsquelle sein, die seriös genug ist, oder?"
Swann sah mich an und dann lächelte auch er.
*
Das Archiv der London Express News ist eine einzigartige Fundgrube. Sofern jemand irgendwann einmal an die Öffentlichkeit getreten ist, so ist dort auch etwas über ihn zu finden.
Über Sir Gilbert Goram musste schon deswegen etwas zu finden sein, weil er adelig war und sich vermutlich irgendwann auch auf gesellschaftlichem Parkett gezeigt hatte. Ich suchte lange und Jim half mir dabei. Über Sir Gilbert fanden wir allerdings nur eine beiläufige Erwähnung in einem Artikel, der sich mit seinem jüngeren Bruder John befasste.
John Goram war in den Siebzigern ein bekannter Lebemann und Playboy gewesen, der die Partyszene Londons unsicher gemacht und sein väterliches Erbteil mit beiden Händen zum Fenster hinausgeworfen hatte. Über ihn gab es dutzendweise Geschichten. Auf den Bildern war John stets in tiefdekolletierter Damenbegleitung zu sehen, vorzugsweise mit einem Champagnerglas in der Hand und einem so breiten Grinsen um die Lippen, dass es fast schon wie eine einstudierte Maske wirkte.
Vermutlich war es das auch.
Und John hatte das nützliche Talent gehabt, diese Maske immer genau dann aufzusetzen, wenn irgendwo eine Kamera zu sehen war. John Gorams Affären hatten Schlagzeilen gemacht.
Sein rätselhafter Tod allerdings auch.
Er kaufte sich ein Apartment mit Meeresblick in einem der zahlreichen Seebäder an der Südküste. Dort fand man ihn an einem warmen Tag mit genau jenen Symptomen, die auch bei Gilbert festgestellt worden waren.
Es schien, als wäre er erfroren, aber das war natürlich unmöglich. Doch alle anderen Erklärungsversuche konnten vielleicht noch den Herzstillstand, nicht aber die Erfrierungsmale an Ohren und Nase vernünftig begründen.
Scotland Yard ermittelte und legte den Fall irgendwann zu den Akten.
Dann reichte mir Jim plötzlich die vergilbte Ausgabe einer bereits nicht mehr existierenden Konkurrenzzeitung der News. "Sieh dir das mal an, Patti!", forderte er mich auf.
Ich las die Überschrift, die in riesigen, blutroten Lettern unter einem Bild stand, das John, Gilbert und ihren Vater Victor Goram zeigte.
LIEGT EIN FLUCH ÜBER DER FAMILIE GORAM?, lautete die Überschrift. Ein Journalist hatte im Zusammenhang mit Johns Tod herausgefunden, dass auch dessen Vater und Großvater unter ganz ähnlichen Umständen verstorben waren. "Ist es ein Fluch, der Goram Manor, den Stammsitz der Familie in Cornwall heimsucht? Aber auch im nahen Glenmore gibt es einige rätselhafte Todesfälle dieser Art. Ein Wissenschaftler aus Birmingham will von einem Fluch nichts wissen und vermutet eine bisher unbekannte Erbkrankheit …", las ich Jim vor.
"Was hältst du davon?", erkundigte sich der Fotograf.
Ich zuckte die Achseln.
"Jedenfalls sind wir nicht die ersten, die versuchen, etwas Licht in diese Sache hineinzubringen", stellte ich fest.
Jim nickte.
"Ja, aber besonders erfolgreich scheint bislang niemand gewesen zu sein. Weder Scotland Yard noch dieser Journalist …" Jim beugte sich etwas vor, um die ziemlich kleingedruckte Autorenzeile lesen zu können. "Peter McAllister …", murmelte er dann. "Ich habe den Namen irgendwann schonmal gehört …"
"In welchem Zusammenhang?"
Jim strich sich das ungebändigte Haar zurück und schüttelte dann den Kopf. "Keine Ahnung. Ich komm jetzt nicht drauf."
"Ich glaube nicht, dass wir die Antworten auf die offenen Fragen hier in London finden", sagte ich dann.
"Du meinst, wir müssen nach Glenmore fahren?"
