Mehdi Martens
HEXENMEISTER
Ron lässt los
Roman
Im Gedenken an Janet, Salome und Annette
Interesse?
epub-Verlag.de
1
"Was ist der Grund Ihres Besuchs Mister White?", der Zollbeamte versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.
"Urlaub.", antwortete Ron knapp.
Er setzte einen betont entspannten Gesichtsausdruck auf und unterließ alle Gesten, die auf Nervosität hindeuten könnten. Doch seine Vorsicht erwies sich als überflüssig, denn der Zöllner sah nicht näher hin. Mit einem kumpelhaften Grinsen sagte er, während er einen Stempel in seinen Pass knallte:
"Ja ja, Afrika bietet viel für alleinreisende Männer.", der Zollbeamte gab ihm seinen Pass zurück. Ron setzte ein wissendes Lächeln auf.
"Das habe ich gehört.", gab er verschwörerisch lächelnd zurück und verließ das Gate.
Langsam entspannte er sich. Sein Pass war gut, aber er hieß nun einmal nicht Joe White und er war auch nicht im Urlaub. In der Gepäckausgabe war es drückend heiß, denn die Tore zum Vorfeld waren geöffnet. Die Nachtluft war geschwängert von Wärme, Feuchtigkeit und einer Mischung aus Kerosin und exotischen Gerüchen. Nur kurz überlegte er, ob er sich trotz der Rauchverbotsschilder eine Zigarette anzünden sollte. Doch ein Blick in die Halle machte ihm sofort klar, dass Verbotsschilder hier nicht dasselbe bedeuteten wie in Europa. Jeder Zweite rauchte, sogar der Polizist mit dem abgegriffenen Sturmgewehr, der neben ihm an der Wand lehnte.
Achselzuckend nahm Ron eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. Tief inhalierend wartete er auf den Schwindel, der sich unweigerlich, nach neun Stunden ohne Nikotin im Flugzeug, einstellen würde. Das Gepäckband stand noch still. Er nahm sich daher die Zeit, die Menschen zu betrachten, die mit ihm aus dem Bauch des Fliegers gequollen waren. Es war die übliche Mischung aus Urlaubern in Jogginghosen oder ähnlichen Modeverbrechen und Schwarzen im Anzug.
Meist Geschäftsleute aber auch einfache Arbeiter, die in Europa arbeiteten und, ihren relativen Wohlstand zeigend, ihren Heimurlaub antraten. Eine indische Familie war ebenfalls an Bord gewesen, aber er wusste, dass der Einzelhandel in Kenia überwiegend von Indern betrieben wurde, daher war auch das nichts Besonderes. Nachdem er seine Zigarette geraucht hatte kam er zu der Überzeugung, dass er nichts zu befürchten hatte, niemand war ihm gefolgt.
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, rief er sich auch schon zur Ordnung. Sein antrainiertes Misstrauen war gut, aber es war wirklich nicht wahrscheinlich, dass sie ihn hierher verfolgten. Die Sekte war auf Geld aus, die afrikanische Armut wirkte daher wie ein Schutzschirm vor ihren Aktivitäten.
Wenn es hier eine Niederlassung gab, war sie klein und unbedeutend. Er konnte sich also auf das was vor ihm lag konzentrieren, ohne zu sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht zu sein.
Das Gepäckband erwachte ratternd zum Leben. Während er seine Aufmerksamkeit auf die langsam rotierenden Gummiplatten richtete, fiel sein Blick auf die verspiegelte Säule, die rechts neben dem Gepäckband stand. Unwillkürlich musste er grinsen als er sein Spiegelbild sah. Die hell gefärbten Haare, die er für seinen Mr. White Pass benötigte, die Brille aus Fensterglas und das geblümte Hemd das er offen über der Jeans trug, ließen ihn lächerlich aussehen.
Doch so unterschied er sich wenigstens nicht von seinen Mitreisenden und das war wichtig, für das was vor ihm lag.
Nachdem er seinen Koffer erhalten hatte und am Airport- Bankschalter etwas Geld gewechselt hatte trat er, den schweren Koffer hinter sich her ziehend, aus dem Flughafengebäude ins Freie. Die Wärme wurde jetzt noch aufdringlicher, aber die Gerüche der tropischen Nacht waren ein so starker Kontrast zu seinen gewohnten Wahrnehmungen, dass er dafür die schwüle Wärme gerne in Kauf nahm. Tief einatmend versuchte er all die Gerüche und Eindrücke in sich auf zu nehmen.
Niemand beachtete ihn, alle hetzten herum und versuchten ihren Shuttlebus, ein Taxi, oder einfach nur einen Bekannten zu finden. Er ignorierte das Chaos und konzentrierte sich stattdessen auf seine Atmung. Das war eine Technik, die ihm im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen war. Vier Takte, einatmen, einatmen, Pause, ausatmen. Nach kurzer Zeit klärte sich seine Wahrnehmung und die Dinge erhielten trotz seiner Müdigkeit scharfe Konturen.
Er ignorierte die lauten und hefig um Fahrgäste buhlenden jungen Fahrer der bunten Ansammlung von Taxis, die hier auf Kunden warteten. Etwas abseits entdeckte er einen älteren Mann mit einem ebenfalls älteren Peugeot und ging auf ihn zu.
Taxifahren war etwas durchaus Gefährliches in Afrika. Schlechte Straßen, schlecht gewartete Autos, keine Beleuchtung an den Straßen und jede Menge unerwarteter Dinge die plötzlich vor einem Auto erscheinen können. Daher vermied er es, zu all diesen unvermeidbaren Risiken, auch noch einen hektischen, mit Adrenalin geladenen, Fahrer zu wählen.
Der alte Mann mit seinem Peugeot erschien ihm daher die richtige Wahl zu sein. Sein Ziel war weit entfernt, da war doppelte Vorsicht angebracht. Die anderen heftig winkenden Fahrer ignorierend, steuerte er direkt auf dieses Taxi zu. Der alte Mann wirkte nicht überrascht, als Ron ihn ansprach. Nach kurzen, aber intensiven Preisverhandlungen wurden sie sich einig und Ron versuchte vergeblich, seinen Koffer selbst einzuladen. Doch der Fahrer verscheuchte ihn, sichtlich beleidigt, und bugsierte Ron stattdessen auf den Beifahrersitz.
Ron hatte dem Fahrer Malindi als sein Ziel angegeben, die alte Seeräuberstadt, die heute einer der Schwerpunkte des Tourismus an der Ostküste Kenias war. Viele Ausländer lebten dort, daher war dieser Ort perfekt als Basis für das geeignet, was er vorhatte.
In gewissen Kreisen hatte Ron einen guten Ruf. Er war der Mann, der gerufen wurde, wenn Andere versagten. Die meisten sahen in ihm einen Deprogrammierer, eine Art Detektiv ohne Lizenz, der sich darauf spezialisiert hatte, Menschen zu ihrer Familie zurückzuholen, die in die Fänge einer Sekte geraten waren. Jedoch sah er sich selbst weder als Detektiv noch als Psychologen.
Was ihn für diese Aufgabe qualifizierte, war lediglich seine Vergangenheit. Diese war wohl auch der Grund, warum er sich auf Missionen wie diese einließ, obwohl sie ihn immer noch jagten. Es war, als müsse er etwas zurückzahlen, Buße tun für das was er getan hatte, damals.
Während das Taxi mit schlechtem Licht und noch schlechteren Stoßdämpfern sich langsam durch die afrikanische Nacht bewegte, wanderten seine Gedanken zu der Zeit zurück als er noch seinen Namen trug.
2
1993 in Sussex England, das Greenwood Internat der Sekte mit seinen strengen Regeln: Keine Drogen, kein Sex, kein Fernsehen, dafür aber jede Menge Indoktrinierung und Gehirnwäsche. Damals wurde er noch von anderen Menschen als sich selbst Ron genannt.
Er war kein freiwilliges Mitglied der Sekte, seine Eltern waren es. Sein Vater, ein hohes Tier in der Organisation, war nach seiner Berufung zum „Soldaten der Klarheit“ stolz mit seiner Phantasieuniform in ihrem Wohnzimmer im beschaulichen westdeutschen Münster erschienen und hatte ihm und seiner Mutter verkündet, das sie nach Sussex übersiedeln würden. Er hätte dort wichtige Aufgaben für die Sekte zu übernehmen und es gäbe eine geeignete Schule für Ron, die ihn von den Versuchungen einer normalen Schule fernhalten würde.
