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Zwischen Feuer und Eis. Zwischen Leben und Tod.
Im Skigebiet oberhalb der kleinen isländischen Gemeinde von Ísafjörður offenbaren Schnee und Eis einen grausigen Fund: Mitten auf der Loipe liegt der erschossene Kommunalpolitiker Hermann Hermannsson. Die Liste der Verdächtigen ist lang, denn Hermannsson galt als korrupt und als Frauenheld. Aber Kriminalpolizistin Hildur Rúnarsdóttir entdeckt schon bald ein noch viel düsteres Mordmotiv. Gleichzeitig kommt Hildur auch der Wahrheit über ihre eigene Vergangenheit und dem Geheimnis um ihre vermissten Schwestern näher. Doch endlich Gewissheit zu erlangen, könnte schmerzhafter sein, als sie je gedacht hätte.
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Seitenzahl: 419
ZUMBUCH
Auch wenn das ungeklärte Schicksal ihrer beiden verschwundenen Schwestern sie noch immer nicht loslässt, muss sich Kriminalermittlerin Hildur Rúnarsdóttir auf einen aufsehenerregenden Mordfall konzentrieren, der die Westfjorde erschüttert. Im Skigebiet wurde der tote Politiker Hermann Hermannsson mit einer Schusswunde aufgefunden. Haben seine zwielichtigen Geschäfte ihn das Leben gekostet oder eine seine zahlreichen Affären? Nur kurze Zeit zuvor ist ein Mann mit seinem Privatflugzeug ins Meer gestürzt. Bei ihren Ermittlungen stößt Hildur schließlich auf ein ungeheuerliches Verbrechen, das beide Fälle in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
Dank ihrem Kollegen Jakob findet Hildur außerdem etwas über ihre verstorbene Mutter heraus, das sie alles infrage stellen lässt, was sie je über ihre Eltern zu wissen glaubte. Doch es könnte auch der Schlüssel sein, um ihre Schwestern endlich zu finden.
ZURAUTORIN
Die Finnin Satu Rämö zog vor über zwanzig Jahren für ein Auslandssemester nach Island, um isländische Kultur und Literatur zu studieren. Heute arbeitet sie als Autorin, Bloggerin und Mentorin und lebt mit ihrem isländischen Mann und ihren zwei Kindern in der Kleinstadt Ísafjörður im Nordwesten Islands. Nach zahlreichen erfolgreichen Sachbüchern, in denen sie über ihre Wahlheimat schreibt, feierte sie mit der Reihe um die außergewöhnliche Ermittlerin Hildur Rúnarsdóttir ihr Debüt als Krimiautorin. Die Bücher wurden in ihrer Heimat zu Nr.-1-Bestsellern und der Auftaktband »Hildur – Die Spur im Fjord« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
SATU RÄMÖ
DASGRABIMEIS
KRIMINALROMAN
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die Originalausgabe Rósa & Björk erschien erstmals 2023 bei Werner Söderström Ltd (WSOY), Helsinki.
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Die Übersetzung wurde gefördert von
Deutsche Erstausgabe 04/2024
Copyright © 2023 by Satu Rämö
Published in the German language by arrangement
with Bonnier Rights Finland, Helsinki, Finland. Copyright
© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sibylle Klöcker
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
unter Verwendung von mauritius images/Westend61/Kerstin Bittner
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978 - 3 - 641 - 30632 - 8
www.heyne.de
Am Ende meiner Reise finde ich dich.Dich, meine große Liebe.Ich bin heimgekommen.Ich bin heimgekommen.
Ég er kominn heim Text: Jón Sigurðsson (1960)
Die großen nassen Schneeflocken klatschten mit zunehmender Frequenz auf die Windschutzscheibe. Es war November, Winteranfang. Auf dem Weg zur Arbeit war es dunkel, auf dem Heimweg war es dunkel. Die Sonne ging für einige Stunden am nördlichen Himmel auf, blieb aber hinter den Bergen rund um das Dorf verborgen. Die Dorfbewohner lebten den ganzen Winter hindurch im Schatten.
Das Kinn des Mannes zuckte, seine Finger umklammerten das Lenkrad. Ihm war klar, dass er spät dran war. Vor einer Stunde war sein Auto in einer Schneewehe stecken geblieben, und es hatte wertvolle Zeit gekostet, es wieder freizubekommen. Er hinkte seinem Zeitplan hinterher.
Das Auto bewegte sich zu langsam, doch er wagte nicht, schneller zu fahren. Er hatte noch keine Winterreifen aufgezogen und die Straße war glatt. Wenn er beschleunigte, käme er womöglich von der Straße ab, und dann ginge alles vollends schief.
Er hätte heute nicht hier sein sollen, in dieser Situation. Er verfluchte sich selbst, weil er zugesagt hatte, aber er hatte ja keine andere Wahl gehabt. Niemand gab einem alleinstehenden Mann ohne Schulabschluss eine feste Anstellung. Der Lieblingsspruch seiner verstorbenen Oma besagte, dass man die Karten nicht mitten im Spiel wechseln kann. Man musste mit den Karten spielen, die einem zugefallen waren. Die Oma war schon in jungen Jahren verwitwet und hatte ganz allein ihre Kinderschar großgezogen, die Kühe gemolken und Dorsch eingesalzen. Für ihr Geld hatte sie hart arbeiten müssen. So war es auch heute noch. Der Mann musste sich mit Handlangerdiensten begnügen. Mit legitimen und illegitimen. Für Letztere bekam man mehr Geld, und er brauchte Geld. Ein Auftrag wie dieser brachte einiges ein.
Der Mann zog den Ärmel seines hellen Pullovers hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst vier, aber das Schneegestöber war bereits vom Meer über das Dorf gezogen. Verdammt. Der Wettervorhersage nach hätte der Sturm erst später am Abend einsetzen sollen. Hinter dem Kreisverkehr war die Straße allem Anschein nach bereits geräumt. Der Mann beschloss, ein etwas höheres Tempo zu riskieren. Der Schnee schien immer dichter zu fallen, aber die Straßenlaternen an der Hauptstraße des Dorfs halfen bei der Orientierung.
Dann sah er etwas, das den Hoffnungsfunken zum Erlöschen brachte. Den Schulbus. Das Fahrzeug kam ihm auf der Dorfstraße entgegen. Die Enttäuschung schmerzte. Er hatte sich verspätet.
An der nächsten Kreuzung bog der Mann nach links ab, in die Straße, in der er wohnte. Er parkte vor seinem Haus, stellte den Motor ab und überlegte.
Er rieb sich die Stirn, auf die Schweißtropfen getreten waren. Die Narbe juckte. Das tat sie immer, wenn er nervös wurde. Der Mann schrappte mit dem Nagel seines dicken Zeigefingers ein paarmal darüber. Was für ein Genuss! Der Mann seufzte. Er wusste zwar genau, dass es unvernünftig war, an der Narbe herumzukratzen, aber das Gefühl war so angenehm, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte.
Dann begriff er, was er tun musste. Der Schulbus fuhr viele Haltestellen an. Er könnte ihn überholen und an der richtigen Haltestelle warten. Natürlich, so würde er es machen.
Er wollte gerade den Schlüssel umdrehen, als er links von sich eine Bewegung wahrnahm. Dort waren sie ja! Die zwei kleinen Mädchen waren offenbar eben erst aus dem Haus herausgekommen. Sie standen an der Hausecke und redeten miteinander.
Wieso waren sie noch hier? Der Schulbus war ja schon abgefahren. Der Mann rieb sich wieder über die Narbe und dachte nach. Vielleicht hatten die Mädchen den Bus verpasst. Der Mann straffte sich, ließ den Motor aber nicht an. Noch nicht. Er wollte keine Aufmerksamkeit wecken.
