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Die phantastischen Wesen kommen in unsere Welt – können sie die Inquisition besiegen? Eigentlich wollte Elliot Craig einfach nur einen neuen Job, der seine Rechnungen begleicht. Doch seine Arbeit im Merlin-Center, dem Kaufhaus für alles Phantastische, hat ihm im wahrsten Sinne des Wortes eine ganz neue Welt eröffnet – mit ganz eigenen Konflikten. Seit Jahrhunderten bekämpft die Inquisition alles Andersartige, und gemeinsam mit der Elfe Soleil will Elliot dieses Unrecht ein für alle Mal beenden. Als sich das Portal zwischen der magischen Welt und unserer öffnet, beginnt der finale Kampf. Das Finale der packenden Urban-Fantasy-Trilogie von Mikkel Robrahn. Alle Bände der »Hidden Worlds«-Trilogie: Band 1: Der Kompass im Nebel Band 2: Die Krone des Erben Band 3: Das Schwert der Macht
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Seitenzahl: 465
Mikkel Robrahn
Hidden Worlds 3 – Das Schwert der Macht
FISCHER E-Books
Für Lisa & Hartwig Peters, die ich (zu meinem großen Glück) Oma & Opa nennen darf
Die raue See peitschte gegen ihr kleines Boot. Nicht mehr lange, und sie würde kentern, da war Cecile sich sicher. Der Motor stotterte unentwegt, doch noch hielt er den Naturgewalten tapfer stand. Der Kompass hatte sie weit hinaus aufs Meer zwischen Schottland und Skandinavien geführt. Andere Schiffe oder wenigstens Möwen hatte sie seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen.
Cecile war hier draußen vollkommen allein.
Eine Welle schlug gegen die Seite der kleinen Nussschale, und Wasser schwappte herein.
»Verdammt«, fluchte Cecile. Ihre Schuhe waren durchnässt, und der Wind zerrte an ihren Klamotten. Sie holte sich hier draußen noch den Tod. Oder zumindest einen fiesen Schnupfen. Mit zitternden Händen suchte sie nach dem Kompass in ihrer Brusttasche. Sie holte ihn raus und umklammerte ihn.
Die nächste Welle schlug gegen das Boot, und Cecile verlor für einen kurzen Moment das Gleichgewicht. Mit der einen Hand hielt sie den Kompass, mit der anderen das Steuer des Heckmotors. Das Gefährt war für die Fischerei in Küstennähe gebaut, nicht aber dafür, sich so weit hinaus auf die stürmische Nordsee zu wagen. Sie hätte sich ein verdammtes Containerschiff organisieren sollen. Okay, das wäre vielleicht nicht unbedingt unauffällig gewesen, und bezahlbar erst recht nicht, aber wenigstens hätte sie ziemlich sicher keine Angst vorm Ertrinken haben müssen.
Cecile steuerte das Boot weiter durch die Wellen. Sie starrte auf den Kompass, der unverändert hinaus auf das Meer zeigte. Irgendwo da draußen sollte also das Portal nach Avalon sein. In Schottland, in einem Wald oder in den Katakomben einer Burgruine wäre auch zu einfach gewesen.
Cecile fror. Verdammt, es würde ihr auch nichts nützen, wenn sie als Eisblock in Avalon ankam.
Plötzlich erstarb das röhrende Geräusch des Motors, und die plötzliche Ruhe hatte etwas Unheimliches. Mist. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Hier draußen würde ihr niemand zu Hilfe kommen. War es das wirklich wert gewesen?
Egal. Es war zu spät, sich solche Fragen zu stellen. Sie war schon zu weit gekommen, um es sich jetzt anders zu überlegen. Hauptsache, Ruhe bewahren. Erst was gegen die Kälte tun, dann das Boot wieder zum Laufen bekommen. Cecile kramte in ihrer Tasche nach der Thermoskanne. Die Wärme war wohltuend wie eine heiße Dusche nach einer langen Wanderung in den verregneten Highlands. Fahrig drehte sie mit ihren steifen Fingern den Deckel ab, der als Becher diente, und goss Kaffee hinein. Gierig trank sie einen Schluck, nur um sich sofort die Zunge zu verbrennen.
»Scheiße«, fluchte Cecile. Sie hatte nicht erwartet, dass die Thermosflasche den widrigen Bedingungen so lange trotzen würde.
Das Boot schaukelte im Wellengang, während sie darauf wartete, dass der Kaffee abkühlte. Ihr Blick suchte den Horizont ab, doch außer dem endlosen Meer sah sie nichts.
Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie auch nicht so recht, wonach sie Ausschau halten musste. Sie hatte keine Aufzeichnungen darüber gefunden, wie dieses Portal aussah. Vorausgesetzt, man konnte es überhaupt sehen und fuhr nicht einfach plötzlich durch oder – und vor dem Gedanken gruselte sie sich – es war am Meeresgrund. Cecile hatte zwar in der Schule ein paar Schwimmabzeichen gemacht und auch nach Ringen tauchen müssen. Das waren aber immer nur wenige Meter in einem gut beheizten Schwimmbecken gewesen.
Sie schlürfte vorsichtig an ihrem Becher. Nun war der Kaffee weit genug abgekühlt, um ihn problemlos trinken zu können, und Cecile genoss es, in dieser beängstigenden Lage wenigstens ein warmes, wohltuendes Getränk zu haben. Die Kälte wich aus ihrem Körper, und das Zittern ließ nach. Cecile entspannte sich so gut, wie es in einer kleinen Nussschale mitten auf der Nordsee ging. Wenn sie sich nicht zu dumm anstellte, würde sie es schon überleben, da war sie sicher. Sie hatte ganz andere Dinge vollbracht und musste an den Einbruch in das Kloster der Inquisition denken. Salazar Montanari hatte Rache geschworen und das auch schnell in die Tat umgesetzt. Cecile und John waren untergetaucht, hatten unter falschen Namen gelebt und waren bei Freunden untergekommen. Aber Salazar ließ nicht locker. Er schien ihr die Sache mit seinem Bein wirklich übelzunehmen. Immer mehr Freunde und Bekannte bekamen Besuch von der Inquisition. Es wurden Fragen gestellt, wurde nachgebohrt. Einmal entkamen sie ihren Verfolgern nur knapp an der Waverly Station. Ihr Zug fuhr gerade ab, als Männer in schwarzen Mänteln und mit spiegelnden Sonnenbrillen auf das Gleis rannten. Sie hämmerten mit ihren Fäusten gegen die Scheiben, zerrten an den Türen, aber der Zugführer nahm keine Rücksicht. Der Fahrplan wurde eingehalten. Man konnte über die Bahn sagen, was man wollte, aber in diesem Moment war sie ihr einfach nur unendlich dankbar gewesen.
Die Schriftrolle hatte eine Bauanleitung für den Kompass enthalten: Nixenhaar, avalonisches Gold und Drachenhaar.
Das Gold hatte kein Problem dargestellt. Im Merlin-Center wurde es sogar noch als Währung genutzt. Ein paar Münzen ließen sich leicht organisieren.
Das Nixenhaar gestaltete sich schon schwieriger. Sie hatte Geschichten gehört, dass es im Mittelmeer noch Nixen gab. In versunkenen Städten hatten sie sich eingenistet, so hieß es. Aber Cecile hatte mittlerweile gewusst, dass sie mit Elliot schwanger war, und sie wollte nicht auf den Grund eines Meeres tauchen, um dort mit Kreaturen zu verhandeln, die nicht unbedingt für ihre Freundlichkeit bekannt waren. Theodore war schlussendlich derjenige gewesen, der über ein paar Mittelsmänner und Kontakte ein Haar organisierte. Er sagte, es hätte ihn ein Vermögen gekostet, aber das wäre es wert.
Bloß das Drachenfeuer schien eine unmögliche Aufgabe zu sein. Die letzte Sichtung eines Drachen war Jahrzehnte her. Es gab sie noch, daran bestand kein Zweifel. Aber sie versteckten sich gut vor den menschlichen Augen. Hoch oben in den Bergen, wo nur die todesmutigsten Kletterer hinkamen, hatten sie ihre Höhlen und Unterschlupfe. Sie waren eine Spezies, die der Ausrottung nur knapp entkommen war, und hielten sich von allem, was auf zwei Beinen lief und einen Speer in der Hand halten konnte, fern. Cecile hatte Nächte in Bibliotheken verbracht, alte Folianten gewälzt und Geschichten über vermisste Bergwanderer gelesen. Sie hatte die Hoffnung, ein Muster zu erkennen, doch vergeblich. Bergwanderer verschwanden manchmal, fielen in Schluchten oder wurden von Lawinen erwischt. Sicherlich dienten manche auch einem Drachen als Snack, aber das war nicht zu beweisen. Wie so oft fand sie die Antwort an ganz anderer Stelle.
