Hin und weg - Madeleine Becker - E-Book
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Madeleine Becker

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Beschreibung

Neue Geschichten aus Kärnten Seit Madeleine Becker auf den Bauernhof gezogen ist, ist einiges passiert. Sie verliebte sich in Kühe, Katzen und nicht zuletzt in einen Mann, half Tieren auf die Welt und musste sich von einigen wieder verabschieden. Sie erzählt von ihrer Welt zwischen Almwiesen, Melkmaschine und Gemüsegarten, von wolligen Schweinen und blinden Kühen – aber auch von großen Herausforderungen, die sie schließlich vor eine Entscheidung stellen ... Ein wunderbar anekdotenreiches Buch, das innehalten lässt und für Themen sensibilisiert, die man in der Stadt und im Supermarkt allzu leicht ausblenden kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung und -motiv: Jan Lukat

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Hin

Prolog

(Über)Leben

Anfang und Ende

Flocktown

Über einen Winter, der noch einen draufsetzt

Birke

Wer ist die (fast) blinde Kuh?

Und dann regnet es plötzlich Kälber

Aller guten Dinge sind drei

Selma

Die Stunde null

Ein Rucksack voller Steine

Über das, was kaum jemand weiß

Findus

Von einem, der kam, als eine andere gehen wollte

Oma Primel

Die Grande Dame unter den Kühen

6,91 €

Wenn die Frage nach dem Warum ohrenbetäubend ist

Herr Salmiak

Der Wendepunkt

Die Schwafe

Frieda und Edna

Beet, Baby!

We come from the earth,we return to the earth,and in between we garden.Alfred Austin

Chickago Gardens

Wichtige Erkenntnisse und (vielleicht) hilfreiche Tipps

Die Schwerkel

1+1=12

Das Who’s Who der Schwerkel

Gestatten: die Rüsselbande

Irgendwie unser erster Sommer

Von helfenden Händen, widerspenstigen Kühen und unliebsamen Gästen

Der alte, weise Kater

Eine etwas andere Liebesgeschichte

How to handle Mölltal

Über senkrechten Haussegen, Dorftratsch und das Frau-Sein auf dem Land

Chickago Care

Pension statt Pfanne

Wachse oder weiche

Von einem überfälligen Ende und einem dringend benötigten Neuanfang

Das Haus im Wald

Ein Bauernhof zieht um

Die Wald-WG

Erstmal für immer

Oh, home, let me come homeHome is wherever I’m with youEdward Sharpe & The Magnetic Zeros

Weg

Nachwort

Bildteil

Bildnachweis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Wenn du nicht guten Gewissens Ja sagen kannst,musst du Nein sagen

Hin

Zum Soundtrack geht’s hier lang:

https://open.spotify.com/playlist/0F9I8NtCkdczPRhdcod5So?si=b5695b4f4a2d4b7e

Lose Your Head – London Grammar

Electric Feel – Henry Green

Bamboo – Elder Island

Home – Edith Whiskers

Steal – Maribou State, Holly Walker

Landed On Mars – Atlas Bound

Tiger Striped Sky – Roo Panes

The Breach – Dustin Tebbutt

In Case I Fall For You – Black Sea Dahu

A Storm Is Going To Come – Piers Faccini

The Ocean – The Bravery

Revival – Soulsavers

Begin Again – Nick Mulvey

Black Fur – Elder Island

Grund Genug – Madeline Juno

Skin (Acoustic Version) – BOY

Brave For You (Marfa Demo) – The xx

Out Of My System (Acoustic) – Youngr

Nowhere Warm – Kate Havnevik

Kape Fear – Elder Island

Ride – Cary Brothers

I Walk This Earth All By Myself – EKKSTACY

Cosmic Love – Florence & The Machines

Prolog

1. August 2023

Es ist nun schon fast fünf Jahre her, dass ich mein Zelt und sämtliche Campingutensilien, die ich in meiner Wohnung in Jena fand, in den Kofferraum meines alten Autos warf und für einen Roadtrip in Richtung Österreich fuhr. Weit kam ich nicht, denn wie es der Zufall so wollte, blieb ich direkt bei meinem ersten Halt hängen – und zwar die gesamten zwölf Tage. Es war ein Campingplatz in einem kleinen Dorf inmitten der Hohen Tauern in Kärnten, und ich verliebte mich schnell in die Gegend, die Stallarbeit, sämtliche Tiere des Bauernhofs, auf dessen Grund sich der Campingplatz befindet, und nicht zuletzt eben auch in Lukas, den jüngsten Sohn der Eigentümer. Die Dinge nahmen ihren Lauf, und ehe ich mich versah, arbeitete ich im nächsten Sommer als Praktikantin auf besagtem Bauernhof und kehrte im Herbst nicht wieder nach Deutschland zurück.

Ich tauschte den Hörsaal gegen den Kuhstall ein, zog mit Lukas zu seinen Eltern und seinem Bruder in das große Bauernhaus mit den roten Geranien vor den Fenstern, brachte Kälber zur Welt, baute Gemüse an und verbrachte 99 % meiner Zeit in knallgelben Gummistiefeln, schwer damit beschäftigt, eine Herausforderung nach der nächsten zu meistern. Plötzlich war ich diejenige, die die Sommerpraktikantinnen einarbeitete und in diesem Sinne nicht nur viel Verantwortung für jede Menge Tiere, sondern zeitweise auch für so manche Menschen auf dem Hof übernahm. Unterdessen lehrte mich die Zeit und auch der Blick hinter die Kulissen eines kleinbäuerlichen Betriebs so einiges – und das waren wahrlich nicht immer nur angenehme Lektionen. Ich betrauerte ausgediente Milchkühe, deren letzter Weg in einen silbergrauen Hänger führte, der die nächste Fleischerei ansteuerte, und überlegte mir angestrengt, welche Alternativen es perspektivisch für einen Hof wie diesen hier und letztlich auch für die dazugehörigen »Nutztiere« geben könnte. Aber nicht nur die Kühe sollten den Rest ihres Lebens in gewohnter Umgebung verbringen dürfen; auch Lukas und ich wollten von dem anstrengenden, aber eben auch sehr erfüllenden Leben hier auf dem Hof nicht mehr lassen.

Denn eines änderte sich niemals, ganz gleich, wie groß die Hürden und wie unbequem die Herausforderungen auch waren: die Liebe zu dem, was wir tun – zur Natur, den Tieren und letztlich auch zum jeweils anderen. Wir wollten dieses Leben an diesem Ort wie kein anderes – und zwar nicht nur gestern, heute und morgen, sondern wirklich und wahrhaftig

Erstmal für immer.

(Über)Leben

Anfang und Ende

August 2023

Es gab tatsächlich schon so einige Entwürfe für den Beginn dieses Buchs, doch alle verloren mit der Zeit derart an Aktualität, dass ich letztlich keine andere Möglichkeit sah, als sie allesamt wieder zu verwerfen und diese ersten Zeilen nun ganz zum Schluss zu verfassen.