Er musterte die Mädchen genauer. Ihr Aussehen entsprach der Beschreibung des Bestellers. Besteller. So nannte er alle, die ihm die verschiedensten bezahlten Aufträge erteilten. Die heutige Aufgabe war ihm seltsam erschienen, aber die angebotene Summe war so hoch, dass er seine Bedenken beiseitegeschoben und den Auftrag angenommen hatte. Es sollten drei Mädchen sein, doch er sah nur zwei. Wo war das Dritte? Der Mann blickte sich um, sah es aber nicht. Sei’s drum. Er würde tun, was er versprochen hatte.
Zwei kleine Mädchen mit geringem Größenunterschied. Sie trugen Wintermützen aus Schafsfell, die Kleinere eine Winterjacke mit Pelzkragen. Die Größere hatte einen roten Pony-Rucksack auf dem Rücken. Sie redeten immer noch miteinander. Die Kleinere zeigte auf ihre Schuhe und weinte. Die Größere fasste sie an der Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Dann gingen die Mädchen los. Mit kleinen, sehr vorsichtigen Schritten machten sie sich auf den Weg zur Hauptstraße und schützten das Gesicht mit den Händen vor Kälte und Schnee.
Die Hauptstraße führte nur in eine Richtung: aus dem Dorfzentrum hinaus. Der Mann behielt die beiden gebeugt gehenden Gestalten im Blick. Er ließ den Motor erst an, als die Mädchen sich weit genug entfernt hatten. Die beiden blickten sich kein einziges Mal um. Sie gingen eine hinter der anderen am Straßenrand entlang. Der Mann fuhr los, als die Mädchen die Kurve bei der Kirche erreicht hatten.
Das schlechte Wetter hatte die Menschen in die vier Wände getrieben. Niemand ging nach draußen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Folglich gab es nur wenig Verkehr. Der Mann sah nur einen grauen Pkw, der den Mädchen auf seiner Fahrt ins Dorf begegnete, aber nicht einmal das Tempo verringerte.
Prima. Einfach prima, dachte der Mann bei sich selbst. Der Besteller würde zufrieden sein, er selbst würde zufrieden sein. Der Auftrag wurde erledigt und alle profitierten. Außer, na ja, bei den Mädchen wusste er es nicht. Über sie wusste er eigentlich nichts. Er kannte sie ja gar nicht richtig und verstand den Gedankengang des Bestellers nicht.
Der Mann trommelte mit ruckartigen Bewegungen auf das Lenkrad. Verstehen gehörte nicht zu seinem Job. Deshalb hatte er wahrhaftig nicht vor, darüber nachzudenken, warum die Mädchen geholt werden mussten und wo sie landen würden. Er würde den Auftrag erledigen und den Rest der vereinbarten Summe bekommen. Danach würde er alles vergessen, als wäre es nie geschehen.
Einige Minuten vergingen, und der Schneefall ließ vorübergehend nach. Der Mann schaltete die Scheibenwischer aus. Er fühlte sich zufrieden und ließ seine Gedanken zu der Bezahlung wandern, die er bald bekommen würde. Was würde er sich von dieser Summe nicht alles leisten können! Er bekäme die Anzahlung für eine Eigentumswohnung zusammen. Er konnte eine Weile auf die mühselige Arbeit im Freien verzichten, die Handlangerjobs anderen überlassen und sich darauf konzentrieren, sein Leben zu genießen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf sein vernarbtes Gesicht.
Der Mann lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt, um den Mädchen Vorsprung zu lassen. Die Größere der beiden fasste die Kleinere wieder an der Hand. Sie beschleunigten ihre Schritte.
Der Mann lächelte zufrieden, als ihm klar wurde, wohin die zwei unterwegs waren. Sie hatten nicht vor, auf der Autostraße im Hochland nach Hause zu gehen, sondern wollten in den neuen Tunnel. Der durch den Berg führende Tunnel, der drei Dörfer miteinander verband, war noch nicht für den Straßenverkehr geöffnet, aber fast alle Dorfbewohner wussten, dass die Bohrarbeiten abgeschlossen waren. Es war möglich, durch den Tunnel zu gehen.
Der Schneefall schien wieder zuzunehmen. Das Nachmittagslicht war spärlich geworden. Bald würde es draußen ebenso dunkel sein wie im Tunnel. Der Mann brummte zufrieden und kratzte erneut an seiner Narbe. Der Plan der Mädchen passte ihm bestens. Im Tunnel hielt sich niemand auf. Dort würde keiner sehen, was als Nächstes passierte.
Der Mann hielt ein paar hundert Meter Abstand von den Mädchen und beobachtete sie durch die Windschutzscheibe. Schritt für Schritt näherten sich die beiden dem Tunnel. Das Letzte, was der Mann von ihnen sah, war der rote Rucksack mit dem Ponymotiv auf dem Rücken des größeren Mädchens. Dann verschwanden sie im Berg.
Der Mann blickte sich noch einmal um. Nirgendwo rührte sich etwas. Keine Menschen, keine Autos. Die rasch zunehmende Nachmittagsdämmerung umgab ihn. In den gelben Plastiktüten auf dem Rücksitz befanden sich die vom Besteller verlangten Kleidungsstücke und ein paar Plüschtiere. Der Mann rieb mit dem Zeigefinger noch einmal über die Narbe, langsam und genießerisch. Dann gab er Gas. Das Auto rollte in die Tunneleinfahrt.
Das Jackett saß tadellos, obwohl der niedrige Stuhl den hochgewachsenen Mann zu einer unbequemen Haltung zwang. Es war ihm absolut unbegreiflich, wie man seine Wohnung mit diesen ungemütlichen dänischen Designerstühlen ausstatten konnte. Er versuchte, seine Beine unter dem Tisch auszustrecken. Die cognacfarbenen Möbel waren seiner Meinung nach nicht besonders schön, passten aber wohl zur minimalistischen Inneneinrichtung im skandinavischen Stil. Ein solcher Stuhl kostete sicher mehr als die Monatsmiete für eine Einzimmerwohnung im Zentrum von Reykjavík.
Man sollte meinen, dass man für so viel Geld einen bequemen Stuhl bekäme, dachte der Mann, rückte den Stuhl vom Esstisch zurück, straffte den Rücken und legte das rechte Bein über das linke.
»Diese Stühle sind einfach furchtbar«, sagte der Mann mit der Brille und goss ein dampfendes Getränk in die Tasse des hochgewachsenen Mannes. Der Einrichtungsstil seiner Frau gefalle ihm nicht, erklärte er, aber er habe gelernt, ihn zu ertragen. »Der Friede bleibt gewahrt, wenn sie im Haus schalten und walten darf, wie sie will. Und wenn meine Frau guter Laune ist, kann ich mir leichter meine Freiheiten nehmen.«
Der Brillenträger zwinkerte Verständnis heischend und stellte die verchromte Kaffeekanne an ihren Platz.
Der hochgewachsene Mann lachte zustimmend und griff nach dem Sahnekännchen. An seinem Arbeitsplatz füllten die Krankenschwestern den Kühlschrank im Pausenraum mit wässriger fettarmer Milch. Er rührte mit dem Silberlöffel im Kaffee, trank einen Schluck und schloss kurz die Augen. Die Sahne betonte den intensiven Geschmack des dunkel gerösteten Kaffees. Gerade jetzt erschien ihm das Leben perfekt.
Auch mit seinem alten Freund hatte das Leben es offenbar gut gemeint. Das Haus war prachtvoll – geräumig und hell, mindestens zweihundert Quadratmeter groß. Der Garten war gut gepflegt, und hinter dem Haus plätscherte ein Springbrunnen. An den Wänden hing zeitgenössische skandinavische Kunst, und die topmoderne Küchenausstattung entsprach den bis ins Letzte gestylten Fotos in den aktuellsten Inneneinrichtungsmagazinen.
»Ein schönes Haus. Ich war ja noch nie hier«, sagte er.