Sie war im Merlin-Center um einen Dolch zu erwerben. Wenn einem die Inquisition auf den Fersen war, sollte man besser auf einen Kampf vorbereitet sein. Als sie in der Waffenabteilung mit einem breiten Zwerg mit feuerrotem Haar sprach, sagte er: »Einen besseren Dolch werden Sie nur bei Ygrims bekommen.«
Ein Nebensatz, nicht mehr, und Cecile schenkte ihm zunächst keine Beachtung.
Doch als sie zu Hause war, nagte es an ihr wie ein nicht enden wollender Kopfschmerz. Was war Ygrim?
Das ließ sich schnell herausfinden. Ygrim war ein Schmied in Norwegen, der den Familienbetrieb seiner Vorfahren weiterführte. Sie waren seit Jahrhunderten im Geschäft, und genauso lange war auch ihre Esse nicht erloschen. Tag und Nacht hatte sie gebrannt, und, so stand es in einem von Motten schon halb zerfressenen Buch, durch Drachenfeuer entzündet. Eines der Monster hatte vor langer Zeit das Dorf überfallen, in dem die Ygrims lebten, und alles in Brand gesteckt. Die Vorfahren des Schmieds hatten das Beste daraus gemacht und die Flammen erhalten, um ihre Schmiede damit anzufeuern.
Cecile und John hatten sofort eine Überfahrt mit der Fähre von Newcastle nach Bergen gebucht, von wo aus es mit dem Zug in den unwirtlichen, verschneiten und dunklen Teil Norwegens ging. Tief in einem Wald fanden sie eine kleine Hütte. Aus dem Schornstein kam dunkler Ruß, und das Dach war überwuchert mit Moos. Ygrim entpuppte sich als Pfeife rauchender Riese. Auf seinem Körper wuchsen Pilze, und er überragte die beiden um mehrere Köpfe. An seinem Blasebalg waren rund um die Uhr zwei Zwerge zugange, und ein dritter stand bereit, um neues Brennholz nachzulegen. Die Flamme durfte keinesfalls erlöschen, das war das Wichtigste.
Ygrim hörte sich Ceciles und Johns Geschichte vom wundersamen Kompass, der den Weg nach Avalon zeigen sollte, an. Ein magisches Artefakt war für ihn nichts Neues. Manchmal schmiedete er Werkzeuge, manchmal mächtige Gegenstände in der Esse aus Drachenfeuer. Die Geschichte war aber, wie viele Legenden, nicht ganz richtig: Der Drache lebte noch, war angestellt bei Ygrim, und Cecile sah dabei zu, wie er die Esse anfeuerte. Es war ein kleiner Drache, nicht größer als ein Bus, lang und dünn wie eine Schlange. Er trug keine Ketten und konnte sich frei bewegen.
Wenig später hielten sie den Kompass in der Hand, der nicht viel größer als eine Münze war. Cecile fiel sofort auf, dass er nicht, wie ein normaler Kompass, nach Norden zeigte, sondern hinaus aufs Meer, und bei ihrer Überfahrt zurück nach Schottland drehte sich die Nadel irgendwann. Sie waren ganz nah am Portal, das wusste sie, doch hochschwanger, wie sie damals war, kam eine nähere Erkundung nicht in Frage.
Nun war sie wieder hier, folgte dem Kompass noch einmal hinauf aufs Meer. Nur dieses Mal ohne ihren Mann. John mit ihrem kleinen Sohn Elliot zurückzulassen, hatte ihr das Herz gebrochen. Doch sie konnte ihr persönliches Glück nicht über das einer ganzen Spezies stellen.
Das Portal musste hier draußen sein, daran hatte sie keinen Zweifel. Nur, woran sie das Portal erkennen sollte, wusste sie noch nicht.
Sie trank den Rest ihres Kaffees und schraubte den Becher zurück auf die Thermoskanne. Den Kompass verstaute sie wieder in ihrer Brusttasche, wo er sicher verwahrt war und nicht über Bord gehen konnte.
Der Kaffee hatte geholfen, endlich hatte Cecile nicht mehr das Gefühl, jeden Moment zu erfrieren. Doch wirklich freuen konnte sie sich darüber nicht. Was half es ihr, die Kälte für einen Augenblick besiegt zu haben, wenn sie hier mitten auf dem Meer strandete? Sie zog an der Reißleine, um den Motor wieder zum Laufen zu bringen. Er stotterte kurz, erstarb aber schnell wieder.
»Komm schon«, murmelte Cecile und riss noch einmal an der Leine. Ein kurzes Blubbern war zu hören, aber sonst passierte nichts. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Das Scheißteil musste funktionieren, sonst wäre sie aufgeschmissen. Sie hatte nicht mal Ruder an Bord, um sich mit Muskelkraft fortzubewegen, und war den Wellen und der Laune des Meeres hilflos ausgesetzt.
Immer wieder zog sie an der Reißleine, aber der Motor gab nur ein erstickendes Gurgeln von sich. So wollte sie nicht enden. »Verdammt«, brüllte sie und schlug mit der flachen Hand auf den Motor. Plötzlich spürte sie das vertraute Vibrieren unter ihren Füßen. Die Maschine röhrte wie ein Rasenmäher und tuckerte endlich los.
Cecile konnte ihr Glück kaum fassen. Alles, was das Ding gebraucht hatte, war ein unfreundlicher Klaps. Sie legte ihren Kopf erleichtert in den Nacken und atmete tief durch.
Regelmäßig kontrollierte Cecile mit einem Blick auf den Kompass, ob sie sich immer noch auf Kurs befand.
Die See hatte sich beruhigt, der Wellengang war nicht mehr so stark, und das Risiko zu kentern war nicht mehr omnipräsent. Dafür suchten sie nun ihre Schuldgefühle heim. Umgeben von Wasser fiel es ihr schwer, sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken. Sie hatte John und Elliot zurückgelassen. Die beiden mussten noch immer Angst haben, von der Inquisition gefunden zu werden. Sie schüttelte den Kopf in dem Versuch, diese Bilder loszuwerden. Wenn ihr Plan aufging, würde sie bald zurückkommen und sie nachholen.
Sie und viele andere.
Das Opfer musste gebracht werden, um etwas zu ändern. Der eiserne Griff der Inquisition legte sich immer fester um die phantastischen Völker. Sie hatte beschlossen, nicht mehr länger zuzusehen, sondern zu handeln.
Diese Mentalität musste sie von ihrem Vater haben.
Elliot Boyle wusste nicht, dass er Großvater war. Zumindest ging Cecile davon aus, dass ihn solche Nachrichten nicht erreichten, denn er saß ein im Magna Carcarem, dem Gefängnis der Inquisition. Dort würde Salazar am liebsten auch sie sehen. Vielleicht würde sie ihren Vater eines Tages befreien können, aber das war etwas, woran sie noch nicht zu glauben wagte. Es ist Jahre her, dass er der Familie entrissen und der Zauberei für schuldig befunden worden war. Der letzte Hexenprozess, der es, entgegen der Verbrennungen im Mittelalter, wohl nie in die Geschichtsbücher schaffen würde.
Sie selbst hatte nur wenige Erinnerungen an diesen Mann. Ein herzensguter Mensch, der seine Tochter geliebt hatte und immer für einen Streich zu haben gewesen war. Seine vermeintlich magischen Fähigkeiten hatte sie nie gesehen, und sollte er sie tatsächlich haben, so hatte sie sein Talent nicht geerbt. Aber ihre Mutter schwor, dass er jemand ganz Besonderes war.
Und alles Besondere war der Inquisition ein Dorn im Auge.
Theodore, der ein großes Netzwerk an Informanten unterhielt, schwor Cecile, dass ihr Vater noch lebte. Und an diesen Gedanken klammerte sie sich.
Ja, eines Tages würde sie ihn da rausholen.
Eine Welle holte sie unsanft in die Gegenwart zurück. Das kleine Boot neigte sich bedrohlich zur Seite, und Wasser spritzte ihr ins Gesicht.
Cecile kramte den Kompass hervor und hoffte, dass er irgendwie anzeigte, dass sie ganz nah an ihrem Ziel war. Zwar hatte sie Benzin an Bord, aber wenn nicht bald etwas passierte, würde sie umdrehen müssen, um das rettende Ufer erreichen zu können. Beim zweiten Anlauf würde es keine Nussschale werden, dieser Entschluss stand fest.
Hoffnungsvoll starrte sie die kleine Nadel an. Was war das?
Die Nadel sprang wild hin und her.
»Was ist mit dir?«, murmelte sie.
Es gab zwei Möglichkeiten: Der Kompass war kaputt, vielleicht war Feuchtigkeit in das Innere gedrungen und hatte ihn beschädigt. Oder sie war an ihrem Ziel angekommen. Hastig stoppte sie den Motor.
