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In dunkler Winternacht
Im Glanz der Polarlichter bereiten sich die Bewohner der isländischen Westfjorde auf das Weihnachtsfest vor. Auf einmal taucht in einem Fischgehege vor der Küste eine mysteriöse Leiche auf. Hildur und Jakob übernehmen den Fall, der schon bald ungeahnte Kreise zieht. Überall auf der Insel kommt es zu Gewalttaten, und Hildur stellt fest, dass ihre Schwester ihr offenbar etwas verschweigt. Unterdessen wird Jakob in seiner Heimat Finnland in einen Mord verwickelt und benötigt dringend ihre Hilfe. Unversehens muss Hildur mehr als einen Fall lösen.
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Seitenzahl: 463
Das Buch
An den isländischen Fjorden herrscht die besinnliche Hektik der Vorweihnachtszeit. Aber die Freude wird getrübt. In einem Fischgehege vor der Küste von Ísafjörður hängt eine verunstaltete Leiche. Durch ihre Schultern wurden Schlachthaken getrieben. Kriminalbeamtin Hildur Rúnarsdóttir und ihr finnischer »Praktikant« Jakob Johanson ermitteln bald zu weiteren Gewalttaten. Die Umstände folgen dem Muster der Volkssage um die dreizehn Weihnachtsgesellen – Bergtrolle, die Schabernack mit Menschen treiben. Wird es weitere Opfer geben? Alle bisherigen haben offenbar mit der Zucht und Pflege von Islandpferden zu tun. Stecken Tierschutzaktivisten dahinter, die die illegale Abnahme von Stutenblut seitens der Pharmaindustrie ahnden? Was hat Hildurs Schwester Björk damit zu tun? Derweil eilt Jakob zu einem Sorgerechtsprozess um seinen Sohn Matias nach Finnland, wo er nach einem Mord prompt unter Tatverdacht steht. Nun gerät Hildur erst recht in Hektik.
Die Autorin
Die Finnin Satu Rämö zog vor zwanzig Jahren für ein Auslandssemester nach Island, um isländische Kultur und Literatur zu studieren. Heute arbeitet sie als Autorin, Bloggerin und Mentorin und lebt mit ihrem isländischen Mann und ihren zwei Kindern in der Kleinstadt Ísafjörður im Nordwesten Islands. Nach zahlreichen erfolgreichen Sachbüchern, in denen sie über ihre Wahlheimat schreibt, gelang ihr mit »Hildur – Die Spur im Fjord« auf Anhieb der Durchbruch als Krimiautorin. Der Auftakt der Reihe um die außergewöhnliche Kommissarin Hildur Rúnarsdóttir stand in ihrer Heimat wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.
SATU RÄMÖ
Der Schatten des Nordlichts
KRIMINALROMAN
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Die Originalausgabe Jakob erschien erstmals 2023
bei Werner Söderström Ltd (WSOY), Helsinki.
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Die Übersetzung wurde gefördert von
Copyright © 2023 by Satu Rämö
Published in the German language by arrangement
with Bonnier Rights Finland, Helsinki, Finland.
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sibylle Klöcker
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
unter Verwendung von © mauritius images (Rainer Mirau)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30633-5V001
www.heyne.de
Für Mama 1957–2023
Come to meI’ll take care of youProtect youCome lie down ...
Come to me Text: Björk Guðmundsdóttir (1993)
»Ich will nich«, maulte der kleinste Junge, fünf Jahre alt, und scheuchte ein paar Mücken weg. Er starrte seinen älteren Cousin und dessen Freund an, die nebeneinander am Seeufer standen. Die beiden waren gleichaltrig, gleich groß und unzertrennlich. Von Weitem waren sie nur an ihrer Haarfarbe zu unterscheiden: Der eine hatte sehr dunkle, fast schwarze Haare, der andere hellbraune.
Es war schon fast Hochsommer, aber das Wasser war kühl. Die Sonne brannte am wolkenlosen Himmel, die Vögel sangen. Der kleine Junge zupfte an seiner Badehose. Er hatte Angst.
Sie hatten das heutige Abenteuer gemeinsam geplant. Zu Hause bei dem Kleinsten hatten sie noch ein paar Pfannkuchen gegessen, hatten Uno gespielt und Witze gerissen. Die größeren Jungen hatten von einem spannenden Spiel erzählt, bei dem nur Kinder mitmachen konnten, die noch nicht zur Schule gingen. Der Junge hatte sich über seine wichtige Rolle gefreut. Nun würde an diesem langweiligen Sommertag doch noch etwas Aufregendes passieren! Sie hatten ihre Turnschuhe angezogen, die Schirmmützen tief in die Stirn gezogen und waren zum Badestrand des Dorfes geradelt.
Und dort am Strand hatte das Spiel einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab.
»Los, geh schon!«, sagte der schwarzhaarige Junge zum x-ten Mal. »Der Schatz is da unten aufm Boden.«
Den ganzen Nachmittag über hatten die größeren Jungen dem Kleinen von einem Schiff erzählt, das vor langer Zeit im See gesunken war. Alle drei hatten die Geschichte unheimlich spannend gefunden. Das alte Schiff hatte drei goldene Türklinken gehabt, die immer noch auf dem Grund des Sees lagen.
Das Wasser reichte dem Kleinen bis zu den Knien. Der Schwarzhaarige warf seinem Freund einen auffordernden Blick zu.
Der Braunhaarige nickte zustimmend und rief: »Is nich mehr weit. Mach zehn Schritte, dann biste ganz dicht dran!«
Der Kleine drückte das Kinn an die Brust und sah die älteren Jungs, die am Ufer standen, von unten herauf an. Er nagte mit den Schneidezähnen an der Unterlippe, genauer gesagt mit den beiden Zähnen, die zwar schon wackelten, aber noch nicht ausgefallen waren.
»Gut, Mikael! Geh weiter!«
Der anfeuernde Ruf des Dunkelhaarigen brachte den Jungen dazu, ein paar Schritte weiter in den See hinein zu machen. Das Wasser reichte ihm nun schon bis zu den mageren Oberschenkeln. Er bekam eine Gänsehaut.
»Jetzt?«, fragte er mit bebender Stimme. Er wusste nicht, ob seine Stimme vor Angst oder vor Kälte zitterte.
Vom Weg her waren fröhliche Rufe und das Klingeln von Fahrradglocken zu hören. Die Leute bogen nicht zum Ufer ab, sondern fuhren vorbei. Bald war es wieder still.
»Warum muss ich die allein holen?«, fragte der Junge, obwohl er auch auf seine vorherige Frage keine Antwort bekommen hatte.
»Nur die Kleinen können sie holen, die Großen nicht«, erklärte sein schwarzhaariger Cousin überzeugend. »So heißt es in der Geschichte.«
Der braunhaarige Junge fügte hinzu: »Du bist schon ganz nah dran. Gleich kannste die erste Klinke ausm Wasser holen und uns zeigen.«
In den Augen des kleinen Jungen blitzte sekundenlang Trotz auf. »Ihr dürft sie angucken, aber sie gehört mir, weil ich sie hole. Der Finder kriegt sie, das habt ihr doch gesagt!«
Der Schwarzhaarige stemmte die Hände in die Seiten und erklärte mit der Selbstsicherheit eines Zehnjährigen: »Klar gehört sie dir.«
Die Worte seines Cousins brachten den Jungen dazu, sich wieder umzudrehen. Als er sich langsam vom Ufer entfernte, zeichneten sich an seinem Rücken die schmalen, spitzen Schulterblätter ab. Seine Schritte waren kurz, sein Körper schwankte leicht hin und her, während er versuchte, in dem immer tieferen Wasser das Gleichgewicht zu halten. Jetzt reichte ihm das Wasser schon an die Achselhöhlen.
Die Sonne schimmerte auf dem See. Irgendwo in der Ferne donnerte es. Die Regenwolken und die Gewitterfront waren weit weg, aber das grollende Geräusch war weithin zu hören.
Noch ein paar Schritte, dann würden die Füße des Kleinen nicht mehr bis zum Grund reichen.
»Er kann noch nich schwimmen«, sagte da der schwarzhaarige Junge am Ufer zu seinem Freund.
Die Freude am Spiel war mit einem Mal verflogen. Der schwarzhaarige Junge spürte, wie sein Körper sich anspannte. Er runzelte die Stirn, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Auf seiner Zunge lag ein metallischer Geschmack.
Ein leises Platschen war zu hören. Als hätte jemand vorsichtig, aus geringer Entfernung, einen kleinen Stein ins Wasser fallen lassen.
»Irre, er hat’s echt geglaubt«, hauchte der Schwarzhaarige. Sein Freund lachte nervös auf, doch gleich darauf blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Das lockere Geplänkel der beiden verwandelte sich in panisches Keuchen, als sie in den See rannten.
Die beiden Freunde tauchten und tasteten mit den Händen den Grund ab. Sie kamen an die Wasseroberfläche, holten hastig Luft, tauchten wieder unter.