"Hast du eine bessere Idee, Jim?"
"Na, dann wünsche ich dir viel Vergnügen dabei, unseren Chefredakteur davon zu überzeugen, dass die Reisespesen kein rausgeschmissenes Geld sind …"
Aber da machte ich mir keine Sorgen.
Wenn es im Zweifelsfall darum ging, eine sauber und an Ort und Stelle recherchierte Story vorgesetzt zu bekommen oder Geld sparen zu können, indem man sich etwas aus den Fingern sog oder irgendwo abschrieb, entschied Swann sich stets für die erste Möglichkeit. Da war er ganz Journalist der alten Schule und das schätzte ich an ihm.
*
Seit dem frühen Tod meiner Eltern wohnte ich bei meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, die mich wie eine Tochter aufzog.
Ihre weiträumige Villa glich einer Art Privatmuseum für Okkultismus, übersinnliche Phänomene und archäologische Rätsel, wobei letzteres wohl daher kam, dass ihr auf einer Forschungsreise verschollener Mann Frederik ein bekannter Archäologe war.
Allerlei interessante und mysteriöse Fundstücke, die Frederik von seinen Expeditionen mitgebracht hatte, zierten daher Vitrinen und Wände der Villa, während Tante Lizzy, wie ich meine Großtante zu nennen pflegte, mit unermüdlicher Akribie ihr okkultistisches Privatarchiv vervollständigte.
Unermüdlich durchstöberte Tante Lizzy Antiquariate und Flohmärkte auf der Suche nach verschollenen oder mysteriösen Schriften. Mit großer Sorgfalt schnitt sie jeden Zeitungsartikel zu diesem Themenbereich aus und sortierte ihn ein.
Ich bewohnte die obere Etage der Villa. Scherzhaft nannte ich sie oft die okkultfreie Zone, woraufhin Tante Lizzy nicht selten mit einem milden Lächeln um die Lippen erwiderte: "Mein Kind! Die Wohnung einer jungen Frau, die über eine leichte hellseherische Gabe verfügt, nennst du eine okkultfreie Zone?"
Tante Lizzy war davon überzeugt, dass ich eine solche Gabe besaß, die sich in Träumen, Tagträumen und Visionen zeigen konnte.
Inzwischen hatte ich diese Gabe mehr oder minder akzeptiert, auch wenn ich noch längst nicht soweit war, damit natürlich umgehen zu können.
Ich konnte diese Gabe auch nicht gezielt anwenden, weshalb ich es oft mehr als Fluch empfand, wenn mich irgendwelche Bilder aus der Zukunft überfielen, die mir daraufhin nicht mehr aus dem Sinn gingen und mich wie finstere Dämonen verfolgten …
So wie das Bild jenes bleichen, faltenreichen Gesichts mit den aufgesprungenen Lippen, das mir zum ersten Mal vor Augen gestanden hatte, als ich im Abteil des Nachtzugs den Blutfleck entdeckt hatte …
Seitdem hatte ich immer wieder an dieses Gesicht denken müssen. Ich erzählte Elizabeth davon, woraufhin meine Großtante leicht nickte.
"Du solltest darauf achten", erklärte sie. "Ich bin mir sicher, dass dieses Bild etwas zu bedeuten hat und mit deiner Gabe zusammenhängt."
Natürlich hatte ich ihr auch von dem Toten Sir Gilbert und den rätselhaften Umständen erzählt, unter denen er zu Tode gekommen war.
Schließlich war das genau die Art von Vorfällen, für die sie sich interessierte.
Ich berichtete ihr knapp, was ich bislang herausgefunden hatte. Viel war das nicht gerade, aber auch Tante Lizzy war nicht untätig gewesen.
"Ich habe ein bisschen in meinem Archiv herumgestöbert", sagte sie dann mit leuchtenden Augen.
Sie fasste mich bei der Hand und nahm mich mit in ihre beeindruckende Bibliothek. Uralte Lederfolianten reihten sich hier mit halbzerfallenen oder mühsam restaurierten Erstausgaben aneinander.
Mit zielsicherem Griff holte Tante Lizzy einen Band heraus.