Einen Anfang zu formulieren, wenn das Ende offen und gänzlich ungewiss zu sein scheint, ist ein Leichtes. Man kann sich voller Optimismus all den Möglichkeiten widmen, die vor einem liegen, manches Mal vielleicht sogar ein wenig Fantasie beimischen und dabei einfach nur gespannt abwarten, wohin das Leben einen am Ende tatsächlich führt. Doch den Anfang zu schreiben, wenn man den Ausgang der Geschichte bereits kennt oder vielleicht sogar just in diesem Moment erlebt, sich sozusagen mitten im »Ende« befindet, gestaltet sich schon ein wenig schwieriger. Denn einerseits muss man darauf bedacht sein, nicht zu viel von einer möglicherweise überraschenden Wendung vorwegzunehmen, andererseits läuft man natürlich Gefahr, den Fluchtpunkt zum Ausgangspunkt zu machen und bei allen Erzählungen dem Ende der Geschichte mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Geschichte selbst. Und das wäre wahrlich eine Schande.

Denn diese Geschichte, meine oder eher noch unsere Geschichte, ist in vielerlei Hinsicht völlig anders als die vorangegangene: die rosarote Brille und die Naivität der ersten Jahre wichen langsam, aber sicher der Realität, die uns an manchen Tagen wie ein eisiger Wind ins Gesicht schlug. Dementsprechend hat sich vermutlich auch die Stimmung und der Blick auf viele Dinge verändert – doch nicht zwangsläufig zum Schlechten hin.

Andere Sachen indes haben sich weit weniger verändert: weitere Sommer, neue Praktikantinnen, etliche Kälber, Seele-baumeln-Lassen auf der Alm, ganz besondere Gäste und jede Menge Abenteuer. Ja, in den vergangenen beiden Jahren war schon so einiges los, doch dabei lässt es sich dieses Mal nicht bewenden. Es gab Verluste, bei denen ich mir bis heute die Frage stelle, wie man sie jemals überwinden soll, dazu immer wiederkehrende Konflikte, die manches Mal in einer (Beinahe-)Katastrophe mündeten, und zu allem Überfluss auch noch Probleme mit der eigenen Gesundheit. Müsste ich eine Bilanz über die vergangenen Jahre ziehen, wäre ich mir nicht so sicher, ob ich dabei in Summe wohl nicht sogar rote Zahlen notieren müsste.

Ich habe lange gezögert und lange mit mir selbst gehadert, dieses Buch hier zu schreiben. Denn wie schön wäre es, wenn die Fortsetzung bloß das Happy End schreibt? Wenn Lukas den Hof seiner Eltern übernimmt, alle Tiere mit uns alt und grau werden und wir für immer unser Glück in diesem kleinen Ort in den Bergen finden würden? Ja. Das wäre vermutlich das, was alle gerne lesen würden. Der perfekte rote Faden für ein zweites Buch. Die Veränderung, der finale Wandel, den alle so dringlich herbeisehnen. Wenn da nicht das Wörtchen »Wenn« wäre.

Blicke ich auf die letzten beiden Jahre zurück, so sehe ich vor allem die Herausforderungen, die immer größer wurden, und die Kämpfe, bei denen ich mich irgendwann zwangsläufig gefragt habe, wofür wir eigentlich kämpfen. Ich blicke auf eine Zeit, die meinem subjektiven Empfinden nach mehr Tiefen als Höhen mit sich gebracht hat, mehr Realität als Romantik. Doch gleichzeitig ist es eine Geschichte, die erzählt werden muss, denn wir sind noch nicht am Ende unserer Reise angekommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Lukas am Ende des ersten Jahres, das war im Dezember 2020, zu mir gesagt hat, dass es nun, da wir bereits so viel geschafft und so viel erlebt haben, eigentlich nur noch entspannter werden könne. Dass wir nun allen Stürmen trotzen könnten und uns nichts so leicht aus der Bahn werfen würde. Wenn er nur gewusst hätte, wie sehr er damit doch irren sollte, denn auch für Lukas und mich, für unsere Beziehung, waren die letzten beiden Jahre eine immense Härteprobe.

Auch auf die Gefahr hin, das Ende nun doch ein Stück weit vorwegzunehmen: Auf gewisse Art und Weise birgt diese Fortsetzung tatsächlich ein Happy End. Garantiert nicht so, wie alle (allen voran wir selbst) es erwartet hätten, aber das spielt heute im Grunde nur mehr eine untergeordnete Rolle. Denn unterm Strich ist das hier nicht nur das Ende einer Geschichte, sondern gleichzeitig auch der Anfang einer ganz anderen. Und ich habe so den leisen Verdacht, dass das alles ziemlich großartig werden könnte.

Aber fangen wir von vorne an.

Flocktown

Über einen Winter, der noch einen draufsetzt

Jahreswechsel 2020/2021

Nach dem Schlagsahne-Winter 2019/20 war ich offen gestanden davon überzeugt, dass ich nun gegen alles, was in Zukunft an harten Wintern so auf mich zukommen mag, gewappnet sein würde. Doch der darauffolgende Winter sollte mich in dieser Hinsicht eines Besseren belehren.

Am 2. Dezember 2020 fiel der erste Schnee. Doch wie schon im Vorjahr waren es nicht bloß ein paar Zentimeter, sondern direkt eine ordentliche Ladung, die da vom Himmel herunterrieselte. Es war so viel und es kam so unverhofft, dass ich, die gerade für einige Erledigungen nach Lienz gefahren war, sofort alle offenen Punkte auf der Einkaufsliste für nicht weiter notwendig befand und mich auf den Weg zurück zum Hof machte. Ich tat gut daran, denn das Schneetreiben auf dem Iselsbergpass, den man auf dem Weg von Lienz nach Mörtschach überqueren muss, wurde quasi im Minutentakt dichter und letztlich auch gefährlicher. Ich fuhr nur noch im Schneckentempo und passierte etliche Lastwagen, Transporter und auch ganz normale Pkws, die in den plötzlichen Schneemassen keine Straßenhaftung mehr hatten und sich entweder mitten auf der Straße quer stellten oder irgendwo am Seitenstreifen zum Stehen kamen. Meine Rettung waren die Spikes des Jeeps, denn andernfalls hätte ich mich in die traurige Ansammlung der liegen gebliebenen Fahrzeuge einreihen können. Kaum dass ich auf dem Hof angekommen war, teilten die Behörden über das Radio mit, dass der Pass nun für den Verkehr endgültig gesperrt sei.