Cecile beugte sich über das Dollbord ihres Bootes und starrte hinab auf das Meer.
Kein Portal.
Sie hatte wirklich gedacht, dass sich ihr alles erschließen würde, wenn sie erst am richtigen Ort war.
Wieder schwappte eine Welle gegen den Bug. Cecile musste mit ihrem Gewicht dagegenhalten, um das Boot vom Kentern abzuhalten.
Ihr Blick wanderte wieder zu dem Kompass in ihrer Hand. Die Nadel drehte sich immer noch, als würde das Portal in allen Richtungen gleichzeitig liegen. Sie schüttelte ihn und klopfte ihn vorsichtig gegen ihre weiche Jacke. Aber es änderte sich nichts.
»Denk nach, Cecile«, flüsterte sie und versuchte, sich zu fokussieren. Die Lösung lag bestimmt direkt vor ihr, vielleicht sogar unter ihr.
In Gedanken ging sie all die Texte über das Portal und Avalon durch, die sie gelesen hatte. Hatte sie etwas überlesen? Irgendwas zwischen den Zeilen? Einen versteckten Hinweis?
Sie massierte sich mit einer Hand die Stirn, mit der anderen hielt sie den Kompass hoch, als würde sie mit einem Handy nach Empfang suchen. Vielleicht musste er sich neu kalibrieren.
Als erneut eine Welle gegen das Boot schlug, dachte Cecile für einen kurzen Moment, dass es jetzt passieren würde. Dass das Boot kenterte und sie ertrank. Sie warf sich geistesgegenwärtig der Länge nach hin, um nicht über Bord zu gehen, und landete in einer immer größer werdenden Pfütze aus Meerwasser. Ihre Klamotten sogen sich voll.
»Scheiße, jetzt ist mir die Erkältung endgültig sicher«, fluchte sie und rappelte sich wieder auf. Am Horizont sah sie graue Wolken aufziehen. Ein Sturm kündigte sich an, und Cecile wusste, dass sie mit ihrem Boot keine Chance hatte. Als sie in die Ferne sah und abschätzte, wie schlimm es werden würde, fiel ihr etwas anderes auf. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Meeresoberfläche nach einem Portal abzusuchen, dass sie dafür kein Auge gehabt hatte: Die Luft wirkte wie elektrisiert. Es war wie das Flirren einer Fata Morgana. Cecile drehte sich einmal um die eigene Achse. Es umgab sie, es war überall.
Sie grinste.
Das war ein gutes Zeichen. Der Kompass war nicht defekt. Hier war das Portal, da war sie sich jetzt sicher. Aber ihre Freude verflog schnell.
Zwar hatte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Ort gefunden, an dem sich einst das Portal zum phantastischen Kontinent Avalon befunden hatte, aber sie hatte keine Ahnung, was sie tun musste, um es zu öffnen. Sie kannte keine entsprechende Formel, keinen Zauberspruch. In den Schriften, die sie aus der Bibliothek der Inquisition gestohlen hatte, stand klar geschrieben, dass der Kompass der Schlüssel nach Avalon sei.
Wieder hielt sie ihn empor. Vielleicht musste er mit der elektrisierten Luft in Kontakt kommen, um etwas auszulösen?
Nichts.
Cecile seufzte. Das Gewitter rollte unaufhaltsam auf sie zu, das Meer wurde unruhiger. Sie musste eine Entscheidung treffen, wenn sie im Sturm nicht sterben wollte. Irgendeine Idee, ein Geistesblitz. Eigentlich war sie gut darin, intuitiv die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Aber nun versagte ihr Instinkt.
Das Boot schaukelte bedrohlich.
»Ich komm wieder«, schwor sie sich. Es würde niemandem nutzen, wenn sie jetzt über Bord ging und ertrank, weil sie zu stolz war umzudrehen. Beim zweiten Mal wäre sie besser ausgerüstet und vor allem besser vorbereitet.
Der Inquisition würde sie noch für ein paar Wochen entwischen, da war sie sich sicher.
Sie riss an der Leine des Motors, wollte so schnell wie möglich weg vom Sturm. Aber das verdammte Teil gab wieder nur ein kurzes Stottern von sich. Sie seufzte, schlug mit der flachen Hand darauf, das hatte ja schon einmal geholfen, und zog wieder. Aber der Motor blieb stumm. Der alte Seemann hatte ihr Schrott verkauft. »Mach jetzt keine Zicken«, zischte Cecile. Wieder und wieder schlug sie auf den Motor und riss an der Leine. Aber nichts passierte. Cecile spürte, wie die Panik in ihr wieder hochkochte. Nicht hier, nicht jetzt, wo sie so kurz vor der Lösung war. Sie musste überleben.
Cecile umfasste verzweifelt ein letztes Mal die Reißleine, zog mit aller Kraft, und der Motor röhrte auf. Sie wollte schon jubeln, aber es war wie das letzte Aufbäumen einer Raubkatze, die im Kampf unterlegen war. Es krachte, und der Motor fing an zu rauchen.
»Bitte nicht«, flehte Cecile, »tu mir das nicht an.«
Sie hatte keine Gelegenheit, das Ableben des Motors lange zu bedauern. Eine Welle so hoch und erdrückend wie eine Mauer raste heran und ließ das Boot kentern. Noch bevor Cecile verstand, was passierte, füllten sich ihre Lungen mit Wasser. Sie riss die Augen auf, der Kompass war immer noch in ihren Händen. Sie suchte nach der Oberfläche, wusste aber nicht, wo oben und wo unten war.
Dann fing das Wasser um sie herum an, blau zu leuchten, und der Kompass glühte. Langsam verlor Cecile das Bewusstsein, und Dunkelheit umhüllte sie.
Die Klinge zielte auf Elliots Schulter. Seine Gedanken rasten. Alles, was er gelernt hatte, war vergessen.
»Hochziehen«, brüllte Soleil vom Rand.
Sein Arm führte den Befehl aus. Elliot zog das Schwert empor und parierte den Angriff.
»Sehr gut, Elliot, du machst Fortschritte«, sagte Cecile und tänzelte ein paar Schritte zurück. In der Hand hielt sie ein Trainingsschwert, das zwar stumpf war, aber von dem man trotzdem nicht getroffen werden wollte. Elliots Körper war bereits übersät mit schmerzenden blauen Flecken.
Er atmete schwer. »Ist das wirklich nötig? Ich hab doch Gerryson.«
»Du kannst dich nicht immer auf den Phönix verlassen«, erwiderte seine Mutter scharf. »Wenn wir zurückgehen, ist es von Vorteil, wenn du zumindest die rudimentären Grundkenntnisse des Schwertkampfes verstehst.«
»Wir haben eine magische Krone und können zaubern«, hielt Elliot dagegen.
»Bisher hast du noch nicht viel zustande bekommen«, rief Soleil vom Rand des Trainingsplatzes. Das stimmte. Im Gegensatz zu ihr war er nicht so talentiert im Umgang mit Magie. Zwar war es ihm gelungen, Eldith de Fyrn zu einer Handvoll Staub zu pulverisieren, bloß wie, das wusste er nicht. Cecile ging davon aus, dass es mit dem hohen emotionalen Druck zusammenhing, dem er ausgesetzt war. Wenn er jetzt mit der Krone trainierte, war er zwar in der Lage, Rosinen und Nüsse für einen kurzen Moment schweben zu lassen, damit hielt man aber nicht die Inquisition auf. Es sei denn natürlich, die finale Schlacht war ein Küchenduell.
»Danke schön«, murmelte er und machte sich für den nächsten Angriff seiner Mutter bereit. Er stellte einen Fuß nach hinten und drehte die Hüfte ein.
»Denk an deine Beinarbeit«, sagte Cecile und sprang auf ihn zu. Das Schwert schwang sie über ihren Kopf und ließ es hinuntersausen. Elliot zog die Klinge hoch, parierte erneut ihren Angriff. Plötzlich wich die Luft aus seinen Lungen. Das Knie seiner Mutter hatte sich in seine Magengrube gegraben.
»Verdammt«, zischte er. Das Schwert glitt aus seiner Hand und fiel zu Boden.
»Wer nicht lernen will, muss fühlen«, sagte Cecile. »Nahkampf bedeutet immer, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen. Wenn du mit dem Schwert nicht weiterkommst, nutze deine Ellbogen oder Knie.«
Elliot krümmte sich und ging zu Boden. »Pause«, keuchte er.
Soleil kam zu ihm geeilt und half ihrem Freund wieder hoch. Auf ihrem Kopf saß die Krone Merlins. Sie hatten beschlossen, sie nicht unbeaufsichtigt zu lassen.