Der Schriftzug auf dem Einband war derart verblichen, dass man ihn nicht mehr lesen konnte.
"Was hast du da?", fragte ich meine Großtante.
"VON DEN GEISTERN DER KÄLTE heißt diese Abhandlung. Sie wurde von einem Spanier namens Alfonso Reyes de Aranjuez um 1900 herum verfasst. Dies ist die einzige englische Ausgabe, die 1903 erschien und in einer Auflage von gerade einmal hundert Exemplaren herausgebracht wurde. Seitdem ist das Buch nie wieder aufgelegt worden. Und der Autor, ein seinerzeit recht bekannter spanischer Okkultist, verfiel in den zwanziger Jahren dem Wahnsinn. Er verbrachte den Rest seines Lebens in einem Sanatorium in Santander."
"VON DEN GEISTERN DER KÄLTE …", murmelte ich und nahm dabei Tante Lizzy den Band aus der Hand.
Der Titel brachte irgendeine Saite in mir zum klingen.
Eine Ahnung …
Ich blätterte ein bisschen in dem Band herum. Er enthielt auch eine Reihe scheußlicher Abbildungen. Alfonso Reyes de Aranjuez schien ein detailverliebter Mann gewesen zu sein.
"Reyes berichtet in seinem Buch von Todesfällen mit den gleichen Begleitumständen, wie du sie mir von Gilbert Goram erzählt hast", hörte ich Elizabeth mit ernstem Tonfall sagen.
"Menschen, die man für Erfrierungsopfer halten könnte, wenn die äußeren Umstände ihres Todes dies nicht ganz und gar ausschließen würden. Unter den dokumentierten Fällen sind übrigens einige die den Namen Goram tragen und offensichtlich Vorfahren des Toten aus dem Zug sind …"
Ich nickte leicht.
Dann fragte ich: "Hat dieser Spanier irgend eine Erklärung für das alles?"
"Ja."
"Und welche?"
Tante Lizzy zögerte.
"Sie wird dir weder gefallen, noch dich zufriedenstellen, Patti."
"Wie lautet sie?"
"Reyes de Aranjuez glaubt, Beweise dafür gefunden zu haben, dass die Opfer Begegnungen mit den Geistern Verstorbener hatten."
*
Ich konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Immer wieder hatte ich mich im Bett herumgewälzt und immer wieder hatte mir dabei jenes bleiche Gesicht vor Augen gestanden, das mir zum ersten Mal in jenem Zugabteil erschienen war, in dem Sir Gilbert Goram das Zeitliche gesegnet hatte.
Schließlich gab ich es auf.
Ich setzte mich im Bett auf.
Von draußen schien das Mondlicht herein und tauchte alles in ein geisterhaftes, fahles Licht.
Dann stand ich auf und ging barfuß und im Nachthemd ins Nebenzimmer.
Auf einem kleinen Tischchen hatte ich den Band des wahnsinnig gewordenen Spaniers abgelegt. Ich nahm ihn jetzt an mich, machte dann Licht und setzte mich in einen großen Ohrensessel, der schon zu meinen Sachen gehört hatte, als ich noch ein Kind gewesen war.
Wenn ich schon nicht schlafen konnte, dann wollte ich die Zeit zumindest sinnvoll nutzen.
Ich vertiefte mich in das Buch dieses Alfonso Reyes de Aranjuez, das in einem äußerst umständlichen Stil geschrieben war, der mich schnell ermüdete. Man musste sich schon sehr konzentrieren.
Als ich zwischendurch aufblickte, sah ich plötzlich eine weißgewandete Gestalt in der Tür stehen, die mir offenbar schon eine ganze Weile zusah.
Es war niemand anderes als Tante Lizzy. Sie war wie ich im Nachthemd und offensichtlich so leise die Treppe hinaufgekommen, dass ich nichts davon bemerkt hatte.
"Hallo, Patti", sagte sie.
Ich schlug das Buch des spanischen Okkultisten zu und erklärte: "Ich konnte nicht schlafen, Tante Lizzy."
"War es wieder dieses …" Sie zögerte, bevor sie weitersprach. "…dieses Gesicht?"