Aber all ihr eifriges Bemühen war vergeblich. Der Kleine blieb verschwunden.
Schließlich kehrten die Jungen erschöpft ans Ufer zurück. Sie hoben ihre Sachen auf, zogen sich rasch an und vermieden es, die zusammengerollte Trainingshose und das zerknüllte T-Shirt des Fünfjährigen anzusehen. Als die Jungen mit steifen Muskeln in das Wäldchen radelten, blieb das kleinste Fahrrad am Ufer zurück. Beklommen blickten sie sich um: Hatte sie jemand gesehen? Waren andere Leute auf dem Weg gewesen? Doch um sie herum herrschte die sanfte Stille eines Sommernachmittags. In den Wipfeln der Bäume säuselte der Wind. Ein Eichhörnchen flitzte am Stamm einer Fichte hoch. Die Krallen kratzten ungestüm über die Rinde.
Später lag der schwarzhaarige Junge bäuchlings im Moos. Sein Körper krampfte sich zusammen. Die Feuchtigkeit des Waldes vermischte sich mit dem kalten Schweiß auf seiner Haut. Er fror.
Neben ihm übergab sich der Braunhaarige und stammelte würgend immer wieder dasselbe: »Das erzählen wir keinem. Nie!«
Die kurzen Haare ihrer kleinen Schwester kitzelten die Kriminalbeamtin Hildur Rúnarsdóttir an der Wange. Die Haare dufteten nach Wassermelone. Hildur drückte Björk fest an sich und spürte deren breite Schultern unter dem dicken Wintermantel. Björk Holm. An den neuen Namen ihrer kleinen Schwester hatte sie sich immer noch nicht ganz gewöhnt. Wobei er streng genommen gar nicht neu war, Björk hieß nun schon viel länger Holm, als sie Rúnarsdóttir geheißen hatte. Nach ihrer Ankunft auf den Färöern hatte sie einen neuen Nachnamen bekommen. Es war der Name des Ex-Mannes von Tante Hulda.
Hildur umarmte ihre Schwester lange. Am liebsten hätte sie Björk gar nicht mehr losgelassen, obwohl sie wusste, dass sich der Abschied nicht hinauszögern ließ. Es wäre viel leichter gewesen, das Pflaster mit einem Ruck abzureißen, indem sie Björk am Haupteingang des Flughafens abgesetzt hätte und gleich zur Polizeistation im Dorf zurückgefahren wäre. Doch das hätte sie nicht über sich gebracht. Sie waren mehr als zwanzig Jahre getrennt gewesen, und danach hatten sie jeden Abschied als qualvoll empfunden.
Vor anderthalb Jahren hatte Hildur über viele Umwege die jüngere ihrer kleinen Schwestern auf den Färöern ausfindig gemacht. Anfangs war Björk schockiert gewesen, als sie erfuhr, dass sie eine dritte Schwester hatte und dass Hulda, die sie für ihre Pflegemutter gehalten hatte, in Wahrheit ihre Tante war. Björk hatte zwar gewusst, dass ihre biologische Mutter gestorben war, aber Hulda hatte nie weiter über das Thema gesprochen. Eigentlich hatten sie über so gut wie gar nichts geredet: Hulda war schon immer sehr schweigsam gewesen und hatte sich in ihrer eigenen Welt bewegt.
Auch wenn es nach einer unglaublichen Geschichte klang, hatte Björk keine Sekunde daran gezweifelt, dass Hildur ihr die Wahrheit erzählte. Das Vertrauen zwischen ihnen war sofort da gewesen. Hildur erinnerte sich noch gut daran, was ihre kleine Schwester gesagt hatte, als sie zum ersten Mal für sie beide Kaffee kochte: »Du kommst mir so bekannt vor.« Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war wie ein Wunder gewesen, die verschwundene Schwester nach so langer Zeit wiederzufinden.
Zwischen manchen Menschen entstand einfach wie von selbst eine Brücke. Schon nach den ersten Worten, die sie gewechselt hatten, war es, als wären sie sich immer nahe gewesen. Hildur und Björk hatten an dem langen Esstisch in der Küche tagelang über alles geredet, was geschehen war. Hildur hatte berichtet, was sie über die Vergangenheit herausgefunden hatte, und Björk hatte erzählt, woran sie sich erinnerte.
Die Schwestern hatten auf den Färöern eine schwierige Kindheit gehabt. Hulda hatte sich zwar um Rósa und Björk gekümmert, aber nie eine wirklich liebevolle Bindung zu ihnen aufgebaut. Die Demenz hatte offenbar schon früh eingesetzt, und als die Schwestern ins Teenageralter kamen, war Hulda bereits nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Die Mädchen hatten früh selbstständig werden müssen. Sie hatten eingekauft, gekocht und geputzt. Es hatte keine festen Zeiten gegeben, wann sie zu Hause sein mussten, und niemand hatte ein Auge auf sie gehabt.
Als Polizistin hatte Hildur viele ähnliche Schicksale gesehen. Neben ihrer Tätigkeit als Kriminalermittlerin war sie auch für die Einheit für vermisste Kinder zuständig, in der Praxis also für Kinder, die aus der Obhut des Jugendschutzes weggelaufen waren. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ihre eigenen Schwestern vernachlässigt worden waren und viel zu früh erwachsen werden mussten.
Als Rósa und Björk Island verlassen hatten, war Björk noch so jung gewesen, dass sie so gut wie keine Erinnerungen an die Zeit davor hatte. Die ersten Kindheitserinnerungen entstanden in der Regel mit ungefähr drei Jahren. Björk war zu jenem tragischen Zeitpunkt sechs gewesen. Sie hatte Hildur erzählt, dass vor ihrem inneren Auge manchmal Erinnerungsfetzen von Dunkelheit und von dem ruckelnden Rücksitz eines Autos auftauchten, aber sie konnte diese Rückblenden zeitlich nicht einordnen oder mit anderen Ereignissen in Verbindung bringen. Durch den Umzug in eine neue sprachliche Umgebung und zu fremden Menschen waren die minimalen Erinnerungen vermutlich durcheinandergeraten und letztlich für immer verschwunden.
Hulda hatte den Mädchen nie die Wahrheit über ihre Mutter gesagt und ihnen auch sonst nichts über ihre isländische Herkunft erzählt. Jetzt war es zu spät, sie zu fragen, denn Hulda war Anfang des Jahres gestorben. Danach hatte Björk beschlossen, wieder nach Island zu ziehen. Sie hatte gesagt, sie wolle näher bei Hildur sein und nach Huldas Tod halte sie auf den Färöern nichts mehr zurück.
Im Lauf des letzten Jahres hatte Björk oft zu Hildur gesagt, ihre Begegnung habe Veränderungen in Gang gesetzt und es sei ihr wichtig, ihre Pläne endlich zu verwirklichen, damit sie keine bloßen Wunschvorstellungen blieben. Seit sie erwachsen war, hatte sie auf den Färöern Schafzucht betrieben, doch nun hatte sie die Schafe verkauft. Sie ließ das Haus leer stehen, war nach Island gezogen und hatte begonnen, in ihrem erlernten Beruf als Krankenpflegerin zu arbeiten. Eine feste Stelle hatte sie noch nicht bekommen, aber das würde sich bestimmt bald ändern. Im Moment arbeitete sie vertretungsweise in der Zentralklinik in Reykjavík. Aushilfskräfte wurden vor allem in der Urlaubszeit dringend gebraucht.
Hildur wusste inzwischen, dass Björk in ihrer freien Zeit gern häkelte, zum Kickboxen ging, viele Krimis las und sich im Fernsehen alle möglichen Polizeiserien ansah. Sie interessierte sich brennend für Hildurs Arbeit. Darüber freute sich Hildur.
Der kleine Flughafen von Ísafjörður hatte im rückwärtigen Teil zwei Türen. Durch die südliche Tür kamen die Fluggäste nach der Ankunft in den Terminal, die nördliche Tür war für die Abreisenden reserviert. Björk wollte allerdings nicht nach Hause fliegen, sondern am Flughafen ein Auto mieten.
Während der Coronapandemie hatten die Mietwagenfirmen den größten Teil ihres Wagenparks verkauft, aber jetzt, wo die Einschränkungen allmählich der Vergangenheit angehörten, erholte sich der Reiseverkehr. Die Weihnachtssaison rückte näher, und man versuchte, die noch verfügbaren Autos möglichst effektiv einzusetzen. Daher wurden sie ständig zwischen den einzelnen Ortschaften hin- und hertransportiert. Das wiederum kam Björk, deren eigener Wagen gerade in der Werkstatt war, sehr gelegen.
»Ich wäre wirklich gern noch länger geblieben, aber ich habe versprochen, Schichten zu übernehmen. Im Moment werden viele Vertretungsdienste angeboten.«
Hildur verstand ihre Schwester vollkommen. In diesem Punkt waren sie sich ähnlich: Es spielte keine große Rolle, an welchen Tagen man arbeitete, wenn zu Hause niemand auf einen wartete.