»Du hast schon viele Fortschritte gemacht«, sagte seine Mutter nun diplomatisch. »Wahrscheinlich wirst du nicht gleich beim ersten Schwerthieb sterben, das ist gut.«
Elliot rieb sich die Rippen. »Ich werde mir als Erstes eine Pistole kaufen, und dann sollen sie mit ihren doofen Schwertern ruhig kommen«, grummelte er.
Soleil lachte. »Damit schießt du dir nur selbst in den Fuß.« Vermutlich lag sie damit gar nicht so falsch.
Etwas schob sich vor die Sonne und warf einen Schatten auf sie. Elliot musste seine Augen abschirmen, um zu erkennen, was es war, ahnte es aber schon. Gerryson und Olly zogen ihre Bahnen über ihren Köpfen. Erst wenige Wochen waren seit dem Kampf gegen Eldith, den bösartigen Nachtalben, vergangen, aber die beiden verhielten sich bereits wie Freunde, die schon durch dick und dünn gegangen waren. Gemeinsam erkundeten sie den Himmel von Avalon und ließen sich nur blicken, wenn ihnen danach war.
»Der Rat trifft in zwei Stunden wieder zusammen, dann machen wir Nägel mit Köpfen«, sagte Cecile und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.
»Hat Rhegad herausgefunden, wie man das Portal öffnet?«, fragte Elliot. Sie hatten dem Drachenchronisten einige Aufzeichnungen überlassen, auf denen sie Hinweise zum Öffnen des Portals vermuteten, und darauf vertraut, dass er eine Lösung finden würde.
»Ich hoffe«, erwiderte Cecile knapp. »Dann werden wir mit der Inquisition ein für alle Mal aufräumen.«
»Und Dad retten«, fügte Elliot hinzu. Seine Mutter nickte kaum merklich.
»Ich hoffe, sie haben das Merlin-Center stehen lassen«, sagte Soleil. Die Elfe hatte Elliots Schwert mit ihren magischen Kräften aus dem Dreck gehoben und ließ es durch die Luft schweben. Ihre Fähigkeiten beschränkten sich bisher auf Telekinese. Energieentladungen, wie Elliot sie im Kampf gegen Eldith einmalig vollführt hatte, brachte sie noch nicht zustande.
»Das Merlin-Center ist ihr wichtigstes Ass«, antwortete Cecile. »Wenn sie Theodore in der Tasche haben, wissen sie jeder Zeit, was bei den phantastischen Völkern passiert. Jeder vertraut ihm, jeder kommt in sein Geschäft. Ich kann nicht glauben, dass er für ein bisschen Schmiergeld alles verraten hat.«
Elliot nickte. Er hatte dem Mann vertraut, der ihn damals in dem Kiltgeschäft empfangen und vor der Obdachlosigkeit bewahrt hatte. Nur den verdammten Kater, Mr. Hurley, hatte er von der ersten Sekunde an unheimlich gefunden. Wenigstens in dem Punkt hatte seine Intuition ihn nicht getäuscht. »Wir sollten uns dringend einen Plan überlegen, was wir machen, wenn wir zurück sind.«
»Erst mal schauen wir nach unseren Familien«, sagte Soleil. »Ich muss wissen, was aus ihnen geworden ist.«
Elliot und seine Mutter schwiegen einen Augenblick. »Ja, das ist vielleicht das Beste«, sagte Cecile nachdenklich. »Sie können uns auch auf den aktuellen Stand bringen.«
»Glaubt ihr nicht, dass die Inquisition uns dort erwartet?«
»Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte Soleil.
»Vielleicht sollten wir nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen«, dachte Cecile laut nach. »Uns erst einen Überblick verschaffen, wie die aktuelle Situation ist. Kennt ihr jemanden, den die Inquisition vielleicht nicht auf dem Schirm hat?«
Elliot dachte angestrengt nach und sah aus, als würde er gerade über einer komplizierten Matheaufgabe brüten. »Uns fällt schon noch wer ein«, murmelte er.
Ihr Plan war bisher insgesamt sehr dürftig. Portal öffnen, mit Rhegad aufs Festland fliegen, ein paar Schnellreisetickets organisieren, ihre Familien retten, das Merlin-Center befreien und … es gab noch zahlreiche Fragezeichen. Was war aus Theodore und dem Merlin-Center geworden? Ihren Familien? Salazar Montanari?
Elliot hatte die ungute Vorahnung, dass es kein Spaziergang werden würde. Deshalb hatte seine Mutter recht: Es war gut, wenn er mit dem Schwert umgehen konnte. Schließlich wusste er nicht, wie man einfach an eine Pistole kam. Hier auf Avalon sowieso nicht.
»Noch eine Runde«, rief er und fischte das Schwert aus der Luft, das Soleil während ihres kurzen Gesprächs dort mit Gedankenkraft gehalten hatte.
»Heute willst du es wirklich wissen, oder?«, fragte Cecile.
»Lass mich«, warf Soleil ein, und Elliots Mutter übergab seiner Freundin das Übungsschwert.
Elliot schluckte.
Soleil verstand vielleicht nicht so viel von der Theorie des Schwertkampfes wie seine Mutter, kannte bei weitem nicht so viele Finten und Tricks, das glich sie aber mit ihrer körperlichen Fitness wieder aus.
»Bereit?«, fragte sie. Elliot fühlte sich, als wäre er die Beute eines Wolfsrudels. Das würde noch ein paar blaue Flecke mehr geben.
Am Nachmittag waren sie zurück in Dingulds Haus. Soleil und Elliot hatten dort gemeinsam das Gästezimmer bezogen. Die Info, dass die beiden jetzt ein Paar waren, hatte weder seine Mutter noch den Zwerg überrascht. Elliot hatte den Eindruck, dass es bereits allen klar gewesen war, bevor sie selbst überhaupt wussten, was sie füreinander empfanden.
In einer Stunde würde der Rat tagen, und sie wollten sich nach dem schweißtreibenden Training noch frisch machen.
»Am meisten vermisse ich eine richtige Dusche«, sagte Soleil, die sich über einer Wanne mit einem Lappen den Dreck von der Haut schrubbte.
»Oder eine Toilette mit Spülung«, erwiderte Elliot. Er hatte sich immer noch nicht an die Plumpsklos gewöhnt, die in den Hinterhöfen standen. »Ich meine, unser Badezimmer war das komplette Gegenteil von Luxus, aber man sollte fließend Wasser nicht für selbstverständlich nehmen.«
Umgezogen und zumindest grundgereinigt machten sie sich auf den Weg zum Rathaus. Noch immer warf man ihnen ehrfürchtige Blicke zu, manche senkten sogar ihr Haupt. Sie hatten Avanaat vor den Nachtalben gerettet und eine Verschwörung aufgedeckt. Nur durch sie war es gelungen, das Oberhaupt der stärksten politischen Kraft des Landes, der Erben Merlins, als Nachtalb zu enttarnen, eine bösartige Kreatur, die darauf hinarbeitete, ganz Avalon zu zerstören. Neben Eldith de Fyrn wurden noch weitere seiner Art in wichtigen Positionen aufgespürt: Die Steuerbehörde, das Zollbüro und auch Gemeinden aus entlegenen Ecken Avalons meldeten die Enttarnung von Nachtalben in ihren Reihen.
Elliot und Soleil schoben sich durch die Menschenmenge über den Marktplatz, der so gut besucht war wie immer, und liefen die Treppen zum Rathaus hinauf. Die Stadtgardisten, die durch und durch korrupt gewesen waren, hatte man vor die Tore befördert und durch neues Personal ersetzt.
Niemand versperrte ihnen den Weg, als sie das Rathaus betraten, und keiner fragte nach dem Grund ihres Besuches. Sie waren berühmt, und bereitwillig wurde die schwere Flügeltür geöffnet.
Das Paar eilte durch die Empfangshalle mit den zahlreichen Tresen, hinter denen mürrische Beamte saßen. Ein wildes Treiben herrschte, die politischen Turbulenzen hatten für viel Verunsicherung und Fragen in der Bevölkerung gesorgt. Die Mitarbeiter hinter den Tresen hatten alle Hände voll zu tun, die vielen Besucher abzuarbeiten.
Soleil und Elliot passierten die Schlangen. Sie mussten sich nicht anmelden. Als Mitglieder des Rates waren sie befugt, sich jederzeit frei im Rathaus zu bewegen.
Man hatte den Rat gegründet, um das Machtvakuum nach der Auflösung der Erben Merlins zu schließen. Ein Großteil von ihnen war geflüchtet oder wurde der Korruption überführt. Nur wenige konnten beweisen, dass sie keinen Dreck am Stecken hatten.