Ich nickte.
"Ja, das auch."
"Ich habe gehört, dass hier oben jemand herumlief. Davon bin ich aufgewacht. Wenn man älter wird, hat man einen leichten Schlaf."
"Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe", erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass Elizabeth in Wahrheit froh war, sich mit jemandem unterhalten zu können.
Sie lächelte.
"Schon in Ordnung", meinte sie.
Dann deutete ich auf den Band und fragte: "Was hältst du von den Schriften dieses Spaniers?"
Tante Lizzy wiegte den Kopf leicht hin und her.
"Schwer zu sagen. Er hat zahlreiche okkultistische Experimente angestellt und sich immer bemüht, alles, was er behauptete, haarklein zu beweisen …"
"Aber ein letzter Zweifel bleibt, nicht wahr?"
"Natürlich. Alfonso Reyes de Aranjuez war ein Außenseiter. Ursprünglich war er Arzt, flog aber wegen seiner abweichenden Ansichten bald aus dem Ärzteverband heraus. Er hat einige Zeit als Gerichtsmediziner in Madrid gearbeitet. In dieser Zeit stieß er zum erstenmal auf einen jener rätselhaften Todesfälle, die er daraufhin mit wahrer Besessenheit zu enträtseln versuchte …"
Tante Lizzy und ich wechselten einen Blick miteinander und schwiegen einige Momente. Dann sagte ich: "Ich werde demnächst mit Jim Field nach Glenmore in Cornwall fahren."
"Diese Sache lässt dich nicht los, nicht wahr?"
Es war keine wirkliche Frage, sondern eine Feststellung, die da über Elizabeths Lippen gekommen war. In all den Jahren, die ich nun schon bei ihr lebte, verstanden wir uns oft genug ohne Worte. Einer konnte die Gedanken des anderen erraten, noch bevor diese ausgesprochen waren - und das hatte nun wirklich nicht das geringste mit übersinnlicher Wahrnehmung zu tun.
*
Zwei Tage später machten Jim und ich uns auf den Weg nach Cornwall. Wir fuhren mit dem roten, etwas altmodischen Mercedes, den ich von Tante Lizzy geschenkt bekommen hatte, und wechselten uns am Steuer in regelmäßigen Abständen ab.
"Wir sind übrigens nicht die ersten, die versuchen, in Glenmore das Geheimnis dieser seltsamen Todesfälle zu lösen", eröffnete Jim mir irgendwann während der Fahrt.
"Ach, nein?"
"Erinnerst du dich an den Namen Peter McAllister?", fragte er.
Ich nickte. "Der Journalist, der über den Tod von Sir Gilberts Bruder John berichtete."
"Ja."
"Er war auch in Glenmore?" Ich zuckte die Achseln. "Das wundert mich nicht."
"Ich war gestern noch einmal im Archiv", berichtete Jim dann. "Peter McAllister kehrte von seiner Reise nach Glenmore nie zurück. Man fand seinen Wagen an der Küstenstraße, so als hätte man ihn dort abgestellt. Aber von McAllister gab es keine Spur. Bis heute."
"Merkwürdig …"
Es gab viele mögliche Erklärungen für das Verschwinden dieses Journalisten. Aber im Moment erschien es mir am wahrscheinlichsten, dass er dem Geheimnis, das er suchte vielleicht eine Spur zu nahe gekommen war …
Als wir in im kleinen Ort Glenmore ankamen, war es schon Nacht. Wir hatten uns in der ländlichen, abgelegenen Gegend ziemlich verfahren und mehrfach nachfragen müssen, ehe wir unser Ziel endlich gefunden hatten.
Außerdem hatte es angefangen, wie aus Eimern zu gießen. Die Scheibenwischer meines Mercedes schafften es kaum, für eine einigermaßen freie Sicht zu sorgen.
Der Glenmore Inn war das einzige Gasthaus in der Umgebung und den Auskünften nach, die wir bei einer Tankstelle erhalten hatten, sollte es hier auch Zimmer geben.
