Zusammen sind wir unendlich - Melissa Keil - E-Book

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Melissa Keil

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Beschreibung

Sophia ist ein Mathegenie voller Selbstzweifel und ohne Smalltalk-Gen. Nun zieht auch noch ihre Freundin Elsie, die einzige Person, die sie versteht, zum Studium in die USA: ewige Einsamkeit vorprogrammiert. Wäre da nicht Josh, der Hobby-Magier, der schon lange in Sophia verliebt ist. In einem Anfall von Mut steckt er eine Spielkarte in ihr Federmäppchen. Die Herz Zwei. Für Josh eine eindeutige Liebeserklärung, für Sophia ein Rätsel. Er muss also deutlicher werden; zum Beispiel mit einem Feueralarm …

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Melissa Keil

Zusammen sind wir unendlich

Aus dem Englischen von Yvonne Hergane

Sophia ist ein Mathegenie voller Selbstzweifel – schließlich landen genug Wunderkinder unter der Brücke! Und ein Smalltalk-Gen hat sie auch nicht abbekommen. Nun zieht auch noch ihre Freundin Elsie, die einzige Person, die sie versteht, zum Studium in die USA: ewige Einsamkeit vorprogrammiert. Wäre da nicht Josh, der Hobby-Magier, der schon lange in Sophia verliebt ist. In einem Anfall von Mut steckt er eine Spielkarte in ihr Federmäppchen. Die Herz Zwei. Für Josh eine eindeutige Liebeserklärung, für Sophia ein Rätsel. Er muss also deutlicher werden; zum Beispiel mit einem Feueralarm …

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Leseprobe

Kein Künstler sollte versuchen, ein rotglühendes Eisen durchzubeißen, sofern er nicht über ein perfektes Gebiss verfügt.Harry Houdini

Der größte Kartentrick der Geschichte ist unter vielen verschiedenen Namen bekannt. Manche nennen ihn Topping the Deck, andere The Ambitious Card, aber die meisten Zauberer kennen ihn als The trick that fooled Houdini, denn es war der Trick, den Houdini niemals durchschaute.

Der selbst ernannte weltgrößte Zauberer war nämlich so von seiner eigenen Großartigkeit überzeugt, dass er seinen Berufsgenossen eine offene Kampfansage vor die Füße knallte: Egal welchen Trick man ihm vorführte– spätestens nach dem dritten Mal würde er sagen können, wie er funktionierte. Houdini glaubte fest daran, dass es auf der Welt nichts gab, was er nicht erklären könnte, keine Illusion, die er nicht durchschaute.

Vielleicht war Houdini ja auch nur ein Schwachkopf. Jedenfalls hatte er keine Ahnung von dem Konzept der weltumspannenden Unausweichlichkeit, mit der das Karma irgendwann jedem in den Arsch tritt.

Dai Vernon, einer der damals besten Kartenzauberer, nahm Houdinis Herausforderung an. Er bat Houdini, eine Karte aus einem Deck auszusuchen und seinen Namen draufzuschreiben. Diese Karte steckte er dann mitten zwischen die anderen Karten ins Deck. Dann schnipste Vernon mit den Fingern und– zack!– tauchte Houdinis Karte als oberste auf dem Deck auf. Houdini ließ sich den Trick noch mal zeigen. Und noch mal. Sieben Mal wiederholte Vernon den Trick, aber Houdini kam nicht dahinter, wie er funktionierte. Überflüssig zu erwähnen, dass der weltgrößte Zauberer ziemlich angepisst war. Er konnte zwar unzählige Entfesselungstricks, darunter einige unter Wasser oder in Form von Gefängnisausbrüchen, aber er schaffte es nie, Vernons Kartentrick zu durchschauen.

Ich schaffte es schon mit zehn Jahren.

Ich würde jetzt zwar nie behaupten, dass mich das zu einem besseren Zauberkünstler macht als Houdini, das würde ja komplett bescheuert klingen. Aber trotzdem– etwas rauszufinden, woran ein so großer Meister gescheitert ist, kann einem das Ego ganz schön pushen. Und mit etwas Übung ist The Ambitious Card, der Trick der aufstrebenden Karte, gar nicht so schwer. Wie bei all meinen Lieblingstricks liegt seine Genialität in seiner Einfachheit: Eine gute Ausrüstung und ein bisschen Fingerfertigkeit ist alles, was man dazu braucht.

Fingerfertigkeit ist sowieso die Grundlage für die meisten Zaubertricks. Wichtig ist natürlich auch, die Zuschauer durch Ablenkung in die Irre zu führen. Aber der Schlüssel zu jeder Art von Magie ist viel simpler:

Timing.