»Wir sind vor ein paar Jahren hier eingezogen. Wir brauchten mehr Platz«, erwiderte der Brillenträger, setzte sich an die andere Tischseite und schob seinem Freund eine Schale Pralinen hin.
»Greif zu, das ist belgische Schokolade. In Brügge gibt es eine fantastische Pralinenmanufaktur, die ich auf einer Dienstreise entdeckt habe. Wir bestellen die Produkte ab und zu auch nach Hause.«
Während der Brillenträger sich eine Praline auf der Zunge zergehen ließ, legte sich ein geheimnisvolles Lächeln auf sein Gesicht.
»Die Konditorin, die dieses Konfekt verkauft, ist übrigens selbst ein ziemliches Prachtstück«, sagte er und zeichnete mit den Händen üppige Kurven in die Luft. »Das Sonderangebot für Stammkunden ist so gut, dass ich ziemlich oft dort vorbeischaue und die Mitbringsel vor Ort hole.«
Der hochgewachsene Mann lachte kopfschüttelnd.
»Verflixt noch mal, du hast dich im Lauf der Jahre kein bisschen verändert.«
»Warum sollte ich? Was sich bewährt hat, sollte man doch beibehalten«, sagte der Brillenträger und nahm eine zweite Praline aus der Schale.
Eine Weile saßen sie schweigend am Tisch und konzentrierten sich auf den Schokoladengenuss. Dann beugte sich der hochgewachsene Mann vor. Er hatte nicht viel Zeit. In einer halben Stunde musste er wieder am Arbeitsplatz sein und Patienten empfangen. In dieser Woche war der todlangweilige nachmittägliche Bereitschaftsdienst ihm zugefallen. Kinder mit Ohrenschmerzen, Bauern, die von ihrem Pferd getreten worden waren, Blutdruckmessungen, Rezeptverlängerungen. Die Privatpraxis in Reykjavík war sein eigentlicher Broterwerb, aber um die staatliche Konzession zu erhalten, musste man von Zeit zu Zeit im öffentlichen Gesundheitswesen Dienst schieben. Das tat er am liebsten auf dem Land, denn dort wurde mehr dafür bezahlt.
»Nun sag mir mal, warum du mich mitten in der Alltagshektik zum Kaffeekränzchen einladen wolltest.«
Sein Gegenüber nahm die runde Brille ab, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider und setzte die Brille wieder auf. Dann zog er eine blaue Aktenmappe aus dem Eckregal und legte sie vor sich auf den Tisch.
»In dieser Mappe ist ein Zettel, auf dem ein Name steht. Diese Person war in deiner Sprechstunde, und ihre Unterlagen sind versehentlich verschwunden.«
Der Mann schob die Mappe über den Tisch und sah seinem Freund scharf in die Augen. Er unterstrich seine Worte, indem er mit dem Zeigefinger dreimal auf die Mappe klopfte.
»Verstehst du? Verschwunden. Das ist bedauerlich, aber so etwas kommt gelegentlich vor.«
Der hochgewachsene Mann zögerte kurz, griff dann aber nach der Mappe. Er zog die Gummibänder von den Ecken und schlug die Mappe auf. Als er den auf Karopapier geschriebenen Namen sah, fuhr er zusammen. Natürlich erinnerte er sich an den Fall. Es war eine außerordentlich furchtbare Sache gewesen. Was ihm jetzt vorgeschlagen wurde, erschien ihm unmöglich. Er konnte doch nicht …
Der Brillenträger räusperte sich und sprach ein wenig lauter weiter.
»Ich merke, dass du zauderst. Das brauchst du nicht. Die Sache ist nicht so schlimm, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Letzten Endes geht es hier nur um eine Kleinigkeit. Die ist schnell erledigt.«
Die Mappe fühlte sich klamm an, der Mann verspürte Übelkeit. Der Kaffee brachte seinen Magen zum Rebellieren.
»Es ist ganz einfach! Die Papiere verschwinden, und du bekommst das Grundstück, auf das du schon so lange scharf bist. Ich peitsche den Entschluss nächste Woche durch den Gemeinderat«, erklärte der Brillenträger resolut und verschränkte die Hände unter dem Kinn.
Das Grundstück. Der hochgewachsene Mann hatte schon seit Langem versucht, der Gemeinde ein Stück Land abzukaufen. Er hatte eine unglaublich lukrative Geschäftsidee. Die internationalen Geldgeber standen bereit und alle Vorarbeiten waren erledigt. Er brauchte nur noch das Grundstück, um anfangen zu können. Danach würde das Geld in Strömen fließen.
Der Fischzuchtbetrieb war sein Weg zum Reichtum. Er wollte nicht für den Rest seines Lebens die Körper Unbekannter abklopfen und sich ihre Wehklagen anhören. Das Monatsgehalt war gut, das bestritt er nicht, aber wirklich reich konnte man als Arzt nicht werden. Die Produktion von Zuchtlachs wäre eine ganz andere Sache. Sie würde ihm viel Geld einbringen. Er würde den Betrieb in Gang bringen und ihn nach ein paar Jahren an norwegische Investoren verkaufen. Die Vorverträge waren bereits unterschrieben. Sein langfristiger Plan sah vor, die ärztliche Tätigkeit ganz aufzugeben und Geschäftsmann zu werden. Er wollte in ganz andere Kreise aufsteigen und weg von dieser mickrigen Insel. In diesem Plan spielte der Fischzuchtbetrieb eine wichtige Rolle.
Der hochgewachsene Mann griff nach der Glaskanne auf dem Tisch und goss sich ein Glas kaltes Wasser ein. Er zwang sich, logisch zu denken. Jetzt war ein kühler Kopf gefragt. Plane sorgfältig, verwirkliche deinen Plan furchtlos. Zögere nicht. Schlage zu, wenn der Gegner es nicht erwartet. Diesen strategischen Ratschlag hatte er in seinem Lieblingsbuch gelesen, in Sunzis Die Kunst des Krieges. Genau so würde er handeln, denn es gab keine anderen Alternativen.
Er stellte das leere Wasserglas hin, stand auf, schob den unbequemen Stuhl unter den Tisch und nahm die Mappe an sich. Dann reichte er seinem Freund zur Bestätigung des Abkommens die Hand.
Der schwache spätwinterliche Wind fuhr durch die langen Haare der Kriminalermittlerin Hildur Rúnarsdóttir, die Haarspitzen flatterten in Richtung Norden. Hildur legte das Handtuch neben ihren Rucksack auf die Bank und schlüpfte in die weißen Badelatschen, die mit dem Logo einer Tankstellenkette bedruckt waren. Schuhwerk zu tragen, war hier durchaus sinnvoll, denn am Ufer lagen manchmal Glassplitter und anderer Abfall. Hildur ging über den weißen Sandstrand und am Bootssteg vorbei. Die rechts vom Steg gegrabene Lagune wurde gewärmt. Das aus einer heißen Quelle gepumpte Wasser hielt die Temperatur über fünfzehn Grad. Doch Hildur verschmähte die Warmwasserlagune und ging weiter zum offenen Meer. Sie streifte die Latschen ab und trat in das kalte Meerwasser.
Zuerst wurden die Knöchel kalt, dann die Knie. Der sandige Grund massierte die Haut an den Fußsohlen. Am gegenüberliegenden Ufer der Bucht waren die Reihenhäuser der Wohnsiedlung Kópavogur zu sehen. Als das acht Grad kalte Meerwasser über die Bauchmuskeln reichte, tauchte Hildur hinein und begann zu kraulen. Es ärgerte sie, dass sie nicht allein am Strand war. Das Meer war für sie immer schon ein Ort gewesen, an dem sie Stille und Einsamkeit genießen wollte, ohne sich mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen.
