Hier und dort - Maria Apruzzese Pittini - E-Book

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Maria Apruzzese Pittini

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Beschreibung

In diesem autobiografischen Text erzähle ich von meiner Jugend, vom frühen Erwachsensein in Italien und vom darauffolgenden neuen Lebensabschnitt in der Schweiz. Dadurch möchte ich einen Einblick in das Leben einer italienischen Familie aus der Mittelschicht gewähren und meine Eindrücke, Überlegungen und Gefühle als Eingewanderte darlegen. Ich beschäftige mich darin mit den Themen Integration und Erwerb der Standardsprache in einem Land wie der Schweiz, in dem eine prägnante Diglossie-Situation herrscht. Ferner ziehe ich - oft schmunzelnd - Vergleiche zwischen zwei verschiedenen Lebensarten und befasse mich mit der Kindererziehung in beiden Ländern, mit zwischenmenschlichen Beziehungen und anderen Aspekten des Alltags in beiden Ländern.

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Winterthur, April 2017

Umschlagbild

Maria Apruzzese-Pittini: Rose in vaso rosa, 2007

weitere Bilder auf www.apruzzese-pittini.ch

Dieses Buch ist aus einem Missverständnis heraus entstanden. Eigentlich hätte es eine Zertifikatsarbeit über die Auswirkungen der Schweizer Diglossie im Zweitspracherwerb werden sollen.

Der Ausgangspunkt war das Schildern meiner persönlichen Erfahrungen als Ausländerin im Umgang mit beiden Sprachvarietäten. Wie konnte ich dabei sachlich bleiben? Viele Erinnerungen und Emotionen kamen in mir hoch und ich folgte dem unbändigen Impuls, weiter zu schreiben. In diesem Text erzähle ich von meiner Jugend, vom frühen Erwachsensein in Italien und vom darauffolgenden neuen Lebensabschnitt in der Schweiz. Dadurch möchte ich einen Einblick in das Leben einer italienischen Familie aus der Mittelschicht gewähren und meine Eindrücke, Überlegungen und Gefühle als Eingewanderte darlegen.

per Aldo, Valeria, Alessandro e Francesca-Romana

e per mia madre, che avrebbe voluto scrivere le proprie memorie e non c’è più riuscita

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Effizienz und Strenge

Viel Sonne und ein buntes Durcheinander:

Mein Leben in Italien

Zio Armando

Die Siebziger-Jahre

Die Italiener und die Schönheit

Erste Unterrichtserfahrungen in den italienischen Schulen

In der Schweiz: Erste Begegnungen mit der Mundart

und mit Vorurteilen

Unterrichtserfahrungen in der Schweiz

Wieso redtsch du Tütsch?.

Elf Umzüge in fünfzehn Jahren

Mutterschaft

Zu Besuch in der Schweiz

Erfahrungen im Tessin und in Norditalien

In der Schweiz zurück

Kurs für zwischenmenschliche Beziehungen

Diglossie und Integration: Erfahrungen als Lehrperson für Deutsch als Zweitsprache

Leben in zwei Welten

Beobachtungen über Kindererziehung in der Schweiz und in Italien

Erfahrungen mit meinen eigenen Kindern und mit Schülerinnen und Schülern, die zweisprachig aufwachsen

Heute

Literaturangaben

Danke

Vorwort

Mit dreiundzwanzig unterrichtete ich eine zweite Klasse in Mittelitalien. Ich war erst vor Kurzem planmässig angestellt worden und beabsichtigte bald, meinen Wohnsitz ans Meer in die Ferienwohnung meiner Eltern zu verlegen. Gleichzeitig studierte ich Fremdsprachen an der Uni in Rom und hatte Deutsch als Hauptfach ausgewählt, weil ich die Herausforderung suchte.

Nie hätte ich gedacht, dass ich diese Sprache einmal im deutschsprachigen Raum unterrichten würde, so wie ich natürlich nicht im Traum dachte, bald auszuwandern.

Dann lud mich eine Cousine zu ihrer Hochzeit in die Schweiz ein und ein Jahr später durfte ich die Sommerferien bei ihr verbringen.

In einem Gartenrestaurant fragte ich den reizenden jungen Mann mir gegenüber nach der Bedeutung gewisser Speisenamen, die im Menü aufgelistet waren. Er erklärte sie mir so ausführlich, dass wir ziemlich bald die Sommerferien zusammen verbrachten und ein Jahr später heirateten.

Zur gleichen Zeit musste ich viel Neues kennenlernen: Ein neues Land, den Schweizerdialekt, die mit der Immigration verbundene Problematik, Vorurteile gegenüber den Italienern.

Anfangs unterrichtete ich in Luzern und Zürich Erwachsene, später auch Oberstufenschüler/innen in Italienisch. Seit neun Jahren bin ich Fachlehrperson für Deutsch als Zweitsprache an einer Winterthurer Primarschule.

Effizienz und Strenge

„Da Sie das Grosse Deutsche Sprachdiplom erworben haben und als Lehrperson mit anerkanntem ausländischem Diplom in der Schweiz mit Migrationsfragen bestens vertraut sind, können wir Ihnen mitteilen, dass Sie im Bereich DaZ eingesetzt werden können.“ (E-Mail des Volksschulamtes, 2008)

Diese E-Mail war für meinen professionellen Wandel entscheidend. Bis vor zwei Jahren hatte ich Italienisch an der Oberstufe unterrichtet. Als das Fach jedoch aufgrund des Inkrafttretens der Sparmassnahmen nicht mehr angeboten werden konnte, musste und wollte ich mich beruflich neu orientieren. Der Erwerb des Deutschdiploms war eine Erfolgsgeschichte: Ein paar Monate später hatte ich eine Anstellung als Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache und konnte nachträglich an der Pädagogischen Hochschule in Zürich den DaZ-Zertifikatslehrgang berufsbegleitend absolvieren.