Damals hatte sich das erste Mal so etwas wie Widerstand in ihm geregt, er hatte keine Lust gehabt seine Freunde und seine gewohnte Umgebung aufzugeben. Doch er wurde nicht gefragt und fügte sich schließlich, was hätte er als dreizehnjähriger auch dagegen unternehmen können. Doch vier Jahre später in Sussex war es dann vorbei mit seinem kindlichen Gehorsam und er rebellierte. Der Grund für seinen wiederwachten Widerstandswillen war, dass er sich unsterblich in Clair verliebt hatte. Ein süßes, rothaariges Mädchen, das ebenfalls in diesem Internat war.
Ihre Mutter war mit einem Lehrer der Schule verheiratet und alle Angehörigen wohnten, von ihren Kindern getrennt, nahe dem Schulgelände. Die Kinder waren in Schlafsälen kaserniert, die Erwachsenen wohnten in meist kleinen Zimmern in Nachbargebäuden.
Als siebzehnjähriger Pubertierender war er in Clair vernarrt gewesen. Ihre Sommersprossen und roten Locken hatten ihn bezaubert. Doch es war ihnen untersagt worden aus ihrer Schwärmerei mehr werden zu lassen.Die Sekte bestimmte, wer zu wem gehören sollte und Clair war nicht für Ron vorgesehen. So hatte es ihnen einer der „ausgewachsenen Giganten“ wie sich ihre Führer nannten, mitgeteilt. Er hätte darüber meditiert und die göttliche Eingebung erhalten, dass sie nicht für einander bestimmt seien.
Es gab keinen Widerspruch, die Worte der a.G. waren bindend, niemand wagte, sie zu hinterfragen. Doch Ron konnte diese Entscheidung nicht akzeptieren. Er hatte nie etwas Anderes kennengelernt, daher waren die Restriktionen im Sektenalltag, auch nie ein Problem für ihn gewesen.
Kein Fernsehen, kein Sportverein, keine Freundschaften außerhalb der Sekte, keine Shoppingtouren durch Einkaufszentren. Nichts von alledem hatte ihm gefehlt, denn er und seine Mitschüler kannten es nicht anders.
Aber seine Hormone waren nicht so leicht zu kontrollieren wie seine übrigen Bedürfnisse. Er hatte diskutiert, gefleht, geflucht, gedroht, doch alles was er erreichte waren harte Bestrafungen.
Monatelang haderte er mit seinem Schicksal, doch alle Pläne für einen Ausbruch scheiterten an den Umständen. Er hatte kein Geld, keine Freunde außerhalb der Sekte und innerhalb der Gemeinschaft konnte er niemand trauen. Bei den wenigen Gelegenheiten an denen er Clair heimlich treffen konnte, schmiedeten sie Fluchtpläne, nur um in den Tagen danach festzustellen, dass Sie undurchführbar waren.
Dann, kurz vor seinen Abschlussprüfungen, kam ihm der Zufall zur Hilfe. Er suchte im Zimmer seiner Eltern ein Buch über Algebra, das er dort noch aus seiner Zeit in Deutschland aufbewahrte, als ihm ein Dokument in die Hände fiel. Es war in einem Buch versteckt gewesen und so unverständlich, dass er es mehrmals lesen musste bis er den Sinn verstand.
Er war laut diesem Papier der Eigentümer eines Wohn- und Geschäftshauses in Athen! Völlig verdutzt betrachtete er die beglaubigte englische Abschrift eines amtlich aussehenden mit Stempeln überfrachteten kyrillischen Dokuments. Er konnte es nicht fassen, anscheinend war sein Name ohne sein Wissen als Strohmann missbraucht worden.
Natürlich formulierte er es damals nicht so, dazu waren seine Kenntnisse der wahren Welt viel zu gering, doch er ahnte sofort das hier etwas im Gang war, das nicht korrekt war. Er fragte daher seinen Erdkundelehrer, ob irgendetwas in Griechenland gegen die Sekte im Gang war und gab sich besorgt. Bereitwillig erteilte dieser Auskunft, dass dort ein Verbotsverfahren der Mächte des Bösen im Gange sei und es möglich wäre, das die Sekte all ihre Besitztümer in diesem Land verlieren könne. Ron zählte eins und eins zusammen. Er war volljährig, nie im Zusammenhang mit der Sekte in Erscheinung getreten und der Sohn eines Soldaten der Klarheit. Also der ideale Strohmann, um Sektenvermögen in Sicherheit zu bringen. Er hatte zwar nie bewusst etwas unterschrieben, aber bei einer seiner Glaubensprüfungen konnten sie ihm alles Mögliche zum Unterschreiben untergejubelt haben.
Diese Prüfungen waren so anstrengend, dass hinterher sich alles um ihn drehte. Wenn er dann das obligatorische Protokoll unterschrieb las er es nie. Er wollte dann nur noch raus aus dem Auditorium und hatte Angst davor als Abweichler gebrandmarkt zu werden.
Sechs Stunden an einer, einem Lügendetektor ähnlichen, Maschine angeschlossen zu sein und Fragen nach seinen innersten Beweggründen zu beantworten war wie ein Tanz auf einem Drahtseil.
Alle befürchteten immer hinterher bestraft zu werden, nie war alles so wie die a.G. es haben wollten. Wenn der Befragte dann das Protokoll der Sitzung unterschreiben hatte, war er immer völlig erschöpft und voller Angst etwas Falsches gesagt zu haben. In dieser Situation las niemand mehr was ihm vorgelegt wurde. So hatte er wohl ohne sein Wissen ein Haus in Athen erworben.
Einen Notar, der ebenfalls Mitglied der Sekte war, zu finden war sicherlich nicht schwer. Viele erfolgreiche Geschäftsleute waren Mitglieder. ihnen wurde versprochen noch mehr Geld zu verdienen. Das stimmte sogar manchmal, aber niemand hatte ihnen gesagt, dass im Endeffekt die Sekte alles einstreichen würde. Sie buchten Kurse, kauften Meditationshilfen und wenn sie tief genug drin steckten, dann fingen sie an, „freiwillig“ zu spenden. Am Ende war nur noch die Fassade übrig, der Rest war von der Sekte ausgehöhlt und ausgesaugt worden.
3
Er wurde in seinem Sitz nach vorne geworfen, als das Taxi plötzlich scharf bremste. Er hatte vergeblich einen Sicherheitsgurt gesucht und war froh, dass die Bremsen ebenfalls schlecht waren. Sonst wäre er wohl durch die Scheibe geschleudert worden. Er sah hoch und entdeckte, was beinahe eine Kollision verursacht hatte. Eine Ziege stand mitten auf der unbeleuchteten Straße und sah ihn unbewegt im schwachen Scheinwerferlicht an.
Ohne den Fahrer zu fragen, zündete Ron sich eine Zigarette an. Er bot ihm auch eine an, die dieser jedoch ablehnte. Tief inhalierend starrte Ron in das Dunkel. Außer einigen offenen Lagerfeuern in großer Entfernung war nichts zu erkennen. Als Europäer hatte man völlig vergessen, wie dunkel die Nacht ohne elektrisches Licht ist, dachte er. So dunkel wurde es in Deutschland nirgendwo mehr, an keinem Ort, an dem er bereits einmal war.
Seine Gedanken schweiften zurück zu seiner Schulzeit, aus der ihn die Ziege so unsanft gerissen hatte.
4
Die Entdeckung der Grundbesitzurkunde änderte alles für Ron. Er hatte auf einmal einen vagen Plan vor Augen, wie er Clair und sich befreien konnte. Und das Schicksal kam ihm sogar zur Hilfe. Anscheinend war es doch nicht so einfach, alle Formalitäten ohne seine persönliche Anwesenheit zu regeln, denn eine Woche nach seinen schriftlichen Prüfungen tat sein Vater etwas, das er noch nie zuvor getan hatte.
Er lud ihn ein, angeblich als nachträgliches Geschenk zu seinem achzehnten Geburtstag, ihn auf eine Geschäftsreise nach Athen zu begleiten. Ron ahnte sofort, dass dabei ein Kurzbesuch bei einem Notar oder auf einem Amt ein Pflichttermin sein würde.
Einen Moment lang fühlte er sich erneut ausgenutzt, aber dann überwog die Freude über die Chance, die sich ihm bot und er sagte freudig zu. Es wurde eine siebentägige Reise, bei der sein Vater anscheinend jede Menge Leute zu treffen hatte.