Für die Jahreszeit war der öffentliche Badestrand von Reykjavík überraschend voll. In den letzten Jahren hatten viele ihre Begeisterung für das Kaltwasserschwimmen entdeckt, und das merkte man. Am Strand wimmelte es von Schwimmern in Neoprenschuhen und -handschuhen, die sich lauthals unterhielten.
Hildur verwendete keine besondere Ausstattung, wenn sie im kalten Wasser schwamm. Beim Surfen trug sie einen Nassanzug, aber Schwimmen war etwas anderes. Das kalte Wasser musste auf der Haut spürbar sein. Sie wollte sich von Zeit zu Zeit auskühlen. Wenn die Kälte von den Fußsohlen in die Bauchgegend und zum Brustkorb stieg, verlangsamte sich ihr Herzschlag. Das beruhigte sie.
Nachdem sie gut zweihundert Meter geschwommen war, hörte sie einen Ruf vom Ufer. Ein rundlicher Mann jenseits der mittleren Jahre in einem weißen Frotteebademantel hatte die Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt und posaunte aus vollem Hals:
»Nicht so weit rausschwimmen!«
Es ärgerte Hildur, dass sie anhalten musste. Sie sah zu dem Mann hin, winkte ihm zu und hob den Daumen als Zeichen dafür, dass sie alles im Griff hatte. Das Meer war ihr Ein und Alles. Es heilte ihre Trauer und half ihr, Freude zu empfinden. Auf dem Meer durfte sie allein sein und gegen etwas kämpfen, das sie nie würde besiegen können. Sie liebte das Surfen. In Reykjavík war es schwierig, das Meer zu genießen, denn hier gab es nicht solche Wellen und nicht so leere Ufer wie zu Hause in den Westfjorden.
Hildur kannte Reykjavík aus ihrer Studienzeit. Sie hatte die Polizeischule besucht und danach einige Jahre in der Hauptstadt gearbeitet. Als die Polizeibehörde in ihrer Heimat einen Kriminalermittler und Leiter der Einheit für vermisste Kinder in den ländlichen Regionen suchte, hatte Hildur sich beworben und die Stelle bekommen. Die Rückkehr ins heimatliche Ísafjörður war wohltuend gewesen. In den letzten zehn Jahren hatte sie ein ziemlich ausgeglichenes Leben geführt. Zwischen den schroffen Bergen und dem stürmischen Meer fühlte sie sich heimisch. Die Naturgewalten und die dunklen Winter wirkten auf viele bedrückend, aber auf Hildur nicht. Für sie bedeuteten der ruhelose Wind und die gewaltigen Wellen, die gegen die Uferwege im Dorf schlugen, Klarheit und Frieden. Sie bildeten Grenzen, die sie zwangen, an ihrem Platz zu bleiben.
Mitunter erschien ihr das Dasein unerträglich. Wenn die Beklemmung zuschlug, zog Hildur sich in ihre eigene Blase zurück. Sie hatte das Gefühl, vom Rest der Welt getrennt zu sein, und die Klumpen in der Brust und im Magen wuchsen und raubten ihr den Atem. Dann hatte sie keinen anderen Wunsch, als sich in der Kälte des stürmischen Meeres zu verstecken.
In den letzten zwei Monaten hatte sie nur ein paar Mal surfen können; wahrscheinlich war sie auch deshalb in letzter Zeit so kribbelig.
Im Januar hatte Hildur vorübergehend wieder nach Reykjavík ziehen müssen. Tumi Einarsson, ihr Freund und Kollege aus ihrer Zeit in Reykjavík, hatte sich bei einem Einsatz das Knie verletzt. Er würde voraussichtlich zwei Monate krankgeschrieben sein. Hildur hatte sich bereit erklärt, die Vertretung zu übernehmen, weil er ihr wichtig war und weil er sie persönlich darum gebeten hatte. Tumi leitete die Einheit für vermisste Kinder in Reykjavík.
Hildur fühlte sich in der Stadt nicht wohl. Die Verkehrsstaus, der Lärm der Baustellen und die Flut immer neuer Aufgaben erschöpften sie. Sie sehnte sich in ihr Heimatdorf zurück. Zum Glück war die Vertretung in zwei Wochen zu Ende.
Bald konnte sie weg von hier. Vielleicht würde das gegen das widerliche Gefühl helfen, das sie in den letzten Tagen geplagt hatte. Diese Beklemmung war ihr schon seit ihrer Kindheit vertraut. Hildur wusste, dass ihre Urgroßmutter Hrafntinna zu ihrer Zeit eine der bekanntesten Hellseherinnen Islands gewesen war, die über die Zukunft berichtete und Fragenden Rat erteilte. Der Überlieferung nach wurde die Sehergabe vererbt, aber nicht auf alle Nachkommen. Tante Tinna, bei der Hildur ihre Jugend verlebt hatte, war der Meinung, dass Hrafntinnas Gabe zwei Generationen übersprungen habe und auf Hildur übergegangen sei.
Hildur selbst war sich dessen nicht so sicher. Eigentlich hielt sie nicht viel von Geschichten über Hellseherei, Trolle und Ähnliches. Aber sie ahnte Unfälle und Gewalttaten in der näheren Zukunft voraus. So war es einfach, dagegen war sie machtlos.
Vor ein paar Wochen hatte sich in Island ein tragisches Flugzeugunglück ereignet. Ein Kleinflugzeug war kurz nach dem Start ins Meer gestürzt und der Pilot war ums Leben gekommen. Einige Tage vor dem Unglück hatte Hildur eine ungewöhnliche Unruhe verspürt. Als dann die Nachricht von dem Absturz kam, war sie nicht überrascht gewesen. Sie hatte etwas Schlimmes erwartet.
In jüngeren Jahren hatte sie sich inbrünstig gewünscht, dass sich mit ihren Ahnungen irgendwelche brauchbaren Informationen verbunden hätten. Dann hätten die bedrückenden Vorahnungen wenigstens einen Nutzen gehabt. Nun musste sie den Gedanken ertragen, dass bald etwas Schlimmes passieren würde, dass sie aber nicht wusste, was und wem. Die Machtlosigkeit angesichts der näher rückenden Trauer war etwas, wovor sie nicht fliehen konnte. Im Lauf der Jahre hatte sie lernen müssen, sie zu akzeptieren.
Hildur machte noch einige Armzüge und glitt weiter durch das kalte Wasser. Als sich das Ufer von Kópavogur mit seinen teuer aussehenden Reihenhäusern näherte, kehrte sie um. Sie holte tief Luft, tauchte unter und stieß sich mit den Beinen voran. Das Meer rauschte ihr in den Ohren, und aus ihrem Mund stiegen kleine Bläschen auf. In der Lunge spürte sie das vertraute Brennen. Nach ein paar Zügen ließ sie ihren Körper aufsteigen. Sobald ihr Kopf über Wasser war, schnappte sie heftig nach Luft.
Hildur ging an Land, wrang ihre langen Haare aus und schlüpfte in ihre alten Badelatschen.
Der Mann im Bademantel hatte die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt und starrte Hildur missbilligend an.
»So eine Taucherei im Winter ist lebensgefährlich.«
Hildur hüpfte ein paarmal auf dem rechten Bein, um das Meerwasser aus ihrem rechten Ohr zu entfernen. Die vorgebliche Besorgnis des Mannes ging ihr auf die Nerven. Wenn sie selbst ein Mann mittleren Alters wäre, würde ihr niemand mit Ratschlägen zum Schwimmen kommen.
»Ich bin an kaltes Wasser gewöhnt, ich komme von den Westfjorden«, sagte sie nur und marschierte an dem Mann vorbei.
Das Blut rauschte in ihren Adern. Auf die Unterkühlung folgte ein behagliches Wärmegefühl. Das Schwimmen im Meer hatte den Druck in ihrem Inneren gemildert. Sie faltete das Handtuch zusammen, legte es auf die Holzbank und setzte sich für einen kurzen Moment in die kalte Luft. Der Wind strich angenehm über ihre ausgekühlte Haut.