"Wenn man es hier Fremden etwas leichter machen würde, gäb's sicher auch mehr Touristen", meinte Jim, bevor wir ausstiegen. "Schließlich ist das Meer ganz in der Nähe …"
Aber hier schien niemandem daran gelegen zu sein, breite Straßen, große Hinweisschilder und Hotels zu errichten.
Wir stiegen aus und versuchten so schnell wie möglich ins Trockene zu gelangen. Die Tür des Glenmore Inn war offen.
Drinnen brannte Licht.
Wir betraten die knarrenden Parkettbohlen des rustikal eingerichteten Schankraums.
Ein paar Männer saßen an den Tischen. Ihr Gespräch verebbte, als wir eintraten. Ihre Blicke musterten uns eingehend. In ihren hageren, hohlwangigen Gesichtern stand blankes Misstrauen zu lesen.
Hinter dem Tresen stand ein rundlicher Mann mit karierten Hemd. Er hieß Walsh, wie ich später erfuhr, und führte zusammen mit seiner Frau den Glenmore Inn. Wie durch Watte hörte ich Jim etwas von zwei Einzelzimmern sagen, während mein Blick durch den düster wirkenden Raum glitt. In einer Vitrine waren die Trophäen der örtlichen Fußballmannschaft aufgereiht. An der Wand hing ein illustres Sammelsurium aus Fotos, Gerätschaften, die alle irgend etwas mit Seefahrt oder Fischerei zu tun hatten. Glenmore war lange ein Fischerdorf gewesen, bevor die Flotten der großen Kutter den kleinen Booten den Fang weggenommen hatten.
Manche der aufgehängten Gegenstände schienen uralt zu sein.
Ein Entermesser war zu sehen und ein altes, handgeknüpftes Fischernetz. Fotos, die schon ziemlich vergilbt und halb verblichen waren. Die meiste zeigten Seeleute und Schiffsbesatzungen.
Und dann war da auch noch ein Steuerrad aus dunklem Holz, das die Aufschrift JERSEY QUEEN, 1830 trug. Ich weiß nicht, weshalb ich dieses Steuerrad besonders intensiv ansah.
Vielleicht Intuition …
Jersey Queen, 1830 …
Der Name eines Schiffs und das Jahr seiner Fertigstellung, wie ich vermutete.
"Wie lange wollen Sie bleiben?", fragte Mr. Walsh indessen an Jim Field gewandt.
Jim sah mich kurz an und meinte dann: "Das wissen wir noch nicht so genau. Ein paar Tage …"
"Soll mir recht sein", erwiderte Walsh. "Aber Sie müssen im Voraus bezahlen. Schließlich kenne ich Sie nicht …"
Jim zuckte die Achseln.
"Kein Problem", meinte er.
Walshs Augen wurden etwas schmaler, als er dann fragte: "Haben Sie beide eigentlich kein Gepäck?"
"Im Auto", erklärte Jim. "Wir holen es, sobald der Regen wenigstens ein bisschen nachgelassen hat."
Walsh zuckte die Achseln. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, ob er Jims Worten glaubte oder nicht. Auf seinem Gesicht erschien dann ein breites Grinsen.
"Könnte sein, daß Sie da bis zum morgen warten müssen!", meinte er dann.
Ich hatte mir indessen die Fotos an der Wand angesehen. Auf einem war im Hintergrund ein malerischer Landsitz abgebildet. Währenddessen kam Walsh mit den Zimmerschlüsseln hinter dem Schanktisch hervor. Ich deutete auf das Bild und fragte: "Ist das Goram Manor?"
In Walshs Augen flackerte etwas. Und auch bei den Männern am Tisch war es auf einmal wieder totenstill.
"Schon möglich", knurrte Walsh nicht gerade entgegenkommend. "Ist es weit von hier?"
"Was interessiert Sie das?"
"Es war einfach nur eine Frage", erwiderte ich etwas irritiert. Soviel abweisende Reserviertheit hatte ich nicht erwartet.
"Sie sind nicht zufällig von der Polizei, was?", meinte er dann.
"Die war schon hier, nehme ich an", stellte ich fest. "Wegen Sir Gilbert Goram …"
Die Gesichter der Anwesenden verdüsterten sich. Walsh schaute etwas hilflos zu den Männern am Tisch hinüber, dann wieder in meine Richtung.