So setzte sich der Rat aus Mitgliedern der Liga des Volkes, den wenigen übriggebliebenen Erben Merlins sowie Abgesandten aus den verschiedenen Behörden und Bauernvereinigungen zusammen. Ziel war es, möglichst aus allen Berufsgruppen und Bereichen Vertreter anwesend zu haben, bis eine neue Regierung gewählt werden würde. Doch wann es so weit wäre, konnte niemand voraussagen. Aktuell hätte es nur eine Partei zur Wahl gegeben, und das war nicht im Sinne der Demokratie.
Elliot und Soleil liefen die Treppen hinauf und hielten auf den Saal zu, in dem sie vor Wochen ihre Geschichte dem versammelten Parlament erzählt hatten. Die Wachen öffneten ihnen die Flügeltüren, und sie traten in die Halle. Die beiden Tribünen waren einem großen Sitzkreis gewichen, in dessen Mitte ein massiver Tisch stand. Man wollte keine zwei Fraktionen mehr, die nichts taten, als sich in einem fort zu streiten. Ein gemeinsames Miteinander war das neue Credo, und Kompromisse zu finden war die neue Devise. Bisher war es ihnen gelungen. Die Minen und Schürfrechte hatte man in die öffentliche Hand gegeben – ihre Besitzer saßen ohnehin im Knast oder waren auf der Flucht.
Einige Ratsmitglieder waren bereits anwesend: Trönk, Dinguld, Cecile und weitere Vertreter der Liga des Volkes. Aber auch ein paar Zwerge und Trolle, die einst den Erben Merlins angehört hatten. Zyra, die Fauna, die Elliot und Soleil vor wenigen Wochen aus der Stadt gebracht hatte und dafür fast auf dem Richtblock geköpft worden wäre, war ebenfalls anwesend und vertrat die Interessen der Bauern. Nur die Zentauren hatten niemanden entsandt, was Elliot aber nicht wunderte. Sie hatten mehr als deutlich gemacht, dass sie von den Städtern nicht viel hielten.
Die Fauna winkte ihnen zu und deutete auf die freien Plätze neben sich. Elliot und Soleil eilten zu ihr und setzten sich.
»Haben wir irgendwas verpasst?«, fragte Soleil.
»Fängt erst in ein paar Minuten an«, erwiderte Zyra. Elliot verdrehte Augen. Für die Sitzung waren mindestens drei Stunden angesetzt, und er hasste es. Es gab so vieles, was er lieber tun würde: Olly striegeln, Gerryson trainieren, das Plumpsklo leeren. Bei dem ganzen Gerede hatte er immer das Gefühl, dass sein Kopf verstopft und seine Gedanken zu angenehmeren Themen abdriften. Zu Soleil zum Beispiel.
Die Elfe saß neben ihm, und er schielte sie aus den Augenwinkeln an. Sie trug ihre langen blonden Haare offen, abgesehen von ein paar Strähnen, die sie zu Zöpfen geflochten und mit Perlen geschmückt hatte. Dinguld, der viel Wert auf einen gepflegten und gut behangenen Bart legte, hatte ihr das gezeigt.
Cecile und der Arzt saßen ein paar Plätze von ihnen entfernt. Heute war ein wichtiger Tag für den Rat. Sie wollten beschließen, die Bestrebungen, das Portal zu öffnen, wiederaufzunehmen.
Grundsätzlich brauchten sie dafür keine Erlaubnis. Sie hätten es einfach machen können, wenn Rhegad einen Weg fand. Aber es war etwas, das den ganzen Kontinent betraf, und so hielten sie es für diplomatisch angebracht, sich ein offizielles Mandat für ihre Mission zu holen. Sollte sich der Rat dagegen entscheiden, könnten sie immer noch auf eigene Faust agieren.
Eine Gnomin räusperte sich. »Wir beginnen in einer Minute, bitte nehmen Sie Platz«, sagt sie freundlich, wenn auch mit einer gewissen Autorität. Es war dieselbe, die Elliot als Sitzungsleiterin des Parlaments kennengelernt hatte. In der übersichtlichen Runde war kein Hammer mehr nötig, der alle verstummen ließ, und kein Stift, der die Stimme verstärkte. Der Rat neigte dazu, weitaus weniger zu streiten als das Parlament. Es gab zwar immer noch unterschiedliche Meinungen, allerdings versuchten alle, an einem Strang zu ziehen.
Das Gemurmel im Raum erstarb, und Stühle wurden über den glatten Boden gezogen.
»Hiermit begrüße ich alle Mitglieder des Rates zur Versammlung«, sagte die Leiterin. »Wir haben heute eine volle Agenda, und ich möchte den Feierabend nicht länger hinauszögern, also fangen wir an. Punkt eins: die Wiederöffnung des Portals zwischen Avalon und der Erde, der Antrag wurde eingebracht von Cecile Craig. Das Wort gehört Ihnen.«
Sehr gut. Sie fingen mit dem wichtigsten Thema an, also konnte sich Elliot anschließend gedanklich ausklinken.
Seine Mutter erhob sich von ihrem Stuhl. »Verehrter Rat, wie Sie alle wissen, bin ich seit vielen Jahren Gast auf Avalon. Ich komme eigentlich von der Erde, genauso wie mein Sohn und seine Freundin.« Elliot spürte, wie er rot wurde, als sich alle Blicke ihnen zuwandten. »Wir haben Avalon gefunden, weil wir einen Weg suchten. Weil wir für unsere Freunde in unserer Heimat ein besseres Leben suchten. Ich war leider nicht in der Lage, diesen Weg zu finden. Die Erben Merlins haben mir zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Aber Elliot und Soleil ist es gelungen.«
»Ihr kennt eine Möglichkeit?«, dröhnte ein Zwerg, der seiner blassen Haut nach zu urteilen in den Minen arbeitete.
»Wir wissen, dass es eine Möglichkeit gibt. Wie die explizit aussieht, entschlüsseln wir gerade.«
»Ich weiß nicht«, murmelte der Zwerg in seinen Bart hinein. »Uns geht es doch eigentlich ganz gut, jetzt, wo die Nachtalbe enttarnt sind. Warum sollten wir uns diesem Risiko aussetzen? Wer weiß, welche Krankheiten eure Freunde von da drüben mitbringen.« Zustimmendes Gemurmel breitete sich im Raum aus. Die Angst vor dem Fremden war real.
»Ich kann euch garantieren, dass unsere Zwerge genauso versoffen und dickköpfig sind wie eure«, erwiderte Cecile und erntete einige Lacher, auch von den anwesenden Zwergen. »Natürlich verstehe ich eure Sorgen, aber wenn ihr die Zustände drüben sehen könntet, würdet ihr keine Sekunde zögern. Einige von euch haben Familie dort. Ihr Schicksal kann euch doch nicht egal sein!«
»Das stimmt«, warf Soleil ein. »Ich bin eine Boulanger, und ich weiß, dass es unter den Erben Merlins auch einen gab. Leider hatte ich nicht das Vergnügen, ihn kennenzulernen, vor seiner plötzlichen«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »Flucht. Nennen wir es Flucht.«
»Boulanger war durch und durch korrupt. Ein gieriger Nimmersatt«, unterbrach sie ein Elf.
»Nun werde ich hier hoffentlich nicht in Sippenhaft genommen«, erwiderte Soleil. »Worauf ich hinauswollte: Dort drüben warten eure Verwandten, und sie brauchen unsere Hilfe! Ganz egal, ob ihr sie kennt, ganz egal, ob ihr die Familien mögt oder nicht.«
Das Gemurmel im Raum wurde lauter.
»Aber wir haben doch schon genug eigene Probleme hier«, sagte der Minenzwerg. »Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären in einer Diktatur der Nachtalbe gelandet. Wir müssen uns erst mal auf Avalon konzentrieren, dann können wir uns Gedanken über andere machen.« Einige klopften zustimmend mit der Faust auf den Tisch.
Elliot gefiel nicht, welche Richtung das Gespräch nahm, es fühlte sich beinahe an wie ein Déjà-vu, aber er überließ Soleil und seiner Mutter das Reden. Leute zu überzeugen gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken.
»Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu spät sein«, sagte Cecile ernst. »Elliot und Soleil sind bereits seit Wochen hier, wir wissen nicht, wie schlimm es drüben mittlerweile ist. Aber eines ist sicher: Die Lage wird von Tag zu Tag bedrohlicher.«
»Erzählt uns etwas über die Inquisition«, forderte ein Gnom sie auf, der dem Äußeren nach beim Zoll oder im Finanzamt arbeiten musste. Seine Augen waren durch die Gläser seiner Brille vergrößert, und der graue Haarkranz war streng nach hinten gekämmt.