Hildur überlegte. Normalerweise ließ das bedrückende Gefühl nach, wenn das Schlimme geschehen war, aber nach dem Flugzeugunglück war es nicht so gekommen. Immer noch spürte sie eine leichte Unruhe. Sie erinnerte sich, dass sie dieses Gefühl zum ersten Mal am Morgen des Tages erlebt hatte, an dem ihre Schwestern auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwanden. Sie waren nie gefunden worden.
Dass sie im Fall von Rósa und Björk nicht weitergekommen war, setzte Hildur zu. Als sie im letzten Herbst während einer komplizierten Mordermittlung auf neue Informationen über ihre kleinen Schwestern gestoßen war, hatte in ihr eine leise Hoffnung gekeimt. In einer alten Erdgrube waren die Kleider, die die Mädchen am Tag ihres Verschwindens getragen hatten, und einige Knochen gefunden worden. Ein Bekannter von Hildur, Axt-Hákon, hatte den Fund untersucht und festgestellt, dass es sich nicht um Menschenknochen handelte. Seinen seltsamen Spitznamen hatte der in Reykjavík tätige Pathologe und Rechtsmediziner Hákon Bjarnason in seiner Studienzeit bekommen. Er hatte in einem Stück des Studententheaters über das Leben des isländischen Serienmörders Axt-Björn im 16. Jahrhundert die Hauptrolle gespielt und sich so intensiv in seine Rolle eingelebt, dass man ihn seither nur noch Axt-Hákon nannte.
Hildur war ihrem Bekannten dankbar für die Untersuchung der Knochen. Sie hatte gehofft, mithilfe der Fundstücke weitere Hinweise auf das Schicksal ihrer Schwestern zu bekommen, doch diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Die Spuren hatten in der Grube geendet, und es war ihr nicht gelungen, weitere zu entdecken.
Hildur betrachtete die miteinander plaudernden Menschen und spürte, wie langsam, langsam der Frühling nahte. Bald würden die Tage länger werden, und dann kam auch schon der Sommer. Dennoch fühlte sie sich trübselig. Die erbärmlich schwachen Wellen hatten ihr nicht ausreichend geholfen, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen. Hildur stand auf und ging in die Umkleide. Nachdem sie sich angezogen hatte, nahm sie ihr Handy aus der Seitentasche ihres Schwimmbeutels und suchte nach der App.
Der Holzboden knarrte unter den Füßen, als die Person sich in ihrem Hinterhalt ein wenig vorbeugte und durch das Fenster die verschneite Landschaft betrachtete. Am Himmel kreisten ein paar Vögel, aber sonst war alles ruhig. Es war früher Abend. Die Sonne, die bald hinter den Bergen versinken würde, warf noch ein zartes Licht auf die Umgebung. In der kleinen Hütte waren rasselnde Atemzüge zu hören. Es roch nach Öl und Metall.
Die rote Hütte stand mitten im offenen Gelände. Drinnen war es ebenso kalt wie draußen, doch die Wände schützten vor dem Wind, der über die Hochebene blies.
Die Gestalt strich über ihre Jagdbüchse und lächelte zufrieden. Der Schaft der Sako 85 hatte einen warmen Farbton und war aus geöltem Nussbaum gefertigt. Er fühlte sich gut an.
Von der Arbeitsfläche an der längsten Wand der Hütte nahm die Gestalt einen schwarzen zylinderförmigen Gegenstand. Ihre Finger legten sich mühelos darum. Der Schalldämpfer verringerte das Schussgeräusch, hatte aber auch noch weitere gute Eigenschaften: Das Mündungsfeuer war kleiner und die Treffsicherheit größer.
Schließlich lud die Person durch, setzte sich auf ihren Stuhl und stützte das Gewehr auf das Fensterbrett. Im Stehen zu schießen, wäre zu schwierig gewesen.
Bald war es so weit. Sie beugte sich vor, blickte durch das Zielfernrohr und wartete. Einige Zeit verging, dann war im Zielfernrohr endlich das zu sehen, worauf sie lauerte. Sie entsicherte die Waffe, überprüfte das Ziel, hielt den Atem an und kniff die Lippen zusammen. Der Finger glitt auf den Abzug. Eine Sekunde verging, dann drückte die Person ab.
Nachdem sie mit dem Fernglas nach draußen geblickt hatte, wusste sie, dass ihr ein Volltreffer gelungen war. Es war genauso gelaufen, wie es sollte.
DÍSA
»Im Zentrum von Reykjavík werden heute Nachmittag bis zu 30 000 Feiernde erwartet. Die Ankömmlinge werden gebeten, zu beachten, dass die Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt ist. Der Busverkehr wird bis dreiundzwanzig Uhr umgeleitet. Es folgt der Wetterbericht …«
Die Stimme des Radiosprechers drang aus dem Lautsprecher der Würstchenbude auf die Straße. Dísa kniff sich in die mageren Oberschenkel. Sie versuchte sich zu beruhigen. Die Umleitung des Busverkehrs hatte auch sie betroffen. Die Tafel der Familienhilfe befand sich einige Kilometer östlich von der alten Innenstadt, in der Nähe eines großen Einkaufszentrums. Dísa war mit dem Bus hingefahren und hatte ihren Rucksack mit Brot und Konserven gefüllt, aber auf dem Rückweg hatte der Bus sie nicht wie gewohnt zum Busbahnhof gebracht, sondern war stadtauswärts gefahren. Sie hatte mit ihrem schweren Rucksack mehr als eine halbe Stunde von der Haltestelle zu der Kellerwohnung an der Nönnugatan laufen müssen.
In der Wohnung war alles schiefgegangen. Wenn sie es früher nach Hause geschafft hätte, wäre ihr die Begegnung mit ihren Vermietern Palli und Eiríkur erspart geblieben. Die Männer hatten versprochen, dass sie gegen eine geringe Miete bei ihnen wohnen dürfe, bis der dritte Bewohner, Hilmar, Ende des Sommers aus dem Gefängnis käme und das Zimmer wieder brauche.
Das zehn Quadratmeter große Zimmer war ein ehemaliger Lagerraum im hinteren Teil der Wohnung. Es hatte kein Fenster, und die Tür ließ sich nicht von innen abschließen. Dísa hatte gewusst, dass Eiríkur und Palli komplette Arschlöcher waren, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Auf der Straße hatte sie nicht mehr leben wollen.
Dísa hatte sich geschworen, nie mehr obdachlos zu sein, ganz gleich, was geschah. Es war zu gefährlich. Außerdem ertrug sie es nicht, angestarrt zu werden. Es war beschämend, von Tag zu Tag all seine Habseligkeiten mit sich herumzuschleppen.
Im Spätwinter war Dísa aus ihrer vorigen Unterkunft geflogen, weil in dem Haus Airbnb-Wohnungen für Touristen entstehen sollten. Das Haus davor, in dem sie fast zwei Monate mit einigen anderen friedlichen Stadtstreichern gewohnt hatte, war durch einen Brand beschädigt worden.
Nach dem Rauswurf war sie Palli und Eiríkur begegnet. Sie gehörten zu den Typen, die immer an der Busstation in Hlemmur abhingen und Drogen vertickten. Wer Geld hatte, kaufte den Stoff. Wenn man Schulden machte, musste man sie pünktlich zurückzahlen oder es erging einem wirklich schlecht. Frauen erging es immer schlechter als Männern, wie Dísa aus eigener Erfahrung wusste.
So war es auch heute gewesen. Vor zwei Wochen hatte sie von Eiríkur Stoff auf Pump bekommen. Sie hätte spätestens gestern zahlen sollen, konnte es aber nicht. Sie hatte überhaupt kein Geld. Vor ein paar Tagen hatte sie in einem Touristencafé zwei Handtaschen geklaut, doch das hatte nichts gebracht. In den Handtaschen war kein Bargeld gewesen und auch sonst nichts, was man auf die Schnelle hätte verscherbeln können.