Was auf dem Bergpass schon für massive Probleme sorgte, war bei uns auf dem Hof in den ersten Tagen noch recht hübsch anzusehen. Es war kein nasser oder gar eisiger Schnee, der uns hier ein Winter Wonderland bescherte, sondern feinster Pulverschnee. In den ersten Tagen hatten wir alle noch unsere Freude damit, und ich kann mich sogar erinnern, wie Lukas, meine Schwägerin Anna-Lena und ich in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember aus einer Laune heraus in unsere Schneeanzüge schlüpften und hinaus in den knapp dreißig Zentimeter hohen Schnee sprangen. Wir veranstalteten kurz vor Mitternacht eine epische Schneeballschlacht und lachten uns kringelig, als wir Lukas dabei beobachteten, wie er mit dem Fahrrad (!) über den Campingplatz fuhr und irgendwann an einer besonders tiefen Stelle einfach stecken blieb. Triefnass und mit roten Wangen kehrten wir irgendwann völlig glückselig ins Haus zurück. Keiner hatte mit dem gerechnet, was wir acht Stunden später beim Blick aus dem Fenster sehen würden, denn am Morgen des 5. Dezember stand ich hüfthoch im Schnee. Es hatte die ganze Nacht durchgeschneit, und dank der Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt stapelte sich Flocke auf Flocke fein säuberlich auf der Erde. Selbst zu diesem Zeitpunkt war ich noch recht amüsiert und ließ mich rücklings in den tiefen Schnee fallen, während der Kater, der mich skeptisch von einem trockenen Plätzchen unter dem Dachvorsprung aus beobachtete, meinen Enthusiasmus über die Flocken definitiv nicht zu teilen schien. Nachdem wir am Vormittag sämtlichen Wetterprognosen aufmerksam gelauscht hatten, wurde uns doch recht schnell klar, dass wir nun damit beginnen sollten, die Schneemassen in den Griff zu bekommen. Laut Wetterbericht würde es so schnell nicht mehr aufhören zu schneien, weswegen Lukas und sein Vater nun anfingen, den Schnee von den Wegen und der Hofeinfahrt zu räumen. Lukas saß in unserem Hoflader, einem Fahrzeug, das sehr viel wendiger ist als ein herkömmlicher Traktor und dementsprechend mit engen Gegebenheiten sehr viel besser klarkommt, und bediente die Schneefräse, während sein Vater mit dem großen Traktor und dem Schneeschild unterwegs war. Im Grunde schoben sie den Schnee wortwörtlich nur von A nach B, denn – wie bereits erwähnt – im Gegensatz zum Vorjahr, als wir klatschnassen und extrem schweren Schnee zu bewältigen hatten, war dies hier nun lockerer Pulverschnee, der auch so schnell nicht in sich zusammenfiel. Sagen wir so: Es war recht viel Volumen, das da aus dem Weg geräumt werden musste.

Besagtes Volumen wurde bis zum Abend hin auch nicht merklich weniger, und das, obwohl Lukas und sein Vater fast ununterbrochen mit Räumungsarbeiten beschäftigt gewesen waren. Gegen 18 Uhr fiel schließlich zum ersten Mal der Strom aus. Ich staffierte das gesamte Obergeschoss mit Kerzen aus, um wenigstens ein bisschen was zu sehen und mir nicht zum dreihundertachtundfünfzigsten Mal den großen Zeh an einer der schweren alten Holztruhen im Flur zu stoßen. Als der Strom etwa drei Stunden später zumindest für kurze Zeit wieder ansprang, hängten wir sämtliche elektronischen Geräte an die Ladekabel und hofften bloß, dass es bei diesem einen Stromausfall bleiben würde. Surprise: Es blieb natürlich nicht dabei. In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember machte ich schließlich wortwörtlich kein Auge zu, denn da es immer weiter schneite und langsam bedenklich viel Schnee auf den Dächern lag, gingen nun nach und nach die ersten Dachlawinen ab. Sehr zu meinem Leidwesen stürzten diese Schneemassen direkt vor unserem Schlafzimmerfenster herab, und das klang zumeist, als würde der Schnee das gesamte Dach mit sich reißen. Es rumpelte und krachte, und ich weiß noch, wie ich mich irgendwann gefragt habe, wie nach all diesen Dachlawinen überhaupt noch Schnee dort oben liegen kann. Nachdem es morgens gegen 5:30 Uhr einen besonders lauten Schlag tat, gab ich die Sache mit dem Schlaf endgültig auf. Als es langsam hell wurde und ich auf den Balkon hinaustrat, um mir einen Überblick zu verschaffen, erkannte ich, was in der vorangegangenen Nacht für so viel Lärm gesorgt hat: Zwischen den Schneemassen, die vom Dach gerutscht waren, fanden sich einige in ihre Einzelteile zerbrochene Dachziegel wieder, und als ich den Blick vom Boden in Richtung Dach wandte, sah ich, dass sich die Verkleidung des Dachüberstandes auf einer Länge von gut anderthalb Metern gelöst hatte. Sie hing scheinbar nur noch an einem seidenen Faden am Haus. Ich wusste nicht, was mich mehr verwundert hat: die lose herumtaumelnde Dachverkleidung oder die Tatsache, dass Lukas bei all dem Lärm trotzdem wie ein Baby schlafen konnte.

Am Nikolaustag waren wir alle, das heißt Lukas, sein Vater sowie sein Bruder, Anna-Lena und ich, eifrig damit beschäftigt, das Schneechaos etwas einzuhegen. Unglücklicherweise gingen die Dinge nicht so geschmiert, wie wir es uns erhofft hatten: Lukas’ Vater blieb mit dem großen Traktor an einer unwegsamen Stelle im Schnee stecken und war zu allem Überfluss noch im Begriff, langsam mit dem gesamten Gefährt hinunter in Richtung Hoppelhütte zu rutschen. Wir mussten sofort handeln, und es blieb uns nichts anderes übrig, als den Nachbarn, der gerade selbst mit Traktor und Schneeschieber unterwegs gewesen war, herbeizuwinken und darum zu bitten, unser Gefährt aus der Bredouille zu ziehen. Anna-Lena und mir erging es kaum besser, denn unsere Aufgabe bestand darin, den Unterstand der Kälber, der schon ohne Schnee nicht gerade die vertrauenerweckendste Konstruktion darstellt, von der gut anderthalb Meter hohen Schneeschicht zu befreien. So weit, so gut – wenn nicht allein der Weg dorthin uns schon fast eine halbe Stunde gekostet hätte. Vom Hauptweg (der in den letzten Stunden regelmäßig von Lukas geräumt wurde) sind es nur etwa zehn oder vielleicht fünfzehn Meter in Richtung Hoppelhütte; ein Weg, für den man für gewöhnlich keine dreißig Sekunden braucht. Das Areal hinter dem Stall ist in Terrassen aufgebaut, sodass man von der Etage mit der Hoppelhütte bequem auf das Dach des Kälberunterstands (der sich in der untersten Terrasse befindet) steigen könnte. Doch die Betonung liegt hier eindeutig auf könnte, denn normalerweise muss man sich nicht erst durch die immense Schneemasse kämpfen, die Anna-Lena und mir mittlerweile bis über den Bauchnabel reichte. Wir hatten keine Möglichkeit, über die geschlossene Schneedecke zu laufen, da der luftig leichte Pulverschnee sofort unter unserem Gewicht nachgab und wir im wahrsten Sinne des Wortes versanken und feststeckten. Also robbten wir bäuchlings über den Schnee und sahen dabei vermutlich wie unbeholfene Seelöwen aus, die völlig die Orientierung verloren hatten. Zu allem Überfluss musste jede von uns noch einen großen Schneeschieber hinter sich herziehen, und es ist wohl kaum nötig zu erklären, dass das die Sache nicht wirklich erleichterte. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich auf dem Dach angekommen waren, brauchten wir noch einmal mindestens genauso lange, um es von den Schneemassen zu befreien, denn mit einer Fläche von etwa vier mal zwanzig Metern war das schon ein etwas größeres Unterfangen. Nachdem wir alles geräumt hatten, war von der Dachkante bis zum Schnee darunter kaum mehr ein halber Meter Höhenunterschied. Wie gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon wusste, dass mir diese Räumungsarbeiten in den nächsten Wochen noch weitere drei Mal blühen würden!