Bei all diesen Treffen gab es immer nur ein Thema, das Verbotsverfahren gegen die Sekte. Natürlich musste er dann auch, wie erwartet, bei einem Notar ein Dokument unterschreiben. Angeblich eine Petition gegen das Verbot. Doch auch ohne ein Wort Griechisch lesen zu können, wusste er es besser. Als er nach diesem Termin in die Sonne Athens trat, stand sein Entschluss fest, er würde diese Chance nutzen.
Am Tag nach dem Notar Termin, dem dritten der Reise, bestand er seinem Vater gegenüber auf touristische Aktivitäten. Nach einigem Nörgeln hatte er damit Erfolg, widerstrebend gab ihm sein Vater etwas Geld und die Erlaubnis, die Akropolis und einige andere Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.
Schließlich war Bildung nicht nur im Internat zu erlangen. Ron bedankte sich höflich und kaufte als erstes einen Stadtplan, auf dem er „sein“ Haus suchte. Es dauerte drei Stunden, dann stand er vor einem modernen Komplex am Rande der Innenstadt. Er musste vorsichtig sein, denn natürlich befand sich ein Meditationszentrum der Sekte in dem sechsstöckigen Gebäude. Aber es gab auch ein Cafe, ein Dessous Geschäft, einen kleinen Lebensmittelladen und eine lange Klingelreihe mit Mietern, die dort wohnten. Er sah sich alles so genau es ging an und suchte dann einen Makler in der Innenstadt. Er hatte unter größter Geheimhaltung das Original der Grundbucheintragung mitgenommen und gedachte es zu benutzen.
5
Er musste eingeschlafen sein, denn die Stimme des Taxifahrers ließ ihn hochschrecken. In seinem stark betonten Englisch ließ er Ron wissen, dass sie ihr Ziel bald erreichen würden. Am Horizont zeichneten sich die ersten Grauschleier der Morgendämmerung ab. In ein paar Minuten würde die Sonne aufgehen.
So nahe am Äquator gab es kaum Phasen der Dämmerung. In fünfzehn Minuten war die Sonne komplett auf- oder untergegangen. Das wusste Ron von seinen früheren Reisen in diesen Teil der Welt.
Er nannte dem Fahrer die Adresse der „Pole Pole Lodge“, die etwas außerhalb von Malindi gelegen war.
Ron hatte viel Zeit damit verbracht, eine optimale Operationsbasis zu finden. Nach stundenlangem surfen und unter Einbeziehung aller Hilfsmittel des digitalen Zeitalters, hatte er sich für diese kleine Hotelanlage entschieden. Sie lag abseits genug, um nicht sofort in jedem Suchraster zu erscheinen und war klein genug, um sich keine aufwändigen Sicherheitsmaßnahmen leisten zu müssen.
Nach allem, was Ron in Erfahrung bringen konnte, gehörte die Anlage einem Schweizer, der dort die Hälfte seiner verbliebenen Zeit als Rentner verbrachte. Statt eines Ferienhauses hatte er in eine Hotelanlage investiert, wohl in der Hoffnung, seine Aufenthalte zum Nulltarif zu bekommen.
Ron bezweifelte, dass diese Rechnung aufging. Die Anlage lag zu weit vom Meer entfernt, um viele Ausländer anzulocken und Einheimische hatten in der Regel kein Geld für solche Hotels.
Es gab so gut wie keine Mittelschicht, die Reichen in Afrika waren wirklich reich und kamen nicht in so kleine Hotels und alle anderen waren arm. Ron vermutete, dass das Geschäftsmodell ein anderes war. Das Hotel diente vermutlich in erster Linie als Ort, an dem Weiße mit ihren einheimischen Sexualpartnern ungestört sein konnten. Hatten diese speziellen Vorlieben, war eine Lage jenseits von Strand und Menschen von Vorteil. Genau deswegen hatte Ron sich für den Komplex entschieden, in solchen Häusern war Verschwiegenheit oberstes Gebot.
Die Sonne brannte bereits durch die schmutzigen Scheiben des Taxis, als die Lodge vor ihnen aus dem Morgendunst auftauchte. Die Anlage war genau so, wie Ron es recherchiert hatte. Zehn Rundhütten nachempfundene Ferienhäuser gruppierten sich um ein Restaurant mit großer offener Veranda und „Macuti“ Dach. Letzteres war eine Art Strohdach, es wurde jedoch eine andere Pflanze verwendet, die ähnliche Eigenschaften hatte. Ron wusste jedoch nicht welche. Er vermutete, dass es sich um eine Art Kaktuspalme handeln musste. Sie betrat die Veranda. Zu dieser frühen Uhrzeit war weit und breit niemand zu sehen, allerdings waren die Fenster und Türen des Hauptgebäudes geöffnet.
Sie setzten sich. Ron wusste, was sich gehörte, und hatte den Taxifahrer zu einem Frühstück eingeladen. Nach ein paar Minuten erschien eine rundliche Frau in der Tür. Sie bewegte sich mit typisch afrikanischer Langsamkeit auf ihren Tisch zu. Ron begrüßte sie und zeigte ihr seine Email-Buchungsbestätigung, die er ausgedruckt hatte. Die Frau nickte und sagte, dass er erwartet worden war.
Sie bestellten „Continental Breakfast“, das typisch englische Frühstück mit Eiern, Wurst, Toast und Bohnen, das es in allen ehemaligen britischen Kolonien gab. Ron wählte jedoch Kaffee statt Tee, eine Angewohnheit, die er in den Jahren in Deutschland liebgewonnen hatte.
Er sah sich um. Die Hotelanlage war malerisch. Gepflegte, mit Blumen umsäumte Wege, führten zwischen den Hütten hindurch. Die gesamte Anlage wirkte mehr wie ein Garten als ein Hotel. Die Hütten waren klein, jedoch modern, aus Bruchsteinen mit Ziegeln eingefassten Fenstern gebaut. Auch hier waren die Dächer mit Macuti gedeckt.
Das Material war feuergefährlich, aber die Hütten standen mit recht großem Abstand zueinander, so dass der Erbauer diese Gefahr wohl als vernachlässigbar eingestuft hatte. Es war kein Gast zu sehen, was Ron aber nicht weiter verwunderte. Wenn es Gäste gab, dann waren diese nachtaktiv und schliefen um diese Zeit ihren Rausch aus.
Nachdem er seine Taxirechnung beglich und den Fahrer verabschiedet hatte, führte die rundliche Frau ihn zu seiner Hütte. Sie mühte sich mit seinem Koffer ab, ließ aber genau wie der Taxifahrer nicht zu, dass er das selber tat.
Er gab ihr pflichtschuldig Trinkgeld und trat ein. Der Raum war einfach aber zweckmäßig ausgestattet.
Ein großes Bett mit Moskitonetz füllte fast den halben Raum aus. Rechts stand ein offener, mit Vorhängen versehener Schrank, links ging es in eine kleine Nasszelle, bestehend aus Dusche, Toilette und Waschbecken. Ein Hocker für den Koffer und ein wackeliger Stuhl komplettierten die Ausstattung. Es gab einen Deckenventilator, aber keine Klimaanlage. Er schaltete den Ventilator ein, zog sich aus, duschte den Staub der Reise ab und legte sich auf das Bett.
Er war jetzt fast sechsundzwanzig Stunden unterwegs und musste erst einmal schlafen. Was nun kam erforderte seine volle Aufmerksamkeit, daher musste er ausgeruht sein.
Doch so leicht fand er keinen Schlaf. Stattdessen wanderten seine Gedanken wieder zurück zu den Ereignissen in Griechenland.
6
Er hatte sich seine Rolle lange überlegt. Mit stocksteifer Haltung und seinem besten Oxfordakzent betrat er das Maklerbüro. Er stellte sich dem Inhaber vor, einem älteren Mann mit beachtlichem Bauchumfang. Er habe dieses Haus geerbt, teilte er dem Makler im Plauderton mit, habe aber keine Lust, sich mit der Verwaltung abzumühen. Das passe nicht zu seinen Aktivitäten, die sich im Wesentlichen auf Bergsteigen, Fotosafaris und Frauen beschränkten. Er wolle daher diese Immobilie möglichst schnell loswerden. Denn es gäbe da eine Expedition in die peruanischen Anden, der er zu gerne anschließen würde, jedoch müsse er sich dafür vorher von einer kleineren Investition trennen, um die Kosten aufzubringen.