»Fliegen wir also an Ostern hin?«, fragte Björk.
Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine senkrechte Falte. Hildur hatte bemerkt, dass die immer dann auftauchte, wenn Björk konzentriert über etwas nachdachte.
Hildur nickte. Die langen Osterferien waren der sehnlich erwartete Höhepunkt des Frühjahrs. Dann reiste man mit der ganzen Familie nach Süden, zum Beispiel auf die Kanaren oder nach Florida, oder man verschanzte sich im Sommerhaus, um riesige Schokoladeneier zu essen und sich gegenseitig die Lebensweisheiten vorzulesen, die traditionellerweise in jedem Ei versteckt waren. Hildur und Björk hatten beschlossen, mit Tante Tinna auf die Färöer zu fliegen. Sie würden Huldas Grab besuchen, und Björk würde ihnen die Sehenswürdigkeiten zeigen.
Hildur sah, dass es kurz nach zwei Uhr war. Bald würde die Dämmerung einsetzen. Am besten fuhr Björk jetzt gleich los, dann hätte sie die Gebirgsstrecke hinter sich, bevor es stockdunkel wurde.
In diesem Moment zog sich der unsichtbare Knoten um Hildurs Brust noch eine Spur fester zusammen. Die vertraute Beklemmung, das bedrückende Gefühl, das sie schon seit ein paar Tagen verspürt hatte, wurde stärker. Das konnte nur eines bedeuten: Irgendwo in ihrem näheren Umfeld würde sich etwas Schlimmes ereignen. Ihre Zehen waren eiskalt, sie hätte anstelle der Laufschuhe Winterstiefel anziehen sollen. Sie stellte sich ein paarmal auf die Zehenspitzen, um die Durchblutung anzuregen. Björk hob ihren Rucksack auf und hängte ihn sich über die Schulter.
Hildur wusste, dass sie die Frage lieber nicht stellen sollte, aber sie konnte sich nicht bremsen.
»Wie mag es Rósa wohl gehen?«
Das Lächeln verschwand von Björks Gesicht. Sie drehte den Mietwagenschlüssel nervös zwischen den Fingern und blickte zur Seite. Dann zog sie den Rucksack zurecht und antwortete tonlos: »Du weißt doch, dass wir darüber nicht sprechen.«
Hildur blickte Björk nach, die über den windgepeitschten Parkplatz zu ihrem Mietwagen ging. Der Flugplatz lag schön, aber unpraktisch. Er war am Fuß der Berge auf einer Landzunge gebaut worden, die in die Mitte des Fjords ragte. Am Nordende der Rollbahn begann das Meer, dort mündete der schmale Fjord in den Atlantik. Im Westen und Osten erhoben sich die steilen Berge mit ihren flachen Kuppen. Die Flugverbindung zur Hauptstadt Reykjavík war unsicher. Oft mussten Flüge wegen Sturm oder Nebel abgesagt werden.
Es verdross Hildur, dass sie das verbotene Thema angesprochen und damit zum Schluss den schönen Besuch verdorben hatte. Hildur und Björk waren sich nahegekommen, aber über Rósa wollte Björk nicht reden. Das war ihre einzige Forderung an Hildur gewesen, als sie sich auf den Färöern begegnet waren und beschlossen hatten, sich von Neuem kennenzulernen. Hildur hatte zugestimmt, weil sie keine andere Wahl hatte. Rósa blieb ein Rätsel für sie. Björk hatte gedroht, den Kontakt abzubrechen, falls Hildur nachbohrte.
Hildur hatte versucht, sich insgeheim Klarheit zu verschaffen. Sie hatte die öffentlich zugänglichen Informationsquellen benutzt, die aber nichts erbrachten. In den Social-Media-Kanälen tauchte Rósa nicht auf, jedenfalls nicht unter ihrem eigenen Namen. Eine Telefonnummer war nicht zu finden, und dem offiziellen Register nach wohnte Rósa immer noch auf den Färöern in Björks Haus, doch bei ihren Besuchen hatte Hildur dort keine Spur von ihrer Schwester gesehen. Anfangs hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Nachforschungen anzustellen. Über ihre Polizeikontakte hätte sie Erkundungen einziehen können. Sie hatte schon mehrmals zum Telefon gegriffen, es aber in letzter Minute doch immer wieder weggesteckt. Sie wollte nicht riskieren, dass Björk von ihrer Schnüffelei erfuhr. Die Inselgruppe der Färöer war noch kleiner als Island, bestimmt hätte sich ihr Vorstoß bald herumgesprochen. Also hatte Hildur sich zusammenreißen müssen, um keine Fragen zu stellen. Es war schwierig, doch im Moment blieb ihr keine andere Möglichkeit.
Hildur stieg in ihre Brenda ein. Der an den Türkanten rostige Toyota Land Cruiser war ihr seit Jahren ein treues Vehikel. Er war nach dem Maskottchen auf dem Armaturenbrett benannt, das Hildur vor langer Zeit von einer Anhalterin bekommen hatte.
Sie hauchte auf die kalte Windschutzscheibe und malte mit dem Zeigefinger wellenförmige Muster in den Dunst. Die Muster wurden blasser und lösten sich schließlich ganz auf.
Hildur biss sich auf die Lippe und versuchte die Beklemmung zu vertreiben, die sie beschlichen hatte. Sie bemühte sich jedes Mal, dem Gefühl auszuweichen, obwohl sie wusste, dass der Kampf aussichtslos war. Die Bedrückung würde nicht nachlassen. Hildur war daran gewöhnt. Schon seit ihrer Jugend spürte sie von Zeit zu Zeit einen Druck im Hals und im Brustkorb. Wenn irgendwo ein schwerer Verkehrsunfall, ein Mord oder eine andere menschliche Katastrophe geschah, war Hildur nicht überrascht. Sie hatte bereits Tage vorher gewusst, dass etwas passieren würde. Das Schlimmste daran war, dass sie nichts tun konnte, was das Unheil verhindert hätte, weil sie nicht wusste, wo oder wem es passieren würde. Diese Sehergabe – oder vielleicht sollte man eher von einer Seherplage sprechen – hatte sie von der Familie ihrer Mutter geerbt. Ihre Urgroßmutter Hrafntinna war zu ihrer Zeit die bekannteste Hellseherin Islands gewesen, sie hatte über die Zukunft berichtet und Fragenden Rat erteilt. Ein Teil dieser Gabe war auf Hildur übergegangen. Allerdings wusste Hildur, dass sie nicht annähernd so begabt war wie Hrafntinna. Sie hatte nur spärliche Reste der Sehergabe abbekommen. Sie wusste zu viel und doch zu wenig.
Die Beklemmung war eine schwere Last, aber Hildur hatte sich im Lauf der Jahre daran gewöhnt. Meistens half Sport. Auch jetzt überlegte sie sich, joggen zu gehen. Sportkleidung hatte sie schon an. Sie brauchte nur die Reflektorweste überzuziehen, die im Kofferraum bereitlag. Der Gedanke an eine Joggingrunde auf dem Weg, der vom Flughafen an den Pferdeställen vorbei zur innersten Bucht des Fjords führte, munterte sie auf.
Doch im nächsten Moment klingelte ihr Handy. Ein Blick auf das Display genügte, ihre Laune wieder sinken zu lassen. Der Anrufer war ihr Chef Jónas Ingimarsson.
Hildur war immer noch sauer darüber, dass ausgerechnet Jónas ihr neuer Vorgesetzter geworden war, nachdem ihre frühere Chefin Elísabet Baldursdóttir, genannt Beta, nach Reykjavík gezogen war.
»Was gibt’s?«, meldete sie sich in neutralem Ton.
Am anderen Ende war ein lautes Stöhnen zu hören. »Warum so bockig? Vielleicht deswegen, weil dich schon länger keiner gebockt hat?«
Jónas’ wieherndes Gelächter ging in einen heftigen Hustenanfall über.
Hildur lag eine mindestens ebenso unverschämte Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Ihr Chef war ein Idiot, aber sie wusste, dass es sinnlos war, sich aufzuregen. Damit hätte sie den Mann erst recht aufgestachelt.