»Nehmen wir den gleichen Weg zurück, oder sollen wir springen?«, fragte ich Anna-Lena mit einem Blick auf die Schneemassen unter dem Dach spaßeshalber. Doch sie antwortete voller Überzeugung: »Wir springen!« Und so sprangen wir. Unglücklicherweise hatten wir dabei nicht bedacht, dass der Schnee weich wie Butter war und uns fast gänzlich verschluckte. Es brauchte mehrere Anläufe und einen stecken gebliebenen Gummistiefel, bis wir uns aus unserer Landeposition befreien und zurück in Richtung Stall robben konnten. Selbstverständlich wieder bäuchlings und mit dem Schneeschieber im Schlepptau. Vielleicht sogar mit den passenden Seelöwen-Geräuschen.

Im Grunde ist diese Aktion bezeichnend für die Art und Weise, wie ich diesem zweiten Winter in Mörtschach begegnet bin: mit viel Humor und noch mehr Unfug. Es war meine Art, mit dieser doch mittlerweile recht anstrengenden und irgendwie auch nervigen Großwetterlage umzugehen, denn – sind wir mal ehrlich – ohne Humor als Bewältigungsstrategie wäre ich da ganz schnell ziemlich verloren gewesen.

Die Bundesstraße sah mittlerweile nur noch wie ein schlecht geräumter Wanderweg aus, vom Asphalt war nichts mehr zu sehen. Entweder haben die Räumfahrzeuge es nicht besser hinbekommen, oder sie haben (was ich, offen gestanden, durchaus hätte nachvollziehen können) irgendwann resigniert und den Dienst quittiert. In meinem Gemüsegarten türmte sich mittlerweile so viel Schnee auf, dass ich bequem an die Baumkrone des Apfelbaums am unteren Ende des Gartens reichen konnte. Die Johannisbeerbüsche indes waren gänzlich von der Bildfläche verschwunden und hinterließen nur noch eine hügelige Silhouette, die aus der Ferne irgendwie an ein Zwergendorf erinnerte. Oder an hartgesottene Camper, die mitsamt ihren Zelten unter dem Schnee begraben wurden. Die Kühe waren inzwischen notorisch schlecht gelaunt, da sie sich nicht ganz im Klaren darüber waren, was sie eigentlich wollten: Ließen wir sie im Stall, war das Geschrei groß, doch schickten wir sie hinaus in den Auslauf, standen sie nach kurzer Zeit, aufgereiht wie eine dunkelbraune und leicht angezuckerte Perlenkette, vor dem Zaun und starrten uns so lange entnervt an, bis wir sie wieder in den Stall hineinlotsten. Von der Unzufriedenheit der Kälber möchte ich gar nicht anfangen, denn die sahen sich dank der vielen Lawinen vom Stalldach mittlerweile mit einer zweieinhalb Meter hohen Schneewand konfrontiert. In mühevoller Schwerstarbeit schaufelten Lukas und ich uns und den Kälbern zumindest einen einspurigen, schmalen Durchgang in den Unterstand, der jedoch durch die nahtlos ineinander übergehenden Schneewände mehr an ein Iglu erinnerte. Nachdem insbesondere die jüngsten Kälbchen bei dem kühnen Versuch, querfeldein durch den Schnee zu waten, jämmerlich stecken geblieben waren und nur durch den beherzten Einsatz von Lukas wieder hinausgeschoben werden konnten, freundeten sie sich schließlich auch mit den von uns vorgegebenen und freigeschaufelten Wegen an. Kopf durch die (Schnee-)Wand war dieser Tage kein probates Mittel, um sich vorwärtszubewegen.

Acht lange Tage schneite es fast ununterbrochen durch. Der 10. Dezember war der erste Tag, an dem keine einzige Flocke vom Himmel fiel, doch die Pause hielt letztlich nur gute zwei Wochen an, denn um den Jahreswechsel herum bescherte uns der Wettergott erneut fast sieben Tage lang Dauerschnee. Tatsächlich freute ich mich ein wenig über den erneuten Schneefall, da meine Familie mich nach langer Zeit über Silvester in Mörtschach besuchen kam. Sie staunten nicht schlecht über die noch immer meterhohen Schneewände und die aufgetürmten Hügel, die nun fast bis zu unserem Balkon im ersten Stock des Hauses reichten (was im Übrigen dazu führte, dass sich bisweilen die ein oder andere Katze auf unseren Balkon verirrte und vor meinem Küchenfenster um Futter zu betteln begann …). In ihrem ganzen Leben hatten meine Eltern (meine Schwester und ihr Freund sowieso) noch nie so viel Schnee gesehen. Der Enthusiasmus war riesig, daher verbrachten wir die Tage damit, die Hänge herunterzurodeln, eine Schneebar zu bauen und aus Spaß an der Freude (kleiner Scherz am Rande) noch einmal sämtliche Dächer von der Schneelast zu befreien. Insbesondere die Räumungsarbeiten auf dem Dach der Campingbar sind mir noch bestens in Erinnerung, denn mein Papa hatte sich höchstmotiviert dazu bereit erklärt, uns dabei zu unterstützen. Das tat er zunächst auch, und wir bekamen das Dach wirklich in kürzester Zeit fast gänzlich geräumt. Nur leider entzog sich der schmale Spalt, der am Ende des Dachs zwischen Bargebäude und Steinmauer dahinter lag, der Kenntnis meines fleißigen Vaters. Ein Schritt zu viel, ein dumpfes Plöpp, und mein Papa war in dem Spalt verschwunden. Mit nur einem Arm hielt er sich noch am Bardach fest, als ich ihm entgegensprang und am anderen Arm langsam aus seiner misslichen Lage herauszog. Ich weiß bis heute nicht, wie dieser Kraftakt physikalisch eigentlich möglich gewesen ist, aber nun gut. Papa war aus der Schlucht des Schreckens befreit, und meine Mama und ich konnten anschließend nicht anders, als in schallendes Gelächter auszubrechen.

Im Laufe der ersten Januarwoche beruhigte sich das Wetter langsam. Der Schnee blieb nun gänzlich aus, doch dafür hielt eine fast schon arktische Kälte Einzug. Bei Temperaturen von bis zu –20 Grad froren im Stall sämtliche Fenster zu. Dazu bildete sich auf allen Türen eine dünne Eisschicht, und auch so manches Schloss war von zarten Eisblüten übersät. Selbst die Möll, der Fluss, der durch unser Tal fließt, war zu einem Drittel zugefroren. Die Kombination aus den ungeheuren Schneemassen und eisigen Temperaturen führte schließlich dazu, dass uns die weißen Hügel mancherorts bis in den April hinein erhalten blieben. Die schattigen Stellen hinter dem Stallgebäude blieben sogar noch bis Anfang Mai von Schnee und Eis bedeckt. Dieser Winter war für meine Gartenplanung also alles andere als zuträglich, denn während zu dieser Jahreszeit normalerweise schon die ersten Salate und Kohlrabiknollen erntereif sind, waren wir gerade einmal damit beschäftigt, den Boden wieder aufzulockern.