"Ja", sagte er dann zögernd. "Die waren hier und haben alle möglichen Fragen gestellt." Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich, als würde es sich um eine Waffe handeln. "Und jetzt, möchte ich wissen, was Sie hier zu suchen haben, Ma'am!"
"Patricia Vanhelsing, London Express News", stellte ich mich vor.
"Und Sie wollen nach Goram Manor?", vergewisserte sich Walsh nochmals. "Da werden Sie kein Glück haben. Die Residenz der Gorams ist zur Zeit verwaist. Sir Gilbert lebte nämlich allein. Soweit ich weiß, war er der letzte der Gorams. Verheiratet war er auch nie, von Kindern ganz zu schweigen …"
"Red nicht soviel, Walsh!", meldete sich jetzt einer der Männer am Tisch zu Wort. Und den Gesichtern der anderen war abzulesen, dass sie genau derselben Auffassung waren. Walsh drehte sich kurz zu ihnen um.
Dann hob er die Schlüssel und meinte: "Ich zeig Ihnen beiden jetzt die Zimmer, in Ordnung?"
"In Ordnung."
Wir gingen die Treppe hinauf, während die Blicke der Männer am Tisch jeder unserer Bewegungen peinlich genau folgten. Ein unbehagliches Gefühl hatte sich in mir breitgemacht und Jim schien es nicht anders zu gehen.
Ganz offensichtlich waren Leute, die sich nach dem Schicksal von Gilbert Goram erkundigen wollten, hier in Glenmore nicht sonderlich beliebt.
Walsh sagte kaum noch ein Wort, obwohl ich versuchte, noch das eine oder andere aus ihm herauszulocken. Er wurde ziemlich einsilbig und wortkarg, zeigte erst Jim, dann mir mein Zimmer. Die Zimmer waren einfach und Toilette und Dusche lagen auf dem Flur. Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, aber da draußen war gegenwärtig nichts zu sehen, als Dunkelheit, Regen und Sturm.
Schattenhaft sichtbare Bäume wurden vom Wind gebogen.
"Sie können von hier aus das Meer sehen", behauptete Walsh. "Am Tag natürlich, wenn es hell ist und nicht gerade eine Nebelbank vor der Küste liegt." Er zuckte die Schultern und wirkte etwas verlegen. "Wenn Sie noch etwas brauchen, dann sagen Sie es mir oder meiner Frau. Wollen Sie geweckt werden?"
"Gerne. Um 8.00 Uhr."
"Okay."
Dann ging er. Ich hörte seine schweren Schritte die Treppe hinuntergehen. Das Holz ächzte. Die Tür meines Zimmers hatte er nicht richtig geschlossen und weil von irgendwoher ein leichter Luftzug zwischen den Balken hindurchzog, öffnete sie sich mit einem dumpfen Knarren.
Ich wollte sie schließen, da erstarrte ich für einen Moment.
Aus dem Schankraum konnte ich eine Männerstimme hören.
Vermutlich gehörte sie einem jener Kerle, die am Tisch gesessen hatten.
"Du hättest diesen Presseleuten die Zimmer nicht geben sollen, Walsh!", sagte die Stimme.
Walsh hustete.
"Bin ich vielleicht ein Lottogewinner, dass ich mir so etwas leisten könnte?", knurrte der Wirt dann zurück.
"Trotzdem", beharrte die Stimme.
"Red keinen Quatsch, Billy! Ein verspäteter Hippie und eine Frau, die wie eine Großstadtpflanze aussieht! Die werden es hier nicht lange aushalten!"
"Und wenn es Ärger gibt, Walsh?"
"Mal den Teufel nicht an die Wand!"
"Denk an das letzte Mal!"
"Das ist eine Ewigkeit her. Außerdem ist es jetzt zu Ende, da Sir Gilbert tot ist!"
*
Ich schlief in dieser Nacht wie ein Stein. Als ich am Morgen aufstand, sah ich, dass man von meinem Fenster aus tatsächlich das Meer sehen konnte.
Es war ein sonniger Tag.