Mit grosser Freude las ich die beglückende E-Mail vom Volksschulamt, dankbar für das Vertrauen, das mir geschenkt wurde und für die unbürokratische Antwort, die ich umgehend erhalten hatte. Nach den Bewerbungen wurde ich an mehreren Schulen zu einem Gespräch eingeladen und entschied mich für meine aktuelle Arbeitsstelle.

Einmal mehr musste ich ein Hoch an die schweizerische Effizienz anbringen und an meine Erfahrungen in Italien denken, wo man immer irgendwelche amtlichen Vorgänge, einen Wettbewerb und selbstverständlich die üblichen Empfehlungen braucht, um an eine Stelle zu gelangen. Wie damals beim Aussenministerium in Rom.

Planmässig angestellte Lehrpersonen haben die Möglichkeit, die italienische Sprache in weiten Teilen der Welt zu unterrichten. Die Arbeit an den italienischen Schulen im Ausland garantiert einen angemessenen, steuerfreien Lohn und die Dienstjahre werden doppelt berechnet. Kein Wunder, dass die ausgeschriebenen

Stellen so begehrt sind. Die Rekrutierung des Personals erfolgt durch das Aussenministerium mittels Wettbewerb.

Nach meinem Umzug in die Schweiz versuchte ich mich in die Schulen der Winterthurer Umgebung versetzen zu lassen. Blauäugig wie ich war, dachte ich, die Kandidaten würden nach ihrer Qualifikation ausgewählt und bereitete mich sorgfältig für die Prüfung vor.

Erforderlich waren: gute Kenntnisse der Fremdsprache vom Zielland, Vertrautheit mit dem Bilingualismus und der damit verbundenen Problematik, didaktische Erfahrungen. Nach der Zulassung zur mündlichen Prüfung, die sich üblicherweise leichter als die schriftliche erweist, glaubte ich, gute Erfolgschancen zu haben. Ich musste einen Notendurchschnitt von sieben haben und wäre automatisch in der Rangliste der Gewinner aufgenommen worden. Die mündliche Prüfung fing mit einem Gespräch in deutscher Sprache an, das problemlos erfolgte. Das nächste Mitglied der Prüfungskommission war eine unfreundliche Frau, die mich ausschliesslich über die Schulgesetzgebung abfragte, die in keiner Weise auf dem Programm stand. Die Fragen waren etwa, in welchem Jahr ein bestimmtes Gesetz verabschiedet worden sei oder wohin die Lehrperson die Schüler nach dem Unterricht begleiten solle. Lauter Fragen über die italienische Schulordnung, die im Ausland gar nicht gilt.

Meine Unsicherheit in einem Bereich, der sehr nebensächlich war, wurde leider schwer angerechnet, so dass ich die Durchschnittsnote nicht erreichte. Ich war sprachlos und wütend und als ich meinen Unmut den anderen Kandidaten kundtat, vermuteten diese, dass die Gewinner von vornherein bestimmt worden seien.

Für meine erste Anstellung in der Schweiz, an der Oberstufe als Fachlehrperson für Italienisch, hatten hingegen lediglich ein Gespräch und das Vorweisen der Diplome gereicht.

Allerdings fand die lange Besprechung auf Schweizerdeutsch statt: Eine wahre Qual für mich, da ich nach einem dreijährigen Aufenthalt in der Schweiz die Mundart nur knapp verstand.

Der Schulpflegepräsident beharrte darauf, Dialekt zu sprechen mit der Begründung, dass ich in der Lage sein müsste, das Schweizerdeutsche der Schüler/innen zu verstehen.

Noch nie zuvor hatte ich mein Hörverstehen-Vermögen derart anstrengen müssen. Ich wurde auf Herz und Nieren geprüft. Irgendwann tauchte sogar die Frage auf, welche militärische Rangstufe mein Mann hätte.

Abgesehen davon, dass ich zwischen Militärdienst und Fremdsprachendidaktik keinen möglichen Zusammen - hang finden konnte, wunderte ich mich, dass das Thema in einem neutralen Land wie der Schweiz eine so zentrale Rolle spielte. Wenn die Prüfungskommission erfahren hätte, dass mein Mann sich kürzlich von den letzten Wiederholungskursen befreien lassen hatte, hätte das ihn, und folglich auch mich, in ein schlechtes Licht gerückt. Ich ging deshalb nicht ins Detail und erwähnte nur die Zugehörigkeit zu seiner Truppe. Als sie mich dann fragten, wie ich mich in der Schweiz fühle und wie ich Winterthur fände, unterliess ich zu sagen, dass mir Luzern, wo ich ein halbes Jahr gelebt hatte, viel besser gefiel. Anfänglich ahnte ich nicht, wie tief verwurzelt der Lokalpatriotismus bei den Schweizerinnen und Schweizern ist. Es passierte mir mehr als einmal, dass ich Luzern zu meiner Lieblingsstadt erklärte und dass das nicht gut bei den Winterthurern ankam.

Irgendwie bewegte ich mich die ganze Zeit auf einem Minenfeld und musste jedes Wort auf die Goldwaage legen. Das ganze Gespräch zeugte von einer Härte, die mir unbekannt war. Die Sprachwahl empfand ich als unfreundlich und deren Begründung als sehr schwach: Jede Sekundarschülerin, jeder Sekundarschüler kann sich in der dritten Klasse in Standarddeutsch ausdrücken und versteht die Sprache problemlos.

Sehr schnell musste ich auch lernen, dass man hier die eigene Schwäche besser überspielt. Am besten sagt man, es sei alles in Ordnung, selbst wenn das Gegenteil stimmt. Meine Arbeitszeit wurde in den Randstunden festgesetzt, da Italienisch als freies Fach galt.