Immerhin kann ich verkünden, dass die nächsten beiden Winter, 2021/22 sowie 2022/23 deutlich, also wirklich deutlich nachsichtiger mit uns waren. Zwar gab es auch in diesen Wintern etwas Schnee und auch mal Tiefsttemperaturen von knapp –20 Grad, doch das Schneechaos der vorangegangenen zwei Jahre blieb uns erspart. Wer weiß, vielleicht kommt der Schnee nur alle drei Jahre in rauen Mengen. Doch wenn dem so ist, kann ich mich für den nächsten Winter auf jeden Fall ganz besonders warm anziehen …

Birke

Wer ist die (fast) blinde Kuh?

Juli 2021

Es gibt kaum ein Tier bei uns auf dem Hof, für das ich nicht einen gewissen Grad der Verbundenheit empfinde, doch es gibt ein paar wenige, bei denen diese Verbundenheit weit über das übliche Maß hinausgeht. Man achtet noch ein wenig mehr auf diese ganz speziellen »Felle« und leidet wirklich sehr mit ihnen, wenn irgendetwas für sie nicht so läuft, wie es soll. Eines dieser besagten Felle hat die Farbe von Gerste, hört auf den Namen Birke und ist schon seit etwa fünf Jahren Teil unserer Milchkuhherde.

Birke unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von all ihren Kolleginnen, denn sie ist seit ihrer Geburt nahezu blind. Wir wissen nicht so recht, ob und was sie überhaupt noch erkennen kann oder wie eingeschränkt ihr verbliebenes Sichtfeld genau ist. Birke orientiert sich in ihrem Alltag an gewohnten Wegen, an den Kühen, die vor ihr gehen, oder an unseren Stimmen, weswegen sie heillos überfordert ist, wenn die Kühe plötzlich auf eine andere Weide sollen und daher nicht den gewohnten, sondern einen ganz anderen Weg gehen. Birke ist dann zumeist sehr zögerlich und traut sich nicht so recht, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn ihre Vorderkuh möglicherweise schon längst von dannen gezogen und Birke allein zurückgeblieben ist, ist das Drama vollkommen.

Auch die dünnen weißen Elektrozäune erkennt Birke nur sehr schwer, weswegen sie mindestens einmal im Jahr aus nächster Nähe Bekanntschaft mit dem Stromzaun machen muss. Ich bilde mir zwar ein, dass sie größere Objekte wie Menschen oder Kühe zumindest schemenhaft erkennen und zu weiten Teilen auch zuordnen kann, doch das führt bisweilen dazu, dass ich hinter einem Zaun stehe, den Birke noch nicht in ihrer inneren Karte abgespeichert hat, mir die Kuh aus Gewohnheit folgen möchte (es könnte ja in den Stall gehen) und sie blindlings in den Stromzaun hineinläuft. Ich zucke dabei stets genauso zusammen wie Birke selbst und überlege angestrengt, wie ich solche Kuh-Zaun-Begegnungen künftig vermeiden könnte. Eine Zeit lang habe ich extra die knallgelben Weidezaunpfähle für den Auslauf der Kühe ausgewählt und einmal auch kleine, bunte Fähnchen an den Stromzaun gehängt, doch abgesehen davon, dass der Zaun anschließend wie eine Partygirlande aussah, brachte das Ganze nicht die gewünschte Wirkung mit sich. Immerhin passieren Birke solche Missgeschicke nur einmal, denn sie mag vielleicht nahezu blind sein, aber sie ist ganz sicher nicht blöd. Diese ganz besondere Kuh merkt sich ausgesprochen schnell, wohin sie sicher gehen kann und von welchen Abschnitten sie sich besser fernhalten sollte. Ihr Zaun-Gedächtnis reicht zumindest bis zum Ende der jeweiligen Weidesaison, im Folgejahr muss sie diese Erfahrungen erneut sammeln.

Die Toleranzgrenze der Natur oder insbesondere der Tiere für schwächere Herdenmitglieder ist nicht besonders hoch, weswegen Birke, seit ich sie kenne, die rangniedrigste Kuh der Milchkuhherde ist. Es ist völlig einerlei, wie viele junge Kühe nach ihr noch dazugestoßen sind oder wie klein oder zart sie im Vergleich zu der doch recht groß gebauten Birke sind: Jedes Mal gehen sie in den Rangkämpfen als Siegerinnen hervor, und unsere Birke hat das Nachsehen. Es ist leider sehr offensichtlich, dass die anderen Kühe Birke aufgrund ihrer eingeschränkten Sicht als das perfekte Opfer auserkoren haben. So lieb ich sie auch alle habe, wenn es um Birke geht, benehmen sich die übrigen Damen wirklich nicht sonderlich damenhaft:

Wenn die Kühe gemeinsam an der Futterraufe stehen (die wohlgemerkt Platz für ausnahmslos alle Kühe bietet), die Köpfe in einem Berg frischer Silage vergraben und die vergorenen Grasbüschel dabei genüsslich von einer Backe in die andere schieben, ist alles in Ordnung. Allerdings nur so lange, bis Birke es wagt, auch einen Happen zu sich nehmen zu wollen. Die anderen Kühe scheinen es schon beinahe als Majestätsbeleidigung zu sehen, wenn sich das Fußvolk zum Fressen neben sie stellt, und schubsen Birke sofort energisch mit den Köpfen vom Futter weg. Falls sie aufgrund dieser ersten Drohgebärde nicht sofort von allein Reißaus nimmt, folgt oftmals ein besonders grober Kopfstoß in ihre Flanke. Wenn sie Glück hat, ergattert Birke dabei gerade so noch ein Maul voll Futter und flüchtet sich dann direkt wieder in einige Meter Entfernung, wo sie dann zufrieden auf ihrem kleinen Büschel Diebesgut herumkaut. Diese (fast) blinde Kuh darf nicht nur nicht mit den anderen Kühen fressen, sondern sie darf im Grunde überhaupt nichts mit oder bei den anderen Kühen machen. Der Salzleckstein, die Viehbürste, das Tränkebecken, der Mineralstoffeimer und manches Mal auch nur irgendein x-beliebiges Plätzchen in der Sonne: Das alles ist tabu für Birke, solange eine andere Kuh auch nur in der Nähe steht und eventuell Anspruch auf dieses oder jenes erheben könnte. Und ich? Ich kann an dieser Rangordnung, so furchtbar ich sie auch finde, rein gar nichts ändern. Ich kann lediglich versuchen, Birke im Alltag nicht noch mehr Steine in den Weg zu legen.