Die See spiegelte das Licht und wenn die Wellen sich brachen, bildeten sie Schaumkronen.
Ich öffnete das Fenster und eine kühle, frische Brise blies mir entgegen. Meine offenen Haare wurden ordentlich durcheinandergeweht.
Glenmore hatte einen kleinen Hafen, in dem ein paar Fischerboote lagen.
Das Kreischen einiger Möwen mischte sich mit dem Rauschen des Meeres, das als beständiges Hintergrundgeräusch allgegenwärtig war.
Irgendwo am Horizont sah ich dann eine dunkle Stelle, die sich deutlich vom Blau des Meeres abhob. Diese dunkle Stelle schien langsam auf das Ufer zuzustreben und nachdem ich eine ganze Weile lang angestrengt darauf gestarrt hatte, glaubte ich zu erkennen, dass es sich um ein Boot handelte.
Ein Boot mit einem Insassen.
Ziemlich weit draußen, für so ein kleines Boot!, ging es mir unwillkürlich durch den Kopf. Vielleicht ein Angler, der in der Nacht hinausgefahren war, um zu fischen. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, bei dem Anblick des Bootes. Ein Gefühl, das mir sagte, dass ich eigentlich wissen müsste, wer dort draußen war …
An meiner Tür klopfte es in diesem Moment.
"Patti? Bist du fertig?"
Es war war Jims Stimme.
"Einen Moment noch!", rief ich.
Ein paar Minuten später ging ich mit Jim zusammen die Treppe hinab in den Schankraum, wo Mrs. Walsh uns ein gutes englisches Frühstück mit Schinken und Ei gemacht hatte. Mrs.
Walsh war zunächst etwas weniger reserviert als ihr Mann, von dem an diesem Morgen nichts zu sehen war. Eine rundliche Frau in den fünfzigern mit herzlich wirkenden blauen Augen und leicht rötlichem Haar, das sie zu einem Knoten nach hinten gebunden hatte.
"Sie kommen aus London?", fragte sie, obwohl sie es sicher längst wusste. "Ist sicher ein Unterschied zu London hier, was? Vielleicht nicht so ganz der Komfort, den Sie gewohnt sind …"
"Ich habe nichts auszusetzen", erwiderte ich.
"Dann ist es ja gut", murmelte sie und sah uns dabei nacheinander nachdenklich an.
"Der Tod von Sir Gilbert Goram hat in London einiges Aufsehen verursacht", sagte ich dann. Ich war mir sicher, daß sie von ihrem Mann längst erfahren hatte, weswegen wir in Glenmore waren.
"Eine tragische Geschichte", meinte Mrs. Walsh nichtssagend. Sie vermied es dabei, mich anzusehen.
"Dem äußeren Anschein nach ist Sir Gilbert erfroren, aber das ist natürlich unmöglich, wenn man bedenkt, dass er in einem geheizten Zugabteil war, als ihn der Tod ereilte …"
"Ich weiß nicht, worauf Sie mit Ihrer Fragerei hinauswollen, Miss Vanhelsing."
Mrs. Walshs Stimme hatte einen klirrend kalten Unterton bekommen.
"Es gab zuvor bereits andere ähnliche Todesfälle hier in der Gegend. Namentlich in der Familie Goram … Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie uns nichts darüber sagen können."
Mrs. Walsh hob ihr Kinn und erwiderte dann abweisend: "Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich der Polizei bereits mitgeteilt!"
Inzwischen war ein Mann in den dreißigern, hochgewachsen und mit leicht rotstichigem dunklem Haar, von draußen in den Schankraum getreten. Er hielt eine kleine schwarze Tasche in der Rechten, wie sie häufig von Ärzten verwandt wird. Der Mann hatte den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen und verzog leicht amüsiert die Mundwinkel.
"Aber, aber, Mrs. Walsh! Warum sagen Sie denn nicht einfach, wie es war!"
Mrs. Walsh fuhr herum.
"Seien Sie still, Dr. Norman!", fauchte Mrs. Walsh den jungen Mann an, der sichtlich zusammenzuckte. Eine derart heftige Reaktion hatte er nicht erwartet.