Der Makler hatte ihn anfangs skeptisch betrachtet, Ron war klar, dass ihm die Statussymbole eines Mitglieds der englischen Oberschicht fehlten. Jedoch war sein Poloshirt Markenware, von seinem Vater extra wegen des Notar Termins angeschafft und seine helle Leinenhose war ebenfalls von guter Qualität. Die Flip Flops konnten als exzentrischer Tick durchgehen, aber er hatte ansonsten lediglich Turnschuhe und die wären noch weniger konform zu seiner Rolle gewesen. Leider hatte er auch keine teurere Uhr, daher hatte er ganz darauf verzichtet eine anzulegen.
Als Ron dem dicken Mann dann seine Papiere und seinen Pass vorlegte, schwanden seine Bedenken und die Gier übernahm die Oberhand. Ein blasierter, jugendlicher Schnösel, ohne Lebenserfahrung und Ortskenntnis war für einen Vollblutmakler wie ihn fast wie ein Lottogewinn.
Das war der Plan, den Ron gefasst hatte. Natürlich würde er übers Ohr gehauen werden, doch er betrog ja selber und veräußerte etwas, das ihm nur auf dem Papier gehörte. Eine Stunde später hatte er alle Formalitäten geklärt, einen Maklervertrag unterschrieben und dem Mann das Versprechen abgenommen, über seine Aktivitäten den Mietern gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Ron hatte ihn wissen lassen ein Neffe seiner Tante wohne dort und er wolle nicht, dass sich der Verkauf frühzeitig in der Familie herumspricht.
Der Makler versprach alles in seinem Sinne zu regeln während er ihm überschwänglich zum Abschied die Hand schüttelte. Ron gab dem Mann seine Handynummer und dieser versprach anzurufen, sobald er einen potenten Käufer gefunden hätte.
Wieder zurück auf der staubigen Straße im Herzen Athens atmete Ron tief durch. Seine Lehrer aus der Sekte wären stolz auf ihn gewesen. Sie hatten ihm beigebracht, dass der Schlüssel zum Erfolg bei „Bekehrungen“ darin lag, nicht einfach so zu tun als ob man jemand sei, der die Lebensumstände des Zielobjekts verstand, sondern dieser jemand zu werden. Dazu musste jede eigene Meinung, jedes Ding an dem man normalerweise hing, vernichtet werden. Die ursprüngliche Persönlichkeit musste ausgelöscht werden und man wurde für die Dauer der Aktion jemand Anderes. Genau das hatte er in diesem Maklerbüro getan, er war der Schnösel geworden, statt ihn einfach nur zu spielen und hatte dadurch die Glaubwürdigkeit, derer es bedurfte, um eine Millionenobjekt wie dieses Mietshaus zu verkaufen.
7
Währen der Schlaf ihn langsam übermannte, fragte sich Ron, ob er diese Technik nicht schon viel zu oft benutzt hatte. Jetzt war er John White, ein kleiner Angestellter aus Birmingham. Er wusste, dass er auf diesen Namen reagieren würde, selbst wenn wenn man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hätte. Jedoch wohl nicht mehr auf Ron, es war viel zu lange her, dass er dieser Ron sein durfte oder gewesen war.
Die Sonne stand bereits tief, als er erwachte. Die ungewohnte Wärme und die lange Phase ohne Schlaf sorgten für bohrende Kopfschmerzen. Ron versuchte vergeblich, sie mit einer kalten Dusche zu vertreiben.
Er zog sich an und schlenderte zum Haupthaus. Dort war es jetzt etwas belebter als am Morgen. Insgesamt drei Tische waren besetzt. An einem saß ein alter Mann mit einer ca. dreißigjährigen Schwarzen, eine Nutte, wie Ron auf den ersten Blick feststellen konnte. Vor allem eine, an der die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte. Sie wirkte verlottert mit einer billigen, über dem Bauchnabel zusammengeknoteten Bluse und viel zu eng sitzende Hot Pants.
Am Nachbartisch saß eine Gruppe von drei Engländern und fünf schwarzen Mädchen. Die Männer sahen aus wie Soldaten, alle Anfang zwanzig mit kurzem militärischem Haarschnitt, die Frauen waren ebenfalls jung und versuchten nach besten Kräften, sich einen der Soldaten zu angeln.
Am dritten Tisch saßen ausschließlich Schwarze. Ron vermutete, dass dort der Manager oder die Managerin Hof hielt, mit Freunden oder Personal. Er setzte sich an einen freien Tisch und bestellte etwas zu Essen. Es gab Grillfleisch, sehr ölige Pommes Frites und einen schrecklich nach Koriander schmeckenden Tomatensalat.
Doch Ron war darauf vorbereitet gewesen, ehemalige britische Kolonien waren berüchtigt dafür, vor allem schlechte Angewohnheiten der Engländer übernommen zu haben. Dazu zählten der Linksverkehr und das Essen.
Das eiskalte Bier, das er dazu trank, verursachte in seinem Magen Krämpfe, aber die Kopfschmerzen ließen nach. Wie er es erwartet hatte, blieb er nicht lange allein an seinem Tisch. Er hatte sich noch nicht die Zigarette nach dem Essen angezündet, als zwei der Mädchen vom Tisch der Soldaten aufstanden und auf seinen zusteuerten. Sie hatten sich wohl ausgerechnet, dass er leichtere Beute war, als sich mit den anderen drei Mädchen um die Soldaten zu bemühen. Ron musste grinsen, auch wenn die meisten dieser Mädchen kaum Schulbildung hatten, so wussten sie dennoch, dass Soldaten schlecht bezahlt wurden und in den seltensten Fällen auf mehr als auf schnellen Sex aus waren.
Doch hier träumten die Frauen von einer Zukunft in Europa oder Amerika, sie wollten einen Mann, der sie aus der Armut befreite und nicht nur eine schnelle, schlecht bezahlten Nummer. Aber es war natürlich für sie einfacher, einen zwanzigjährigen Soldaten mit ins Bett zu nehmen, als einen fünfundsiebzigjährigen Rentner, wie den am Nachbartisch. Danach richteten sich die Preise, alte Männer mussten mehr bezahlen, was Ron als durchaus gerecht betrachtete.
Er wollte mehr über die hiesigen Gegebenheiten wissen und lud die beiden ein, ein Bier mit ihm zu trinken. Sie schienen aus dem Hochland zu kommen, denn sie waren dunkler als die hier mehrheitlich wohnenden Menschen die „Swahili People“ genannt wurden und hellbraune Mischlinge waren. Hochlandbewohner waren Christen, im Gegensatz zu der hier vorherrschenden Religion der Moslems. Das machte es für Sie einfacher, sich zu prostituieren. Sie mussten keine Kopftücher tragen und waren so weit weg von ihren Familien, dass sie dort erzählen konnten, sie arbeiteten in einem Hotel oder etwas Ähnlichem. Natürlich glaubten nur die Naivsten diese Geschichten, aber es wahrte den Schein und, oft genug erzählt, glaubten die Mädchen sogar selbst daran.
Im Plauderton horchte Ron die beiden aus. Wo sie wohnten, wohin sie ausgingen, ob hier im Hotel viel los sei, wie es hier mit der Polizei war und andere Dinge, die für sein Vorhaben interessant waren. Dazwischen hörte er sich ihre Lügengeschichten an, von der Ausbildung, die sie hier irgendwo machen würden, dass sie normalerweise kaum ausgingen und andere Geschichten von denen sie wussten, dass Touristen sie gerne hörten.
Den Männern, die hier dem Sex wegen Urlaub machten, wurde auf diese Weise suggeriert, dass ihre Erfahrungen aus Europa hierher zu übertragen seien. Wer das glaubte, war selbst schuld. Diese Mädchen waren nicht hier, weil sie es toll fanden, dicke Rentner anzumachen. Sie trieb ausschließlich die wirtschaftliche Not. Darum war Geld alles, was sie wollten, und sie würden keine Gelegenheit auslassen, es zu nehmen, wenn es möglich war. So wie er es damals getan hatte, als er das Haus in Athen verkauft hatte.
Als es dunkel wurde, lenkte Ron das Gespräch in eine neue Richtung. Unschuldig fragte er, wo hier etwas los sei. Sie zählten sofort pflichtschuldig alle Discos auf, die es in Malindi gab. Doch das war es nicht, was er wollte. Er streute ein, er hätte etwas von einem tollen Ort namens Watamu gehört, in dem es einen guten Club gab.
