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Als ein zwielichtiger TV-Wahrsager das Ende der Welt voraussagt, wird Eden Valley von Apokalypse-Freaks überrannt. Vorbei ist Albas Leben, wie sie es vorher kannte: Comics zeichnen und mit ihrem besten Freund Grady rumhängen. Jetzt dreht sich alles um den bevorstehenden Weltuntergang. Dann taucht auch noch ein Freund aus Kindertagen wieder auf – noch heißer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Auch wenn es der letzte Sommer ihres Lebens sein könnte*, muss Alba erstmal entscheiden, für wen ihr Herz schlägt, und das ist doch wohl wichtiger, als so ein bisschen Weltuntergang ... *Spoiler: Die Welt geht übrigens doch nicht unter.
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Seitenzahl: 399
DIE AUTORIN
Foto: © privat
Melissa Keil lebt in Melbourne, Australien, und ist ein totaler Buch-Nerd. Nach ihrem Studium der Filmwissenschaften und Volkskunde arbeitet Melissa heute als Lektorin von Kinderbüchern. Ihre freie Zeit verbringt sie mit Lesen, Schreiben und YouTube-Videos. Nach ihrem großartigen Debüt Der Beweis, dass es ein Leben außerhalb meines Zimmers gibt erscheint jetzt mit Hinter dem Ende der Welt gleich links ihr zweites Jugendbuch.
Von der Autorin ist ebenfalls bei cbt erschienen:
Der Beweis, dass es ein Leben außerhalb meines Zimmers gibt
Melissa Keil
Hinter dem
Ende der Welt
gleich links
Aus dem Englischen
von Edigna Hackelsberger
und Larissa Rabe
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2015
© 2014 by Melissa Keil
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Incredible Adventures of Cinnamon Girl«
bei Hardie Grant Egmont, Australia
© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe
cbt Verlag, in der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Larissa Rabe und Edigna Hackelsberger
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Michael Betts/Getty Images,
Michele Paccione/Shutterstock
MG · Herstellung: KW
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-16134-7
www.cbt-buecher.de
Prolog
Würde ich mein Leben zeichnen, so wie es im Augenblick ist, dann müsste es ungefähr so aussehen wie das brillante Aufmacherbild des Comics Wonder Woman: Spirit of Truth. Wonder Woman kniet hoch oben auf den grünen Hügeln ihrer Heimatinsel, mit geschlossenen Augen, und ihre Haltung drückt Entschlossenheit aus. Die Zeichnung ist fantastisch koloriert und die Atmosphäre ganz dicht: purpurfarbene Wolkenstreifen vor einem weiten, blassblauen Himmel, durchbrochen vom warmen, gelben Licht der Sonne, die am Horizont untergeht. Die Strahlen spiegeln sich in ihrem Diadem und auf ihren glänzenden, lächelnden Lippen, und damit wirkt sie so lebendig, dass man glauben könnte, sie atme. Diese Zeichnung fängt einen perfekten Augenblick ein, der aus der Zeit gefallen ist – es könnte das Ende oder der Anfang von Wonder Womans Geschichte sein. Sie hat schon allen möglichen Leuten in den Hintern getreten und hat noch sehr viel vor sich. Aber in diesem Augenblick, den der Zeichner hier eingefangen hat, hat sie eine Atempause. In diesem einen Moment der Zufriedenheit ruht sie ganz in sich.
Man braucht enorme zeichnerische Fähigkeiten, um so viel in ein einziges Bild hineinzulegen. Es enthält eine Geschichte, die im Augenblick erstarrt ist und gleichzeitig jede Menge Potenzial hat. Nur wahrhaft geniale Comic-Zeichner können mit einer solchen Kunst aufwarten.
Ich selbst halte mich für eine ziemlich lausige Geschichtenerzählerin. Eigentlich seltsam, weil ich liebend gern erzähle – ich rede fast pausenlos –, aber wenn ich es mit Bleistift und Tusche tue, verliere ich leicht den roten Faden. Grady sagt, das wäre ganz klar, denn ich würde denken wie eine Illustratorin. Ich sehe meine Bildwelten in Farben, die einem fast die Augen sprengen, und denke nicht in »linearen Erzählsträngen«, wie er es mal genannt hat. Vielleicht stimmt das – aber vermutlich bin ich einfach nur schlecht darin, die richtigen Details zusammenzufügen.
Wenn ich diese Geschichte mit dem wichtigsten Detail beginnen sollte, dann wäre das wahrscheinlich irgendwas über das Ende der Welt. Aber ganz ehrlich, im Moment sind die Apokalypse und der ganze Quatsch nur eine nebensächliche Fußnote.
Meine Geschichte – das perfekte Aufmacherbild, das voller potenzieller Ereignisse steckt – beginnt nämlich schon viel früher.
Meine Geschichte beginnt mit einem Haus.
Und sie beginnt mit zwei Jungs.
1
Das Haus ist eingeschossig, es steht am Rande einer staubigen Straße, und von der weißen Holzverschalung blättert die Farbe ab. Es ist auf Pfählen errichtet, das ist ungewöhnlich für diese Gegend, und eine wacklige Treppe führt zur Haustür rauf. Glastüren gehen auf die Veranda hinaus, die fleckig vom Eukalyptus ist und voller Tische steht. Auf meinem Zeichenblock schaffe ich es immer, dass das Haus hinreißend aussieht, als wäre es dem Musical Oklahoma! entsprungen oder der fiktiven Kleinstadt Smallville in Kansas, aus der Superman kommt. Und in Wirklichkeit? Da sieht es eher so aus, als würden dort Überlebenskünstler wohnen, die Dosenfleisch und Klopapier horten.
Aber das Haus ist wunderschön, es ist mein liebster Platz im ganzen Universum.