Ohne perfektes Timing wird jeder Zauberer am Ende Mist bauen– die Karten fallen lassen oder, keine Ahnung, sich die Beine absägen. Man kann das gar nicht oft genug betonen: Das wichtigste Werkzeug in der Trickkiste eines Zauberkünstlers ist das Timing.

Und man braucht natürlich Zuschauer. Zumindest einen einzigen, der bereit ist, deinen Machenschaften zu folgen. Ohne den geht es nicht.

Ich schiele im Bioraum nach vorne. Mr Grayson versucht gerade ein YouTube-Video– das wahrscheinlich etwas mit Biologie zu tun hat– aufs Smartboard hochzuladen. Er gibt sich betont souverän, aber das panische Herumtippen auf seinem Laptop verrät, dass er ungefähr genauso sehr ein Technikfreak ist wie ein Franziskanermönch. Die Luft im Raum ist abgestanden und zum Schneiden dick. Die meisten in der Klasse wirken, als wären sie ins Wachkoma gefallen, sofern sie nicht ganz eingeschlafen sind.

Nur eine nicht.

Sophia.

Ich senke den Blick und starre meine Tischplatte an.

Sophia. Von ihrer besten Freundin, Elsie Nayer mit dem niedlichen Gesicht, »Rey« genannt. Von unseren Lehrern, die sie nur mit einer Mischung aus Besorgnis und Ehrfurcht ansprechen, »Ms Reyhardt« genannt. Von allen anderen »Das Genie«.

Sophia starrt auf das Smartboard mit dem endlos drehenden Kreis. Sie tippt sich ungeduldig mit dem Bleistift an die Lippen, so tief vornübergebeugt, als versuche sie sich selbst von außen nach innen zu stülpen.

Achtung, gleich erwähnt sie mich. Gut aufpassen und nicht zwinkern, sonst kann man das leicht verpassen.

Ich glaube, gleich wird sie mich als »Vollhonk, der ständig vor sich hin grinst« beschreiben.

Okay, perfekt ist das nicht. Aber um ehrlich zu sein, auch nicht sooo überraschend.

Sophia schaut über die Schulter nach hinten, wobei ihre schwarzen Haare hin und her schwingen. Sie lässt den Blick über die Klasse wandern und überspringt mich mit einer Miene, in der nur der leiseste Hauch von Abscheu liegt.

Also gut. Ich bin nicht gerade der vielversprechendste Kandidat für das Amt des Abschlussballkönigs. Ein Typ, der seine ganze Freizeit zwischen den Geschichts-Regalen der Bibliothek verbringt, standorttreu wie eine Topfpflanze, ist bei anderen menschlichen Lebensformen eben nicht besonders beliebt.

Und vielleicht habe ich ja wirklich die Angewohnheit, »wie eine Krüppelspinne rumzustaksen«– so lautete zumindest das Urteil aus dem Mund irgendeiner mir nicht näher bekannten Sportskanone, das ich mal zufällig mitgehört habe. Wobei ich das schon ein bisschen ungerecht finde. Es ist echt schwer, nicht rumzustaksen, wenn man fast eins neunzig groß und wie eine Gottesanbeterin gebaut ist.

Ach ja. Und vielleicht wurde ich neulich in einen schwarzen Umhang gehüllt am Bahnhof gesichtet.

Tja, was soll ich sagen? Mein Timing ist nicht immer das beste.

Ich schiele wieder zu ihrem Pult rüber.

Bedeutsame Momente prägen sich auf vielerlei geheimnisvolle Arten ins Gedächtnis ein. Ich weiß noch, dass die Schulversammlung im Frühling war, weil die Schule von einem riesigen Blätterdach beschattet wurde, von gigantischen Rotahornen, die den Himmel verdunkelten. Ich erinnere mich an eine Armee von Siebtklässlern, die in das Kunstgebäude am Ende des großen Rasenplatzes gequetscht wurden; hundert graue Uniformen, kalt und klamm vom Nieselregen. Ich weiß noch genau, wie man mich auf einen wackligen Sitz bugsierte, direkt hinter einen Typen, der für seinen Brief an die Queen einen Preis gekriegt hatte– und neben das Mädchen mit dem dicken schwarzen Pferdeschwanz, das ich schon das ganze Schuljahr über aus der Ferne beobachtet hatte.

Das Mädchen, in dem ich eine vertraute, schlackerige Rastlosigkeit erkannt hatte, als würden die Moleküle ihres Körpers zwischen verschiedenen Dimensionen hin und her oszillieren.

Von den endlosen Reden, die auf der Bühne gehalten wurden, weiß ich kein Wort mehr. Ich erinnere mich einzig und allein an Sophia, wie sie unnahbar und aufrecht neben mir saß. Sie hatte den Blick auf ein Blatt Papier geheftet, das mit Kritzelzeichen bedeckt war, wie eine Geheimsprache– die Lösungen zu einem landesweiten Mathewettbewerb, bei deren Anblick unsere Lehrer sich vor Begeisterung fast in die Hose machten.