Sie schwieg ein wenig länger als üblich und sagte dann mit betont freundlicher Stimme: »Sag mir, was anliegt, Kumpel.«
»Beweg deinen Arsch aufs Revier, und zwar schnell.«
Auch an diesem Dezembertag zeigte sich Jónas von seiner ruppigen Seite. Er hatte bei der Polizei in Reykjavík gearbeitet, bis er vor zwei Jahren wegen Hüftschmerzen in Erwerbsunfähigkeitsrente gegangen war. Dann war ihm das Rentnerleben offenbar langweilig geworden, oder er hatte bessere Schmerzmittel bekommen. Als im Herbst die Stelle als Polizeichef ausgeschrieben wurde, war Jónas der einzige Bewerber gewesen. Er hatte immer verächtlich über die ländlichen Regionen gesprochen, aber der Chefposten und speziell das damit verbundene Gehalt hatten offenbar schwerer gewogen als all die Nachteile, die das Leben in einem so kleinen Ort hatte. Hildur wusste, dass sie genommen worden wäre, wenn sie sich beworben hätte, wollte aber nicht die Verantwortung auf sich laden, die so ein Posten mit sich brachte. Es war ihr lieber, an der Basis zu arbeiten und Straftaten zu untersuchen. Sie wollte nicht für das Handeln anderer Menschen verantwortlich sein. Deshalb fühlte sie sich am wohlsten, wenn sie selbstständig arbeiten konnte. Aber es hatte ihr einen Schock versetzt, als sie hörte, wer ihr neuer Chef sein würde. Unter allen Menschen auf der Welt ausgerechnet Jónas. Sie hatte es fast als Strafe empfunden.
»Was ist los?«
»Jetzt mach mal Tempo, Mädchen. Eine schnelle Nummer hier bei mir, anschließend zischst du ab zum Hafen.«
Eine Nummer? Jónas sprach, als wäre sein Dienstzimmer ein Stripteaselokal. Na, in solchen Etablissements hatte er ja reichlich Zeit verbracht. Als Hildur die Polizeischule absolviert und in Reykjavík gearbeitet hatte, bevor sie in ihre Heimat an den Westfjorden zurückkehrte, war sie in derselben Einheit tätig gewesen wie Jónas. Gleich in der ersten Schicht war ihr klar geworden, dass Jónas ein arrogantes Arschloch war, das sich an den eigenen Muskeln aufgeilte und allerhöchstens seinen weißen männlichen Kollegen so etwas wie Respekt entgegenbrachte.
Damals waren Stripteaselokale in Reykjavík noch legal. Jónas hatte im Pausenraum der Polizeistation mehr als einmal mit seinen »gründlichen Feldstudien« geprahlt und dazu schallend gelacht. Einmal hatte Hildur sein Gerede mit der Bemerkung quittiert, es gebe wohl kaum Frauen, die bereit seien, sich kostenlos vor Jónas auszuziehen. Das hatte ihm vorübergehend die Sprache verschlagen.
Die Gerüchte über Jónas’ Gewalttätigkeit gegenüber seiner Ehefrau hatten Hildurs ablehnende Haltung ihm gegenüber noch verstärkt. Die Frau hatte sich zum Glück davongemacht und lebte jetzt mit irgendeinem Experten des Innenministeriums zusammen.
»Jakob ist schon auf dem Weg zum Hafen und organisiert die Abfahrt. Ihr trefft euch dort.«
Hildur drückte das Handy ans Ohr, um besser zu hören.
»Abfahrt? Wohin?« Ihr schwante, dass die Joggingrunde heute ausfallen würde.
»Zur Lachszucht«, knurrte Jónas und fügte hinzu: »Der Taucher, der die Fische versorgen sollte, hat im Wasser eine Leiche gefunden.«
»Daginn!«
Die dicke Schneedecke dämpfte den lauten Gruß von Kriminalmeister Jakob Johanson. Die Stahlcontainer von Eimskip, die mitten im Hafengelände aufgetürmt waren, hatten unter dem Schnee ihre kantige Form verloren. Das weiche gelbe Licht der Straßenlaternen schuf eine gespenstische Stimmung.
Ein älterer Mann in einer blutbespritzten Schürze beobachtete durch das Fenster seines kleinen Fischgeschäfts die plötzliche Betriebsamkeit am Hafen.
Hildur hob grüßend die Hand und schlug Brendas Tür zu – offenbar nicht fest genug, sie blieb einen Spaltbreit offen stehen. Sie zog sie wieder auf und knallte sie erneut ins Schloss, diesmal heftiger. Für die Fahrertür brauchte man Kraft. Anschließend grüßte sie auch den Mann im Fischladen mit einem Nicken. Es kam selten vor, dass sie für sich allein kochte, aber wenn, dann kaufte sie die Zutaten im Fischgeschäft des Dorfes. Frisch aus dem Meer geholter Fisch, in Butter gebraten, schmeckte einfach himmlisch.
Gerade jetzt bereitete der Gedanke an Fisch ihr allerdings Übelkeit. Jónas hatte sie soeben auf der Polizeistation über die Lage informiert. Sie wusste, was Jakob und sie auf dem Meer erwartete.
Ihre erste Vermutung war ein Unfall auf See gewesen. Auf den Fischtrawlern hatte es jedoch in letzter Zeit keine Unfälle gegeben, jedenfalls waren keine gemeldet worden. Das Kaltwasserschwimmen war neuerdings immer beliebter geworden. Vielleicht war jemand zu weit hinausgeschwommen, müde geworden und ertrunken? Es bestand auch die Möglichkeit, dass irgendwer im Suff ins Wasser gefallen und von der Strömung mitten in den Fjord getragen worden war. Das Meer fror auch im Winter nicht zu, und fast in jedem Dorf gab es einen Fischereihafen mit einem tiefen Hafenbecken. Es kam gelegentlich vor, dass ein Unglücksrabe zu nah an den Rand ging, ausrutschte und ins Wasser fiel. Die Fakten, die Jónas aufgezählt hatte, schlossen die Möglichkeit eines Unfalls jedoch aus.
Der Typ, den man im Meer gefunden hatte, war in den letzten Minuten seines Lebens nirgendwohin geschwommen. Die Leiche war am Netzgehege des Lachszuchtbetriebs festgebunden gewesen, und die im Netz schwimmenden Fische hatten sie schon stark angenagt.
Die nachmittägliche Dämmerung setzte allmählich ein. Es war die dunkelste Zeit im Jahr. In der Dunkelheit auf dem Meer zu arbeiten würde schwierig sein, aber es galt, schnell zu handeln. Hildur und Jónas waren sich einig gewesen, dass die Leiche sofort aus dem Meer geholt werden musste. Sie konnten nicht einmal die Ankunft der Kriminaltechniker aus Reykjavík abwarten. Die erste Untersuchung mussten sie selbst vornehmen, sonst gäbe es bald keine Leiche mehr, die untersucht werden könnte. Der Taucher hatte gesehen, wie eifrig die Fische an den Gliedmaßen des Toten knabberten. Dieser Leckerbissen war vermutlich eine willkommene Abwechslung vom üblichen industriellen Fischfutter.
Hildur und Jakob stiegen in das kleine Boot, das sie erwartete. Jakob setzte sich neben Hildur auf die Bank an der Kajütenwand. Mehr Passagiere hätten in dem Boot keinen Platz gefunden. Dem Kapitän, der sich als Einar vorstellte, war Hildur noch nie begegnet. Wahrscheinlich war er erst kürzlich an den Fjord gezogen. Einar zog seine Wollmütze tiefer in die Stirn und ließ den Motor an. Er öffnete das kleine Fenster, damit genug Sauerstoff in die Kajüte kam.
»Die Fahrt dauert eine Viertelstunde«, brummte er und nickte zur Bank hin. »Die Schwimmwesten sind da in der Kiste unter euren Hintern.« Er steckte sich eine ordentliche Portion Kautabak unter die Oberlippe und konzentrierte sich dann darauf, das Boot zu steuern.
Hildur briefte ihren Kollegen. Jakob hörte ihr mit gesenktem Blick zu und strich sich dabei über die Bartstoppeln.
Normalerweise benutzte die Polizei bei Einsätzen auf See das Schiff der Seenotrettung oder das der Küstenwache, aber keines der beiden lag momentan im Hafen von Ísafjörður. Das jetzige war das einzige, das kurzfristig verfügbar gewesen war. Einar betrieb ein kleines Tourismusunternehmen. Im Sommer bot er Bootausflüge für Touristen an, im Winter fuhr er ab und zu zum Fischen raus.
Eine Weile saßen Hildur und Jakob schweigend da und starrten durch das kleine Fenster aufs Meer. Hildur war froh, dass gerade Jakob bei diesem Einsatz ihr Partner war. Sie hatten sich kennengelernt, als Jakob, der in Finnland eine Ausbildung zum Polizisten machte, zu einem Praktikum nach Island an die Polizeistation in Ísafjörður gekommen war. Die Pandemie hatte alle Pläne durcheinandergebracht, und auch das Praktikum hatte sich in die Länge gezogen. Nun war es offiziell abgeschlossen, aber Jakob wollte noch nicht nach Finnland zurückkehren. Einer der Gründe war sicher seine Beziehung mit der bezaubernden Guðrún, die im Dorf ein Wollgeschäft betrieb.