Natürlich kannten die beiden sowohl den Ort als auch den Club. Dennoch zögerten sie. Ron war klar warum. Sie würden sich dadurch weit von seinem Bett entfernen und sich in ein Gebiet begeben, in dem sie auf unbekannte Konkurrentinnen treffen würden.
Ron grinste. Er hatte sowieso nicht vorgehabt, eine der beiden dahin mitzunehmen, als Außenstehende waren sie nicht geeignet für das, was er vorhatte. Doch er war an allen Informationen interessiert, die er kriegen konnte und seine Begleiterinnen waren aufrichtig bemüht, alles Schlechte, was ihnen zu Watamu einfiel, zu erzählen. Ron war zufrieden, eine Stunde später war er voll darüber im Bilde, was ihn morgen erwarten würde. Er bezahlten den beiden noch ein paar Bier, trank selbst aber nur noch Fanta. Gegen Mitternacht verabschiedete er sich und gab vor müde zu sein, der Flug stecke ihm noch in den Knochen. Beide protestierten, aber Ron ließ sich nicht beirren und ging in sein Zimmer.
Doch er hatte nicht mit der Beharrlichkeit der Mädchen gerechnet. Er hatte sich kaum ausgezogen, als es zögerlich an seine Tür klopfte. Er öffnete, nur in Boxershorts, die Tür. Eine der beiden, er konnte in der Dunkelheit nicht einmal sicher sagen welche, stand vor ihm und zog sich wortlos aus. „Ich schreie laut, wenn du mich nicht jetzt fickst.“, flüsterte sie ihm ins Ohr und zog ihn hinein.
Er hatte unruhig geschlafen und wusste zuerst nicht wo er sich befand, als er am nächsten Morgen früh erwachte. Einen Moment glaubte er wieder im Schlafsaal in Sussex zu sein. Dem großen kalten Raum mit den vielfältigen Geräuschen von heimlich masturbierenden Jungen auf dem Höhepunkt der Pubertät.
Doch dann wurde ihm klar, dass das Schnarchen von dem nackten schwarzen Mädchen stammte, die neben ihm lag. Sonst war nur das monotone Surren des Deckenventilators zu hören. Er betrachtete den muskulösen Körper des Mädchens, der wohl schwerer Arbeit auf Feldern und dem Tragen von Wasserkanistern geschuldet war.
Einen Moment lang fühlte er sich schuldig und beschmutzt. Natürlich hatte er ein Kondom benutzt, aber er hatte sich dilettantisch angestellt. Es war schon sehr lange her, seit er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte und das hatte deutliche Auswirkungen auf seine Fähigkeiten als Liebhaber gehabt. Sie hatte dennoch alle Register gezogen, um ihn zufrieden zu stellen. Seine Unzulänglichkeiten ignorierend hatte sie ihm das Gefühl gegeben, ein guter Liebhaber zu sein. Doch Ron wusste es besser. Seit Clair war er nicht mehr in der Lage, körperliche Liebe unbeschwert zu genießen. Seit damals in London.
Doch er kam nicht dazu, seinen trüben Gedanken weiter nachzuhängen, denn Jane, oder Janet, er hatte sich nicht einmal ihren Namen richtig gemerkt, wurde ebenfalls wach und forderte sofort einen Nachschlag. Ron war erleichtert, dass es dieses Mal weniger schwierig für ihn war seinen Mann zu stehen, und er war fast geneigt, ihren Komplimenten zu glauben, die sie ihm ins Ohr gurrte.
Später beim Frühstück eröffnete er ihr, er habe eine Safari gebucht und müsse ein paar Tage lang weg. Janet, das war ihr Name, wie er mittlerweile wusste, war nicht begeistert. Doch als er ihr einen großzügigen Geldbetrag gab und versprach, in zehn Tagen zurück zu sein, hellte sich ihre Mine auf. Das Geld linderte ihren Schmerz und sie versprach sofort auf ihn zu warten. Ron überlegte, vielleicht war es sogar von Vorteil Hilfe zu haben, wenn er zurück kam, und tat erfreut, sie dann wieder zu treffen.
Die gleiche Geschichte erzählte er der rundlichen Frau, die auch heute wieder die Frühschicht im Restaurant hatte. Dann bat er sie darum, ihm ein Taxi zu rufen. Zurück auf seinem Zimmer, öffnete er seinen überdimensionalen Koffer und holte einen fertig gepackten Rucksack heraus. Es war das übliche „back Packer“ Modell, wie es auf der ganzen Welt von Rucksacktouristen verwendet wurde. Das einzig besondere daran war, dass Ron alles zweimal dabei hatte. Zwei Kulturbeutel, zwei komplette Ausstattungen mit schrecklichen Hemden, Jeans und Boxershorts. Ein Satz, der im Rucksack, blieb in seiner Hütte zurück, den zweiten in dem enormen Koffer nahm er mit. Doch dieser würde dort zurückbleiben wo er jetzt hinging. Das stand jetzt schon fest.
8
Er nahm das Taxi zum Busbahnhof von Malindi, einem großen, sehr staubigen Platz nahe dem Markt. Hier begannen und endeten Reisen in alle Richtungen des Landes. In seiner Nähe gab es einen Laden, der sich „African Safaris“ nannte und sein offizielles Ziel war.
Er zahlte das Taxi und wartete, bis der Fahrer außer Sichtweite war. Dann nahm er seinen Koffer und überquerte den Platz bis er in dem Bereich angekommen war, von dem aus die regionalen „Matatu“ Busse abfuhren. Das waren Kleinbusse, die den Nahverkehr übernahmen. Nach ein paar Minuten hatte er den Richtigen gefunden. Watamu stand auf einem handgeschriebenen Pappschild das hinter der Windschutzscheibe lag. Ron stieg ein und quetschte sich mit seinem Koffer auf die durchgesessene Sitzbank.
Der Fahrer nahm kaum Notiz von ihm. Es war ungewöhnlich, dass ein Weißer sich alleine auf eine Reise in einem Matatu machte, aber es kam vor. Daher hielt sich sein Interesse in Grenzen. Nach wenigen Minuten war der Bus voll. Der unvermeidliche Beifahrer, der kassierte, den Fahrer informierte wenn jemand aussteigen wollte und nach neuen Fahrgästen Ausschau hielt, klopfte zweimal auf das Blech des Daches und es ging los.
Ron versuchte seinen Platz gegen eine fürchterlich fette Frau in einem geblümten Kleid zu verteidigen, die sich neben ihn gequetscht hatte. Es war nicht seine erste Fahrt in so einem Kleinbus, daher blieb er ruhig. Doch es war nicht einfach, bei Temperaturen um die sechzig Grad auf eine Sitzbank gequetscht zu werden, während der Fahrer in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die schlechten Straßen raste. Er verwendete die bereits zwei Nächte vorher angewandte Atemtechnik, diesmal aber nicht um klarer zu sehen, sondern um sich zu entspannen. Langsam wurde er ruhiger und empfand weniger Platzangst, wenngleich er immer noch aus allen Poren schwitzte. Den Blick auf einen imaginären Punkt am schmutzigen Fahrzeughimmel gerichtet, wanderten seine Gedanken wieder zurück zu den Ereignissen in Sussex.
9
Im Nachhinein betrachtet, war das schwierigste an seinem Plan gewesen, ein Handy zu bekommen. Handys waren streng verboten, und die Mitglieder der Sekte durften kein eigenes Geld haben. Die Erwachsenen erhielten schon so etwas wie ein Taschengeld, aber die Schüler bekamen nicht einmal das. Er hatte damals den Führerschein machen dürfen, weil er sich freiwillig verpflichtet hatte, Einkäufe für die Schulküche zu erledigen.
Dieses Privileg war es dann auch, das ihm dabei half, ein Handy zu beschaffen. Er traf eine Absprache mit dem Gemüsehändler, einem der wenigen Menschen zu denen er Kontakt hatte, der nicht zur Sekte gehörte. Jedes Mal wenn er eine Lieferung abholte, holte er alles selbst aus dem Lager und lud es selber ein. Für diese Arbeit, die er dem Händler abnahm, erhielt er jedes Mal ein Pfund in bar. Nach 30 Touren konnte er sich ein einfaches Handy mit Prepaid Karte kaufen. Er hielt es gut versteckt, denn es war sein Kontakt zu seiner einzigen Chance, dieses Leben für sich und Clair zu beenden.