"Ist ja gut!"
"Sie können nur so leichtfertig daherreden, weil Sie lange nicht hier in Glenmore gewesen sind und nicht wirklich wissen, über was Sie sich da lustig machen!"
"Ich mache mich nicht lustig!", behauptete Dr. Norman und seine Gesicht hatte jetzt in der Tat einen sehr ernsten Eindruck.
"Was machen Sie überhaupt hier - zu dieser Zeit?", schimpfte Mrs. Walsh, die sich kaum beruhigen konnte.
"Ich bin wegen Ihrem Mann hier!"
"Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie jemand gerufen hat!", stellte Mrs. Walsh kühl fest.
Dr. Norman nickte leicht.
"Mag sein", erwiderte er dann. "Aber Ihr Mann sollte dringend den Blutdruck kontrollieren. Und da er nicht zu mir in die Praxis kommt, komme ich eben zu ihm!"
"Meinem Mann geht es blendend!"
"Wo ist er?"
"Oben!", gab Mrs. Walsh den Widerstand schließlich seufzend auf. Dr. Norman ging ganz selbstverständlich die Treppe hinauf und Mrs. Walsh ging kopfschüttelnd hinter den Schanktisch zurück, wo sie mit dem Abwasch der Gläser vom letzten Abend begann.
"Ein wirklich reizender Ort scheint das hier zu sein!", raunte mir Jim über den Tisch zu, während er seinen Tee austrank und den letzten Bissen in den Mund schob.
*
Wenig später gingen wir ins Freie. Der kühle Wind, der vom Meer herüberblies, wirkte erfrischend.
Jim ertappte mich dabei, wie ich hinausblickte und den endlosen Horizont nach dem Boot absuchte.
Es war nicht mehr da.
"Was ist los?", fragte Jim.
"Nichts", murmelte ich. "Es ist gar nichts …"
"Womit fangen wir an, Patti? Mit ein paar schönen Bildern von Goram Manor?"
Ich zuckte die Achseln.
"Warum eigentlich nicht?"
Wir gingen zu meinem Mercedes und erlebten eine unangenehme Überraschung. Bei einem der Reifen war die Luft abgelassen worden.
Jim atmete tief durch.
"Scheint so, als hätte irgend jemand hier in Glenmore etwas dagegen", meinte er. Jedenfalls würden wir fürs Erste damit beschäftigt sein, das Ersatzrad anzubringen.
Vielleicht war es ja nur ein dummer Jungenstreich. Zu gern hätte ich in diesem Moment daran geglaubt, dass es nicht mehr war …
Aber es passte einfach zu gut ins Bild, als dass einem da nicht dieser schlimme Verdacht kam.
Jim holte den Wagenheber aus dem Kofferraum und begann mit der Arbeit. Ich sah Dr. Norman indessen den Glenmore Inn verlassen. Als er mich sah, kam er auf mich zu. Die Arzttasche schlenkerte er dabei lässig hin und her.
"Wie ich sehe, haben Sie Probleme", stellte er fest und hob dabei die Augenbrauen.
"Keine, die wir nicht lösen könnten", erwiderte ich vielleicht eine Spur zu kühl.
"Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt", sagte er dann. "Mein Name ist Alec Norman. Dr. Norman. Wie Sie sicher eben mitbekommen haben, bin ich Arzt!"
Ich nickte.
"Ja, das habe ich mitbekommen. Ich bin Patricia Vanhelsing und dies ist mein Kollege Jim Field."
"Sie sind von der Presse?"
"So etwas scheint sich ja äußerst schnell in Glenmore herumzusprechen", stellte ich schneidend fest.
Norman zuckte die Achseln. "Nun, wie Sie sicher festgestellt haben, ist Glenmore ja nicht gerade eine Großstadt. Sie müssen wissen, dass ich heute morgen schon einige Patienten hatte …"
Ich verzog das Gesicht zu einem sicher etwas gezwungen wirkenden Lächeln.
"Ja, so ähnlich hatte ich mir das vorgestellt."
"Ich muss weiter. Aber wir werden uns hier sicher noch öfter sehen, Miss Vanhelsing …"