Außerdem fühlte Jakob sich auf der Polizeistation des Dorfes wohl. Die Arbeit war abwechslungsreich. Streitigkeiten zwischen Schafzüchtern schlichten, Verkehrskontrollen durchführen und an den Wochenenden auf der Straße zwischen den beiden Dorfkneipen für Ordnung sorgen. Jakob konnte zwar nicht als Polizeibeamter eingestellt werden, weil er kein isländischer Staatsbürger war, aber er durfte als Polizist arbeiten, sofern sein Teamkollege eine offizielle Polizeiausbildung hatte. Da es schwierig war, Polizisten zur Arbeit in die entlegenen Dörfer zu locken, nahm man auch mit einem halb ausgebildeten Finnen vorlieb. Sehr zu Hildurs Glück, denn die Zusammenarbeit mit Jakob lief fantastisch: Jakob war ruhig, er konzentrierte sich voll auf die anstehenden Aufgaben und kam mit den unterschiedlichsten Menschen zurecht. Man konnte sich auf ihn verlassen.
»Wer betreibt die Fischzuchtanlage?«, fragte Jakob, als sie den Hafen verlassen hatten.
Das Boot trieb seitlich ab, allerdings nur ein bisschen. Zum Glück herrschte gerade kein starker Wind, vielleicht acht Meter in der Sekunde, schätzte Hildur. Das Meer lag relativ ruhig da.
Sie berichtete ihrem Kollegen von der Welteroberung der norwegischen Fischunternehmen. Die Firma, der die Fischzuchtbecken bei Ísafjörður gehörten, besaß entsprechende Anlagen in ganz Europa.
Nachdem die Gesetzgebung in Norwegen verschärft worden war, hatten die Lachszuchtunternehmen sich neue Tätigkeitsfelder außerhalb von Norwegen gesucht. Mehrere Firmen hatten Fischzuchtanlagen und Fischfabriken in den Uferdörfern Islands gegründet, weil die Fjorde im Osten und Westen des Landes windgeschützte Seegebiete bildeten. Netzgehege konnten nicht auf offener See angelegt werden, wo die Strömung zu stark war. Die tiefen Fjorde boten eine geschützte Umgebung mit ausreichendem Wasseraustausch. Neben den geografischen Vorteilen machten auch die laschen Umweltgesetze Island zum verlockenden Standort für die Lachszucht.
»Die Lachsforellen werden im Netzgehege schlachtreif aufgezogen und von dort zur Schlachtung gebracht«, erklärte Hildur. »Im Allgemeinen haben die Zuchtanstalt und der Schlachtbetrieb denselben Besitzer.«
Wer im Dorf lebte, kannte zwangsläufig die Basisfakten zur Fischzucht. Die Medien berichteten ständig über die Eröffnung neuer Betriebe. Umweltschützer, Geschäftsleute und Kommunalpolitiker stritten regelmäßig über das Thema. Weil die Fischzuchtanlage vor dem Dorf kürzlich vergrößert worden war, wurde die Debatte in letzter Zeit besonders lebhaft geführt.
»Das Business kenne ich«, sagte Jakob. »In Norwegen wurde damals viel darüber diskutiert, und einige der Firmen haben offenbar sehr skrupellos gehandelt.«
Jakobs Verbindung zu Norwegen war Hildur bekannt. Er steckte gerade in einem aufreibenden Sorgerechtsstreit mit seiner norwegischen Ex-Frau Lena, die regelmäßig Jakobs Treffen mit seinem Sohn Matias sabotierte.
»Der Laich der Lachsweibchen wird mit der Milch genetisch modifizierter Männchen befruchtet«, referierte er. »Dann entsteht ausschließlich weiblicher Nachwuchs. Eine andere Methode ist es, triploide Lachsforellen zu produzieren, sodass man sterile Fische erhält.«
Hildur bemühte sich, ernst zu bleiben, obwohl die überraschende Info über die Fortpflanzung von Fischen eine gewisse Komik enthielt.
»Vergiss nicht, dass ich in meinem früheren Leben Biologe war«, sagte Jakob. Er schien Hildur deren Schmunzeln nicht übel zu nehmen und fuhr fort: »Könnte der Fall irgendwas mit zwielichtigen Firmen in der Branche zu tun haben? Vielleicht ist das Opfer ein Umweltaktivist, den man unbedingt loswerden wollte?«
Hildur dachte nach. Ein Umweltaktivist, der in einem winzigen, abgelegenen Dorf ermordet wurde? Das klang erst einmal wenig plausibel. Andererseits, man konnte nie wissen. Es passierten auch unwahrscheinlichere Dinge.
»Mal sehen, wohin die Spuren uns führen. Falls wir überhaupt welche finden.«
In der zunehmenden Dämmerung tauchten nun blinkende Lichter auf. Die um das Netzgehege angebrachten Signallampen warnten diejenigen, die auf dem Meer unterwegs waren. Einar drosselte das Tempo. Bald darauf ging der Motor aus, und Einar steuerte das langsam vorwärtsgleitende Boot neben das Wartungsschiff des Fischzuchtbetriebs. Jakob sprang hinüber, setzte die Tasche mit der Ausrüstung ab und streckte den Arm aus, um Hildur, die kleiner war als er, beim Sprung zu helfen.
»Ich schaff das allein, wenn du ein bisschen zur Seite gehst!«
Hildur nahm Anlauf, machte einen langen Satz und landete hinter Jakob auf dem Deck. Er runzelte die Stirn und versuchte den Beleidigten zu mimen, aber sein schiefes Lächeln verriet, dass er bluffte. Hildur wusste, dass Jakob sie gut genug kannte. Sie legte keinen Wert auf ritterliche Gesten und brauchte keinen, der ihr die Tür aufhielt.
Einar hob zum Abschied die Hand und fuhr zum Dorf zurück. Es war vereinbart, dass das Wartungsschiff Hildur und Jakob in den Hafen bringen würde.
»Waren Sie es, der angerufen hat?«, fragte Hildur den bärtigen Mann, der auf dem Deck des Wartungsschiffs stand, und stellte sich selbst und Jakob vor.
Der Mann trug einen dicken Winteroverall und eine altmodische Mütze mit Ohrenklappen. Die riesigen Handschuhe ließen seine Hände wie kleine Schaufeln aussehen. An den Füßen trug er feste Stiefel mit Spikes, ein vertrauter Anblick für Hildur. Solche besaß sie auch. Damit konnte man sich sogar auf spiegelglattem Eis bewegen, ohne auszurutschen.
Der Mann nickte und reichte ihr die schaufelförmige Hand. Er wirkte verstört.
»Valgeir Óskarsson. Nennen Sie mich einfach Koch-Valli. Ich war jahrelang Schiffskoch auf Fischtrawlern, aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr, dauernd auf See zu sein. Jetzt arbeite ich als Taucher im Lachszuchtbetrieb und warte die Zuchtgehege. Ich kontrolliere, ob die Fütterung funktioniert und auch sonst alles in Ordnung ist.«
Der Taucher erklärte, er überprüfe die Fische und das Fütterungssystem regelmäßig, aber in der restlichen Zeit hielten sich keine Arbeitskräfte am Zuchtbecken auf. Er sprach schnell und viel. Bestimmt steht er noch unter Schock, dachte Hildur und schlug vor, sie könnten sich eine Weile in die Kajüte setzen. Dort holte Koch-Valli sich eine Flasche Wasser aus der Kühltasche und reichte auch Jakob und Hildur etwas zu trinken. Der Kapitän des Wartungsschiffs begrüßte sie und erzählte, er sei während der ganzen Fahrt am selben Platz im Cockpit gewesen.
Koch-Valli trank einen großen Schluck Wasser, nahm die Mütze ab und fuhr sich durch die kurz geschnittenen Haare. Hildur begann mit der Befragung. Jakobs Isländischkenntnisse hatten sich im Lauf des Jahres so sehr verbessert, dass er dem Gespräch folgen konnte.
»Ich bin am Vormittag hergekommen. Zuerst habe ich die Fütterungsanlage überprüft, dann habe ich den Taucheranzug angelegt und eine Runde unter Wasser gedreht.«
»Wie spät war es da?«, fragte Hildur.
»Wir sind kurz vor zwölf im Hafen abgefahren, also …« Koch-Valli warf dem Kapitän einen Blick zu, als wollte er ihn um Bestätigung bitten.
Der Kapitän kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Na ja. Kann nicht lange nach eins gewesen sein.«
Koch-Valli erzählte, ein Tauchgang dauere etwa eine halbe Stunde. Das reiche, den Zustand der im Gehege lebenden Fische nach Augenschein zu überprüfen.
»Viren, Bakterien und Parasiten können alle möglichen Krankheiten verursachen. Wir entfernen die kranken und toten Exemplare.« Er verstummte.
Hildur nickte und bedeutete ihm fortzufahren.
Das ganze Wesen des Mannes veränderte sich. Er igelte sich gewissermaßen ein, indem er die Arme um den Körper legte und den Blick auf die Füße senkte.
»Erzählen Sie, wie Sie die Leiche bemerkt haben«, ermutigte ihn Hildur. Sie wollte, dass der Mann die Szene in eigenen Worten schilderte.
»Da muss ich den Kopf erst eine Weile ins Wasser stecken, wie das Sprichwort rät«, sagte er, schloss die Augen und versank in Gedanken.