»Es sind Fanatiker. Sie glauben an etwas, das nicht mit Sicherheit existiert: einen Gott. Eine höhere Macht, die alles erschaffen hat – alles, außer die phantastischen Völker, die Magie und Zauberei. Deswegen bekämpfen sie es.«
»Einen Gott?«, fragte ein Elf. Religionen kannte man auf Avalon nicht. Man glaubte an Dinge, die zweifelsfrei existierten. Natürlich wurden sich auch Märchengeschichten und Legenden erzählt, aber auf Avalon hatte es noch nicht dazu geführt, dass im Namen dieser Kreuzzüge und Verbrennungen durchgeführt wurden. Ein Umstand, den Elliot sehr mochte.
»Als die Menschen sich nicht erklären konnten, wie die Erde entstanden ist, suchten sie die Antwort in ihrer Phantasie«, versuchte Soleil zu erklären. »Sie erschufen in ihren Gedanken ein Lebewesen, das so mächtig und stark war, dass es alles geformt hat. Das Licht, die Tiere, Steine und auch den Menschen. Aber für Zwerge und Elfen reichte ihre Phantasie leider nicht aus«, fügte sie trocken an.
»Das klingt ganz schön –«, murmelte ein Elf.
»Verrückt, absolut verrückt«, schnitt ihm der Minenzwerg das Wort ab.
»Bitte, Grimgor, wir wollen einander hier doch aussprechen lassen«, ermahnte ihn die Ratsleiterin.
»Verzeihung«, erwiderte der Zwerg sofort. »Aber ich halte nicht viel davon, ich habe ein schlechtes Bauchgefühl bei der Sache. Und wir Zwerge haben schon immer auf unser Bauchgefühl gehört.«
»Hätte ich auf das Bauchgefühl meiner Eltern gehört, wäre ich nicht Arzt geworden und hätte so nicht zahlreiche Leben gerettet«, rief Dinguld. »Es ist gut, seinem Bauchgefühl zu vertrauen, aber man sollte sich nicht immer davon leiten lassen. Wenn man einen fettigen Braten isst, der einem schwer im Magen liegt, kann einen das Bauchgefühl sogar in die Irre führen.«
»Unabhängig von euren Essgewohnheiten, die ihr Zwerge wirklich mal überdenken solltet«, schaltete sich ein Elf ein, »denke ich, dass Grimgor in einem Punkt recht hat. Wir müssen uns erst mal darauf konzentrieren, wieder für Ordnung in Avanaat und auf der restlichen Insel zu sorgen. Es müssen demokratische Wahlen her, so sieht es die Verfassung vor. Vom Volk gewählte Parteien sollen eine Entscheidung dieser Tragweite treffen, nicht ein hastig einberufener Rat. Es liegt nicht in unserer Macht, das zu entscheiden.«
Elliot spürte Wut in sich hochkochen. Er war nicht quer über die Insel gereist, hatte sich von Nachtalben entführen, von einer Doppelkopfziege einen Berg herunterschubsen und von einem Drachen in eine verfluchte Gruft schicken lassen, um sich dann von ein paar Bedenkenträgern die Rückkehr zur Erde verbieten zu lassen. »Scheiß drauf, wir machen es trotzdem«, murmelte er kaum hörbar, und Soleil nickte.
»Wir sind vom Volk legitimiert«, hielt Cecile dagegen. Nach der Enttarnung Eldiths hatte es einen Aufruf gegeben, sich für den Rat zu bewerben oder einen Vertreter vorzuschlagen. Das Ergebnis dieses Aufrufs saß versammelt im Saal. »Und wir müssen Entscheidungen treffen. Folgt man dieser Argumentation, verschwenden wir hier alle unsere Zeit. Denn dann dürften wir in keiner Sache einen Entschluss treffen.«
»Da hat sie recht«, stimmte ihr Grimgor zu. »Wenn wir keine Verantwortung übernehmen wollen, sind wir fehl am Platz.«
»Außerdem sprechen wir erst mal nur von einer Expedition. Soleil, Elliot und ich werden mit Rhegad durch das Portal fliegen. Wir schauen nach unseren Freunden und Familien und kundschaften die Lage aus. Ich kann euch versprechen: Dort drüben steht niemand Schlange und wartet nur, dass das Portal aufgeht. Allein, bis sich herumgesprochen hat, dass es wieder eine Verbindung gibt, werden Wochen vergehen. Avanaat erwartet kein plötzlicher Ansturm, ihr habt genug Zeit, euch vorzubereiten.«
»Aber die Krankhei–«, fing ein Troll, der Elliot gegenübersaß, an.
Dinguld schnitt ihm das Wort mit einem Schlag auf den Tisch ab. »Was für ein Quatsch! Entschuldigen Sie, Sitzungsleiterin«, sagte er an die Gnomin gerichtet, die ihn ermahnen wollte, »aber jetzt muss ich mal laut und deutlich widersprechen. Schließlich bin ich ja vom Fach. Und wir Ärzte hier sind keine Vollidioten. Wir haben schon viele schlimme Krankheiten behandelt. Also lasst das bitte unsere Sorge sein.«
Der Troll warf Dinguld einen pikierten Blick zu. »Danke, Herr Arzt, aber was ich sagen wollte, hätte man mich aussprechen lassen: Die Krankheiten sind ein Risiko, das wir vielleicht eingehen müssen. Wir haben den drei Erdbewohnern viel zu verdanken, und jetzt ist es an uns, ihnen zu helfen.«
Dinguld räusperte sich verlegen. »Entschuldigung.«
Elliot trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
Eine Zwergin meldete sich zu Wort. Sie hatte ihr rostbraunes Haar zu zwei Zöpfen gebunden. »Von wie vielen potenziellen Flüchtlingen sprechen wir hier überhaupt? Wie groß ist noch die Population auf der Erde?«
Cecile sah hilfesuchend zu Soleil und Elliot. Elliot hatte keine Ahnung. »Ein paar hundert?«
»Ich würde von etwa fünftausend ausgehen«, sagte Soleil.
Einige überraschte Ausrufe waren zu hören. »Das sind ja mehr, als wir an Kapazitäten haben«, sagte die Zwergin.
»Was sind schon fünftausend auf ganz Avalon verteilt?«, warf Elliot ein. »Die Insel ist riesig, glaubt mir, ich habe sie vom Rücken eines Drachen aus gesehen.«
Gemurmel breitete sich wie ein Buschfeuer aus. Köpfe wurden zusammengesteckt, Argumente ausgetauscht. Elliot war nur noch genervt. Hier war niemand, der Verantwortung übernehmen oder handeln wollte. Während sie hier saßen und über Kapazitäten und mögliche Krankheiten diskutierten, starben auf der Erde ihre Verwandten. Außerdem konnte er Theodore nicht so einfach davonkommen lassen.
»Avalon wird es verkraften können, ohne Probleme«, sagte Cecile, und das Gemurmel erstarb. »Unsere Felder tragen reiche Ernten, und unsere Meere sind voll mit Fischen. Wir leben im Überfluss. Neue Baracken und Häuser sind schnell hochgezogen dank unserer handwerklich talentierten Zwerge. Außerdem«, sie machte eine kurze Pause, bis auch der Letzte im Raum ihr zuhörte, »haben wir gar keine wirkliche Wahl, befürchte ich. Wenn Rhegad das Rätsel um das Portal löst – und das wird er, versprochen –, wird ihn seine Neugierde auf die andere Seite ziehen. Er wird wissen wollen, was auf der Erde passiert ist. Und dann werden Soleil, Elliot und ich auf seinem Rücken sitzen.«
»Worüber diskutieren wir denn dann hier?«, fragte die Zwergin. »Es klingt, als wäre die Entscheidung längst gefallen.«
»Stimmt«, sagte Elliots Mutter. »Wir werden uns nicht aufhalten lassen.«
»Warum das hier also?«, fragte Grimgor.
»Die Zeit der Alleingänge muss endlich vorbei sein. Wenn wir nicht alle hinter der Idee stehen, dann wird es scheitern. Wir wollen das nicht auf eigene Faust regeln, wir wollen euch überzeugen, dass es das Richtige ist.«
»Das ist sehr viel verlangt«, sagte der Gnom mit der Brille. »Das wird unseren Finanzplan völlig durcheinanderwirbeln.« Natürlich, dachte Elliot, er gehörte der Finanzbehörde an. Wie sollte es auch anders sein?