Die erste Lektion montagmorgens kam mir überhaupt nicht gelegen, denn in der Nacht zuvor konnte ich meistens keinen Schlaf finden. Nach einem anstrengenden Wochenendeinsatz als Helferin an den Winterthurer Musikfestwochen kam, ausgerechnet um zwanzig nach sieben, zum ersten Mal der Schulpflegepräsident unangemeldet zu Besuch. Freundlich und aufgestellt fragte er, wie es mir gehe und seine Höflichkeit ermutigte mich dazu ihm zu verraten, dass ich ein bisschen müde sei, da ich am Abend zuvor Gnocchi für etwa zweihundert Personen zubereitet hatte. Daraufhin änderte sich sein Gesichtsausdruck von höflich und lächelnd zu ernst und besorgt: „Ach! Aber ... hoffentlich merken es die Schülerinnen und Schüler nicht!“.

Ein andermal kam er, wie üblich unangemeldet, am ersten Arbeitstag nach beendetem Schwangerschaftsurlaub. Ich war erschöpft, weil meine kleine Tochter mir schlaflose Nächte beschert hatte. Ausserdem hatte sie spätnachmittags Koliken und schrie stundenlang wie am Spiess. Das kostete mich den letzten Nerv und deswegen entschied ich mich, einen Antrag auf einen Monat unbezahlten Urlaub zu stellen.

Mit besorgtem Gesicht fragte er, was mit dem Baby los sei. Offenbar vermutete er eine ernsthafte Krankheit.

Als er von den Koliken und den ruhelosen Nächten hörte, war er recht erstaunt und gab mir zu verstehen, dass diese Umstände nicht Grund genug seien, um zu Hause zu bleiben. Wie konnte er sich in die Lage einer Wöchnerin versetzen, die das erste Kind geboren hat und auf Schlafentzug ist? Die zwölf Wochen Mutterschaftsurlaub waren in meinen Augen eine lächerliche Auszeit, vor allem im Vergleich mit den sieben Monaten, die den Italienerinnen gewährt werden. Diese dürfen ausserdem die Babypause bis zum ersten Lebensjahr des Kindes verlängern, bei achtzig Prozent des Einkommens. Die Frist für den Mutterschutz beginnt sechs Wochen vor der Geburt. Hier arbeiten Frauen nicht selten bis kurz davor, um die zwölf Wochen für die anstrengende Zeit danach aufzusparen.

In einem Artikel des Tages Anzeigers mit dem Titel: «Im internationalen Vergleich hinkt die Schweizer Familienpolitik hinterher»1 fand diese Feststellung Bestätigung.

Mein Selbstbewusstsein sank unter null, je mehr ich mich mit anderen Müttern konfrontierte, die mehrere Kinder hatten. Wie schafften sie das nur?

Mit einer ähnlichen Strenge wurde ich noch mehrere Male in der Schweiz konfrontiert. Zum Beispiel, als ich einmal meinen Schwiegervater zuerst zum Arzt, dann in die Stadt begleiten musste. Die Angelegenheit stellte meine Nerven auf eine harte Probe, weil ich keinen guten Draht zu ihm hatte. Da er sehr langsam war und wir uns beeilen mussten, war ich ziemlich gestresst. Ohne es zu merken, lenkte ich in eine Einbahnstrasse ein.

Da alle Parkplätze leer waren fiel mir nicht auf, dass ich das Auto in die verkehrte Richtung geparkt hatte.

Als wir aus dem Postamt kamen, ging eine Verkehrspolizistin um das Auto herum. Weil ich den richtigen Geldbetrag in die Parkuhr eingeworfen hatte, alarmierte mich ihre Präsenz nicht. Zu Unrecht, wie ich merken sollte. Sie wies mich auf meinen Fehler hin und überreichte mir eine gesalzene Geldbusse, noch bevor ich den Grund dafür richtig verstanden hatte. Überanstrengt, fing ich an zu schluchzen. Es war mir extrem peinlich, aber ich konnte den Tränenfluss nicht zurückhalten.

Mir erging es schon seit der Kindheit so, wenn ich mich zu Unrecht bestraft fühlte: Ich hatte schliesslich das Fahrverbot nicht wahrgenommen und hatte niemanden in Gefahr gebracht. Die Polizistin verzog keine Miene und fragte mich, ob ich gleich mit Einzahlungsschein oder bar bezahlen wollte.

Daraus lernte ich auf meine Kosten, dass in einem Land, in dem Ordnung herrscht, kein Auge zugedrückt wird. Diese Grundhaltung ist für das strikte Beachten der Regeln, wofür ich das Schweizervolk ja so bewundere, leider notwendig.

In Italien sind die schwach vertretenen Polizisten mit dem Verkehrschaos überfordert. Deswegen sind sie oft gnädig, lassen Einiges durchgehen und zeigen sich sogar von einer unerwarteten, humorvollen Seite.

Ein konkretes Beispiel aus meiner Jugendzeit dazu: Zweimal in der Woche chauffierte ein Bekannter seinen Sohn und mich zur Schule. Er war Direktor einer Bankfiliale und musste pünktlich am Arbeitsort erscheinen. Weil die Strassen permanent verstopft waren, versuchte er immer wieder, Autos zu überholen. Er schaffte es aber selten: Jedes Mal wechselte er die Fahrspur, gab Gas, bis er das nächste Fahrzeug erreicht und fast überholt hatte. Dann wurde er unsicher, bremste und machte eine Kehrtwendung. Diese misslungenen Überholmanöver nannten wir „sorpassi alla sor Enrico“, Überholen nach Herrn Enricos Art.