Hildur ließ ihm Zeit. Die Bewegungen des Meeres waren im Schiffsinneren zu hören. Das Plätschern der sanften Wellen vermischte sich mit gelegentlicher Gischt. Das Schiff roch nach dem Alltag des isländischen Arbeiters: nach Schweiß, Pfeifentabak, abgestandenem Kaffee und dem Meer.
»Im Wasser ist es dunkel, man sieht nicht gleich alles«, begann Koch-Valli.
Er hatte mit seinem Scheinwerfer das Netzgehege fast ganz umrundet, als er einen seltsamen Klumpen entdeckte.
»Ich hab das Licht darauf gerichtet und zuerst gedacht, es wäre irgendein Plastikmüll. Manchmal treibt der Wind die Umhüllungen der Heuballen von den Bauernhöfen aufs Meer. Als ich kapiert hab, dass es nicht so was ist, war ich bestimmt nur noch zwei Meter entfernt.«
Die Leiche war nicht sehr tief im Wasser und hing aufrecht am Rand des Geheges. Koch-Valli hatte an den Füßen keine Gewichte gesehen, war sich aber sicher, dass sie vorhanden waren, sonst hätte die Leiche nicht in dieser Position gehangen.
Hildur dachte über das Gehörte nach und warf einen Blick auf die Uhr. Es würde erst in achtzehn Stunden wieder hell werden. So lange konnten sie nicht warten.
»Hören Sie, Koch-Valli. Wir brauchen jetzt unbedingt Ihre Hilfe.«
Sie blickte auf die Taucherausrüstung, die an der Wand hing. Koch-Valli wurde noch blasser. Er schien zu ahnen, worauf sie hinauswollte.
»Der Tote sieht schrecklich aus. Hängt nackt da. Das Gesicht halb weggefressen, und auf der einen Seite ist vom Arm und vom Bein auch nicht mehr alles übrig.«
Hildur versicherte dem Mann, er brauche sich die Leiche nicht genauer anzusehen. Es reiche, wenn er sie losbinde und an die Oberfläche bringe. Jakob und sie würden den Toten an Bord ziehen und dann weitermachen. Koch-Valli stöhnte laut und stand auf.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ohne Peitsche wird man nicht Bischof.«
Hildur gefiel Koch-Vallis Angewohnheit, alte Sprichwörter zu zitieren. Der Bischof, auf den es sich bezog, hatte im 12. Jahrhundert gelebt und sich kräftig abstrampeln müssen, um seine Position zu erreichen und die Herrschaft der katholischen Kirche in dem heidnischen Land zu sichern. Für sein Ziel musste man eben hart arbeiten und sich anstrengen.
»Am Ende wird sich alles richten«, sagte Hildur, während Jakob und sie einen weißen Schutzanzug anzogen und sich Handschuhe überstreiften. Sie würden die Leiche berühren müssen, nachdem sie aus dem Wasser geholt worden war. Die Schutzkleidung sollte die Kontamination möglichst gering halten.
Koch-Valli, der inzwischen die Taucherausrüstung angelegt hatte, setzte sich auf die Reling und ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Der Kapitän des Wartungsschiffs kam zum ersten Mal hinter dem Steuerrad hervor und stellte sich hinter Jakob und Hildur.
»Ist Ihnen auf der Fahrt hierher irgendetwas aufgefallen?«, fragte ihn Hildur, ohne von der Wasserfläche aufzublicken.
Der Kapitän stützte sich mit einer Hand an die Wand. »Nichts Ungewöhnliches. Im Hafengebiet war es ruhig, wie immer im Dezember um diese Uhrzeit.«
Die Frachter und Fischtrawler, die am frühen Morgen im Hafen angelegt hatten, waren schon wieder aufs Meer gefahren. Hildur wusste, dass man auf dem Seeweg auch von den Häfen der Nachbardörfer zum Netzgehege gelangte. Sie mussten schleunigst die Hafenaufseher aller nahe gelegenen Dörfer befragen und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras prüfen. Womöglich hatte irgendwer etwas gesehen.
Als hätte er Hildurs Gedanken gelesen, sagte Jakob: »Ist der Mord hier geschehen? Vielleicht wurde das Opfer ja anderswo getötet und die Leiche nur hier versteckt.« Er hob mehrmals die Schultern und schwenkte die Beine vor und zurück. Die Bewegung hielt warm. Auf dem Meer war es eisig.
»Sehen wir uns erst mal alles in Ruhe an«, bremste Hildur die Spekulationen. Sie wussten noch nichts. Die Spuren an der Leiche würden ihnen sicher weiterhelfen.
Bald war zu erkennen, wie sich im Wasser etwas rührte. Jakob richtete einen starken Scheinwerfer darauf. Koch-Valli tauchte platschend auf. Unter dem linken Arm hielt er einen hellen Klumpen. Hildur sah das entsetzte Gesicht des Mannes unter der Tauchermaske.
Nachdem sie die Leiche zu fassen bekommen hatte, reichte Jakob den Scheinwerfer an den Kapitän weiter und half ihr, die Leiche an Deck zu hieven und auf die vorsorglich ausgebreitete Plastikplane zu legen.
Als Hildur den Toten betrachtete, spürte sie, wie die Geräusche um sie herum verstummten. Sie hörte nur ihren eigenen Atem und ihre Herzschläge. Ein bitterer Geschmack legte sich ihr auf die Zunge. Sie wandte den Blick eine Weile von der aufgedunsenen Leiche ab, holte tief Luft und sah erst dann wieder hin. Sie hatte zwar gewusst, dass die Fische die nackte Leiche bereits angefressen hatten, aber mit dem, was zwischen den Schulterblättern des nackten Mannes steckte, hatte sie nicht gerechnet.
»Man hat ihn extra hergebracht, damit er so gefunden wird«, sagte sie stockend. »Wie um ihn zur Schau zu stellen.«
Durch den Oberkörper des Mannes waren zwei Metallstücke getrieben worden, die an große Angelhaken erinnerten. An den Enden hingen Stücke von den gelben Seilen, die Koch-Valli unter Wasser hatte durchschneiden müssen, um die Leiche von dem Gehege zu lösen. Die Knöchel waren mit einem gleichartigen Seil zusammengebunden. Eine zwölf Kilo schwere Kugelhantel hatte die Leiche im Wasser aufrecht gehalten.
»Da hat wahrhaftig jemand seine Meinung über die Fischzucht äußern wollen«, stieß Jakob hervor, rannte an die Reling und übergab sich.
Hildur schluckte heftig und zwang sich, durch den Mund zu atmen, damit ihr Geruchssinn nicht den Mageninhalt nach oben lockte. Sie wusste, dass die Fischzucht heftige Meinungsverschiedenheiten auslöste. Die Umweltschützer waren dagegen und warfen der Branche Umweltverschmutzung vor. In den kleinen Dörfern war die Mehrheit dafür, weil die Fischzuchtbetriebe Jobs boten und Arbeitskräfte in die abgelegenen Fjorde lockten. Ein Teil der Ortsansässigen war unzufrieden, weil die Gewinne der Fischzuchtbetriebe an große ausländische Unternehmen flossen, anstatt den Isländern zugutezukommen. Hildur hatte Leserbriefe und Zeitungsberichte über die Sitzungen des Gemeinderats gelesen. Für den Fall, dass sie etwas übersehen hatte, würde sie die Texte noch einmal durchgehen müssen. Sie erinnerte sich an die hitzigen Stellungnahmen auf den Social-Media-Kanälen, die sie von Berufs wegen verfolgen musste, aber auch dort war ihr nichts besonders Radikales aufgefallen. An mehreren Orten hatte es in Island ein paar kleine Demonstrationen gegeben, die jedoch alle friedlich verlaufen waren. Es erschien ihr unbegreiflich, dass in diesem Zusammenhang auf einmal eine übel zugerichtete Leiche auftauchen sollte. War der Tote ein Aktivist oder ein Vertreter des Unternehmens? Das würde sich vermutlich bald herausstellen. Es gab natürlich noch eine dritte Möglichkeit: Der Tote hatte rein gar nichts mit der Fischindustrie zu tun. Er war aus irgendeinem anderen Grund umgebracht und hierher verschleppt worden. Was allerdings weit hergeholt sein dürfte, überlegte Hildur, während sie die Leiche betrachtete.
Sie versuchte, ihre Wahrnehmungen im Einzelnen zu analysieren. Möglichst viele Beobachtungen zu sammeln, um eine Art Gesamtbild von dem Ereignis zu gewinnen. Aber in ihrem Kopf drehte sich nur ein einziger Gedanke: ein halb aufgefressener Wurm an zwei Haken.
Jakob setzte die Sonnenbrille auf und nahm Lena an die Hand. Sie gingen die schmale Fuglehauggata entlang zum Park. Die heiße Julisonne schien schon seit Tagen pausenlos. Wenn man an den Backsteingebäuden vorbeiging, spürte man, wie die Wände ihre Wärme abstrahlten. Dieser Tag sollte einer der heißesten des Sommers werden. Lena trug ein kurzes, weißes Kleid, das im Takt ihrer Schritte schaukelte. Jakob genoss den Anblick.