Als Dísa mit den Lebensmitteln nach Hause gekommen war, hatten die Männer in der Küche auf sie gewartet. Eiríkur war wütend gewesen. Zu Recht. Dísa hatte Schulden bei ihm, und Schulden musste man am vereinbarten Tag zurückzahlen. Die Regeln waren klar.
Zuerst hatte Dísa um Aufschub gebeten, obwohl sie wusste, dass die Bitte erfolglos bleiben würde. Eiríkurs Wut war nur noch heftiger geworden, und er hatte sie mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Daraufhin hatte Dísa beschlossen, nicht weiter zu betteln. Sie würde die Folgen auf sich nehmen und alles ertragen. Eiríkur hatte sie geschubst und ihre Taschen durchwühlt, dann hatte er sie in sein Zimmer gezerrt und ihr die Kleider vom Leib gerissen.
Palli hatte wiehernd gelacht und die Tür von außen abgeschlossen. Die Misshandlung hatte lange gedauert. Dísa hätte nicht sagen können, wie lange, aber das spielte auch keine Rolle. Sie hatte in der ganzen Zeit keinen Mucks von sich gegeben, sondern nur stumm darauf gewartet, dass es vorbei war. Als Eiríkur sich die Hose wieder hochzog, hatte er so beiläufig, als ginge es um das Wetter, gesagt, damit seien die Zinsen abgegolten. Die Schulden müssten noch bezahlt werden.
Die frühabendliche Sonne schien Dísa direkt in die Augen. Sie starrte auf ihre Beine und konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen. Der langärmlige Hoodie verbarg die Prellungen an den Armen. Beim Verlassen der Wohnung hatte sie die Kapuze über den Kopf gezogen, damit die geschwollene Wange nicht zu sehen war. Von den Leuten angestarrt zu werden, konnte sie jetzt am allerwenigsten brauchen. In der halbdunklen Wohnung hätte sie aber auch nicht bleiben können, sie musste nach draußen. Im Freien würden sich ihre Gedanken vielleicht klären und sie würde einen Weg finden, ihre Schulden abzuzahlen. Vorsichtshalber hatte sie ihren Rucksack mit den Lebensmitteln mitgenommen, denn sie war sich nicht sicher, wann sie in die Wohnung zurückkehren konnte.
Die Innenstadt füllte sich zusehends. Die kleine Fußgängerzone war voll von Menschen, die isländische Fahnen schwenkten und sich wie eine einzige wellenförmige Masse zu dem Hügel neben dem Konzerthaus bewegten, wo bald gefeiert werden sollte.
Es herrschte ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen. Dísa wurde ganz kribbelig davon. Sie zog die Ärmel noch weiter herunter und ballte die Hände zu Fäusten. Das rastlose Prickeln war bis in die Fingerspitzen zu spüren, und ihr Kopf schmerzte.
Wenn sie nicht bald an Stoff kam, würde es sie zerreißen. Sie musste irgendwo die nächste Dosis auftreiben, sonst ertrug sie diese Scheiße nicht. Ihre Füße stießen gegen den Rucksack unter der Bank. Die Konservendosen von der Tafel steckten immer noch darin.
Vielleicht hatte sie Glück, und in Hlemmur war irgendwer bereit, die Dosen gegen eine Pille zu tauschen. Das war die erste gute Idee des Tages, und ihre Stimmung hob sich ein wenig.
Der zunehmende Lärm schreckte Dísa auf. Die Fußballtröten ertönten jetzt ganz in der Nähe. Die Menschenmenge auf der Straße wuchs und wuchs. Dumpfe Anfeuerungsrufe erschallten, dazu wurde rhythmisch in die Hände geklatscht. Hú! Hú! Hú! Die feiernde Menschenmasse näherte sich, und die Jubelrufe wurden lauter. Jemand hupte ausdauernd.
Die harte Parkbank drückte plötzlich fürchterlich gegen die kaputte Haut. Dísa beschloss aufzustehen und jetzt gleich zur Busstation zu gehen. Die meisten Bekannten waren jetzt am frühen Abend unterwegs, bevor die Notunterkünfte für Obdachlose ihre Türen öffneten.
Da bemerkte Dísa das näherkommende Fahrzeug. Das einzige, das heute auf den Straßen der Innenstadt fahren durfte. Seinetwegen war man ja hier.
Der große schwarze Laster funkelte, als die Strahlen der Abendsonne ihn trafen. An der Kirche bog er nach unten ab und fuhr auf die lange, von Handwerksgeschäften und Juwelierläden gesäumte Straße. Er rollte feierlich langsam die Straße hinab, während der Fahrer auf die Hupe drückte.
Die isländischen Fußballer waren aus Frankreich heimgekehrt. Dísa interessierte sich nicht für Fußball, aber der Fußballrausch um sie herum war auch ihr nicht entgangen. In den letzten Wochen hatte die isländische Nationalmannschaft der Männer bei der EM zuerst Österreich und dann England besiegt. Nach jedem Spiel hatten sich die Straßen im Zentrum von Reykjavík mit jubelnden Menschen gefüllt. Heute waren die Spieler nach Hause gekommen.
Der Laster rollte die Straße hinunter und näherte sich Dísa. Die Spieler standen hoch aufgerichtet auf der Ladefläche, auf dem Weg zur Festtribüne im Stadtzentrum, vor der Zehntausende Fans warteten.
Dieser Schar wollte sich Dísa nicht anschließen. Sie hatte vor, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Die Busstation Hlemmur lag am anderen Ende der Innenstadt.
Auf ihrer Höhe bog der Wagen nach links ab, um zum Konzerthaus weiterzufahren. Gerade in dem Moment blickte Dísa auf.
Ein kurzer Blick genügte. Dísa stockte der Atem. Die Welt begann sich zu drehen, sie musste sich an der Bank festhalten.
Sie erkannte den Mann. Er stand in der zweiten Reihe, hinter dem Mannschaftskapitän. Dísa sah ihn nicht vollständig, aber der Anblick seines Gesichts genügte. Sie würde es nie vergessen. Nie. Sie merkte, dass der über die begeisterte Menschenmenge schweifende, wachsame Blick des Mannes für den Bruchteil einer Sekunde bei ihr verharrte. Dísa war sich nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete oder ob in seinen Augen Wiedererkennen und Entsetzen aufgeflackert waren, als ihre Blicke sich kreuzten. Die starre Miene verschwand so schnell von seinem Gesicht wie sie gekommen war, jetzt lächelte der Mann wieder breit und winkte der jubelnden Menge zu wie ein König auf seinem Thron.
An die Bank gelehnt, beobachtete Dísa, wie der Mann den Arm hob und die Fans zu Jubelrufen anspornte. Hú! Hú! Hú!
Ihre Gesten und Mienen verrieten, wie ausgelassen und glücklich die Spieler waren. Sie wussten, dass sie verehrt wurden. Unglaubliche Talente. So hatte es ja in den letzten Tagen in allen Zeitungen geheißen. Die Wunder Islands. Hervorragende Spieler. Die großen Helden eines kleinen Landes.
Dísa spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Sie kehrte den jubelnden Fans den Rücken zu, griff nach ihrem Rucksack und ging mit langsamen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Zum Glück hatte sie die Konserven. Viele Dosen in unterschiedlicher Größe und Farbe, die im Takt ihrer Schritte im Rucksack klapperten. Thunfisch, Bohnen, Mais. Wenn sie besonders viel Glück hatte, enthielt die flache Dose Büchsenfleisch. Das wäre ein echter Hauptgewinn, Büchsenfleisch war gefragt. In Gedanken spürte sie bereits, wie sich die Pille auf der Zunge anfühlte, bevor sie sie herunterschluckte. Sie beschleunigte ihre Schritte und vergaß den stattlichen Mann, der so selbstbewusst auf der Ladefläche gestanden hatte.