Einmal erwischte ihn ein Verkehrspolizist dabei, hielt ihn an und sagte zu ihm: „Questo sorpasso non m’è piaciuto per niente!“, was heissen soll: „Ihr Überholmanöver hat mir überhaupt nicht gefallen“. Darauf erwiderte il signor Enrico mit Nonchalance: „De gustibus!“

Der Polizist verstand den Witz, und da er ihn selbst ausgelöst hatte, musste er darüber lachen und liess unseren Chauffeur unbestraft davonkommen. In der Schweiz wäre er sehr wahrscheinlich der Beamtenbeleidigung beschuldigt worden. Oder auch nicht, denn hier hätte sich il sor Enrico die witzige Bemerkung bestimmt nicht erlaubt.

1 Raphaela Birrer, TA vom 19.05.2015

Viel Sonne und ein buntes Durcheinander: Mein Leben in Italien

Ich bin in Mittelitalien geboren und aufgewachsen. Mein Geburtsort heisst Colonna, der Heimatort meiner Mutter. Das Dorf liegt auf einem Hügel, es ist von Schirmpinien umgeben und 30 Km von Rom entfernt. Morgens riecht die Luft nach frisch gebackenem Brot und leicht nach Kupfersulfat, mit dem die Winzer ihre Reben behandeln. Die Sonne scheint fast uneingeschränkt das ganze Jahr über, weshalb in meinen Erinnerungen der Himmel permanent blau ist. Aufgewachsen bin ich etwa 60 Kilometer südlich, in Ceccano, nahe der Provinz Frosinone. Rückblickend denke ich an das Meer, das nur 50 Kilometer von uns entfernt lag, an das Gekreische der Schwalben, das uns vom Frühling bis in den Herbst hinein begleitete, an die drückende Hitze und das Brennen der Mückenstiche im Sommer, an die Fröhlichkeit, Gastfreundlichkeit und Grosszügigkeit der Leute; an die vielen Verwandten, Feste, Hochzeiten und Beerdigungen, an denen wir als Grossfamilie so oft teilnahmen.

Meine Eltern waren von sehr geselliger Natur. Wir hatten oft Gäste oder wurden eingeladen. Als sie anfangs der siebziger Jahre eine Ferienwohnung am Meer kauften, luden sie die halbe Verwandtschaft ein. Einmal schliefen wir an Mariä Himmelfahrt, Höhepunkt der Sommerferien, zu dreizehnt darin, wie in einem Massenlager.

Sie mochten gerne Spass und es wurde bei uns viel gelacht. Mama arbeitete damals, nachdem sie mehrere Jahre unterrichtet hatte, als Co-Schulleiterin und hatte immer eine Menge Anekdoten oder lustige Begebenheiten zu erzählen. Damals konnten die meisten Leute kaum Italienisch und sie fand gewisse Ausdrücke der Mundart und Situationen, die sich aus sprachlichen Missverständnissen ergaben, besonders spassig.

Einmal, zum Beispiel, kam die Grossmutter einer Schülerin wie eine Furie in ihr Büro gestürmt. Es handelte sich um eine Bäuerin, Mitte fünfzig, schwarz gekleidet und mit einem Damenbart. Sie klagte über eine Lehrerin, die ihre Nichte scheinbar durchfallen lassen wollte. Weil ihr der Name der Lehrperson nicht einfiel schickte sie sich an, deren Aussehen zu beschreiben. Statt meine Mutter zu fragen, ob sie eine Lehrerin kannte, die stark geschminkt zur Schule kam, sagte sie: “Signo`, la cunosci chella maiestra cu vè cu gli turchi?“_ „Gnädige Frau, kennen Sie die Lehrerin, die mit den Türken zur Schule kommt?“ Meine Mutter überlegte angestrengt, welche Türken die Frau meinen konnte, denn es hatte in der Umgebung ja gar keine. Die Bäuerin meinte aber eigentlich ‚trucchi’, also Make-up und keine Türken. Da erblickte sie die stark geschminkte Sekretärin, die gerade einen Brief tippte, zeigte mit grossem Taktgefühl auf sie und sagte: “Eccola, accume chessa!“ „Schauen Sie, ganz wie die da!“ und fügte unverblümt hinzu:

„Denn du bist und bleibst sowieso hässlich, selbst wenn du dich schminkst!“

Mamas beste Freundin war eine Arbeitskollegin, die sie beim Pendeln zwischen Rom und Ceccano kennen gelernt hatte. Ähnlich wie sie hatte diese Frau ihren ersten Auftrag in Ceccano bekommen und dort ihren Lebenspartner kennen gelernt. Beide hatten keine Ahnung vom Dialekt und im Zug, auf dem Rückweg nach Rom, versuchten sie die Texte der Kinder zu entziffern und zu interpretieren. Vittoria kam aus guter Familie, war bildhübsch und besass eine natürliche Eleganz, die sie noch vornehmer erscheinen liess. Mama glaubte sich aber gescheiter, fachkundiger und geistreicher als sie und nach ihrer Meinung hatte Vittoria einfach viel mehr Glück gehabt, denn ihr Mann war der begehrteste Junggeselle der Stadt.

Tommaso, der zufälligerweise ein Vetter meines Vaters war, war tatsächlich ein charmanter, sehr gut aussehender Mann. Er war Jurist und übte ein wichtiges Amt aus, ausserdem kam er aus einer wohlhabenden Familie, war kultiviert und liebte Musik und Kunst.

Anfangs wohnte das Ehepaar im gleichen Mehrfamilienhaus wie wir, bald zog es aber in eine schöne Villa auf einem Hügel, mit atemberaubendem Blick auf die umliegenden Dörfer. Vittoria empfang uns stolz im neuen Haus und führte uns ins grosszügige Wohnzimmer, eingerichtet mit antiken, aufwändig restaurierten, eleganten Möbeln, in dessen Mitte ein Flügel thronte. Gegenüber dem Flügel ein übergrosses und langes Fenster, aus dem man ein herrliches Panorama über viele Dörfer, Hügel und Berge geniessen konnte.