Zurück aus Griechenland kontrollierte er jeden Abend die Anrufliste. Wenn er seine Einkäufe erledigte, lud er es mit einem Autoadapter auf, der als Zubehör bei dem klobigen unmodernen Gerät dabei gewesen war. Dann betete er jedes Mal, dass es endlich klingeln würde und auch dafür, dass das Gerät unentdeckt bleiben würde. Es dauerte 4 Monate bis der Makler anrief. Er habe einen Käufer für 600.000 Pfund gefunden verkündete er stolz. Ron hatte die Papiere des Hauses bei seinen Eltern gesehen und wusste, dass die Sekte etwas mehr als 900.000 Pfund bezahlt hatte. Er tat daher unnahbar. Er habe bereits von einem Mitglied seines Club mehr geboten bekommen. Jedoch wäre dort das Auszahlungsdatum erst nach Beginn seiner Expedition, weshalb er dieses Angebot nicht angenommen habe, ließ er den Makler wissen. Das Angebot läge bei 800.000 Pfund und er wäre lediglich bereit auf 750.000 herunter zu gehen, sollte der Verkauf schnell gehen. Er konnte am Telefon spüren wie es in dem Mann arbeitete, er würde immer noch ein hervorragendes Geschäft machen, wenn er das Haus für 750.000 Pfund erwerben konnte. Doch das konnte er natürlich nicht sofort zugeben. Er erbat sich Bedenkzeit, um mit seinem Klienten zu reden. Ron war klar, dass es keinen Klienten gab. Natürlich wollte der Makler das Geschäft selber machen. Er hatte lediglich Zeit gebraucht, um einen Käufer zu finden, an den er das Haus direkt weiter veräußern konnte. Daher rechnete er damit, dass der Makler nicht sehr lange brauchen würde, bis er sein Angebot annahm. Es wurde Zeit, den zweiten Teil seines Plans zu beginnen, er musste den Admiral kontaktieren.
10
Die unbequeme Fahrt war nach fünfzig Minuten vorbei und das Matatu hielt auf einer breiten Straße inmitten des Dorfes Watamu. Die dicke Frau war glücklicherweise bereits zwanzig Kilometer früher ausgestiegen, so dass Ron den Rest der Fahrt genießen konnte. Palmenhaine und Obstplantagen säumten die Straße. Es war die einzige weit und breit, die asphaltiert war und damit beste Bedingungen für jede Art von Gewerbeansiedelung bot. Watamu selbst war ausschließlich touristisch ausgerichtet, es gab einen großen Hotelkomplex einer europäischen Hotelkette und viele kleinere Hotelanlagen, die von der geschaffenen Infrastruktur profitierten.
Das Matatu hatte ihn bis fast vor sein Ziel gebracht, die "Old American Man Lodge". Ron erkannte sofort die Parallelen. Hier waren die Hütten rechteckig gebaut, jeweils zwei Zimmer pro Haus, der Garten war nicht so gepflegt wie in der Pole Pole Lodge und die Dächer bestanden aus Wellblech. Aber ansonsten war die Anlage im gleichen Stil errichtet, es gab ebenfalls ein Haupthaus, jedoch mehr Bar als Restaurant, wenig Wachpersonal und noch weniger Fragen. Zufrieden meldete er sich an, hier hatte er keine Reservierung, aber es gab auch genügend Alternativen, sollte dieses Hotel voll sein. Doch er erhielt problemlos ein Zimmer, das er für sechs Tage buchte. Er würde jederzeit aufbrechen können, schließlich war sein Koffer nur Tarnung und er wusste aus Erfahrung, dass er scheitern würde, wenn es länger als sechs Tage dauerte, seine Zielperson zu lokalisieren. Weiße konnten sich in Afrika kaum verbergen. Das war sowohl von Vor- wie auch Nachteil, für das was er vorhatte. Einerseits konnte sich seine Zielperson nicht verstecken, andererseits stand er selbst im Fokus und musste aufpassen, dass seine Tarnung nicht aufflog. Er verstaute sein Gepäck in dem lieblos eingerichteten Zimmer. Die Grundausstattung war auch hier die gleiche, es fehlte nur der Hocker für den Koffer, und das Moskitonetz hatte Brandlöcher von Zigaretten. Er steckte sich selbst eine an. Für seine Bedürfnisse war das Zimmer perfekt, schließlich war er nicht hier, um Urlaub machen. Bei diesem Gedankten stutzte er. Es wurde ihm auf einmal klar, dass er noch nie einfach so Urlaub gemacht hatte. Seine Pässe für unnötige Reisen zu benutzen war ihm immer als zu gefährlich erschienen. Er überlegte kurz, ob es wirklich nur daran lag oder ob etwas nicht mit ihm stimmte. Doch er wischte den Gedanken rasch beiseite. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstzweifel. Anscheinend hatte Janet ihn doch mehr abgelenkt, als ihm lieb sein konnte. Immer wenn seine Gedanken zu dieser Nacht zurück schweiften war es, als könnte er ihre seidige dunkle Haut erneut spüren. Er rief sich zur Ordnung und machte sich auf den Weg den Ort zu inspizieren, solange es hell war.
Langsam schlenderte er die Hauptstraße entlang. Es herrschten bestimmt fünfundvierzig Grad im Schatten, da verboten sich schnelle Bewegungen von selber. Es gab in der Nähe des großen Hotels zwei größere Disco-Clubs, drei kleinere Hotelanlagen wie die, in der er abgestiegen war und unzählige kleine Geschäfte. Safari-Anbieter, Andenkenläden, Friseure, Autovermietungen, mehrere Cafés und Imbissbuden. Die übliche Mischung, nur dazu gedacht auch den letzten Cent aus den Touristen herauszuholen. Jetzt am frühen Nachmittag war es drückend heiß, daher waren die meisten Geschäfte leer. Hier und da versuchte ein müder Verkäufer Ron in seinen Laden zu locken, aber um diese Zeit lief die Maschine nur im Leerlauf. Ron betrachte das Hotel, das von dieser Seite aussah wie ein Straflager. Es gab Wachtürme, einen Schlagbaum, Stacheldraht und Wachmänner mit Hunden. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Solche Anlagen waren wie Theaterkulissen. Innen wurde den Touristen Exotik und Folklore vorgegaukelt, aber alles immer schön im erwarteten Rahmen. Die meisten Pauschalurlauber verließen diese Festungen nur im klimatisierten Bus, um auf ausgetretenen Pfaden ein Land zu besichtigen, dass es so nur in den Prospekten der Reiseveranstalter gab. Die wenigen, die den Mut hatten, durch das Tor zu schreiten, gerieten an diese Händler und Geschäftemacher, die nach Kräften bemüht waren, dieselbe Illusion aufrecht zu erhalten. Am Rande dieser Scheinwelt blühte dann die Prostitution, schwarzes Fleisch für Männer und Frauen, die mehr wollten als nur Sonne und Palmen. Ron dachte an Janet und die Nacht, die hinter ihm lag. Ganz so einfach war es natürlich doch nicht. Alle Menschen hatten ihre Träume und versuchten ein Stück vom Glück zu erhaschen. Das war hier nicht anders als überall sonst auf dieser Welt. Seine Sinne klärten sich, die Konturen wurden wie von alleine schärfer. Unwillkürlich hatte er bei seinen Betrachtungen in den Atemmodus seiner Meditationen gewechselt. Es wurde Zeit mit seiner Arbeit anzufangen. Dazu brauchte er zuerst einen Zugang zur dunkeln Seite dieses Paradieses. Er brauchte eine Janet, die sich hier auskannte.
Etwas abseits der asphaltierten Hauptstraße gab es so etwas wie ein Dorfzentrum. Hier waren die Straßen unasphaltiert und staubig. Die Häuser waren eine Mischung aus einfachen Hütten und für afrikanische Verhältnisse luxuriöse Anwesen. Er schlenderte den Weg entlang, bis er auf der rechten Seite eine belebte Bar erblickte. Ein Holzschild wies es als Crossroad Cafe aus. Rons geschärfte Sinne konzentrierten sich sofort auf diese Bar. Hier war er richtig, vielleicht konnte er sogar die Spur die er suchte ohne Umwege aufnehmen. Er sah sofort, dass hier die dunkle Seite begann. Die Bar war billig und selbst zu dieser frühen Stunden bis auf den letzten Platz gefüllt.