»Welcher Finanzplan?«, fragte Dinguld laut. »Wie kann es nach dem, was die letzten Wochen passiert ist, noch einen Plan geben?«
»Nur weil sich das politische Machtgefüge auflöst, legen wir nicht gleich unsere Arbeit nieder«, hielt der Gnom dagegen. »So viele neue Bewohner werden unsere Kassen schröpfen.«
»Gebt ihnen ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen, und sie werden zufrieden sein«, hielt Cecile dagegen. »Zu wissen, dass die Inquisition nicht mehr jeden Tag an ihrer Tür klopfen und sie mitnehmen kann, wird ihnen viel mehr wert sein als jeder Luxus. Und sie werden ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in unsere Gesellschaft einbringen. Unter ihnen sind talentierte Waffenschmiede, gebildete Alchemisten und zahllose arbeitshungrige, starke Überlebenskünstler. Wir sollten sie nicht als Kostenfaktor oder Belastung sehen, sondern als Chance für Avanaat und ganz Avalon.«
»Ich teile euren Punkt in der Sache«, sagt der Troll, der von Dinguld unterbrochen worden war. »Aber die Inquisition macht mir Sorgen. Die Krankheiten sind vielleicht ein Risiko, das man eingehen kann. Aber was machen wir, wenn die Inquisition nachkommt?«
»Sie bekämpfen«, sagte Elliot geradeaus. »Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Man kann nicht mit ihnen verhandeln, es gibt keine Diplomatie. Entweder man lässt sich unterdrücken und siecht dahin«, Elliot dachte an seinen Vater, »oder man kämpft.«
Elliot wusste, warum er lieber den Mund hielt. Es war nicht seine Stärke, die richtigen Worte zu finden. Die Aussicht auf einen Krieg mit einem unbekannten Feind sorgte hier für viele weit aufgerissene Augen und Kopfschütteln.
»Einen Krieg können wir in unserem Zustand nicht riskieren«, sagte eine Elfe.
»Wir werden es nicht so weit kommen lassen«, rief Cecile streng. »Wir holen alle, die mit uns kommen wollen, und werden das Portal wieder versiegeln lassen. Man wird sich entscheiden müssen: Leben auf der Erde in Angst oder Leben auf Avalon im Unbekannten.«
»Das geht?«, fragte Grimgor.
»Was sich öffnen lässt, lässt sich auch wieder schließen.«
»Aber wissen wir, wie das geht?«, ließ der Zwerg nicht locker.
»Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mal, wie wir das Portal öffnen«, gab Elliots Mutter zu. »Aber wenn wir das wissen, bin ich sicher, dass wir das Portal auch wieder schließen können. Wenn die Inquisition sich für einen Angriff auf Avalon entscheidet, werden wir ihnen einfach den Weg abschneiden. Also, steht der Rat hinter unserer Expedition?«
Elliot ließ seinen Blick durch die Runde schweifen und sah in viele unsichere Mienen. Die Sache war noch nicht entschieden.
»Sehr gut«, sagte die Ratsleiterin, »dann bitte ich um ein kurzes Handzeichen, wer die Expedition zur Erde unterstützen möchte.«
Elliots, Soleils, Dingulds und Ceciles Hände schossen sofort in die Höhe. Auch Zyra schloss ich ihnen an, und nach und nach folgten weitere. Sogar Grimgor, der kritische Zwerg, hob nach langem Zögern seine wuchtige Pranke. Lediglich die Stimmen der Behördenvertreter blieben ihnen verwehrt.
Egal, das reichte aus, es war eine klare Mehrheit. Damit war es entschieden.
Sie hatten den Rückhalt des Rates und würden zurückkehren.
Drei Tage waren seit der Ratssitzung vergangen. Elliot und Soleil hatten die Zeit mit Schwertkampftraining verbracht und mit Dingen, die man als frisches Pärchen eben so machte. Für diesen Nachmittag stand aber Abwechslung auf dem Programm.
Sie fanden Olly im Hinterhof von Dingulds Haus. Er entfernte mit seinem Gebiss das Unkraut zwischen den Steinen, während Gerryson auf einem Baum saß und ihn dabei beobachtete. Der Phönix war wieder zu voller Größe herangewachsen. Sein Federkleid brannte kräftig. Er würde ihnen eine große Hilfe im Kampf gegen die Inquisition sein.
»Hey, Kumpel«, grüßte Elliot den Pegasus. Das Tier hob den Kopf und wieherte vergnügt. »Na, ein kleiner Boxenstopp, bevor ihr euch wieder in die Lüfte hebt?« Olly und Gerryson waren mittlerweile in ganz Avanaat bekannt, und mehr als einmal hatte ein wütender Nachbar mit einer zerstörten oder angekokelten Dachpfanne vor Dingulds Tür gestanden. Aber sie alle wussten, dass sie am Kampf gegen Eldith beteiligt gewesen waren, und so ließ man sie gewähren.
»Wir haben einen kleinen Ausflug vor«, sagte Elliot und strich Olly über die Mähne. Soleil hatte sich von der anderen Seite genähert und kraulte ihn hinterm Ohr. »Komm, lass uns aufbrechen, bevor es dunkel wird.« Noch stand die Sonne hoch am Himmel, und das Wetter war ideal für ihre Mission.
Sie kletterten auf den Rücken des Pegasus, Olly spannte die Flügel und schraubte sich empor. Elliot hielt sich mit verkrampften Händen in der Mähne fest und drückte seine Oberschenkel eng gegen das Tier. Soleil umschlang mit ihren Armen locker seine Hüfte. An das Fliegen würde er sich nie gewöhnen, egal ob Drache, Taschengefährt oder Pegasus.
Gerryson war dicht hinter ihnen, bevorzugte es aber, selbst zu fliegen. Die Zeiten, in denen er auf Elliots Schulter gesessen hatte oder sogar in einem Beutel untergekommen war, waren vorbei.
Olly schoss über die grauen und schwarzen Dachschindeln Avanaats hinweg, flog eine Kurve um eines der Elfenbaumhäuser und überflog das Rathaus. Elliot sah die Rauchfahnen aus den Kaminen steigen. Es hätte alles so schön sein können, wären da nicht die Inquisition und Theodore. »Zu den Echobergen«, brüllte Elliot gegen den Flugwind an. Olly wusste sofort, wo es hingehen sollte, er flog die Strecke schließlich nicht zum ersten Mal.
Sie ließen die Stadtmauer hinter sich und überquerten den Wald. Unter ihnen schlängelte sich der Fluss entlang, in dem Elliot und Soleil sich auf ihrer Reise mehr als einmal erfrischt und gewaschen hatten. Er dachte an die Totenkröte zurück und erschauderte. Irgendwo unter ihnen musste der Tümpel mit den zahlreichen Kadavern sein, wahrscheinlich besetzt von einer neuen Kröte mit gelb leuchtenden Augen, die nur darauf wartete, ahnungslose Opfer in ihr Reich zu holen.
»Schön hier«, hörte er Soleil hinter sich rufen. In der Tat, wenn man von der Höhe absah, in der sie sich befanden, was es wirklich ganz schön. Der Wald unter ihnen bekam die ersten roten und gelben Blätter, die wie Farbkleckse in einem grünen Meer aussahen.
In der Ferne konnte Elliot die Steppen der Zentauren erspähen und erahnte den Rauch ihrer Lagerfeuer. Sie hatten sich aus dem ganzen Konflikt herausgehalten, und Elliot konnte es ihnen nicht verübeln. Sie führten ein friedliches Leben hier draußen, im Einklang mit der Natur.
Am Horizont zeichneten sich die Echoberge ab. Das Reich Rhegads, wie Soleil und Elliot erfahren hatten, aber auch ein beliebtes Ausflugsziel für die Bewohner Avanaats. Olly legte noch einen Gang zu. Schnell kam das Gebirge wie eine Wand immer näher, und Elliot verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Rechts von ihnen sah er Gerryson fliegen, der wie ein brennender Feuerball aussah.
Elliot schloss die Augen.
Kurz dachte er, sie würden einfach an den Echobergen zerschellen, wie ein Insekt auf einer Windschutzscheibe. Aber er hatte die Fähigkeiten des Pegasus unterschätzt. Kurz vor der Felswand zog Olly hoch und jagte der Sonne entgegen, bis sich die Spalte auftat, die den Eingang in Rhegads Höhle markierte.
Sekunden später kamen sie schlitternd auf der höhleneigenen Landebahn zum Stehen.
Elliot rutschte erleichtert vom Rücken des Pegasus.
»Mittlerweile müsstest du dich doch daran gewöhnt haben«, sagte Soleil, als sie sich ebenfalls von Ollys Rücken schwang, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Du bist ein bisschen blass im Gesicht.«
»Das Erste, was wir machen, wenn wir zurück sind, ist, uns einen Stapel Schnellreisetickets zu besorgen. Ich würde mich wahrscheinlich nicht mal auf seinem Rücken wohlfühlen, wenn er keine Flügel hätte, sondern ein stinknormales Pferd wäre.«
»Zum Glück ist er kein stinknormales Pferd, sonst wäre die Flucht aus dem Merlin-Center damals anders ausgegangen«, konterte die Elfe. »Komm, wir suchen Rhegad.«
Die Suche gestaltete sich bei dem Ungetüm sehr einfach. Der kupferrote Drache war an seinem Studientisch zu finden. Eine Pergamentrolle war in der Vorrichtung eingeklemmt, die er zum Lesen verwendete, und eine Lupe vergrößerte die Schrift.