Auf dem Neonschild über dem Spaliergitter steht Albany’s. Damit ist meine Mutter Angela gemeint, aber ich bin auch eine Albany. Auf meinen vielen Urkunden von der Schule heiße ich offiziell Sarah Jane Albany, aber jeder in Eden Valley, fast alle der ungefähr dreihundert Leute hier, nennen mich Alba, seit ich krabbeln kann.
Und wenn ich, noch ehe ich laufen konnte, bereits Alba hieß, dann war Domenic Grady schon ganze Epochen lang mein bester Freund.
Diese Geschichte könnte ich ohne einen Jungen gar nicht erzählen – oder in meinem Fall: ohne zwei Jungs. Aber eins kann ich euch versprechen: Es kommt alles anders, als ihr denkt!
Grady ist sehr schön, so wie das nur ein ganz bestimmter Typ Junge sein kann. Er wäre sauer, wenn er das jetzt lesen würde, denn ich hab ihm versprochen, ich würde damit aufhören, aber er ist einfach unglaublich bezaubernd. Er hat pfirsichzarte Haut, große Rehaugen und die weichsten Locken, die ich je bei einem Jungen gesehen habe. Grady ist für diese Geschichte ziemlich wichtig. Über ihn erzähle ich euch gleich mehr.
Das Albany’s ist die Bäckerei meiner Mutter. Wir backen Kuchen und Brot und den besten Apfelstrudel außerhalb von Melbourne. Eigentlich gehört unser Haus Gradys Mutter Cleo, aber Mr Grady ist abgehauen, als Grady und ich fünf waren, und da hat Cleo uns die Schlüssel überreicht und uns das Haus überlassen. Cleo ist die beste Freundin meiner Mutter. Damit war es auch geradezu vorherbestimmt, dass Grady und ich quasi schon als Embryos die besten Freunde wurden. Die Küche wurde umgebaut und ist jetzt Bäckerei und Café, und dahinter, auf der Seite, die zum Milchbauernhof der Palmers rausgeht, wohnen wir. Dieses Haus ist schon immer mein Zuhause gewesen.
Nicht, dass ihr jetzt meint, das hier wäre die Geschichte eines anmutigen, von der Sonne geküssten Mädchens vom Lande – Irrtum! Diese Art von Mädchen bin ich ganz und gar nicht. Ich habe dunkles Haar und noch dunklere Augen und, falls ihr es eben nicht mitgekriegt habt: Ich wohne in einer Bäckerei! Das meine ich wortwörtlich. Ich schlafe im Duft von Zimt und Vanille und stecke morgens meistens bis zu den Ellbogen in Teig und Gebäck.
Und – hüstel – ich neige dazu, eine ganze Menge davon zu essen. Damit kann ich gut leben. Ich habe nie mein Gesicht aus einem Foto ausgeschnitten, es auf das Bild eines Models geklebt und dabei in eine große Packung Eiscreme geweint. Ich habe Rundungen und einen Busen, und niemand, den ich kenne, hat ein Problem damit. In meinem Abschlussjahrgang in der Schule waren wir vierzehn Leute. Ihr könnt mir glauben: Wenn ich mit dem Busen vor ihnen gewackelt hätte, wäre das ein Grund für großen Jubel gewesen. Zumindest für die Jungs. Vielleicht auch für eins der Mädchen. Egal. Mein Busen ist für diese Geschichte ziemlich irrelevant.
Jetzt schweife ich aber ab. Ich konzentriere mich besser mal auf ein wichtiges Detail.
Also: Bester Freund. Apokalypse.
Man kann eine Geschichte aus allen möglichen Gründen falsch anfangen. Bei einem Comic ist es so, dass die ersten Bilder einen an jeden Ort der Welt führen können, sie können jede Figur einführen, die in der folgenden Geschichte eine Rolle spielt. Aber ich schätze, die meisten Geschichten fangen erst richtig an, wenn man selbst in ihnen auftaucht, oder? Meine Geschichte beginnt jedenfalls damit, dass Domenic Grady an einem irre heißen Sonntag ins Albany’s stürzt, sein iPad in der Hand.
»Alba! Hast du das schon gesehen?«
Er schlängelt sich zwischen unseren verschwitzten Gästen hindurch, klettert auf einen Hocker an der Theke, lässt seine Sporttasche fallen und greift sich ein paar Biscotti von einem Kuchenteller. Das ist ganz typisch für Grady, so war er immer schon: lange Arme, sehr lebhaft und vom Wunsch beseelt, ungefähr hundert Dinge gleichzeitig zu tun. Wenn er eine Figur in einem Comic wäre, dann hätte er ein eigenes Wort, das ihn bei jedem Auftauchen begleiten würde, so was in der Art wie Bazoing! oder Bamf!
Heute trägt er seine Standardkleidung: graue Jeans, Vans und ein dunkelblaues T-Shirt von Threadless, auf dem Zombie Outbreak Response Team steht. Sonntags spielt Grady Basketball, und dafür nimmt er den Bus nach Merindale Creek, die nächstgelegene Stadt, was hin und zurück fast zwei Stunden dauert. Training bedeutet, dass sein Haar frisch gewaschen ist, was wiederum heißt, dass seine dunklen Locken jetzt extraweich von seinem Kopf abstünden, wenn er sie nicht unter eine Baseballkappe gestopft hätte.
Ich mache gerade die Sonntags-Cappuccinos für Mr und Mrs Palmer fertig, und weil Grady mich durcheinanderbringt, hätte ich mir fast den Kaffee über mein neues Kleid gekippt. Ich reiche Paulette, unserer Kellnerin, die Tassen über die Theke, verschränke die Arme vor der Brust und gebe mir alle Mühe, die Stirn zu runzeln.