Ich weiß noch, dass ich mich geräuspert habe, ein unwillkürliches Geräusch, das sich bestimmt mehr wie ein Wimmern angehört hat.

Sie hob den Kopf und schaute mich mit ihren dunklen Augen an, eine Sekunde nur, ohne zu blinzeln.

Und obwohl ich in dem Jahr kaum ein Wort gesagt hatte, kam jetzt eine rostige Stimme aus meinem Mund.

»Was siehst du da?«

Sie senkte den Blick wieder und ließ die Finger wie Schmetterlinge ehrerbietig über ihre Gleichungen flattern. Dann lächelte sie, ohne aufzusehen, und sagte ein Wort– das einzige Wort, das Sophia Reyhardt in nunmehr fast fünf Jahren zu mir gesagt hat: »Magie.«

Und da wusste ich, dass mein Leben nur dann etwas wert war, wenn Sophia darin vorkam.

Ich würde alles Geld, das ich besitze, drauf verwetten, dass Sophia sich an diesen Moment überhaupt nicht erinnert. Ich würde meine Sammlung Raymond-E.-Feist-Erstausgaben und meine superseltene, gebraucht gekaufte, aber immer noch originalverpackte russische Marine-Uhr drauf verwetten, dass Sophia in mir nicht mehr sieht als einen herumstaksenden, ständig merkwürdig grinsenden Irren– falls sie überhaupt jemals einen Gedanken an mich verschwendet.

Was schon okay ist.

Ich tätschele das Kartendeck in meiner Tasche.

Die Wortspiele zum Thema »Richtige Karte zum richtigen Zeitpunkt ausspielen« und so erspare ich euch jetzt.

Aber wie gesagt, Timing ist alles.

Und ich glaube, meine Zeit ist jetzt gekommen. Oder zumindest fast.

1. KAPITEL

DIE UNSCHÄRFERELATION

Eine Grundannahme in der Teilchenphysik besagt, dass jedes aktuell existierende Atom zuvor schon in Milliarden anderen Formen existiert hat. Nichts– nicht der kleinste Teil des Universums– ist neu. Es ist also gut möglich, dass die Luftmoleküle, die man einatmet, in einem früheren Leben schon zum Kern eines Sterns gehört haben oder im Urin eines Dinosauriers geschwommen sind.

In diesem Augenblick starre ich auf den Leberfleck auf Mr Grayons linkem Nasenflügel und frage mich, wo er wohl schon überall gewesen ist. Stecken in dem Leberfleck die gleichen Atome wie in einem der Jupiter-Monde oder einem prähistorischen Faultier oder einem Stück uraltem Gipsputz oder Euklid? Himmel, gibt es einen deprimierenderen Gedanken als das? Euklid war einer der größten Mathematiker der Geschichte und seine Atome haben sich zum Muttermal eines kahl werdenden Biolehrers formiert, der eine zwölfte Klasse unterrichtet und im Moment stirnrunzelnd auf seinen Computerbildschirm starrt, als würde ihn der drehende Ladekreis des Todes hypnotisieren.

Wieso ich mich dermaßen über einen Leberfleck aufrege? Keine Ahnung. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass es irgendwelche Gründe geben muss für die mäandernden Wege, die meine Gedanken so einschlagen. Aber seit Neuestem hege ich die Vermutung, dass die meisten Sachen, die mir im Kopf herumschwirren, eher so was wie intellektuelle Essensreste sind– Dreck, der in meiner Großhirn-Suppe schwimmt und in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder an die Oberfläche kommt.

Mr Grayson kämpft mit YouTube, denn natürlich muss eine Unterrichtseinheit über Mitose von einer Computeranimation und einem rockigen Soundtrack begleitet werden. Die Überreste seines Mittagessens– ein trauriges Roggenbrot-Dreieck mit Käse und eine glitschige Banane mit braunen Flecken– liegen noch auf seinem Pult.

Fakt: Bananen besitzen eine natürliche Radioaktivität, weil sie Kalium 40 enthalten, ein radioaktives Isotop.

Fakt: Die DNA eines Menschen ist zu fünfzig Prozent mit der DNA einer Banane identisch. Elsie hat mich neulich an einem Samstag gezwungen, eine ganze Staffel Dance Moms auf Netflix zu gucken. Womit dieser Fakt nicht mehr ganz so verblüffend ist.

Fakt: Das Lied Ausgerechnet Bananen, das im Original mit dem Titel Yes, We Have No Bananas im Jahr 1923 der totale Hit war, geht auf eine tatsächliche Bananen-Knappheit zurück, für die chronische Lieferschwierigkeiten der brasilianischen Bananenpflanzer verantwortlich waren.