Lächelnd warf er einen Blick auf den Menschen an seiner Seite. Er war unbeschreiblich glücklich. Er hielt die tollste Frau der ganzen Stadt an der Hand und fühlte sich unschlagbar.
Was für ein Wunder war es doch gewesen, dass sie sich in diesem Sommer begegnet waren. Als hätte das Schicksal sie zusammengeführt. Bis dahin war Jakob überzeugt gewesen, dass es Liebe auf den ersten Blick nur im Film gab. Er hatte seine Meinung ändern müssen, nachdem er sie am eigenen Leib erfahren hatte. Auf dem Bahnhof in Budapest hatte er eine blonde Frau in einem roten Kleid gesehen, die den Stadtplan der Touristeninformation studierte. Diese Frau, Lena, hatte ihn angezogen wie ein Magnet. Als Lena von dem Stadtplan aufsah und ihr Blick Jakob streifte, war es um ihn geschehen. Sie hatten sich lange angesehen und dann gleichzeitig laut gelacht, weil weder er noch sie den Blick abwandte.
Nach einer gemeinsamen Woche in Budapest war Jakob zu Lena nach Oslo gezogen. Sie planten, wegen Jakobs Arbeit im Herbst für eine Weile nach Finnland zu gehen. Danach würden sie nach Norwegen zurückkehren und dort bleiben.
Heute wollte Lena Jakob den Vigeland-Park westlich der Osloer Innenstadt zeigen. Er hatte Fotos von den Skulpturen gesehen, war aber noch nie dort gewesen.
Sie gingen am Parkplatz vorbei. Links davon lag ein Kinderspielplatz. Unwillkürlich blieben sie beide einen Moment lang stehen und betrachteten die Kinder, die an den Klettergerüsten turnten und über die Holzbrücken polterten. Jakob hoffte, dass Lena dasselbe dachte wie er. Dass vielleicht auch sie beide eines Tages …
Im selben Moment kam er sich ein bisschen blöd vor. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, und er träumte schon von einem gemeinsamen Kind. Er drückte Lenas Hand fester, und sie gingen weiter. Er war idiotisch verliebt, so war es nun mal.
Im Park gab es mehr als zweihundert Skulpturen des norwegischen Bildhauers Gustav Vigeland. Sie gingen über die Brücke, die in die Mitte des Parks führte. Die Skulptur des kleinen Trotzkopfs kannte Jakob von Ansichtskarten.
»Komm, ich will dir den Kreis des Lebens zeigen«, sagte Lena und streichelte über Jakobs Haarknoten.
Verdammt noch mal, wie sind solche Gefühle möglich, überlegte Jakob. Er wusste, dass er dieses Glück nicht verdiente. Die Erinnerung machte sich als kleiner, panikartiger Stich in der Magengrube bemerkbar. Nein. Jakob weigerte sich, daran zu denken. Jetzt wollte er nur den Augenblick genießen und sich an der Gegenwart dieser wunderbaren Frau berauschen. Sie spazierten zum anderen Ende des Parks und kamen an dem fast zwanzig Meter hohen Monolith vorbei, der aus rund hundert umeinandergewundenen menschlichen Gestalten bestand. Bald erreichten sie einen Platz, auf dem sich eine ringförmige Skulptur erhob: Vier Erwachsene und drei Kinder bildeten einen Kreis.
»Viele halten die Skulptur für die langweiligste im ganzen Park, aber meiner Meinung nach ist sie die beste«, sagte Lena. »Vigeland hat gemeint, dass sie von der Technik her am schwierigsten für ihn gewesen ist.«
Sie gingen langsam um den Kreis des Lebens herum. Jakob hörte Lena aufmerksam zu.
»Es gefällt mir, dass die Skulptur zeigt, wie kurz der Weg von der Geburt bis zum Tod ist.«
Lenas raue Stimme vibrierte in Jakobs Innerem.
Nach einer Weile drehten sie sich um und gingen aneinandergeschmiegt zurück. Jakob bemerkte einen mobilen Kaffeestand am Rand des Parks. An dem Minicafé auf Rädern hing ein Plakat, das Eiskaffee anpries.
»Wir holen uns da Eiskaffee, okay?«, sagte er.
Die Sonne brannte auf seiner Haut. Bei dem kurzen Spaziergang war er ins Schwitzen geraten. Kalter Kaffee klang verlockend.
Lena blieb kurz stehen und sah Jakob an. »Kaffee trinkt man doch nicht kalt.«
»Na, dann nimm du einen normalen, mir ist Eiskaffee gerade recht«, flüsterte Jakob, beugte sich vor und drückte die Lippen auf Lenas nackte Schulter, bevor sie zur Kaffeebude ging.
Jakob setzte sich auf die nächste Parkbank. Er ließ den Blick über die Kunstwerke im Park schweifen. Die Skulpturen, die Menschen verschiedenen Alters in unterschiedlichen Verrenkungen zeigten, waren voller Gefühle. Trauer, Hass, Liebe und Sehnsucht. Alle Aspekte des Lebens gleichzeitig. Der Park war eine beeindruckende Sehenswürdigkeit.
Bald darauf stand Lena vor ihm und reichte ihm einen der beiden Becher.
Jakob wunderte sich. Der Becher fühlte sich warm an. Er warf einen Blick darauf und sah dann Lena an.
»Der Eiskaffee …«, begann er, aber Lena fiel ihm lächelnd ins Wort. Jakob erschrak vor der Härte ihres Lächelns. Es reichte diesmal nicht bis zu den Augen.
»Kaffee trinkt man heiß.«
Lena setzte sich zu ihm auf die Bank, allerdings nicht direkt neben ihn. Zwischen ihnen blieb ein kleiner Spalt, der Jakob in diesem Moment wie eine Kluft erschien. Der Kaffeebecher in seiner Hand fühlte sich glühend heiß an. Er umklammerte ihn fester als nötig.
Das kleine Küchenmesser steckte senkrecht in der dicksten Stelle des grauen Fleischbrockens. In einer tiefen Kristallschale waren Zimt und Zucker im Verhältnis eins zu zehn gemischt. Hildur griff nach dem Messer, schnitt von der Lifrarpylsa eine zentimeterdicke Scheibe ab und zerbröselte sie mit den Fingern über ihrer dampfenden Reisbreiportion. Dann gab sie einen halben Teelöffel Zimtzucker darüber.
Hildurs Tante Tinna Atladóttir kochte jeden Montagabend ein gemeinsames Abendessen für sie beide. Diesmal hatte Tinna ein simples, aber stimmungsvolles Vorweihnachtsessen zubereitet: Die Lifrarpylsa war die typische, aus Schafsleber und anderen Innereien hergestellte Wurst, die nach traditioneller Art in den Magensack eines Schafs gepresst wurde. Sie war leicht von der industriell gefertigten Wurst zu unterscheiden, die im Supermarkt verkauft wurde und zu fest war. Von Hand hergestellte, mürbe Wurst aus Innereien war heutzutage schwer zu finden. Da man Wurst billig und vakuumverpackt im Laden bekam, verstanden sich nur noch wenige darauf, sie selbst zu machen.
Tinna tat sich eine große Kelle Reisbrei auf ihren Teller.
»Ívar stopft im Winter immer Wurst. Er war gestern kurz hier und hat auch gleich die Weihnachtsgardinen aufgehängt.«
Hildur komplettierte ihre Portion mit einem Schuss Vollmilch und warf einen Blick auf das Küchenfenster. Seit sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Tante gezogen war, hatte Tinna immer dieselben Weihnachtsvorhänge benutzt. Den weißen Stoff schmückten rotwangige Wichtel, Glocken und grüne Tannenbäume. An den Enden hingen zwei rote Bommeln mit Glöckchen, die leise klingelten, wenn ein Luftzug den Vorhang bewegte. Ein schönes Zuhause war Tinna wichtig. Sie wechselte die Ziergegenstände in den Regalen und die Vorhänge an den Fenstern im Rhythmus der Jahreszeiten, obwohl sie schon vor langer Zeit ihre Sehkraft verloren hatte und allein in ihrem großen Haus wohnte.
Im Lauf des vergangenen Jahres hatte sie Ívar immer häufiger erwähnt. Er schien sie beinahe täglich zu besuchen, aber Hildur war ihm noch kein einziges Mal begegnet. Es freute sie, dass Tinna außer ihr noch andere Gesellschaft hatte. Sie selbst besuchte ihre Tante normalerweise einmal wöchentlich, und sie telefonierten fast jeden Tag miteinander.