Am Flügel sass oft der zweite Sohn, ein bildhübscher Junge, in den ich heimlich verliebt war. Mit flinken Händen spielte er auf Nachfrage Mozarts Türkischen Marsch

- ich war richtig hingerissen. Irgendwann versank Tommaso in seinem Sessel und legte eine Schallplatte aus seiner Purcell-Sammlung auf. Sehr konzentriert machte er uns auf die schönsten Passagen aufmerksam.

Er spielte Akkordeon und Klavier nach dem Gehör und gab uns ab und zu eine Kostprobe seines Könnens.

Ich mochte den Geruch dieser Villa, alles war sehr edel und an den Wänden hingen kostbare Bilder.

Zu Weihnachten feierten wir immer zusammen. Nach dem Abendessen spielten wir lange Lotto und Karten. Meine Mutter liebte das Kartenspiel, ausserdem belebte sie das Fest und sorgte für Unterhaltung. Nur Jahre später konnte ich mir das leichte Unbehagen erklären, das ich nach den Abenden bei den Bianchis empfand: Mama litt insgeheim unter der Bildungsungleichheit in ihrer Beziehung und hätte auch gerne wie Vittoria einen Akademiker an ihrer Seite gehabt. Ausserdem schwärmte sie natürlich für die wunderschöne Villa.

Nach jedem Besuch sagte sie mit einem Seufzer: “Beata lei! Die Glückselige!

Mama war eitel und stets sehr gepflegt, ging jede Woche zum Friseur und verliess nie ungeschminkt das Haus, nicht einmal, um den Abfallsack in die Mülltonne zu werfen. Zur Garderobe der modischen Frau des Mittelstandes gehörte in den siebziger Jahren ein Pelzmantel. Obwohl die Temperatur im Winter selten unter zehn Grad sank und sie besonders unter der Hitze litt, wollte sie sich um jeden Preis einen Nerzmantel kaufen.

Der Pelz stand ihr leider gar nicht, weil sie ziemlich rund war. Zudem kaufte sie sich unglücklicherweise einen Cowboyhut und Schlaghose. Ihr Outfit war mir so pein-

lich, dass ich sie jedes Mal anflehte, bevor sie aus dem Haus ging, sich umzuziehen und etwas unauffälliger anzukleiden. Leider war sie unerschütterlich, sie stand ja gerne im Mittelpunkt und genoss die Komplimente, die sie meistens von Leuten aus der ländlichen Umgebung bekam. Noch in der Tür antwortete sie selbstsicher: „Chi non mi vuole guardare si giri dall’altra parte!„ „Wer mich nicht anschauen will, soll sich umdrehen!“

Für sie galten Theaterbesuche in Rom als Höhepunkte. Dank der Verwandtschaft mit Sandro Giovannini, einem erfolgreichen Autor und Regisseur, kamen wir in den Genuss der schönsten Theaterstücke, Komödien und Musicals. Mama liess sich für die Gelegenheit massgeschneiderte Kleider anfertigen und wetteiferte jedes Mal mit zwei Cousinen väterlicherseits um die schönste Robe. Als die älteste Tochter von Sandro Giovannini heiratete, wurden wir zu einer glamourösen Hochzeitsfeier eingeladen, an der die berühmtesten Schauspieler/innen und Regisseure jener Zeit teilnahmen.

Das Fest fand auf einem Hügel in der wunderschönen Villa Miani mit Blick auf Rom statt, die als Kulisse für mehrere Filme gedient hatte. Ich war nur elf Jahre alt und konnte mich am Ganzen nicht satt sehen: Das Bild der grandiosen Gartenanlage, der riesigen, vierstöckigen Hochzeitstorte, die von vier Männern getragen werden musste und die Schönheit und Eleganz der Schauspielerinnen und Tänzerinnen sind mir besonders in Erinnerung geblieben.

In der Ferienwohnung am Meer war es ein Kommen und Gehen von Verwandten und Freunden. Meine Mutter war ein guter, grosszügiger Mensch. Sie scheute keine

Mühe und unterrichtete während der Sommermonate die Söhne und Töchter der Verwandtschaft, die im September eine Nachprüfung ablegen mussten. Natürlich beherbergte sie sie auch. Als Gegenleistung kochten deren Mütter oder sie halfen im Haushalt. Mich ärgerten das Treiben und die vielen Leute um uns herum. Ich wünschte mir, dass im Haus endlich ein wenig Ruhe herrschte und dass meine Mutter sich wenigstens während der Ferien erholen konnte.

Es beeindruckte mich stark, wie sie in der Lage war, mehrere Fächer zu unterrichten: Mathematik, Italienisch, Latein, Französisch waren die meist gefragten Fächer, für die sie Stützunterricht anbot. Mit verblüffender Leichtigkeit las sie komplizierte lateinische Texte und übersetzte sie direkt ins Italienische, ohne im Wörterbuch nachzuschlagen. In ihrer Jugendzeit war der Schulalltag streng und sie musste sehr viel auswendig lernen: Nicht nur Reime, Gedichte und Abschnitte aus literarischen Werken, sondern täglich ganze Wörterbuchseiten. Ihre Stärke war deshalb ihr bemerkenswertes Gedächtnis. Sie hatte auch die Gabe, sich mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten wunderbar unterhalten zu können.

Zu Mussolinis Zeit hatte sie zuerst das humanistische Gymnasium besucht und später alte Sprachen, Griechisch und Latein, an der Uni studiert.

Stolz erzählte sie uns, sie habe einmal vor Mussolini, Hitler und Hiroito auf dem Foro italico in Rom geturnt, und habe an der Uni den berühmten Dichter Giuseppe Ungaretti, der aufgrund des hohen Alters ständig eingenickt sei, als Italienischlehrer gehabt.