Hildur ließ ihre Schultern ein paarmal kreisen und kostete von dem Caffè Latte mit dreifachem Espresso-Shot, den sie bestellt hatte. Er schmeckte vorzüglich. In den Armen spürte sie das angenehm vertraute Brennen. Das Krafttraining im Trainingssaal der MMA-Kampfsportler von Reykjavík hatte ihren Oberkörper ausgelaugt, und das war ein gutes Gefühl.
Die Frühlingssonne schien in das Café, das sich an der Fußgängerstraße Laugavegur befand, in bester Lage zwischen zwei Hotels und einem Geschäft für isländische Streetwear. Die Menschen spazierten langsamer als gewöhnlich die Straße entlang. Sie liefen nicht vor dem Wetter davon, sondern genossen es. Der überraschend helle Sonnenschein zauberte ein Lächeln auf ihre Gesichter.
Der Winter war jedoch noch nicht gewichen. Er saß einem auch hier im Süden des Landes noch im Nacken, aber heute wirkte das Wetter beinahe frühlingshaft.
Aus dem hinteren Teil des Cafés drang fröhliches Stimmengewirr. Die Baristas schäumten Hafermilch auf. Der Kuchen duftete. Im Café herrschte eine ausgelassene und erwartungsvolle Stimmung. Es war ja Freitag.
Auf den ersten Blick schien in Reykjavík alles in bester Ordnung zu sein, aber Hildur wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Sie hatte einen besonders harten Arbeitstag hinter sich. Der heutige Fall war ungewöhnlich schwierig gewesen. Ein siebzehnjähriger Junge war Opfer eines Sexualverbrechens geworden. Er musste im Barnahús befragt werden, dem »Kinderhaus«, das sich an einem geheimen Ort am Stadtrand von Reykjavík befand. Alle minderjährigen Opfer und Augenzeugen wurden im Kinderhaus befragt, wo die Polizei und die Staatsanwaltschaft durch ausgebildete Traumatherapeuten und Psychologen unterstützt wurden.
Wenn sie Kindern und Jugendlichen half, hatte Hildur das Gefühl, etwas ganz besonders Wichtiges zu tun. Vielleicht versuchte sie, wiedergutzumachen, was in ihrer Familie vor langer Zeit geschehen war. Sie glaubte wohl, sich zugleich auch selbst zu helfen, indem sie Kindern half.
Nach dem Arbeitstag hatte sie sich unbedingt auf andere Gedanken bringen müssen. Am liebsten wäre sie gesurft, doch die Wellen waren ungünstig. Das gestrige Schwimmen im Meer hatte ihr gutgetan, aber freitags herrschte am Strand zu viel Andrang. Also war sie vor ihrem Date zum Krafttraining gegangen.
Hildur verbrachte kaum Zeit in den sozialen Medien. Sie hatte ein Profil auf Facebook, aber nur aus beruflichen Gründen. Sie verwendete nicht ihren vollen Namen und gab keine Einzelheiten über sich preis. Das Profil war für sie ein Mittel, sich Informationen zu verschaffen. Die Menschen erzählten in den sozialen Medien verblüffend viel über sich, und viele hatten immer noch ein uneingeschränkt öffentliches Profil. Mit ein paar Klicks erfuhr man einiges über Freunde, Reisen und Interessengebiete. Bei der Arbeit als Kriminalermittlerin war das nützlich.
Hildur lud Tinder nur dann auf ihr Handy, wenn sie sich nach Gesellschaft sehnte. Nach dem Date löschte sie ihren Account und die ganze App. Sie hatte auch noch weitere Regeln: Sie verabredete sich nur in der Hauptstadt und nur mit Ausländern, damit das Ganze unkompliziert blieb. Zu Hause wäre ein One-Night-Stand nicht in Frage gekommen, und es hätte sie peinlich berührt, in der App bekannte Gesichter zu sehen, vom Nachbarn bis zum Bibliothekar. In ihrem Heimatdorf Ísafjörður mit seinen zweitausend Einwohnern kannten sich alle, und es war schwierig, neue Bekanntschaften zu schließen, ohne dass das ganze Dorf davon erfuhr. In der Regel machte Hildur sich nichts aus dem Gerede der anderen, aber in ihrer jetzigen Lebenssituation hatte sie nicht die Nerven dafür, sich mit Gerüchten über sich selbst konfrontiert zu sehen.
Der Winter war schwierig gewesen. Hildur hatte einen wichtigen Menschen verloren, ihren Nachbarn Freysi. Sie hatten eine Zeit lang ein Verhältnis gehabt und waren sich allmählich immer nähergekommen, aber dann war Freysi ermordet worden. Es war ein gewaltiger Schock gewesen.
Jetzt, einige Monate nach Freysis Tod, fühlte Hildur sich wieder zu Dates bereit. Manche mochten eine viermonatige Trauerzeit für kurz halten, aber sie empfand es anders. Sie dachte immer noch oft an Freysi. Trotz ihrer Trauer war sie fähig, sich auf die guten Erinnerungen zu konzentrieren, die ihr von ihm geblieben waren. Irgendwann würde sicher der Tag kommen, an dem genug Zeit vergangen war und die Trauer sie nicht mehr auffraß.
Hildur wollte keinen festen Lebenspartner, geschweige denn einen Ehemann. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie zu einer solchen Bindung längerfristig nicht fähig wäre. Sie wäre nicht imstande, die Verantwortung für das Glück des Partners zu tragen oder ständig Rücksicht auf ihn zu nehmen. Früher oder später hätte sicher einer von ihnen beiden das Ganze satt. Warum den komplizierten Weg wählen, wenn es auch einen einfachen gab?
Hildur stand an dem hohen Fenstertisch des Cafés und drehte den kleinen Löffel in ihrer Kaffeetasse. Sie löffelte Milchschaum und biss ein Stück von ihrem Gebäck ab.
Bei Tinder war sie auf einen nett aussehenden Mann gestoßen, der sich als ein finnischer Feuerwehrmann erwiesen hatte. Er hieß Jari und hatte geschrieben, er komme zu einer kurzen Studienreise nach Reykjavík.
Sie hatten sich in diesem Café verabredet. Der Mann hatte erwähnt, er komme direkt vom Flughafen. Jetzt ging die Eingangstür auf und ein kurzhaariger Typ in einem schwarzen Trainingsanzug kam herein. Er trug eine braune Ledertasche locker über der Schulter und blickte von einem Tisch zum anderen. Was sie sah, gefiel Hildur: Der Mann sah mindestens so gut aus wie auf den Fotos, und sein Auftreten verriet, dass er wusste, was er wollte.
Als der Mann sich zu Hildurs Fenstertisch umdrehte, lächelte er erfreut und ging direkt auf sie zu.
Hildur trank einen Schluck aus ihrer Tasse und deutete mit einem Kopfnicken auf den Barista an der Espressomaschine.
»Für dich auch einen Kaffee?«
Der Mann sagte nichts. Er stand nur da. Hildur amüsierte sich darüber. Sie dachte an ihren Kollegen, den finnischen Polizeipraktikanten Jakob, der auch keine unnötigen Worte brauchte. Sind alle finnischen Männer so wortkarg?, überlegte sie. Jari rückte die Tasche zurecht, die ihm von der Schulter gerutscht war, und fragte lächelnd:
»Für den Kaffee haben wir wohl später noch Zeit?«
Hildur nickte und schob ihre Tasse von sich. Sie bückte sich, zog ihre Sporttasche unter dem Tisch hervor und warf ihren Zopf zurück.
»Klar. Mein Hotel ist gleich nebenan.«
Sie blinzelte in die Sonne und fühlte sich übermütig und leicht. So kann das Leben also auch manchmal sein, dachte sie. Sie wollte es genießen, zumindest in den nächsten Stunden.