»Guten Morgen, Grady. Wolltest du mir irgendwas erzählen?«
»Ich dachte, das hätte ich dir schon durch meinen dramatischen Auftritt klargemacht«, sagt er, den Mund voller Biscotti. »Und schau mich nicht so an, Alba. Du kriegst sowieso kein verärgertes Gesicht hin.«
Ich strecke ihm die Zunge raus, er streckt mir die Zunge raus, und dann legt er sein iPad auf die Theke. »Guck dir das mal an!«
»Grady, ist das ein Porno? Ich hab dir gesagt, ich habe kein Interesse, so was zu zeichnen, egal, wie viel die Japaner dafür zahlen!«
Grady schnaubt. »Ich bitte dich, Frau! Wenn ich Pornos wollte, könnte es der Laptop meines Bruders mit allem aufnehmen, was im Internet zu finden ist. Und wie ich Anthony kenne, sind auf seinem Computer sicher auch noch ein paar selbst gemachte Aufnahmen drauf.«
Grady schüttelt sich. Meine Augen werden glasig bei dem Gedanken an Anthonys geschmeidigen Mechaniker-Körper, der sich in einer schlecht ausgeleuchteten Sex-Eskapade betätigt. Grady lehnt sich über die Theke und schlägt mir auf den Arm.
»Alba! Würdest du dich bitte konzentrieren! Das ist möglicherweise echt cool. Und schräg. Guck’s dir mal an!« Er lässt seine langen Finger über das Display gleiten und der Bildschirmschoner mit New York verschwindet. Darunter wartet ein Filmclip bei YouTube, der auf Pause geschaltet ist.
Mum platzt herein, lässt ein Backblech auf die Theke gleiten und schüttelt sich Mehlstaub aus dem Pferdeschwanz.
»Angie!«, ruft Grady fröhlich und ist einen Augenblick von den köstlichen frischen Scones abgelenkt. »Hast du das Abendessen gestern überlebt? Ich hatte da so meine Zweifel.«
Mum verzieht das Gesicht. »Ich hab nur so gerade eben überlebt. Wenn deine Mutter wieder mal vorschlägt, asiatisch zu kochen, könntest du sie dann vielleicht sanft in eine weniger … salmonellenträchtige Richtung lenken?«
Ich schiebe das Backblech unter die Theke und ignoriere die Blicke der Kundschaft, die nach Scones schmachtet und vergeblich versucht, meine Aufmerksamkeit zu erringen. »Sei nicht so gemein zu der armen Cleo. So schlimm war es ja nun auch wieder nicht.«
Grady lacht. »Nein, nach einer Handvoll Rennie und Imodium war es gleich nicht mehr so schlimm.«
Die Weihnachtsdekoration über der Tür klingelt leise, als Tommy Ridley reinkommt und uns zuwinkt. Diesen Sonntag brummt die Bäckerei, wie immer am Wochenende, ehe die Kneipen aufmachen. Die Glöckchen an der Schnur bewegen sich im Luftzug, während Tommy unter der Tür mit Mr Wasileski plaudert, und mein Blick hängt wie gebannt an den wirbelnden Farben des Himmels draußen vor der Tür.
»Dann kümmerst du dich also um den Nachtisch?«, höre ich Mum sagen. »Lass ja nicht zu, dass Cleo irgendwelche Zutaten nimmt, die sie erst im Internet bestellen muss!«
Grady nickt und seine gierigen Hände greifen nach einem Zitronenröllchen. »Ich möchte an Weihnachten nicht den Magen ausgepumpt kriegen, wenn ich es irgendwie verhindern kann.« Er beißt einen gigantisch großen Bissen von dem saftigen Teilchen ab. »Ich hab alles im Griff, mach dir bloß keinen Stress, Angie.«
»Stress ist mein zweiter Vorname, Domenic«, sagt Mum lächelnd. Dann klingeln die Glöckchen erneut, und Mum saust los, um Mr Grey auf die Veranda zu bugsieren, ehe er Mr Bridgeman erblickt und die beiden ihren obligatorischen Schlagabtausch über Biersorten abhalten können. Unsere beiden reizbaren Barbesitzer kommen nicht so gut miteinander aus.
Durch die offenen Fenster sehe ich den Himmel, der sich über der Tankstelle der Wasileskis und über meinen endlosen Feldern erstreckt. Er hat die Farbe von Brotkrumen und Sonnenlicht. So ein Sommerhimmel hat Wahnsinns-Farbtöne, es ist beinahe unmöglich, ihn zu malen …
»Alba? Könnte ich dir jetzt bitte mal diese wichtige Sache zeigen, die ich hier auf meinem iPad habe?«
Mit Acrylfarben würde es vielleicht gehen, oder mit Gouache …
Grady lässt seine Hand auf meine fallen. »Sarah! Bitte, Frau, jetzt pass auf! Das hier ist möglicherweise was, das unsere Welt erschüttern könnte!« Er bewegt die Finger vor meinem Gesicht, dieses Hypnoseding, das er immer macht, wenn ich besonders weggetreten bin.
Und ich weiß, dass ich jetzt gleich Ärger bekomme. Er hat mich beim Vornamen genannt.
Ich schiebe mir das Wischtuch in die Schürze und zeige ihm mein strahlendstes Lächeln, das Wunder wirkt, denn Gradys Stirn glättet sich auf der Stelle. »Schon gut! Ich konzentrier mich ja. Es ist etwas sehr Wichtiges. Los!«
Grady zwinkert mir zu. Dann schiebt er einen Teller mit Croissants beiseite, befördert seinen Hintern auf die Theke und verdreht den Oberkörper, sodass wir in die gleiche Richtung sehen. Er wischt wieder über sein iPad.