Gerryson flog über ihre Köpfe hinweg, und Olly trabte ihnen hinterher.
»Hallo, Rhegad«, rief Elliot in den riesigen Raum hinein, der vollgestellt war mit Bücherregalen, Truhen, Schränken, Landkarten und Phiolen mit blubbernden Flüssigkeiten. In der Mitte brannte ein Feuer, das die Höhle in ein gemütliches Orange tauchte.
Der Drache blickte auf. »Ah, da seid ihr ja endlich.« Seine tiefe Stimme hallte von den glatten Steinwänden wider.
»Das klingt, als hättest du Neuigkeiten für uns«, sagte Soleil zufrieden.
»Erst seid ihr dran: Wie ist es im Rat gelaufen?«, fragte der Drache. Aber Soleil und Elliot bekamen keine Chancen, ihm zu antworten. Mit lautem Gequieke kündigten sich Hanky und Flanky an. Wenn er ehrlich sein sollte, hätte Elliot nicht geglaubt, dass die beiden Schweine, die sie aus dem Schloss der ersten Nachtalbin gerettet hatten, noch leben würden. Viel mehr war er sicher gewesen, dass Rhegad sie zwischenzeitlich zu einem Nachmittagssnack auserkoren hatte.
Hanky und Flanky grunzten zufrieden, als Elliot und Soleil ihnen auf die Seite klopften und die Ohren massierten. »Fast wie im Merlin-Center«, murmelte Elliot. Die Arbeit mit den Tieren hatte ihm immer am besten gefallen. Zwar musste er sich dort um weitaus gefährlichere Wesen als Schweine kümmern, aber das Grunzen der beiden Huftiere erinnerte ihn an seinen ehemaligen Vorgesetzten Gerry, den Buffaloman.
»Der Rat hat zugestimmt«, sagte Soleil und kraulte eines der beiden Schweine unter der Schnute. »Es wird keinen diplomatischen Eklat auslösen, wenn wir das Portal öffnen.«
»Gut, sehr gut«, seufzte die Echse erleichtert. »In dem Fall hätte ich …«
»… uns nicht unterstützen können, weil es ein Eingriff eines Drachen in die Geschichte wäre«, beendete Elliot den Satz. »Das wissen wir.« Sie hatten diesen Satz schließlich schon oft genug von Rhegad zu hören bekommen.
»Also willst du uns jetzt helfen?«, fragte Soleil.
»Natürlich, ist doch albern, bevor ihr noch ein Schiff kaufen müsst. Es wird ja so oder so stattfinden, nun, wo der Rat es gebilligt hat. Ich fliege euch hinaus aufs Meer, und dann schauen wir mal, ob wir das Portal wieder geöffnet bekommen.«
»Und du willst dich auf der Erde umschauen«, ergänzte Elliot.
»Ertappt, junges Menschenkind! Meine Neugier obsiegt in diesem Fall. Die avalonische Chronik ist zwar mein Steckenpferd, aber ich möchte mal über den Tellerrand hinausschauen. Hier werde ich in der kurzen Zeit ganz bestimmt nichts verpassen.«
»Vielleicht haben wir ja die Möglichkeit, dir Gertrude vorzustellen.«
»Gertrude?«, fragte Rhegad und blickte von seinen Studien auf.
»Eine wirklich reizende Drachendame«, erklärte Soleil.
»Oh, vielen Dank, kein Interesse, ich bin mit der Geschichte verheiratet. Außerdem ist diese Höhle hier nicht groß genug für zwei Drachen.«
Elliot blickte sich um und wollte es nicht sagen, aber in Rhegads Reich hätten locker noch fünf weitere Drachen gepasst, die alle ihre eigenen Studien durchführten. »Hast du dir denn mittlerweile genug den Kopf zerbrochen und einen Weg gefunden?«
Rhegad kam ein paar Schritte auf sie zu. »In der Tat, ich war die letzten Wochen nicht untätig. Lasst uns rübergehen, holt euch einen Tee oder ein Bier, meinetwegen auch Wein aus der Vorratskammer, und dann werde ich euch alles erklären.«
Elliot und Soleil kamen seinem Wunsch nur zu gerne nach. In der Vorratskammer des Drachen fanden sie alles, was man brauchte, wenn man den Besuch der Queen erwartete. Also würde es auch für die beiden reichen. Sie nahmen sich Käse und Wein, fanden ein paar Feigen und Senf. Dann machten sie es sich an der Feuerstelle gemütlich. Hanky und Flanky legten sich zu ihren Füßen, Olly hatte sich auf einem Kissenstapel drapiert, und Gerryson saß auf einem Kerzenhalter an der Wand. Ihr eigener kleiner Zoo.
Rhegad legte sich auf die Seite und kam mit dem Kopf dem Feuer sehr nah. Die Flammen spiegelten sich in seinem verbliebenen Auge, das nun noch röter leuchtete als gewöhnlich. Elliot überlegte, ob er fragen sollte, wie er das andere verloren hatte. Andererseits war das irgendwie taktlos.
»Ein Pfeil, Elliot«, sagte der Drache.
»Ich …«
»Alles gut, ich habe es dir angesehen. Und du hättest fragen dürfen«, brummte der Drache. »Es war noch drüben, auf der Erde. Ein regnerischer Tag. Ich war ein junger, törichter Drache, gelenkt von dem Feuer, das in meiner Brust brannte, nicht von meinem Verstand. Ihr müsst wissen, dass wir Drachen in unseren jugendlichen Jahren zu Leichtsinn und Übermut neigen. Das gibt sich mit dem Alter.«
»Da unterscheiden sich wohl alle Spezies nicht«, erwiderte Soleil trocken.
»Auf jeden Fall hatte ich eine Schafherde erblickt. Ein kleiner Nachmittagssnack, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Also landete ich auf der Wiese, und die armen Viecher suchten das Weite. Aber ein Zaun hinderte sie an der Flucht. In meiner Gier und meinem Hunger hatte ich dem kleinen Menschenjungen, der am Rande auf der Wiese saß, keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ganz ehrlich: Selbst wenn ich ihn bemerkt hätte, wäre es mir egal gewesen. Was soll schon ein Mensch gegen einen Drachen ausrichten?« Er schüttelte den Kopf. »Ich musste meine Lektion teuer bezahlen. Der Junge, nicht älter als du jetzt, Elliot, trug die einfachen Kleider eines Bauern. Leinenhose und Hemd, einen Filzhut, schwere Stiefel. Über seiner Schulter baumelte ein Bogen, der fast so lang war wie er selbst. Er forderte mich auf zu verschwinden, und ich lachte ihn aus. Er legte einen Pfeil in die Sehne und bat mich ein weiteres Mal, seine Herde in Ruhe zu lassen, sonst müsste er sie verteidigen. In meiner Arroganz lachte ich erneut und bemerkte nicht, wie er den Pfeil abschoss. Er traf mich direkt ins Auge, die größte Schwachstelle eines jeden Drachen. In meiner Wut und meinem Schmerz brannte ich alles nieder, ihn und all die Schafe, die ganze Wiese. Das ist die Geschichte hinter meinem fehlenden Auge, und ich bin froh, wenn ich sie erzählen kann. Denn sie beweist, dass all unsere Entscheidungen Konsequenzen haben, mögen sie noch so nichtig sein. Irgendwann müssen wir alle geradestehen für das, was wir tun. Ohne diesen kleinen Bauernjungen wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Mein fehlendes Auge ist sein Vermächtnis, und es erinnert mich täglich daran, was passiert, wenn ich meine niederen Instinkte nicht bezwinge.«
Elliot wollte irgendwas sagen, um die Stimmung zu lockern. Einen kleinen Witz erzählen. Aber ein dicker Kloß steckte in seinem Hals. »Das tut mir leid«, stammelte er.
»Nein, Elliot, ich glaube, du hast den Kern meiner Geschichte nicht verstanden. Dir sollten der Junge und seine Schafe leidtun. Sie hatten nichts Unrechtes getan, verstehst du?«
Elliot nickte.
»Die Inquisition und Theodore haben uns genauso unterschätzt wie du diesen Jungen«, sagte Soleil. »Aber sie werden mehr als nur ein Auge verlieren.«
»Erst mal kümmern wir uns um das Portal«, warf Rhegad ein und übertönte mit seiner Stimme das Schnarchen der beiden Schweine. »Der Zettel, den ihr aus dem Schloss mitgebracht habt, war sehr aufschlussreich. Er war sozusagen das letzte Teilchen eines großen Mosaiks, das ich anhand anderer Schriften und Unterlagen vervollständigen konnte. Ein paar Ausflüge zu den Gelehrten Avalons waren nötig, Tag und Nacht bin ich geflogen, um sie in ihren Türmen, Burgen und Bibliotheken zu besuchen.«