Hermann Hermannsson stieg leichtfüßig aus seinem Jeep und straffte seinen sehnigen Körper. Die frische Bergluft tat der Lunge gut. Im Sommer würde er seinen 65. Geburtstag feiern, und er fühlte sich immer noch in bester Form. Vital und kräftig, ohne Bauchansatz. Vieles im Leben beruhte letztlich auf der eigenen Entscheidung.
Hermann holte die schwarzen windfesten und warmen Handschuhe aus der Tasche seiner Skijacke und setzte sich eine dünne Mütze auf. Der Skiträger auf seinem Wagen klappte auf. Er klemmte sich die Skier und die Skistöcke unter den Arm und ging zur Skihütte.
Im Langlaufgebiet schien niemand unterwegs zu sein. Die Hütte, in der sich ein Café und der Infoschalter befanden, lag im Dunkeln, und auf dem Parkplatz waren keine anderen Wagen zu sehen. Hermann drückte auf den Schalter an der Außenwand der Hütte, um die Außenbeleuchtung einzuschalten. Noch war es nicht dunkel, aber wenn er eine lange Runde lief, würde die Dämmerung anbrechen, bevor er zurückkäme. Natürlich hatte er eine Stirnlampe, aber deren Schein reichte nicht allzu weit.
Am Start der Loipen waren orange Plastikkegel und blaue Leinen zu sehen. Sie lagen bereit für den morgigen Langlaufwettbewerb. Hermann wusste, dass er bei seiner Kondition im Fünfzig-Kilometer-Lauf mit Leichtigkeit unter die ersten zehn käme. Er konnte jedoch nicht teilnehmen, denn er hatte andere Pläne für das Wochenende. Die Freitagsrunde musste diesmal reichen.
Hermann steckte die Stöcke in den Schnee und lief die einen Kilometer lange Aufwärmstrecke ohne sie. Seiner Meinung nach fand man sich am besten in den Rhythmus des klassischen Stils hinein, indem man beim Aufwärmen nur die Kraft der Beine und der Bauchmuskeln einsetzte. Man kam anschließend besser voran, wenn man sich am Anfang kurz Zeit nahm, nach dem richtigen Rhythmus des Unterkörpers zu suchen.
Nach dem Aufwärmen schnappte er sich die Stöcke und machte sich auf den Weg zur ersten Steigung. Es war schönes Wetter. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel hellviolett, und der Horizont flammte orangefarben.
Ein knapp einen Kilometer hoher Berg mit flacher Kuppe beherrschte die Landschaft. Die Strecke zum Fuß des Berges war grandios, und oben auf der Kuppe hatte man einen Moment lang das erhabene Gefühl, völlig über den Dingen zu stehen. Der Gedanke brachte Hermann zum Lachen. Gerade auf ihn traf das ja zu! Er war jemand, der Dinge ins Rollen brachte.
Er warf einen Blick über die linke Schulter auf die Landschaft hinter ihm. Vom Meer war immer mehr zu sehen. Das Dorf Ísafjörður unten am Ufer des Fjords sah aus der Vogelperspektive winzig aus. Im Dorf war der Schnee bereits geschmolzen, aber hier oben in den Bergen würde er bis weit in den Frühling liegen bleiben.
Mit ihrem grellen Orange stach Hermanns Skijacke wie ein Ausrufezeichen aus der weißen Umgebung hervor. Er war ein leuchtender Fleck, der sich in gleichmäßigem Tempo vorwärts bewegte.
Abstoßen, gleiten. Abstoßen, gleiten. Als der leichte Abhang begann, stieß er sich mit beiden Stöcken ab und ging in die Hocke. Bei der Abfahrt wanderten seine Gedanken zum bevorstehenden Wochenende. Es gab viel zu tun.
Er würde den ganzen morgigen Tag im Büro verbringen müssen, um die Gemeinderatssitzung in der nächsten Woche vorzubereiten. Er musste eines der Mitglieder überreden, für sein Projekt zu stimmen. Es war unbedingt notwendig, eine Mehrheit für sein brillantes Projekt zu gewinnen, oder viele würden eine Menge Geld verlieren – auch er selbst.
Wenn das Bauprojekt im Herbst anliefe, wäre er Ende nächsten Jahres ein reicher Mann. Er lächelte. An Geld mangelte es ihm ja auch jetzt nicht, aber ein rollender Stein durfte nicht zum Stillstand kommen. Man brauchte kontinuierliches Wachstum, und das Geld musste zirkulieren.
Der Plan war bereits fertig. Es würde ihm gelingen, den Waschlappen im Gemeinderat auf seine Seite zu ziehen. Er brauchte ihm nur eine sorgfältig überlegte, treffende Mail zu schicken. Der Plan vereinigte Nutzen und Vergnügen wie kein anderer. Aus seiner Sicht war die Situation einfach großartig.
Hermann warf einen Blick auf seine Sportuhr und war zufrieden: Er brauchte deutlich unter fünf Minuten pro Kilometer. Wenn er so weitermachte, würde er die 20 Kilometer vor Einbruch der Dunkelheit schaffen.
Er beschleunigte das Tempo. Noch ein paar Kilometer, dann könnte er eine Trinkpause machen, wenden und auf dem gleichen Weg zurückkehren.
Plötzlich war ihm, als hätte sich irgendwo jemand oder etwas bewegt. Ein Polarfuchs? Er blickte zur Seite und bremste, hielt mitten auf der Loipe an. Nein. Ein Polarfuchs konnte es nicht sein. In dieser Gegend hatte man seit Jahren keine mehr zu Gesicht bekommen. Sie hielten Abstand von bewohnten Gebieten und vom Lärm der Skilifte. Etwas höher am Abhang, etwa zweihundert Meter entfernt, stand eine kleine, nur einige Quadratmeter große Wartungshütte. Vielleicht hatte sich dort etwas bewegt. Jemand hatte das kleine Fenster der Hütte geöffnet. Sicher bereiteten die Organisatoren des morgigen Skiwettlaufs Tische und Geschirr für die Trinkstellen vor. Allerdings zu einer seltsamen Zeit. Warum fuhrwerkten sie im Halbdunkel herum?
Hermann sah es als kleines Wunder an, dass man überhaupt beschlossen hatte, den Wettlauf zu veranstalten. In den letzten Tagen war viel von dem Corona-Virus die Rede gewesen, das sich im Ausland verbreitete. Die Vertreter der Gesundheitsbehörde hatten erklärt, es sei nur eine Frage der Zeit, wann das Virus auch nach Island käme. Einer von ihnen, der große angegraute Typ, hatte das Verbot großer Publikumsveranstaltungen und Versammlungsbeschränkungen angedeutet. Na, was auch immer auf uns zukommt, irgendwie wird sich alles regeln, überlegte Hermann und lief weiter. Inzwischen war sein Gesicht schweißnass, seine Brille kam ins Rutschen. Er musste daran denken, nächste Woche bei seiner Dienstreise nach Reykjavík zum Optiker zu gehen und die Bügel korrigieren zu lassen.
Es war noch nicht sehr spät. Er beschloss, bei der Wartungshütte vorbeizufahren und die Aktiven des Skivereins zu begrüßen. Ein Kommunalpolitiker brauchte gute Beziehungen auf allen Ebenen. Hermann hob grüßend die Hand, wandte die Skispitzen zur Hütte und fuhr mit Doppelstockschüben darauf zu. Die Skier glitten leicht rauschend über den Schnee.
Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch. Die Skistöcke hatten gerade den Schnee berührt, als Hermann links im Brustkorb einen scharfen Schmerz spürte. Rote Spritzer trafen den weißen Boden. Die kleinen Tropfen wurden zu breiten Flecken, als das warme Blut in den kalten Schnee sickerte.