Wenn ich die Kühe nach dem Melken aus dem Stall lasse, schicke ich daher Birke immer vor Gretel hinaus, denn Gretel ist eine derjenigen Kühe, die der Meinung sind, ein alleiniges Hoheitsrecht auf den gesamten Auslauf zu besitzen. Das äußert sich darin, dass Gretel wie ein Wachhund direkt am Weidegatter stehen bleibt und keine Anstalten macht, einer rangniedrigen Kuh wie Birke Zugang zu gewähren. Dieses Spektakel habe ich mir bloß zweimal angesehen, und danach galt für alle ganz klar die Ansage: Birke geht vor Gretel. Mittlerweile habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass sich an ihrer prekären Stellung in der Herde jemals etwas ändern wird.

Doch Not macht bekanntermaßen erfinderisch: Da die anderen Kühe es Birke wie gesagt nicht gestatten, zeitgleich mit ihr an der Futterraufe zu fressen, bin ich irgendwann zu Plan B übergegangen und habe mir das unsägliche Verhalten der übrigen Damen zunutze gemacht. Während die Herde diese einzelne, etwas verloren und abseits von allen anderen stehende Kuh geflissentlich ignoriert, lotse ich sie mit leisen Rufen zu unserer geheimen Futterstelle. Der Auslauf der Kühe geht einmal um das halbe Stallgebäude herum, und hinter dem Stall gibt es ein zweites, im Sommer jedoch in der Regel unbenutztes Fressgitter, durch das die Kühe ihren Kopf stecken und ganz normal fressen können. Und genau dort begannen Birke und ich uns irgendwann allabendlich zu treffen. Ich hielt eine große Schubkarre voll mit feinem Heu oder frischem Rasenschnitt und manchmal sogar eine kleine Schaufel Kraftfutter für sie bereit, und sobald sie um die Ecke bog und den Kopf durch das Fressgitter steckte, kippte ich alles direkt vor ihrer Nase aus. Dieses Treffen wurde recht schnell zu einem festen Bestandteil unserer abendlichen Stallroutine, und falls doch mal eine der anderen Kühe Wind von der Sonderfutterstelle hinter dem Stall bekam, stellte ich mich wie ein Bodyguard zwischen sie und die genüsslich fressende Birke. Da ich als Zweibeiner über der herdeninternen Rangordnung stehe, kommt selbst eine Gretel nicht an mir vorbei, wenn ich sie nicht lasse. Ich weiß das, Gretel weiß das, und Birke genießt indes weiterhin ihr Dinner for One. Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, wen von uns beiden diese Rendezvous eigentlich glücklicher gemacht haben.

Es ist vermutlich nur wenig überraschend, wenn ich nun sage, dass es Birke auf unseren Weideflächen nur bedingt besser ergeht. Das Grünland wird den Kühen nicht komplett und auf einen Schlag zur Verfügung gestellt, sondern es wird jeden Tag ein- bis zweimal ein Stück Weide dazugezäunt. Die Kühe grasen nach und nach alles sauber ab, und wir können dadurch deutlich besser mit dem Futter haushalten, als wenn wir ihnen ein All you can eat-Buffet präsentieren. Allerdings ist der Stresspegel – landläufig in dieser Situation wohl besser bekannt unter dem Begriff Futterneid – selbstverständlich enorm. Eine Kuh wie Birke hat da keine Chance. Während also alle Kühe wie die Wahnsinnigen hinter dem Weidetor direkt nach links, in Richtung des frischen Stücks Grünfutter stürmen, hält Birke kurz inne. Sie blickt der Herde hinterher (und wir können nur vermuten, wie viel sie dabei wirklich sieht) und entscheidet sich für die entgegengesetzte Richtung. Sie trottet langsamen Schritts nach rechts; dorthin, wo die Weide schon lange abgegrast ist und eine kleine Raufe mit einem Siloballen steht, den wir den Kühen auch während der Weidesaison anbieten. Manchmal bleibe ich noch einen Moment am Zaun stehen und beobachte meine zweigeteilte Kuhherde ganz wehmütig. Ich kann nur hoffen, dass die Situation nur für Außenstehende so furchtbar traurig anzusehen ist und Birke sich nicht so ausgeschlossen fühlt, wie sie es in Wahrheit ist.

Die Situation auf der Weide entspannt sich erst, wenn ein Großteil der Herde zwischen Juni und Oktober auf die Alm geht, denn Birke gehört dabei immer zu der Handvoll Kühen, die bei uns im Tal bleiben. Wir würden ihr diesen Urlaub auf der Alm eigentlich nur zu gerne ermöglichen, doch eine (fast) blinde Kuh hat auf den steilen und unwegsamen Almflächen definitiv nichts zu suchen – vor allem dann nicht, wenn sie dabei ständig von den anderen herumgescheucht und geschubst wird. Im Sommer 2020 haben wir es ein letztes Mal versucht, aber nachdem Birke schon nach zwei Wochen plötzlich humpelnd über die Alm stolperte, zogen wir sofort die Reißleine und holten die Kuh zurück auf den Hof.

Im Stall selbst weiß Birke, dass die Spielregeln andere sind. Dort steht sie rechts neben Rehsi, einer kleinen, aber dafür sehr aufgeweckten Krawallschachtel von Kuh, und während Birke auf der Weide oder im Auslauf niemals einer anderen Kuh das Fell lecken darf und diese Form der hingebungsvollen Körper- und Beziehungspflege auch andersherum ihr niemand je zuteilwerden lässt, laufen die Dinge im Stall anders. Beim Melken sind die Kühe angebunden, jede hat ihren ganz persönlichen Platz, und das wissen auch die Kühe ganz genau. Birke weiß entsprechend auch, dass ihr Platz ihr persönlicher safe space ist, denn hier schubst sie niemand weg, und sie kann schalten und walten, wie sie möchte. Nun möchte sie die meiste Zeit jedoch Rehsi, der (un)glückseligen Kuh neben ihr, das Fell und wahlweise auch die Ohren abschlecken. Manchmal auch die Nase. Oder am besten gleich alles auf einmal. Drücken wir es so aus: Birke ist eine Kuh, die eine ganze Menge Liebe und Fellpflege zu vergeben hat. Allerdings hat Rehsi zumeist irgendwann keine Lust mehr auf die feuchte Zuneigung, woraufhin die beiden Grazien beginnen, einander anzuzicken. Und weil Birke weiß, dass Rehsi ihr in dieser Situation nichts tun kann, ist sie mutiger als auf der Weide. Mutiger – oder einfach nur beharrlich. Wenn ich zum Melken dazukomme, muss ich häufig ein Machtwort sprechen, andernfalls zappeln die Damen weiter herum, drücken die Köpfe gegeneinander und testen, wer den längeren Atem hat. Besagtes Machtwort ist jedoch spätestens nach fünf Minuten wieder vergessen, sodass Birke den Kopf wieder zu Rehsi dreht und ihr vorsichtig hinter dem Ohr entlangschlabbert. Kaum merklich seufzt Rehsi und lässt das Prozedere schließlich in stoischer Ruhe über sich ergehen.