Auf dem Display erscheint das Bild eines kahlköpfigen Kerls mit einem glänzenden Fu-Manchu-Schnurrbart. Er sitzt vor einer billigen Kulisse, neben ihm ein unscheinbarer Typ. Hinter den beiden hängt ein Schild, ich glaube, die Schriftart heißt Comic Sans, und darauf steht: Der Echte Ned Zebidiah – Wahrsager, Seher, Hüter uralter Geheimnisse.
Und darunter steht in klitzekleinen Buchstaben:
Und Frank.
»Kennst du den Typen?«, fragt Grady. »Er hat eine eigene Sendung auf Channel 31, die läuft so ungefähr um zwei Uhr morgens. Wenn ich nicht schlafen kann, guck ich das manchmal, man kann normalerweise wunderbar drüber lachen, aber das hier – das ist wirklich total cool.«
Ich sage lieber nichts zu Gradys Schlafproblemen. Das gehört nicht zu den Dingen, über die er gerne spricht, und außerdem sagt er, es wäre nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Obwohl es für mich normal ist, mir über Grady Sorgen zu machen, seit wir fünf waren und er es geschafft hat, sich beim Minigolf den Arm zu brechen.
»Wie – der Echte? Gibt es denn mehr als einen?«
Grady schnaubt. »Ja, es ist ein echt häufiger Name. Aber jetzt mal ernsthaft, Alba, guck genau hin!«
Er stellt den Ton lauter, sodass die Lautstärke das Geplauder im Café und die Filmmusik von Weiße Weihnachten übertönt, die durch die Bäckerei säuselt. Es haben schon fünfundvierzig Leute den Clip angeklickt und einen Haufen Kommentare hinterlassen, die ich nicht lesen kann, weil Gradys große Hand das Gerät umklammert, als wäre er die verrückte Mrs Garabaldi von der Eisenwarenhandlung und sein iPad das letzte Stück Kirschkuchen am Ende der Kirschernte. Er tippt aufs Display und der Clip läuft an.
Der Echte Ned starrt in die Kamera, und sein Fu-Manchu-Schnurrbart wackelt, wenn er schluckt. Er fühlt sich offenbar nicht besonders wohl. »Willkommen, meine Freunde«, sagt er, und für einen Mann, der aussieht wie ein Bösewicht aus X-Men, hat er eine erstaunlich hohe Stimme. »Heute ist wieder mal Freitag und, ähm, das Universum spricht auch heute wieder zu denen, die die Fähigkeit besitzen, ihm, ähm, zu lauschen …«
Er wirft einen Blick auf den Mann neben sich, einen mageren Burschen mit großen Augen. Vermutlich ist er »und Frank«.
»Grady, gibt es ernsthaft Leute, die sich so was angucken?«
Grady zeigt auf das Display. »Mindestens fünfundvierzig Leute haben es auf YouTube angeklickt. Ich schätze, vierundvierzigmal hat Ned es sich selbst angesehen, und einmal war es Franks Mum. Warte mal … ich überspringe den langweiligen Teil …«
Grady zieht den Finger übers Display. Der Echte Ned wirkt jetzt sehr gestresst, die Schweißtropfen laufen ihm nur so über die Stirn.
»… manche nennen es den Weltuntergang«, murmelt er. »Aber ich habe es gesehen, meine Freunde! Ned Zebidiah kann die Stellung der Planeten deuten und die … uralten Verschlüsselungen der Offenbarung und der … ähm … Azteken …«
»Na, das klingt ja wahnsinnig glaubwürdig.«
Grady lacht. »Ich weiß. Mach dich auf was gefasst und guck weiter.«
Ned richtet sich auf. »Ich habe einen Blick hinter den Schleier getan und … so weiter. Aber jetzt hat das Universum entschieden, sich Ned Zebidiah zu offenbaren.« Und dann lehnt er sich weiter zur Kamera hin. »Das Ende aller Tage«, flüstert Ned. »Ich habe es gesehen! Und, meine Freunde – ich habe die Rettung gesehen.«
Ich kichere, als Ned die Augen verdreht und sein Körper zu zittern beginnt, als steckte er in einem riesigen Mixer. Der dürre Kerl neben ihm rückt erschreckt mit dem Stuhl zur Seite. Dann rasselt Ned einen Haufen Zahlen runter und Frank neben ihm kritzelt fieberhaft in seinem Notizbuch mit.
Ich sehe Rosie Addler von ihrem Tisch her winken, wo sie mit ihrem Pudel Mr Frankenstein sitzt, und ich greife nach dem Teller mit Donuts. »Na und? Sagt er die Lottozahlen voraus, oder was?«
Grady lehnt sich gefährlich nahe zu mir herüber, nur seine langen Beine halten ihn noch auf seinem Platz auf der Theke. »Nix da«, sagt er und schaut mich aufgeregt an. »In den Kommentaren zum Clip steht, dass es geografische Koordinaten sind.«
»Ich habe alle Illusionen durchschaut!«, brüllt Ned auf einmal los, sodass Frank vor Schreck fast vom Stuhl fällt. »Unsere Zeit wird mit dem neuen Jahr ablaufen!« Ned plumpst wieder zurück auf seinen Stuhl. »Und ich habe diejenigen gesehen, die errettet werden«, flüstert er unheilvoll. »Betet, meine Freunde, egal an welche Götter ihr glaubt. Das Ende ist nahe! Und nur die Auserwählten werden verschont!«
Grady hält den Film an. »Der Rest ist ziemlich öde. Leute rufen an und wollen einen Rat, wie sie mit ihrer toten Katze in Kontakt treten können. Und dann singt Frank irgendwas. Also, HBO-Qualität ist das nicht gerade.«
Er springt von der Theke und beugt sich wieder darüber.