Viele Frauen waren so gekleidet, dass sie auch auf der Herbertstraße in Hamburg oder ähnlichen Hurenvierteln nicht weiter aufgefallen wären. Durchsichtige Blusen mit Spitzen-BHs darunter, enge Miniröcke, noch engere T Shirts. Dazu Männer mit Rasta Zöpfen, austrainiert mit Markenjeans und eine bunte Schar weißer Alkoholiker, die jetzt schon beim vierten oder fünften Bier waren. Natürlich fehlten auch ein paar übergewichtige weiße Frauen nicht, an deren Tischen sich die Rastamänner aushalten ließen. Ron quetschte sich durch die engen Tischreihen und ergatterte einen Platz an der Bar. Sofort wurde er von unzähligen Augenpaaren taxiert. Jeder hier sah ihm an, dass er Frischfleisch war und versuchte ihn zu taxieren. Sie wollten herausfinden was er hier suchte, ob es Sex, Drogen oder Alkohol war. Ron ignorierte die Blicke und bestellte ein Bier. Dann sah er sich um. Die zu nuttig angezogen Frauen ignorierte er. Wer so viel Werbung machte, war meistens drogensüchtig oder hochgradig infektiös. Die Älteren kamen ebenfalls nicht in Betracht, zu viel Erfahrung machte misstrauisch und er konnte es sich nicht leisten, dass seine wahre Mission durchsickerte. Es blieben nur eine Hand voll Frauen übrig von denen er annahm, dass Sie für sein Vorhaben geeignet waren. Einige hatten bereits Kundschaft, was den Kreis der Kandidatinnen weiter einschränkte. Er wimmelte die Annäherungsversuche einiger älterer Nutten ab und fand schließlich, was er suchte. Hinten im Eck saßen zwei jüngere Frauen bei einer Suppe. Natürlich hatten auch sie ihn längst erspäht und er erntete beinahe sofort eine Reaktion, als er eine von ihnen etwas länger fixierte. Sie stand auf und kam unverblümt auf Ron zu. Sie hatte ein interessantes Aussehen. Ihre Nase hatte eine fast europäische Form und zwischen den Schneidezähnen hatte sie eine deutliche natürliche Zahnlücke, dabei hatte Sie aber die dunkle Farbe der Hochlandbewohner und echtes, halblanges, geglättetes Haar. Sie war mittelgroß und schlank mit kleinen, leicht hängenden Brüsten. Ron nahm an, dass sie Kinder hatte. Er schätzte sie auf fünfundzwanzig, ein Alter, in dem nahezu alle Frauen hier bereits Mutter waren. Wenn es mit einem Europäer etwas Ernstes wurde, bekamen diese die Kinder als kleine Schwester, oder Nichte vorgestellt. Doch das war ihm egal, für seine Zwecke war es ohne Belang. Sie fragte ihn höflich, ob er sich zu ihnen an den Tisch setzten wollte und Ron sagte zu. Er balancierte sein Bier durch die enge Gaststube und setzte sich zu den Frauen. Das Mädchen stellte sich ihm als Salome vor. Ron musste grinsen. Nicht nur ihr Aussehen war ungewöhnlich, ihr Name war es ebenfalls. Sie tauschten die üblichen Höflichkeiten aus. Woher sie kamen, wie alt sie seien und überboten sich dabei an Lügen. Als er ihre Neugier gestillt hatte, sorgte er erst einmal für klare Fronten und machte der anderen Frau durch seine Gesten unmissverständlich klar, das Salome seine Wahl war. Sie verstand und entschuldigte sich kurz darauf. Die Frau, die er gewählt hatte, spielte „anständiges Mädchen“. Sie erzählte ihm die Geschichte, dass sie hier in Ausbildung und natürlich anständig sei. Ron kannte das, es gab nur zwei Geschichten, die in der einen oder anderen Variante von allen hier erzählt wurde. Entweder hatte sie die Not in die Prostitution getrieben, oder sie waren nette Mädchen von nebenan. Erstere verhandelten einen Preis, letztere hatten Hunger, kein Geld für die Miete oder eine kranke Mutter. Das Ergebnis war dasselbe, vielleicht war die zweite Variante sogar im Endeffekt teurer für den unbedarften Touristen. Zu dieser Variante gehörte natürlich auch, dass er Salome nicht gleich auf sein Zimmer mitnehmen durfte. Es war ein „Date“ nötig. Ron hatte Probleme nicht zynisch zu grinsen, als sie in bester Hollywood-Film Manier vorschlug, ihn abends in einer der beiden Disco Clubs zu treffen. Er verkniff sich das Grinsen und sagte zu.
Auf dem Weg zurück in sein Hotel ließ er die Eindrücke auf sich wirken. Er kannte die Mechanismen nur zu gut, die dort angewandt worden waren. Alle die hier von den Touristen lebten kannten eine Wahrheit über die Wahrnehmung der Menschen. Niemand glaubte was er sah, alle sahen nur was sie glaubten. Passierten Dinge außerhalb ihres Glaubenssystems, wurde diese mit aller Macht ignoriert. Alle Menschen schafften sich ihre eigene Erklärung wie die Welt funktionierte. Erfahrungen wurde in ein System überführt, in dem sie operierten. Hatte etwas irgendwann mal funktioniert, dann wurde das unter Wahr abgelegt, scheiterte man, dann kam es in die Falsch-Schublade. Das Gefährliche daran war nicht, dass die Menschen ihre Welt so klassifizierten. Das Problem war, dass die meisten von nun an diese Klassifizierung nie mehr hinterfragten. Davon lebte das System der hiesigen Halbwelt. Die Nutten und Stricher erzählten den Touristen irgendetwas das konform zu ihrem Erfahrungssystem war und wurden dann ganz automatisch in Schubladen eingeordnet, die nichts, aber auch gar nichts mit der Realität zu tun hatten. Die Menschen hier lebten in den Tag hinein, von dem, was von den Weißen für sie abfiel. Keine Krankenversicherung, kein Bankkonto, kaum Schulbildung und ein Wertesystem, das sich grundlegend von dem Unterschied, was die Weißen kannten. Doch niemand fiel das auf. Die Touristen strömten aus ihren klimatisierten Hotelzimmern, mit ihrem Geld und ihren Vorstellungen von Leben. Dann trafen sie auf Menschen, die sie in ihren Vorstellungen bestätigten und damit war ihre Weltsicht bestätigt.
Schlimm wurde es erst, wenn sich so ein Tölpel in seinen Sexpartner verliebte. Dann zappelte er an der Angel und konnte im besten Fall nur sein Geld abschreiben. Doch Ron kannte viel schlimmere Schicksale. Mit Schaudern dachte er an den kleinen Angestellten, dessen reiche Mutter ihn vor Jahren damit beauftragt hatte, ihren Sohn zu finden. Er hatte eine stolze Massai geheiratet und beide waren nach und nach im Alkoholnebel versunken. Er war der typische Quartalssäufer. Unter der Woche nüchtern und am arbeiten, von Freitagabend bis Sonntagmittag nur am trinken. Waren sie beide voll, kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Der Mann hatte sein Schicksal besiegelt, als er sie eines Tages krankenhausreif schlug. Denn von diesem Zeitpunkt an hasste sie ihn. Im nächsten Urlaub ertrank er im Swimming Pool eines kleinen Hotels, nicht weit von ihrem Heimatort. Dort war ihr Onkel Polizeichef und natürlich klassifizierte dieser das Dahinscheiden des Deutschen als einen Unfall. Doch Ron wusste es nach nur zwei Tagen Recherche besser.
Damals hatte er nur schlechte Nachrichten mitgebracht, doch die Frau war ihm dennoch dankbar gewesen. Sie hatte unverzüglich ein Testament aufgesetzt und die Massai enterbt. Es hätte Ron nicht gewundert, wenn sie zusätzlich noch einen Killer beauftragt hätte, denn die alte Dame war knallhart. Er konnte nur hoffen, dass diese Mission besser laufen würde. Er sah in seine Brieftasche. Ein Passbild, wie von seiner Frau oder Freundin war darin. Er betrachtete das rundliche Gesicht eines Mädchens. Sie war zweiundzwanzig, sah aber auf dem Foto aus wie sechzehn. Eine gut behütete Tochter aus reichem Hause. Nach ihrem Bachelor hatte sie eine Reise gebucht. Sechs Wochen Afrika sollten es sein. Nun war sie bereits acht Monate hier. Ihre Kreditkarten waren gesperrt, ihr Ticket verfallen, ihre Sim Karte gesperrt. Ron seufzte. Vier Monate ohne Geld hier waren die Hölle. Malaria, Hunger, mangelnde Hygiene und daraus resultierende Krankheiten. Viele Möglichkeiten des vorzeitiges Ablebens für jemand, dessen Immunsystem nicht hier programmiert worden war. Doch er hoffte, dass er diesmal Erfolg hatte und sie lebendig fand.