Birke ist eine der Kühe, die beim Melken unfassbar brav sind, sofern man eine einzige Sache immerzu beachtet: Man muss sich ankündigen, bevor man loslegt, da sie aufgrund ihres eingeschränkten Sehvermögens sehr schreckhaft ist. Also spreche ich mit ihr, während ich mich ihr mit meinem Melkschemel und der Melkmaschine nähere, ansonsten ist für nichts zu garantieren. Ich werde oft gefragt, ob ich denn bei der Melkarbeit schon einmal von einer Kuh getreten wurde, und ungeachtet der Tatsache, dass ich Birke gerade absolute Bravheit attestiert habe, muss ich dann immer zugeben: Ja. Zweimal. Beide Male von Birke. Aber: Beide Male war es rein mein Verschulden, und die Kuh selbst konnte nichts dafür. Wenn ich die Arbeit im Stall in völliger Routine abspule, bin ich dabei manches Mal so sehr vertieft, dass ich vergesse, Birke Bescheid zu geben. Und zweimal führte das eben zu einem erschrockenen und zugegebenermaßen ziemlich heftigen Tritt gegen mein Brustbein, bei dem mir für einen kurzen Moment richtiggehend die Luft wegblieb. Die anderen Kühe nehmen mich zumindest aus den Augenwinkeln wahr, wenn ich zu ihnen komme, doch bei Birke funktioniert das eben nicht, denn sie braucht meine Stimme. Mehr als jede andere Kuh in unserem Stall und in manchen Situationen ganz besonders. So auch damals, als uns der Klauenschneider besucht hat.

Normalerweise ist der Besuch eines Klauenschneiders beziehungsweise Klauenpflegers etwas, das zur (halb)jährlichen Routine auf einem landwirtschaftlichen Betrieb gehören sollte. Aus verschiedenen Gründen war bei uns jedoch seit zweieinhalb Jahren kein Klauenpfleger mehr von der Betriebsleitung bestellt worden, weswegen es mir schon sehr vor seinem Urteil über die Fußgesundheit unserer Damen graute. Lukas war an jenem Tag leider arbeiten, und auch seine Eltern erschienen an diesem Vormittag kein einziges Mal im Stall, sodass meine einzige Unterstützung die Praktikantinnen waren, die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zwei Wochen auf dem Hof arbeiteten. Ich war noch nie dabei, wenn den Kühen die Klauen geschnitten wurden, weshalb ich selbst nicht wusste, was mich erwartete oder was ich wie am besten tun konnte – oder wie die Kühe selbst auf ihre Fußpflege reagieren würden. Noch dazu kannte ich den Klauenpfleger nicht. Dass es ein Mann war, ja, so viel wusste ich, doch wie würde er mir begegnen? Würde er mich ernst nehmen oder, wie so viele andere, auf die Gegenwart »des Chefs« bestehen?

Der Klauenschneider entpuppte sich als ein stattlicher Mann um die fünfzig. Anfangs schien er ein wenig verwundert ob der Tatsache, dass nur ich da war und sich »der Altbauer« selbst nicht einmal für eine Begrüßung blicken ließ. Doch diese Verwunderung legte er schnell ad acta. »Das kriegen wir schon hin«, brummte er mit einem angedeuteten Lächeln in seinen Bart hinein. »Wir brauchen zwei Halfter. Das eine kommt an die Kuh, die als Erstes in den Klauenstand geht. Das zweite legst du der nächsten Kuh an, während ich der ersten noch die Klauen schneide.« Ich tat wie mir geheißen. Selma ging als Erste anstandslos in den Klauenstand, eine Art Box, in der man die Kuh fixiert, während der Klauenpfleger seine Arbeit tut. Für die Mädels (die Vierbeinigen sowie die Praktikantinnen-Mädels) war das natürlich sehr aufregend und ungewohnt. Die Praktikantinnen Vanessa und Katrin waren dafür zuständig, die Halfter anzulegen und wieder abzunehmen. Sie blieben also im Stall, während Marie, eine Freundin und ebenfalls ehemalige Praktikantin, die gerade eine Woche zu Besuch in Mörtschach war, und ich draußen bei dem Klauenschneider blieben. Nachdem Selmas Fußpflege beendet war, kamen die anderen der Reihe nach dran: Primel, Elena, Peggy, Serita. Insgesamt hatten heute elf Kühe einen Pediküre-Termin, und alle folgten dem Klauenpfleger brav, wenn er sie am Führstrick nahm und streng und bestimmt mit sich zog. Einzig Suzil unternahm einen wahnwitzigen Ausbruchsversuch, doch auch sie konnten wir mit einiger Mühe wieder bändigen. Nach der Hälfte der Kühe nickte der Klauenschneider schließlich zufrieden und verkündete sein gnädiges Urteil: »Das sieht doch gar nicht so schlecht aus. Also ich würd jetzt nicht meinen, dass da schon jahrelang nix gemacht worden ist. Die sind gut beisammen!«

Nach über zwei Stunden blieben nur noch zwei Kühe übrig, Birke und Perin. Ich zögerte innerlich, denn ich wusste, wie sehr Birke auf Stimmen, noch dazu strenge, reagiert. Manchmal reicht es schon, wenn ich mit einer der anderen Kühe schimpfe oder einfach nur vor mich hin fluche, weil mal wieder etwas nicht so klappt, wie ich das möchte – Birke bezieht das sofort auf sich, denn jedes Mal, wenn irgendwo irgendwer die Stimme erhebt, glaubt sie scheinbar, etwas falsch gemacht zu haben. Sie wird dann ganz nervös und versucht mitunter sogar, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Ich wandte mich also an den Klauenschneider:

»Die nächste ist nahezu blind, das könnte schwierig werden.«

Der Mann wischte sich die staubigen Hände an seiner Hose ab.

»Okay«, sagte er schließlich, »wie willst du es machen?«

»Ich werde sie rausführen«, sagte ich und bemühte mich dabei, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Ich ging in die Milchkammer und schaltete das Radio im Stall aus. Der Mann folgte mir in den Stall, wo Katrin und Vanessa Birke bereits ein Halfter umgelegt hatten. Als die Kuh die Schritte hinter sich hörte, klappte sie die Ohren nach hinten.

»Okay, sagt jetzt mal bitte gar nichts mehr und macht keine großen Bewegungen, wir brauchen jetzt Ruhe und möglichst wenig Ablenkung«, instruierte ich die Praktikantinnen. Der Klauenschneider hielt sich im Hintergrund und beobachtete das Ganze schweigend. Ich trat neben Birke, strich ihr mit kräftigen Bewegungen über den Hals und redete beruhigend mit meiner Birke-Spezial-Tonlage auf sie ein, bei der ich mir einbilde, dass sie diesen Klang kennt. Dass sie mich (er)kennt. Meine Hand wanderte langsam zum Klippverschluss ihrer Kette. Wenn sie wollte, könnte sie mich problemlos über den Haufen rennen oder durch die Gegend ziehen, denn Birke ist, auch wenn sie sich dessen vielleicht nicht bewusst ist, wirklich groß und stark. Ich atmete noch ein letztes Mal tief ein und aus. In der rechten Hand hielt ich den Führstrick, und die linke Hand öffnete mit einem leisen Klicken den Verschluss von Birkes Kette.

Ich ging zwei Schritte zurück, um ihr zu ermöglichen, sich umzudrehen und mir zu folgen, während der Führstrick locker zwischen uns beiden hing.