Ich schiebe den Rand seiner Baseballkappe zurück, denn ich weiß, dass seine Augen schelmisch darunter hervorzwinkern.
»Wirklich faszinierend, Grady, aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit …«
»Halt dich fest«, sagt er. »Du hast doch die Zahlen gehört? Diese geografischen Koordinaten?« Er senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Das ist hier.«
Ich wische mir die Hände an der Schürze ab, denn sie fühlen sich auf einmal ganz merkwürdig an und prickeln. »Du meinst doch nicht etwa …«
»Doch, genau das meine ich. Es ist ganz genau hier. Offenbar ist Eden Valley der einzige Ort auf dem Planeten, der die ganze Scheiße überleben wird, wenn es erst mal losgeht. Wir sind die Arche Noah, Alba. Die … wie heißt noch die letzte Stadt der Welt in diesem gruseligen, schwachsinnigen Comic, den du so gern magst?«
Ich kichere. »Pythonopolis. Aber das meinst du ja wohl nicht ernst. Ist der Typ denn überhaupt echt?«
»Ich hab ihn gegoogelt. Er heißt in Wirklichkeit Alvin Smith und hat früher mal im Immobilienbereich gearbeitet.« Grady grinst mich frech an. »Ich würde sagen, seine Informationen sind ziemlich suspekt. Andererseits, Alba, wenn man schon einem Fernseh-Propheten nicht mehr vertrauen kann …?«
Ich muss lachen. »Also ist das Ende der Welt nahe – in siebzehn Tagen ist es da, und unser gutes altes Eden Valley ist dann der letzte Außenposten? Ist ja cool.«
Grady verzieht das Gesicht. Er wirft einen Blick über die Schulter auf die staubige, leere Main Street. »Du liebe Zeit. Kannst du dir irgendwas vorstellen, was noch deprimierender ist als dieser Ort hier?«
Ich beschäftige mich damit, die Makronen, die ich erst heute Morgen sorgfältig mit weihnachtsfarbener Creme gefüllt habe, gefällig zu dekorieren. »Hier ist es nicht deprimierend«, sage ich schließlich. »Es könnte schlimmere Orte geben, wo man die Ewigkeit verbringen muss. Hier sind schließlich alle, die wir lieben … aber das bedeutet wohl, dass wir den Planeten später wieder bevölkern müssen. Ich fürchte, das könnte ein bisschen unangenehm werden.«
Als ich aufblicke, scheint Grady gerade auf den verstreuten Zucker auf der Theke konzentriert. Er nimmt eine Speisekarte in die Hand, schnappt sich eine Serviette und wischt einen Marmeladenfleck weg. »Keinerlei Respekt haben die Leute«, murmelt er vor sich hin.
Ich versetze ihm mit meinem Lappen einen Schlag auf den Arm. »Die Speisekarten sind schließlich dazu da, um benutzt zu werden. Rein nach dem Nützlichkeitsprinzip – weißt du noch?«
»Wir sind ja hier nicht bei Pizza Hut«, sagt er und hält die Augen auf die Speisekarte gerichtet. »Das hier ist Kunst – nicht, dass irgendjemand in diesem Kaff den Unterschied erkennen würde.«
Meine neueste Speisekarte ist in dem Stil entworfen, mit dem ich gerade experimentiere, ein abgefahrenes, originelles Layout. Es sieht aus wie eine Mischung aus der Comic-Superheldin X23 und einer Linienführung im Stil der kanadischen Zeichnerin Faith Erin Hicks, aber das Ganze in den altmodischen Farben von Marvel Comics – Rot, Blau, helle Grüntöne. Ich probiere auch gleich eine neue Figur aus. Ihr Haar sieht ein bisschen aus wie meines, mit einem dichten Pony, der ihr über die Augen fällt, aber statt meiner langen, öden braunen Haare habe ich ihr eine rote Lockenmähne mit blauen Strähnchen verpasst. Ich habe verschiedene Outfits ausprobiert, ehe ich mich für etwas entschieden habe, was ich zurzeit sehr liebe: ein Kleid im Fünfzigerjahre-Stil aus scharlachrotem Vichy-Stoff, dazu eine dunkelblaue Strumpfhose und rote Schuhe mit hohen Absätzen. Sie soll durchaus nicht ich sein, obwohl sie sich kleidet wie ich, so groß ist wie ich, und, na gut, meine Körpermaße hat sie auch. Ich finde sie einfach umwerfend. Zu Ehren ihres Haares hat Grady sie Cinnamon Girl getauft, Zimtmädchen, und ich finde, das trifft es sehr gut. Unsere Speisekarte ist in die Bilder des Comics und in die Sprechblasen hineingeschrieben. Auf das Ganze bin ich irgendwie stolz.
Grady lässt die Speisekarte sinken. Er wirft mir unter dem Schirm seiner Baseballkappe einen Blick zu und trifft mich mit der vollen Wucht seiner störrischen Bambi-Augen. Instinktiv spüre ich, wie ich mich sträube.