Er betrat einen der kleinen Läden vor dem Hotel und kaufte Wasser. Niemals Leitungswasser trinken und nichts, was offen ausgeschenkt wurde, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Auch wenn er Aufträge in Europa vorzog, wurde er doch immer wieder auch für Fälle wie diesen gebucht. Denn eigentlich machte es keinen Unterschied. Seine Fähigkeit bestand darin, dass seine Schubladen defekt waren. Er konnte sich in alles hineinversetzten, da seine Grundprogrammierung durch die Sekte vorgenommen wurde. Ein Programmierung, mit der er damals gebrochen hatte. Aus schwarz wurde weiß, alles was die Sekte abgelehnt hatte, wurde für ihn später zu Fanalen der Freiheit. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er nach seiner Flucht, monatelang jeden Tag dümmliche Fernsehshows gesehen hatte. Nur weil das vorher verboten war. Erst im Laufe der Zeit konnte er dann differenzieren, was er in seinem Leben als positiv betrachten konnte und was nicht. Doch als Folge davon gab es nichts, was er nicht hinterfragte. Nichts war von vornherein positiv oder negativ. Daher konnte er jede Ideologie, jeder Denkweise und jede Absicht nachvollziehen. Er konnte in jede Haut schlüpfen und jede Absicht erahnen. Die, die er hier suchte, ahnten nicht einmal, dass es so etwas gab. Betrüger können sich nicht vorstellen, betrogen zu werden. Ihre Masche hatte ja bisher immer funktioniert, Salomes Kunden glaubten ihr ihre rührseligen Geschichten und spendeten für ihre kranke Mutter. Das es jemanden wie Ron gab, der sie als Schlüssel zur Unterwelt benutzen wollte, käme ihr nie in den Sinn. Darin unterschieden sich Täter und Opfer kein bisschen, jeder funktionierte nach dem gleichen Prinzip. Nur der, der außerhalb dieses Systems operieren konnte, war stärker, egal wie schwach er auch war. Das war der eigentliche Grund für seine Erfolge. Er war nicht mehr in der Lage, überhaupt etwas zu klassifizieren. Er wertete nicht, sondern nahm die Dinge wie sie waren. War Janet mit ihrer aggressiven Kundenwerbung gut oder schlecht? Ron hatte keine Ahnung. Aber er hatte ihre einfühlsame Art seinen Libido zu erwecken als positiv empfunden. Da war es angebracht gewesen, sein Spesenkonto mit einem größeren Betrag zu belasten.
Zurück in seinem Zimmer legte er sich aufs Bett. Er hatte vor noch ein wenig zu schlafen, denn die Nacht würde lang werden. Doch das erwies sich als unmöglich. Seine Gedanken wanderten ständig zurück nach Sussex, zu Clair.
11
Clairs Vater, der Admiral, wurde nur so genannt. In Wahrheit war er ein kleines Licht in der Verwaltung des MI5, des englischen Inlands- Geheimdienst. Er hatte den Spitznamen Admiral von der Sekte erhalten, als er mehrfach mit geradem Rücken und tadelloser Betonung vor den Toren des Greenwood Anwesens erschienen war und seine Tochter zu sehen verlangte. Natürlich war er von den wachhabenden Rittern der Klarheit jedes Mal abgewiesen worden, aber er hatte es beharrlich so lange versucht, bis seine Exfrau eine richterliche Verfügung gegen ihn erwirkt hatte. Sie war in der Sekte, seit sie sich in einen „ausgewachsenen Giganten“ verliebt hatte. Als sie nach Greenwood zog, hatte sie die gemeinsame Tochter mitgenommen und der Admiral hatte seit dieser Zeit versucht, sie zurück zu bekommen.
Ron brauchte Geld, einen sicheren Ort und ein Flugticket nach Athen, um seine Pläne zu verwirklichen. Clairs Vater war der Schlüssel dazu. Auf seiner nächsten Einkaufstour rief er ihn an. Ron hatte das Gespräch hunderte Male in seinen Gedanken geführt, dennoch hatte er schweißnasse Hände und eine belegte Stimme, als er die Nummer wählte. Er erreichte lediglich den Anrufbeantworter und legte schnell auf. Tief atmend schimpfte er sich einen Narren. Natürlich war Clairs Vater auf der Arbeit und diese Nummer hatte er nicht. Er überdachte kurz die Situation und wählte die Nummer dann erneut. Mit fester Stimme sagte er:
„ Guten Tag, ich bin ein Freund ihrer Tochter Clair. Ich kann ihnen vielleicht eine Möglichkeit bieten, sie zurück zu bekommen. Wenn sie an weiteren Informationen interessiert sind, dann seien sie bitte nächste Woche um diese Zeit unter dieser Nummer erreichbar.“
Nachdenklich betrachtete er das Telefon. Hoffentlich klappte das Timing. Alles hing davon ab, dass er die verschieden Fäden in der Hand behielt und alle soweit verweben konnte, dass alles auf einmal bereit war. Schaffte er das nicht, waren seine Pläne undurchführbar.
Er schief schlecht in den nächsten Nächten. Die vielfältigen Geräusche des Schlafsaals wirkten auf einmal bedrohlich. Ahnte die Sekte etwas? War der Admiral vertrauenswürdig? Hatte die griechische Zweigstelle etwas von den Verkaufsplänen mitbekommen? Hielt Clair dem Druck stand? Vor allem befürchtete Ron, dass er in den nächsten Tagen eine Glaubensprüfung machen musste. Diese wurden immer unangemeldet durchgeführt und er glaubte nicht, dass er derzeit die Kraft hatte, so einen Test zu überstehen. Er befürchtete, sich innerlich schon viel zu weit von den Dogmen der Sekte verabschiedet zu haben um ihre Lügendetektoren noch austricksen zu können. Doch er hatte kein Glück. Am Tag vor seiner nächsten Einkaufstour war es wieder so weit, eine der gefürchteten Glaubensprüfungen fand statt. Während er mit seinen Mitschülern auf dem Gang wartete, analysierte er die Situation. Klarheit war das Gebot der Sekte. Alles die Doktrin störende musste ausgeschaltet werden. Doch seine Gedanken waren überfrachtet mit seinen Fluchtplänen und seiner Liebe zu Clair. So würde er die Befragung niemals überstehen. Er kontrollierte seine Atmung, eine Technik, die die Sekte selbst lehrte. Es hieß, „ausgewachsene Giganten“ könnten durch bloße Konzentration jegliche Ablenkung ausschalten und nur die reine Logik sein. Wenn das wirklich funktionierte, dann musste er diesen Zustand jetzt erreichen. Jeder Gedanke an Clair und seine Flucht musste aus seinem Geist verschwunden sein, wenn er die Prüfung überstehen wollte. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Ron an der Reihe war, zwanzig Minuten, in denen er sein ich auslöschte. Alles was ihm lieb und teuer war, verbannte er in einen Winkel seines Geistes und dieses verriegelte er mit allem, was ihm zur Verfügung stand. In die daraus resultierende Leere lud er das Geschwätz seiner Lehrer und Eltern. Nur der sei frei, der alle Regeln der Sekte befolgte. Nutze dein Potential, werde zum Giganten. Als er an den Detektor angeschlossen wurde, war er ruhig wie nie zuvor. Er log nicht, er verbarg nichts, er war ein Musterschüler der Lehre. Auf seine Atmung achtend überstand er die Prüfung besser als jemals zuvor. Der a.G., der ihn an das Drahtgewirr des Detektors angeschlossen hatte, nickte ihm hinterher anerkennend zu.
„Du hast große Fortschritte gemacht Ron, ich bin stolz auf dich.“
Ron lächelte ihm freudig zu, denn er hatte sich so weit in seine Rolle vertieft, dass ihn das Lob wirklich freute.
An diesem Tag war der neue Ron geboren worden. Damals hatte er gelernt, dass das Ich etwas flexibles war. Es wurde vom Inhalt der Schubladen definiert, in denen seine positiven und negativen Erfahrungen abgelegt waren.
---ENDE DER LESEPROBE---