»Wann darf ich diesen mysteriösen Mann endlich mal kennenlernen?«
Hildur wusste, dass Ívar als Monteur in Aluminiumhütten arbeitete und umherreiste, um die Potline der Hütten in den Küstendörfern Islands zu warten. Die Herstellung von Aluminium war teuer, und wenn auch nur ein Teil des Prozesses nicht funktionierte, wuchs der Verlust schon in kurzer Zeit ins Unermessliche.
»Er ist so viel unterwegs …« Tinna schob Hildur mit einem quietschenden Geräusch auf dem weihnachtlich roten Wachstischtuch den Breitopf zu. »Ist Björk gestern gut nach Hause gekommen?«
Hildur wusste, dass man nicht vom Tisch aufstehen durfte, ehe man mindestens eine zweite Portion genommen hatte. Sie griff nach der Kelle und füllte ihren geblümten Teller noch einmal zur Hälfte.
»Die Straße war in gutem Zustand, und sie hat es auf die Hauptstraße geschafft, bevor der Schneesturm im Süden anfing.«
Hildur war glücklich, dass sie Björk noch zu Lebzeiten ihrer Tante gefunden hatte. In den letzten Tagen hatten Björk und Hildur viel Zeit bei Tinna verbracht. Die Bande zwischen ihnen waren stark.
»Ist Björk denn bei der Arbeitssuche vorangekommen?«
Hildur schüttelte den Kopf. »Sie hat immer noch keine feste Stelle, scheint aber mit den Kurzzeitjobs ganz zufrieden zu sein. Da bleibt ihr mehr Zeit für ihre Hobbys. Für Abend- und Nachtschichten gibt es so gute Zuschläge, dass ihr Lohn für die Miete reicht.«
Tinna bat Hildur, ihr Björks Wohnung in der Altstadt von Reykjavík zu beschreiben. Sie wollte immer wieder dasselbe hören. Auch Hildur hatte das Gefühl, ihrer kleinen Schwester näherzukommen, indem sie Einzelheiten aus deren Alltag erzählte.
Solche Plaudereien verschafften ihr ein wenig Erleichterung. Das bedrückende Gefühl, das sie seit ihrer Jugend gelegentlich überkam, schwächte sich ab, wenn sie mit Tinna über alltägliche Familienangelegenheiten sprach. An die Stelle der Beklemmung trat Leichtigkeit, sogar Freude.
Hildur war allerdings keineswegs eine Botschafterin positiven Denkens geworden. Die schlimmen Ahnungen würden wohl nie ganz verschwinden. Sie hatte immer noch das Gefühl, in kleine Stücke zu zerfallen, wenn sie gleichzeitig an zu vielen Orten präsent war.
»Was wohl mit Rósa passiert ist?«, seufzte Tinna. »Ob sie überhaupt noch lebt?«
Hildur legte ihren Löffel auf den leeren Teller. Diese Frage stellte ihre Tante ständig, seit Björk in ihr Leben zurückgekehrt war. Sie fragte immer wieder, obwohl sie genau wusste, dass es keine Antwort darauf gab.
»Wir wissen es einfach nicht.«
Tinna nickte kummervoll, nahm die leeren Breiteller und stellte sie zum Einweichen in das Spülbecken. Hildur wusste, dass Tinna die Spülmaschine erst spät am Abend einschalten würde, damit sie deren sanftes Surren hörte, wenn sie sich schlafen legte.
»Ich freue mich schon so auf unsere Reise auf die Färöer«, sagte Tinna und nahm das geblümte Geschirrtuch vom Haken, um sich daran die Hände abzutrocknen.
Hildur dachte ebenfalls mit Vorfreude an die Reise. »Hoffentlich ist dort zu Ostern schon Frühling und alles grünt.« Sie hatte vor, ihrer Tante zu Weihnachten einen neuen Koffer zu schenken.
Ihr Handy rührte sich im Flur. Tinna hatte auf ihrem als Klingelton eine Filmmusik gewählt, während Hildurs immer noch mit der Werkseinstellung lief. Sie ging hinaus, nahm das Handy aus der Tasche ihrer Öljacke und warf einen Blick aufs Display.
Eine Nachricht von Jónas. Hildur hatte eigentlich einen halben Tag frei, weil es auf See so spät geworden war und sie die Leiche erst früh am Morgen nach Reykjavík hatten schicken können. Und den Tag davor hatte sie fast rund um die Uhr mit der Suche nach einem Kind verbracht, das aus dem Jugendheim ausgerissen war. Jakob hatte versprochen, sich um die laufenden Angelegenheiten zu kümmern, die wegen der Leiche im Meer anfielen.
Hildur öffnete die Nachricht.
Neues über den Köder am Seil. Ich wüsste nicht, dass man so was auf diesem Lavahaufen schon mal gesehen hätte.
Am Vormittag waren die Wolken noch silbrig weiß gewesen, doch dann war ihre Farbe nach und nach in Dunkelgrau übergegangen. Jetzt hatten die Wolken nicht einmal mehr einen Silberrand. Die dunkle Masse hing tief am Himmel und verkündete, dass sich der feuchte Dunst, der den ganzen Morgen angedauert hatte, bald in einen kräftigen Regen verwandeln würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Heute war es für die Kleinen an der Zeit gewesen zu gehen. Der Besitzer brauchte sie nicht, und ihre Existenz nutzte keinem mehr. Die Verladung war friedlich verlaufen, nachdem die Größeren zur Seite getrieben worden waren. Die Peitsche in der Hand, sah sie, wie die roten Rücklichter des Schlachttransporters immer schwächer leuchteten und schließlich im Nebel verschwanden. Die Erde unter ihr fühlte sich weich an. Der Laster hatte vor der schlammigen Weide tiefe Reifenspuren hinterlassen. Bald würden sie sich mit Regenwasser füllen.
Sie öffnete den oberen elektrischen Draht am Gatter, stieg über den unteren, schloss das Gatter wieder und machte sich schnell auf den Weg zu den größeren Weiden.
Die feuchte Erde gab nach, und die Stiefel sanken bei jedem Schritt ein. Sie bemühte sich, resolut auszuschreiten, so schwer es ihr auch fiel. Was sie tun musste, war kein Genuss, aber ihre Meinung zählte da nicht.
Der Wind wehte von Nordost. Das war in diesem Tal die brutalste Windrichtung. Die beiden graubraunen Bergketten bildeten eine Schneise, und wenn im Hochland Wind aufkam und von Nordosten her blies, schoss er mit Gewalt durch den schmalen Spalt zwischen den Bergen und warf alles um, was ihm im Weg lag. Die Pferde hatten dem Wind das Hinterteil zugekehrt. Sie standen mit gesenktem Kopf nebeneinander. Der Wind fuhr in die Schwänze und wehte sie hin und her.
Sie näherte sich der Herde von vorn. Einige Pferde wandten ihr den Kopf zu. Ihr Blick wanderte über den Boden, hier waren ihre Fohlen gerade zu dem Laster gelaufen. Die Tiere hielten den Kopf weiterhin gesenkt, damit der Wind ihnen nicht in die Ohren fuhr. Die große Herde wirkte apathisch und resigniert. Manche suchten mit dem Maul die Erde nach Heu ab, doch dort gab es keines. Die Pferde sollten erst am Abend gefüttert werden. Zuerst die Arbeit, dann das Futter.
In der Mitte der Weide war ein provisorischer Pferch aus Brettern und Metallrohren aufgebaut. Der heftige Wind ließ das Bauwerk schwanken. Das Knarren der Türangeln drang ihr bis in die Eingeweide. Sie war nicht besonders geräuschempfindlich, aber dieses spezielle Knarren bildete eine Ausnahme. Öffnen, Knarren, Schließen. Sie verrichtete die Arbeit schon lange und hatte das Geräusch unzählige Male gehört, aber es bereitete ihr immer noch Unbehagen.
Damit die richtigen Tiere in der Herde leichter zu finden waren, hatte sie mit dickem, rotem Filzstift einen ungefähr zwanzig Zentimeter langen Strich über die Flanken der Auserwählten gezogen. Bei braunen und schwarzen Pferden hatte sie eine hellere Farbe verwendet, damit der Strich deutlich zu sehen war. Die Markierungen galten ungefähr fünfzig Tage, danach würde sie die Tiere an dieser Stelle scheren und an den inzwischen herangereiften Pferden neue Markierungen anbringen.
Sie packte das ihr am nächsten stehende Pferd am Halfter. Die frei weidenden Tiere trugen sonst kein Zaumzeug, aber den Auserwählten hatte sie Halfter angelegt, damit sie schneller einzufangen waren. Sie war groß und stark, hätte aber nichts ausrichten können, wenn das mehrere Hundert Kilo schwere Tier sich ernsthaft zur Wehr gesetzt hätte. Das Pferd, das sie ausgesucht hatte, streckte den Hals und bohrte einen Huf in die Erde. Anfangs bockte es halbherzig, gab aber bald nach. Sie konnte gut mit Pferden umgehen. Falls nötig, hielt sie zudem ihre Elektropeitsche parat. Meistens reichte es, die ein einziges Mal einzusetzen. Pferde lernten schnell.