Mama sprach ein sehr blumiges Italienisch, mit vielen Redewendungen und lateinischen Zitaten. Wenn wir Kinder zum Beispiel keine Lust hatten, in die Kirche zu gehen – was meistens der Fall war – hatte sie immer ihr

‚memento mori’ auf Lager (‚denk dran, du wirst sterben’), oder noch schlimmer das ‚memento homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris’ (‚Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehren wirst’).

Dies erklärt, warum ich mir schon als Fünfjährige viele quälende Gedanken über den Tod und das ewige Leben machte.

Ihr Glaube konnte jedenfalls nicht so unerschütterlich sein, denn wenn wir mit heiklen Fragen kamen, antwortete sie: „Es kann sein, dass es nach dem Tod nichts gibt. Im Zweifelsfall ziehe ich vor, zu glauben. Man weiss ja nie...“.

Mein Vater hiess Francesco, aber alle nannten ihn Checchino. Ähnlich wie meine Mutter hatte er einen ausgeprägten Sinn für Humor. Diesen hatte er wahrscheinlich entwickelt, um die vielen Schwierigkeiten des Lebens anzupacken. Er war nämlich während des zweiten Weltkrieges, als jüngster von elf Geschwistern, ohne Eltern aufgewachsen. Sie starben nacheinander an der Spanischen Grippe, als er noch ein kleiner Bub war.

Er hatte Hunger gelitten und war sein Leben lang immer sehr sparsam. Mama kamen fast die Tränen als sie hörte, dass seine älteste Schwester, die praktisch alle zehn Geschwister grossgezogen hatte, das Brot rationieren und im Küchenschrank wegsperren musste. Häufig machte er uns auf den Überfluss aufmerksam, in dem wir lebten und konnte keinerlei Verschwendung ertragen.

Wenn eine gewisse Reklame für Haushaltpapier im Fernsehen lief, bekam er fast Zustände. Man sah nämlich, wie jemand ein Ei fallen liess und anschliessend, lächelnd, das Ganze mit einem Blatt Papier elegant vom Boden wischte. “No, miseriaccia!“ „Verflixt!“ rief er jedes Mal aus, „Uns wäre es in Kriegszeiten bestimmt nicht passiert! Wir mussten uns mit einer Olive und einem harten Brot pro Tag zufriedengeben!“

Mama fand seine empörte Reaktion übertrieben. In Gegensatz zu ihm musste sie nie in Entbehrung leben. Ihr Vater war Luftfahrtpilot und verdiente mit jedem Flug viel Geld. Damit konnte er einige Grundstücke kaufen, worauf er später Wein anbaute. Diese sicherten die Existenz seiner Nachkommen, die jahrelang Trauben und Pfirsiche exportierten. Meine Eltern ergänzten sich sozusagen, denn Mama rann das Geld durch die Finger während Papas Sparsamkeit ein Ausgleich dazu war. Er hatte aber auch ein grosses Herz und half jedem Bedürftigen, der ihm über den Weg lief. Manchmal nahm er wildfremde, mittellose Leute mit nach Hause, um sie zu verpflegen.

Als Italiener war er im Sinne der traditionellen Rollenverteilung ziemlich atypisch. Er half tatkräftig im Haushalt mit, kochte ausgezeichnet und verwöhnte die ganze Familie mit wahren Leckerbissen. Wir wohnten in einem damals vornehmen, neu gebauten Mehrfamilienhaus. Ab und zu schickte er uns mit seinen aufwändigen Spezialitäten zu seinem Neffen, der auch unser Hausarzt war und im gleichen Gebäude wohnte, und zu Freunden, eine Etage tiefer. Manche Nachbarskinder beneideten uns wegen Vaters Kochkünsten. Zusammen mit seinem

Bruder betrieb er eine Bar, in der er die besten gelati herstellte. Während der Sommerzeit durfte ich bei ihm Mandelmilch mit Minze-Sirup geniessen, ein Traum von einem Getränk, das er mir liebevoll zubereitete.

Diese Umstände kamen meiner Mutter gerade recht: Abgesehen davon, dass sie immer in der Schule war und keine Zeit fürs Kochen und Aufräumen hatte, war sie auch extrem ungeschickt und konnte sich ihre Zeit nicht so gut einteilen. Wenn sie mal schulfrei hatte, wollte sie gründlich putzen. Sie fing bei den Deckenlampen an und staubte sie so gewissenhaft ab, dass alles andere warten musste. Das Mittagessen verschob sich deshalb auf die ersten Nachmittagsstunden.

Noch in der Verlobungszeit hatte mein Opa unverblümt seine Meinung über Mama geäussert: “Ach, die Lorenza! Sie ist ja klug, nimmt man ihr aber die Feder aus der Hand weg, ist sie unbrauchbar!“ Anlässlich eines Ausflugs in die Berge lieferte sie ihrem künftigen Mann schon einen ersten Beweis ihrer Unbeholfenheit. Eigentlich wollte mein Vater sie einer kleinen Prüfung unterziehen. „Lorenza“, hatte er gesagt, nachdem er das Auto steil bergabwärts parkiert hatte, „Leg mal einen Stein vor das Vorderrad, man weiss ja nicht, falls sich die Bremsen lösen!“ Mama fand einen Steinbrocken und legte ihn vor das Hinterrad. „Bravo! Um den Wagen besser in den Abgrund zu reissen!“