»Alba … ich weiß nicht, warum du plötzlich Meisterin im Themenwechsel geworden bist – aber du hast mir noch gar nicht richtig von deinem Bewerbungsgespräch erzählt. Hat ihnen deine Mappe gefallen? Natürlich hat ihnen deine Mappe gefallen, deine Sachen sind wahnsinnig gut …«
Er zieht die Baseballkappe tiefer und lächelt mich strahlend an. »Nur noch ein paar kurze Wochen! Und dann werden wir diesem verdammten Kuhdorf endlich den Rücken kehren. Ich verlass mich darauf, dass der Rest der Welt bestehen bleibt, wenn …«
»Du wirst diesem verdammten Kuhdorf den Rücken kehren«, sage ich und schaue auf die Makronen. »Ich bin nicht sicher … ich meine, ich bin mir nicht mehr ganz so sicher …«
Grady nimmt sein Zitronenröllchen wieder auf und verschlingt mit einem großen, theatralischen Bissen den ganzen Rest auf einmal. »Ehrlich«, sagt er und tupft mit einem Finger voller Zuckerguss einen Smiley auf meinen Handrücken, »ich ertrage das Ergebnis der Inzucht hier in Eden Valley nicht, wenn ich nicht wenigstens einmal im Leben New York gesehen habe.«
Ich schlurfe um die Theke herum und schubse ihn mit der Hüfte an. Ich mag Meisterin im Themenwechsel sein, aber ich vermute, keiner von uns ist jetzt in der richtigen Stimmung für so eine Unterhaltung. »Grady, du bist wahrscheinlich auch außerhalb von Eden Valley sicher. Ist nicht das Ende der Welt schon ungefähr tausendmal vorausgesagt worden? Wie ist eigentlich der Plural von Apokalypse? Apokalypsi?«
»Apokalypsen?«, sagt er und stupst mich grinsend zurück. »Und stell dir mal vor – wenn wir wirklich die letzten Menschen auf diesem Planeten sind, dann wird irgendjemand, den wir kennen, tatsächlich mit der Aufgabe konfrontiert sein, sich mit Eddie fortzupflanzen.«
»Igitt – der arme Eddie«, sage ich lachend. »Ich bin mir nicht sicher, ob der Jüngste Tag katastrophal genug sein wird, dass er an eine Freundin kommt. Er wird möglicherweise das erste Opfer, wenn wir gezwungen sind, uns von Menschenfleisch zu ernähren.«
Aber Grady schaut schon wieder auf sein iPad und scheint nicht zuzuhören. »Nanu!«
»Was?«
Er schüttelt den Kopf und knetet sich mit der linken Hand den Nacken, wie er es immer tut, wenn er nachdenkt. »Nichts. Nur – guck dir das mal an.«
Er dreht das iPad zu mir herum und deutet auf die Anzahl der Klicks.
Jetzt steht dort schon: 89.
Ich schaue auf das Display. »Vielleicht hat Ned doch mehr Fans als nur ein paar Jungs vom Lande mit Schlafstörungen und Franks Mum?«
»Vielleicht.« Grady klappt das Smart Cover seines iPads zu. »Egal. Bist du bald fertig?«
»Bei dem Ansturm hier muss ich noch bleiben. Vielleicht in einer Stunde.«
»Cool. Ich habe Mr Grey versprochen, ihm zu helfen. Er will den kaputten Tisch im Pub reparieren, aber ich falle um, wenn ich nicht vorher was Gescheites zu essen kriege. Es sei denn, du willst noch eine Zeichnung fertig machen?«
»Nein, Essen ist prima«, sage ich, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an die Calamari denke, die es bei Nguyens sonntags immer als Angebot gibt.
Grady hebt seine Tasche auf, greift mit der anderen Hand nach der Blume, die ich mir ins Haarband gesteckt habe, und rückt sie gerade. »In Ordnung, ich warte auf dich.«
Er schlängelt sich an den Tischen vorbei, winkt verschiedenen Leuten zu und setzt sich mit einer Scheibe Bananenbrot an seinen üblichen Stammplatz. Er steckt die Nase in einen Roman von John Grisham, sein iPad ist vor ihm aufgebaut, vermutlich mit irgendeinem Video.
Dann lässt Paulette mit einem Riesenkrach ein Tablett voller Gabeln fallen, und ich bin abgelenkt, weil ich Rosie Addler ihren dritten Donut mit pinkfarbenem Zuckerguss bringe. Nur Sekunden später habe ich bereits alles vergessen, was mit YouTube und dem Echten Ned zu tun hat und mit den Zuschauerzahlen, die für einen windigen Niemand von einem Fernsehpropheten ein bisschen zu schnell angestiegen sind.
Gut, ich weiß, ich habe gesagt, dass ich ganz schlecht mit Details bin.
Und im Rückblick war das ein Detail, auf das ich wahrscheinlich besser hätte achten sollen.
2
Also, ihr erinnert euch doch sicher, dass ich gesagt habe, wenn ich meine Geschichte erzähle, dann handelt sie zwangsläufig auch von zwei Jungs? Ein bisschen Geduld noch, dazu komme ich gleich! Diese beiden Jungs sind aus meiner Lebensgeschichte nicht wegzudenken, aber ihr werdet nichts – weder das mit dem Weltuntergang noch sonst irgendwas – verstehen, wenn ich euch nicht vorher in ein paar einführenden Panels meine Freunde vorstelle, die Nebenfiguren aus Smallville sozusagen.
Jeden Montag kommt meine Clique erst mal ins Albany’s zum Frühstück geschlurft, alle mit schief sitzenden Schuluniformen, bevor wir dann die Straße zum Schulbus runtergehen, den wir uns mit den Grundschülern teilen. Zwar hat uns die Schule vor ein paar Wochen zum letzten Mal ausgespien, trotzdem hab ich mich dafür stark gemacht, dass wir uns weiterhin – zumindest solange alle noch hier sind – ganz normal wie an jedem anderen Montagmorgen hier treffen.
Tia platzt durch das seitliche Gartentörchen rein und zieht eine gähnende Caroline hinter sich her, als ich gerade die Picknickdecke auf dem weichen Kunstrasen ausbreite.