»Birkeee … na kooomm …«

Die Praktikantinnen standen auf dem Futtertisch und beobachteten uns gespannt. Und dann, als habe sie nie etwas anderes getan, drehte sich Birke auf ihrem Platz herum und trottete mir und meinem Singsang langsam hinterher. Ich musste sie nicht ziehen, und ich musste kein einziges Mal die Stimme heben. In diesem Augenblick gab es nur sie und mich. Wir traten hinaus ins Freie, ich führte Birke in den Klauenstand hinein und blieb anschließend während der gesamten Klauenpflege neben ihrem Kopf stehen und sprach weiter beruhigend auf sie ein. Nach wenigen Minuten hatte der Klauenschneider seine Arbeit beendet, und wir gingen genauso entspannt, wie wir gekommen waren, wieder in den Stall zurück. Ich lächelte. »Belohnungskraftfutter, bitte«, wies ich Vanessa an.

Der Klauenschneider war richtiggehend begeistert. »Na, die ging ja mit dir wie ein Lämmchen«, lobte er uns. Ich konnte mir meinen Stolz nicht so recht verkneifen. »Ja, das hat wirklich richtig gut geklappt«, antwortete ich.

Vanessa nannte das, was sich hier zwischen Birke und mir abgespielt hat, später schlicht und ergreifend »Urvertrauen«. Und ja, irgendwie war es genau das. Solche Momente sind meine persönlichen Highlights, denn dann merke ich, dass alles, was ich hier mit und für die Tiere mache, am Ende einen Sinn ergibt. Ich merke, dass sie mir vertrauen. Und das ist wohl das größte Geschenk von allen.

Birke, meine Blindfisch-Birke, ist eben irgendwie der Herden-Underdog. Manchmal erweckt sie ein wenig den Beschützerinstinkt in mir, wobei das an und für sich schon beinahe lächerlich erscheinen muss: Wenn ich Dreikäsehoch (und nichts anderes bin ich im Vergleich zu den Kühen) mich in deren Rangkämpfe einmische. Und auch wenn es langfristig betrachtet überhaupt nichts bringt, tue ich es immer wieder und stelle mich wie eine Boxtrainerin hinter den Zaun und feuere Birke an, wenn sie sich in einem Zweikampf mal nicht sofort geschlagen gibt, sondern dagegenhält. Seit ich sie kenne, hat sie solche Kämpfe erst zweimal gewonnen. Der Sieg hielt wahrlich nicht lange an, denn die Verliererkuh bestand stets sofort auf eine Revanche, in der sie dann doch noch den Sieg davontrug, aber dennoch. Zweimal hat Birke nicht klein beigegeben. Zweimal ging sie erhobenen Hauptes als Siegerin vom Feld. Und zweimal bin ich ganz enthusiastisch zurück ins Haus gekommen und habe Lukas begeistert davon erzählt.

»Weißt du, was heute passiert ist?«

»Nein, was denn?«

»Birke hat gegen Rehsi gewonnen!«

»Nicht dein Ernst!«

»Doch«, entgegne ich dann. Und lächle.

Als hätte ich sie höchstpersönlich zum Champion gemacht.

Und dann regnet es plötzlich Kälber

Aller guten Dinge sind drei

September 2021

 

Anfang des Jahres 2021 ließ Lukas’ Vater etliche Kühe von unserem Tierarzt besamen. Drei davon, Birke, Serita und Gretel, sogar am gleichen Tag. Im Umkehrschluss hieß das, dass wir nun drei Kuhdamen hatten, deren prognostizierter Geburtstermin auf den 23. September 2021 fiel. Lukas und ich waren Mitte September noch für eine Woche bei meiner Familie in Deutschland, und als wir wieder in Mörtschach ankamen, beschlossen seine Eltern indes, nun auch ein paar Tage zu verreisen. Es war der 20. September, als die beiden den Hof verließen. Auf dem Campingplatz war nicht mehr viel los, die Praktikantinnen waren schon lange abgereist, und Lukas und ich freuten uns auf ein paar Tage, in denen wir das Haus ganz für uns hatten. Doch da waren eben auch noch die besagten drei Kühe. Bei Serita und Birke würde sicherlich alles recht unspektakulär über die Bühne gehen, da sie beide bereits einige Geburten erlebt hatten. Doch für Gretel war das alles Neuland. Nicht nur die Geburt als solche, sondern auch das Melken war für sie völlig unbekanntes Terrain. Ich habe bei vielen unserer Kühe die ersten Melkversuche live miterlebt. An manchen war ich nicht bloß beteiligt, sondern scheiterte auch auf ganzer Linie, denn der ein oder anderen Kuh war das Prozedere einfach nicht geheuer. Wenn ich da an Elena, Rehsi, Selina und auch an Serita denke, erinnere ich mich auch unwillkürlich an all die blauen Flecken, die mir diese Damen zugefügt haben. Ich weiß noch genau, wie ich mir bei Elena irgendwann nicht mehr anders zu helfen wusste, als vor dem schwiegerelterlichen Schlafzimmer zu stehen und Lukas’ Vater aus dem Schlaf zu klopfen. Aber ja, aller Anfang ist schwer. Auch für so manche Milchkuh.

Während die Schwiegereltern im Urlaub waren, hatte Lukas lediglich zwei Dienste, davon einen Nachtdienst. An jenem Mittwochabend begannen wir ein wenig früher als gewohnt mit der Stallarbeit, damit wir alles noch gemeinsam erledigen konnten, ehe Lukas in Richtung Dienststelle aufbrechen würde. Als alle Tiere versorgt und die Kühe gemolken waren, schickte ich Lukas schon mal in Richtung Haus. »Geh ruhig schon duschen, ich sammle noch flott die Eier ein und komme dann nach«, sagte ich, während ich ihn sanft aus der Stalltür schob. Es war kurz vor sechs. An ein gemeinsames Abendessen war nicht mehr zu denken, denn um sieben musste Lukas seinen Dienst antreten.

Ich angelte siebzehn Eier aus acht Hühnernestern, wechselte das Wasser bei den Hasen und schaltete schließlich das Licht im Stall aus. Als ich mir gerade die Stiefel wusch, dachte ich an Gretel. Die war mittlerweile kugelrund und ihr Euter so prall, dass man schon fast fürchtete, es könne jeden Augenblick platzen. Am Vormittag war ich bei ihr auf der Weide gewesen, da war noch alles ruhig. Doch lange würde es nicht mehr dauern.

Kurz bevor ich die Haustür erreichte, entschied ich mich um. Ich ging an der Tür vorbei in Richtung Weide, um einen letzten Kontrollgang zu machen und dabei zu überprüfen, ob mir eine ruhige oder wohl eher eine schlaflose Nacht bevorstand. Kaum dass ich unter dem Zaun durchgeschlüpft war und an den dichten Hecken vorbeiblickte, sah ich Gretel am anderen Ende der Weide dicht neben dem Zaun liegen. Wellenartige Schübe gingen durch ihren ganzen Körper. Sie hatte Wehen. Meine Hand glitt in meine Hosentasche und griff nach meinem Handy. 18:03 Uhr. Ich rief Lukas an. »Gretel legt los«, sagte ich nur – was am anderen Ende der Leitung mit einem fassungslosen Ächzen beantwortet wurde. Was für ein Timing!