Papa lachte damals Tränen, nicht ahnend, dass ihre Ungeschicktheit unvermeidliche Folgen auf ihre Beziehung und auf das Familienleben haben könnte. Wie damals, als sie für Verwandte kochen wollte. Sie hatten zia Colomba eingeladen, die ältere Schwester meines Vaters, die für ihn und die anderen Geschwister damals die Mutterrolle übernommen hatte. Papa nannte sie deswegen Mutti, „mammina“. Sie war kleinwüchsig, sehr flink und äusserst sparsam. Wenn sie zu Besuch kam, blieb sie keine Minute untätig: Entweder half sie im Haushalt oder sie suchte nach kaputten Socken und flickte sie rasch und sorgfältig. Mama wollte für diese Gelegenheit Supplì machen, sehr schmackhafte Reiskroketten mit einer Mozzarella-Füllung, die man meistens zubereitet, um Risotto Reste wieder zu verwerten. Dafür kochte sie eine Unmenge Reis an einer reichhaltigen Tomatensosse und formte ganz viele Kugeln, die anschliessend in heissem Öl hätten frittiert werden sollen. Unerfahren wie sie war, nahm sie leider eine sehr grosse Pfanne und gab die Reiskugeln ins kalte Öl. Die Supplì verschmolzen zu einem undefinierbaren, ungeniessbaren Brei, der am Schluss im Mülleimer landete. Angesichts der enormen Verschwendung war zia Colomba entsetzt. Schluchzend flüchtete Mama ins Schlafzimmer und hörte die Tante in der Küche sagen: “Armer Checchino!“.

Ein weiteres Beispiel für Mutters Ungeschicktheit: Um ihr dabei zu helfen, den Führerschein zu machen, liess mein Vater sie auf einer verlassenen Schotterstrasse fahren. Lachend berichtete er uns Kindern davon, wie sie es geschafft hatte, die grössten Schlaglöcher zu erwischen. Ausserdem hätte sie zwei mitten in der Strasse spielende Kinder beinahe übersehen, wenn mein Vater sich nicht aus dem Fenster gelehnt und geschrien hätte:

„Scansatevi, che questa v’ammazza veramente!“,

„Aus dem Weg, sie bringt euch garantiert um!“

Zu Papas Erleichterung gab meine Mutter die Versuche irgendwann endgültig auf. Er blieb natürlich der Überzeugung, dass sie als Autofahrerin un pericolo pubblico, eine öffentliche Gefahr dargestellt hätte.

Eine Schwester von ihr, zia Marisa, die ähnlich veranlagt war wie meine Mutter, hatte es geschafft, einen Angestellten der Fahrschule sowie den Examinator zu bestechen, und war für ein paar Tage stolze Besitzerin des Fahrscheins. Ihr erster Fahrversuch wurde aber zum Glück auch ihr Letzter. Sie schaffte es, auf ihrem Weinberg eine Reihe Rebstöcke niederzureissen und anschliessend in einem Graben zu landen.

Mama hatte grenzenloses Vertrauen in die Menschheit und war in gewissen Bereichen ziemlich naiv geblieben. Mit elf glaubte sie beispielsweise noch, dass der Storch die Babys bringt. Als ihr Bruder auf die Welt kam, liess sie sich aufbinden, ihre Eltern hätten einen Spaziergang durch den Wald von Zagarolo – einem Vorort von Rom - gemacht. Dort, unter einem Kohl, hätten sie ein Baby gefunden und es nach Hause mitgebracht.

Begeistert hatte sie am nächsten Tag in der Schule davon erzählt. Leider drückte ein älterer Schulkamerad die Bank, der einige Klassen wiederholt hatte und im Gegensatz zu anderen Schülerinnen und Schülern in Sachen Kinderkriegen bestens informiert war. Er bog sich vor Lachen und nahm von nun an meine Mutter auf die Schippe. Ab und zu fragte er laut: “Lorenza! Quando tornano mamma e papà al bosco di Zagarolo?” “Wann gehen deine Eltern wieder durch den Wald von Zagarolo?” Sie schilderte uns auch den Annäherungsversuch eines Jungen in Rom, der sie gefragt hatte:“ Vogliamo intrecciare un idillio?“ „Wollen wir miteinander eine Liebelei haben?“ Wobei intrecciare auf Italienisch flechten heisst. Mama lachte und fragte: “Welche Idylle? Was sollen wir denn flechten?“

Häufig erzählte sie uns von der Zeit, als Rom und dessen Umgebung bombardiert wurden.

Von der schrecklichen Angst, die zia Marisa packte, wenn sie den Fliegeralarm hörte. Im unterirdischen Zufluchtsort zitterte sie am ganzen Leib, betete ununterbrochen und als das Dröhnen der Kampfflugzeuge immer näher kam versprach sie, ihren ganzen Goldschmuck der Heiligen Maria zu opfern. Nach dem Kriegsende hielt sie ihr Gelübde ein, wenn auch sehr widerwillig.

Dank ihrem Urvertrauen hatte meine Mutter dieselbe kritische Zeit scheinbar mit Fassung überstanden.

Sie schien vor nichts Angst zu haben: Mit Nonchalance nahm sie grosse Insekten und furchtbare Spinnen in die Hand, blieb gleichmütig während Erdbeben, beruhigte bei ihrem ersten Flug die in Panik geratene Sitznachbarin und im Auto war sie die beste Beifahrerin. Sogar nach dem schlimmen Unfall, den sie mit mir am Steuer in den Achtzigern erlitt, vertraute sie mir voll und nickte sofort ein, kaum hatte ich den Motor gestartet.

Wehe aber wenn eine Katze oder ein Hund in ihre Nähe kam, dann fing sie an, vor Angst zu schreien.

Sie gab zio Armando die Schuld für ihre übertriebene Reaktion. Einmal war sie nämlich im Badezimmer, als er ihr vom Balkonfenster aus eine Katze zugeworfen hatte, die ihr das Gesicht zerkratzte. Einige Jahre später erlebte sie eine ähnliche Situation bei meinem Bruder auf dem Lande. Kaum angekommen hatte sie ihren heissgeliebten, schwarzen Pelzmantel auf seinem Bett ausgebreitet, worauf sich Mephisto, der dicke, schwarze Kater, sofort draufgelegt hatte und eingeschlafen war. Als sie den Mantel anziehen wollte, sprang der Kater davon und erschreckte sie zu Tode.