»Einen wunderschönen schulfreien Montag, Alba«, zwitschert Tia. »Tolles Pink, dein Shirt! Ist das von ModCloth?«
Ich drehe mich in meiner besten Pin-up-Girl-Pose vor ihr. »Mhm. Gefällt’s dir?«
»Ja, total!« Sie gibt Caroline einen Stups. »Siehst du? Es gibt noch was Modischeres auf der Welt als Jeans und dieses öde Zeugs von Jetty Surf.«
»Werd ich mir merken, falls ich mal ’ne Einladung zur Oscar-Verleihung krieg.« Caroline sinkt ermattet auf die Decke und faltet ihre langen Beine unter sich. »Mann, ist das eine Hitze heute! Es fühlt sich an, als würd ich sogar an den Augäpfeln schwitzen. Will uns da etwa jemand in der Hölle schmoren?«
Ich reiche ihr ein Croissant und mache mit dem Handy heimlich einen Schnappschuss von ihr, bevor sie mir den Stinkefinger zeigen kann. »Ach komm, sei nicht so eine Spaßbremse, Caroline! Kein Wölkchen am Himmel, die Vögel singen – ich finde das um einiges besser als Montagmorgen, erste Stunde, und dann gleich die fette Schweißwolke von Mr Baxter.«
Tia setzt sich auf die Picknickdecke und der fließende Stoff ihres Kleids legt sich um sie wie ein Teich. »Außerdem, nur noch achtmal schlafen – dann ist Weihnachten. Und wir müssen nie mehr im Leben montagmorgens eine Schulversammlung über die Gefahren von Drogenkonsum, Traktor-Spritztouren oder sonst was über uns ergehen lassen …«
Tia zieht eine Grimasse und sieht mich an. Eine Sekunde lang wundere ich mich, dass sie heute nicht ihre gestreifte Schuluniform anhat. Klar, auch ich kann sehr gut ohne die Predigt zum Montag von Direktorin Bainsworth leben und auch ohne ihre One-Woman-Aufklärungs-Shows mit zwei Puppen. Und trotzdem überkommt mich bei der Vorstellung von unserem Schulhof, wie er in der Sommersonne wie ausgestorben daliegt, eine flüchtige Wehmut, und ich spüre einen Kloß im Hals.
Caroline blinzelt in die späte Vormittagssonne und grinst uns drohend an. »Wenn ihr beide jetzt anfangt, Jubelchöre anzustimmen, dann muss ich euch eine runterhauen.«
Tia sieht mit müdem Lächeln zu mir hin. Eigentlich heißt sie Tiahnah, denn ihre Mum ist ein großer Fan von … naja, drücken wir das mal höflich aus: Mrs Holbrook ließ sich bei der Namensfindung für ihre Töchter von Reality-TV-Shows inspirieren, und folglich heißen sie nun ganz überkandidelt, nämlich Tiahnah, Brihannah und Khahliah.
Ungelogen.
Brihannah hat sich schon vor Jahren in die Großstadt abgesetzt, und Khahliah hat die Schule geschmissen und ist nach Perth zu einem Typen gezogen, den sie im Internet kennengelernt hatte. Aber Tia ist schwer in Ordnung und erinnert mich an Josie aus den Archie-Comics von meinem Dad, nur hat sie kein orangerotes, sondern kastanienbraunes Haar und einen viel besseren Klamottengeschmack.
Grady kommt ein paar Minuten später angeschlappt, mit seinem keuchenden Labrador Clouseau im Schlepptau.
»Du bist spät dran«, sage ich und knuddle Clouseau. »Wir beide hatten doch noch Pläne, Grady! Große Pläne! Ich hab ganz krank vor Sorge neben dem Telefon gesessen, während du mit deinen nichtsnutzigen Kumpels und dieser Schlampe aus dem Frisörsalon um die Häuser gezogen bist …«
»Hey, Süße!«, entgegnet er und klingt dabei wie ein Gangster aus einem alten Film. »Du bist nicht mein Boss! Ich bin eben ein Typ, der mehrere Eisen im Feuer hat.« Caroline rümpft nur die Nase, als Grady sie und Tia mit lässigem Winken begrüßt. »Also, ich hatte doch Rosie versprochen, das Tor von ihrem Hühnerknast zu reparieren, aber dann musste ich erst mal den halben Vormittag ihren Drecksköter davon abhalten, aus Clouseau Hackfleisch zu machen. Das waren schwer verdiente zwanzig Kröten! Und jetzt bin ich total ausgehungert.«
Ich hab was zu futtern auf einen der kleinen Bistrotische gestellt. Grady greift nach einem Cupcake, aber ich gebe ihm einen Klaps auf die Hand. »Nicht! Da sind Erdbeeren drin.«
Er lässt den Cupcake fallen, als wäre es eine entsicherte Granate. »Wusst ich’s doch! Du versuchst wirklich, mich umzubringen. Und das ohne jede Vorwarnung?«
Ich drehe den Teller ein Stück zu ihm herum und deute auf ein riesiges, pinkfarbenes Post-it. Darauf steht: HÄNDE WEG, D. G.! ERDBEEREN! LEBENSGEFAHR!
»Tut mir echt leid, aber Mr Everson hat uns eine Kiste Erdbeeren mitgebracht, und Mum wollte sie nicht wegwerfen. Aber schau mal da, ich hab dich sogar als Strichmännchen draufgezeichnet. Es hat genau deine Haare und deine Figur!«
Grady zieht die Nase kraus. »Hättest du die Dinger nicht auf den Kompost schmeißen können? Und warum hast du das Strichmännchen nicht gleich mit einem Krampfanfall vom anaphylaktischen Schock gezeichnet?«
Aber ich komme nicht dazu, ihm zu antworten, denn ein muskelbepackter Arm legt sich von hinten um Gradys Hals, während sein fleischklopferartiges Gegenstück ihm in die Rippen boxt.
»Hey, Arschnase. Wie geht’s dir, G-Man?«
Grady zieht eine Grimasse. »Eddie, nimm deine Pranken von mir runter«, knurrt er.
»Ah, heute nicht zu Späßen aufgelegt, Domenic? Dabei hast du doch gestern Abend noch gesagt …«
Grady wirft Eddie einen Cupcake an den Kopf. »Ed, ich weiß ja, dass du die Hände nicht von mir lassen kannst, aber könntest du es in der Öffentlichkeit zumindest versuchen?«
»Werde mein Bestes tun. Aber ich kann ja nichts dafür, dass du so verdammt süß bist.« Eddie grinst mich an. »Aloha, meine Schöne«, sagt er in seinem dröhnenden Bariton. »Siehst heute besonders scharf aus. Warum sind wir eigentlich noch nie miteinander ausgegangen?«
Ich schiebe ihm ein Blätterteigteilchen und einen Kaffee mit vier Stück Zucker rüber: das übliche Getränk zu seinen üblichen Sprüchen. »Danke, Ed! Und ich bin nie mit dir ausgegangen, a) weil du mich nie gefragt hast, und b) weil ich dich liebe, aber du bist trotzdem irgendwie ein ziemlicher Drecksack.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen«, sagt Eddie und verputzt mit einem einzigen Biss das halbe Teilchen.
In einem amerikanischen Film würde Eddie garantiert einen Muskelprotz-Footballer, einen Linebacker vielleicht, spielen und er würde Biff oder Chud heißen. Und als Figur in einem Comic wäre er vermutlich von lauter speichelleckenden Gehilfen umgeben – oder er würde, die eine sommersprossige Gesichtshälfte durch Brandnarben entstellt, ziellos herumstapfen und wahllos auf Rache sinnen. Aber da er in Eden Valley geboren und aufgewachsen ist, ist Francis Edwin Palmer weder ein Superbösewicht noch – obwohl er uns das ständig weismachen möchte – ein dumpfbackiges, hirnloses Muskelpaket. Wenn das Universum so funktionieren würde, wie es sollte, dann müsste Ed eigentlich mit den stiernackigen Kerlen aus dem Merindale Football Team oder mit den Arbeitern von der Farm seiner Eltern rumhängen. Aber Eddie ist ganz und gar harte Schale und weicher Kern und, seit wir denken können, unser Kumpel. Zugegeben, er verwendet das F-Wort ziemlich oft – aber da ich diese Geschichte erzähle und es wirklich nicht alle paar Sekunden in den Mund nehmen möchte, unterschlage ich beim Erzählen meiner Geschichte seine krassesten Flüche.
»Verdammte Scheiße, das ist wirklich eine Scheißhitze«, stöhnt er und lümmelt sich auf den Boden. Er reißt verblüfft die Augen auf, als er Caroline genauer betrachtet. »Verdammte Scheiße, was hast du mit deinen Haaren gemacht, Gresham?«
Caroline streicht sich über die echt scharfen violetten Strähnen in ihrem blonden Haar. »Halt bloß die Klappe, Ed. Ich hab mich endlich von zwölf Jahren Schuluniformhölle befreit – und ich hab mir nur deswegen kein Zungenpiercing machen lassen, weil mein Dad gedroht hat, er würde dann mit dem Geld, das ich von meiner Großmutter zum Abschluss bekommen hab, unser Garagentor reparieren lassen. Auf deine gütige Erlaubnis hab ich verzichtet. Und ich hab dich jetzt auch nicht nach deiner Meinung gefragt.«
»Vielleicht hättest du mal nach einem Spiegel fragen sollen«, kontert Eddie und weicht aus, bevor sie ihm eine verpassen kann.
»Also, mir gefällt’s!«, erkläre ich und strecke mich auf der breiten Sonnenliege neben Grady aus, der gerade eine Zimtschnecke verdrückt.
Er rutscht ein Stück rüber, um mir Platz zu machen. »Wenn du jetzt noch so einen Spandex-Ganzkörperanzug trägst, siehst du aus wie eine Figur aus X-Men.«
»Wer trägt hier einen Spandex-Anzug?«
Pete schiebt sich durchs Gartentor, lässt sein Rennrad mit einem dumpfen Aufschlag fallen und steuert geradewegs auf die Fressalien zu.
Eddie begrüßt ihn mit einem Zwei-Finger-Winken. »Petey! Meine Mum hat gestern Abend im Fernsehen Wasser für die Elefanten gesehen. Das war zwar gequirlte Kacke, aber ich musste an dich denken: Zirkuszelte, Akrobaten – ist das für deinesgleichen nicht so was wie ein Porno?«
Pete wird knallrot. »Eddie, kannst du dieses Thema endlich mal abhaken?«, stöhnt er. »Und könnten wir darüber bitte nicht vor meiner Freundin sprechen?«
Eddie bricht in johlendes Gelächter aus. Selbst Grady schafft es nicht, ein Glucksen zu unterdrücken. »Sorry, Mann«, sagt Eddie mit lässiger Geste. »Ich versuch doch nur, dich bei deinem Lebensstil zu unterstützen.«
Grady und ich hatten immer so halb vermutet, Peter Nguyen sei schwul, bis Pete in den Sommerferien nach der neunten Klasse mit Ed und dessen Brüdern ein Wochenende campen war. Auf demselben Campingplatz fand zufällig ein Zirkus-Trainingswochenende statt. Und anscheinend ertappten die anderen Pete dabei, so berichtete mir Grady, wie er – hüstel – mit seinen Bällen spielte, nachdem er den Mädels beim Jonglieren zugesehen hatte. Ich muss wohl kaum betonen, dass ich mir seither den Cirque du Soleil nie mehr so unbefangen ansehen konnte wie früher.
ENDE DER LESEPROBE