Als ich klein war dauerten die Sommerferien vier lange Monate. Es waren die Jahre des Wirtschaftswunders und immer mehr Familien aus der Mittelschicht konnten es sich leisten, einen ganzen Monat in Urlaub zu gehen. Meine Eltern bevorzugten die Monate Juni und September, weil es nicht so heiss war und wir am fast leeren Strand blieben. Nur einige Deutsche kampierten unweit von unserem Miethaus, badeten auch bei schlechtem Wetter und lagen die ganze Zeit wie Eidechsen in der Sonne.

Meine Eltern, die sehr extrovertiert und kommunikativ waren, suchten den Kontakt zu den Fremden. Manchmal fragten sie sich mitleidvoll, was die Armen im Zelt wohl essen würden und schickten uns ab und zu mit warmen Mahlzeiten zu ihnen. Die Deutschen erwiderten ihre Liebenswürdigkeiten mit Beuteln einer Fertigsuppe, die bei uns noch nicht in den Handel gekommen war und die wir köstlich und sehr praktisch fanden.

Das Anwesen der signora Nannina war unser Paradies auf Erden. Ihre Töchter waren ehemalige Schülerinnen von Mama. Da sie immer wieder Nachhilfe brauchten, war Nannina froh, wenn wir zu Besuch kamen: Mama half ihnen bei den Hausaufgaben und wir durften in der Zwischenzeit draussen spielen. Sie und ihr Mann Marcantonio waren Pächter eines Grundstücks, dessen Zugang durch eine Pinienallee führte. Überall hatte es

Obstbäume und im Sommer durften wir reife, saftige Pflaumen und köstliche Feigen pflücken. Aus den vielen Zapfen, die von den Schirmpinien gefallen waren, holten wir mit einem Stein die Pinienkerne heraus. Auf dem Hof schlugen zwei Pfauen das Rad und es gab noch viele Tiere, darunter Hunde, Gänse und einige Truthähne, die freien Lauf hatten. Wenn signora Nannina es uns nicht strikt verboten hätte, wären wir ihnen ständig hinterhergelaufen. Im grossen Stall zeigte sie uns die Kühe, in einem anderen hatte sie noch Schafe, darüber hinaus Hühner und Küken, Schweine und einen Esel.

Der stärkste Anziehungspunkt war aber der Brunnen, mit zwei grossen Becken, die immer gefüllt waren und zu denen ein paar Bäuerinnen aus der Umgebung kamen, um ihre Wäsche zu waschen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir nie ins Wasser gefallen sind, denn manchmal spielten wir unbeaufsichtigt und mein älterer Bruder, den meine Eltern wilden Teufel (diavolo scatenato) nannten, lehnte sich immer über den Beckenrand oder balancierte gerne darauf. Hinter dem Brunnen floss ein kleiner Bach, dem entlang hohes Schilf gewachsen war.

Das Anwesen endete auf einem Hügel, auf dessen Spitze eine alte Villa thronte. Das Haus musste früher ein Kloster gewesen sein. Vor den Fenstern im Erdgeschoss waren Gitter; man konnte aus der Dunkelheit antike Möbel, Bilder und Hirschgeweih an den Wänden erkennen.

Es war sehr geheimnisvoll und wir fürchteten uns vor Schlangen und Spinnen, da die Umgebung des Hauses unbebaut und voller Dornenbüsche war.

Dieses wunderschöne Anwesen hatte einer prominenten Persönlichkeit gehört, den die Leidenschaft für die Frauen in den Ruin getrieben hatte. Das Pächter-Ehepaar konnte für wenig Geld das Land samt Haus erwerben. Später kaufte mein Cousin Raniero die alte Villa, aber sie wurde nach und nach von Einbrechern völlig ausgeplündert.

Am Abend nach einem intensiven Arbeitstag wünschte sich Mama oft, zu den Verwandten aufs Land zu fahren. Wir freuten uns riesig darauf, weil wir mit unseren Cousinen und Cousins spielen durften. La Cantinella, so hiess die nur drei Kilometer entfernte Ortschaft, bot eigentlich nicht viel, aber der Wald hinter den Häusern war toll. Hier hatten wir viel Platz, um uns auszutoben und von einem Hang hinunterzurollen. Wenn es dunkel wurde, begaben wir uns auf die Suche nach Glühwürmchen, die wir für einige Minuten in den Händen gefangen hielten. Hinter Ettores Haus war die heissgeliebte Schaukel und der Käfig mit den Kaninchen. Sonst spielten wir Verstecken im und um das Haus von Annalisa. Sie war ziemlich naiv und wir gewannen immer, weil wir sie häufig mit banalen Tricks hereinlegten. Annalisa war die Lieblingsspielgefährtin meines Bruders Alessandro.

Da beide ständig über den Rasen tobten und rastlos tätig waren, wurden sie von den verwandten ‚der Teufel und seine Frau’ genannt, ‚il diavolo e la moglie’.

Nach einem Sommergewitter gingen wir mit Taschenlampe und Eimer auf Schneckensuche. Wenn wir genug davon gesammelt hatten, brachten wir sie zu Comare (Taufpatin) Pina, die eine ausgezeichnete Köchin war. Sie säuberte sie sorgfältig und eine Woche später bereitete sie die Schnecken an einer feinen Tomatensosse zu. Wir waren stolz darauf, für das Abendessen gesorgt zu haben, aber die eigentliche Arbeit hatte Pina.

Auch gingen wir auf die Suche nach Pilzen, kamen aber meistens mit leeren Händen zurück. Nach uns begab sich die erfahrene Luisa, eine viel ältere Cousine, in den Wald und fand am gleichen Ort, wo wir gerade vergebens gesucht hatten, einige wunderschöne Exemplare von Steinpilzen und Stockschwämmchen.

Im gleichen Gebäude auf der piazza Berardi