Na toll, jetzt habe ich diesen blöden Song als Ohrwurm!

Halt die Klappe halt die Klappe halt…

Elsie klopft mir unter unserem Pult einmal heftig aufs Handgelenk. »Sophia. Nicht. Durchdrehen«, murmelt sie. Ihre Stimme klingt beruhigend und glatt wie Glas. In letzter Zeit setzt sie diese Stimme immer öfter ein, wenn sie mit mir redet, und ich bin mir sicher, dass das genau die Sorte Stimme ist, mit der auch potenzielle Selbstmörder bequatscht werden, um sie von der Brücke runterzuholen.

»Ich. Drehe. Nicht. Durch«, raune ich zurück.

Elsies tief liegende Augen sind in dem schwachen Licht kaum zu erkennen, aber ich mutmaße, dass sie mich gerade mit ihrem strengen Mach-keinen-Scheiß-Blick fixiert. »Doch, tust du. Mach die Augen zu, Sophia. Tief durchatmen.«

Ich habe jetzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehorche oder ich muss mich schon wieder einer Meditationssitzung mit ihrem Bruder Colin unterziehen, der vor Kurzem erst die »Kunst der Achtsamkeit« für sich entdeckt hat. Also tue ich, was sie sagt. Ich mache die Augen zu und konzentriere mich darauf, das Hämmern in meiner Brust zu verlangsamen.

Panikattacken– selbst die kleineren– sind echt zum Kotzen.

Elsie lässt ihre Hand neben meiner liegen, bis meine Atmung wieder halbwegs normal ist. Erst dann nimmt sie sie weg. Keine Ahnung, woher sie weiß, wann es so weit ist. Als ich die Augen öffne, zwinkert sie mir zu und wendet sich wieder dem Smartboard zu.

Mr Grayson hat dankenswerterweise endlich die Neustart-Funktion an seinem MacBook entdeckt und der Bildschirm wird schlagartig wieder lebendig– eukaryotische Zellen, begleitet von einer Musik, die sich anhört wie der Todeskampf eines kaputten Dalek aus Doctor Who. Ich atme ein und aus. Und schiele unwillkürlich über die Schulter zu den achtzehn Gesichtern, die hinter mir im Dunkeln lauern.

Da hätten wir Margo Cantor und Jonathan Tran, die einander mit ihren seltsamen Kuhaugen anstieren, dann Lucas Kelly, dessen Schulkrawatte unten aus dem offenen Hosenschlitz spitzelt. Hinten in der Ecke sitzt der Neue, Damien Pagono, der nur dadurch auffällt, dass er mal wieder mit dem Bleistift in der Nase bohrt. Neben ihm der Vollhonk, der ständig vor sich hin grinst. Er hält den Kopf tief über sein Buch gebeugt, und durch die dunkle Haargardine sieht man nur einen bleichen Wangenknochen.

Ich drehe den Kopf wieder zum Smartboard. Mitose. Jippie.

Ich bin kein Wunderkind, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Ich habe weder die Riemann’sche Hypothese bewiesen, als ich noch ein Fötus war, noch habe ich mit zwei Jahren Sinfonien komponiert oder so. Aber ich konnte tatsächlich schon lesen, bevor ich laufen lernte. Und ich verstehe Zahlen so, wie andere Leute ihre Muttersprache verstehen. Ich habe keine Ahnung, wie hoch mein IQ ist, meine Eltern wollten nämlich nie, dass der getestet wird. Und ehrlich gesagt hat mich das auch nie so wirklich interessiert.

Um mit meiner Mutter zu sprechen: Ich bin einfach »ziemlich schlau«, aber weder »anders« noch »besonders«.

Und um mit Matt Smith zu sprechen, meinem Lieblingsarzt aus Doctor Who: »Ich denke viel nach. Manchmal ist es schwer, den Überblick zu behalten.«

Aber hier kommt das Problem: Auf jedes ehemalige Wunderkind, das sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, den Krebs zu besiegen oder einen intelligenten Sex-Bot zu bauen oder was auch immer, kommt ein weiteres ehemaliges Wunderkind, das unter der Brücke lebt, mit seinen Schuhen redet und an seinen Fußnägeln knabbert. Auf jedes jugendliche Genie, das einen Nobelpreis oder eine Fields-Medaille kriegt, kommt ein Dutzend anderer, die in der Bedeutungslosigkeit versunken sind, deren vielversprechender Start sich in Luft aufgelöst hat, wie die Berühmtheit ehemaliger Promis aus dem Podcast Who? Weekly, den Mum so liebt.

Und dann gibt es da natürlich noch mein allerliebstes prominentes Burnout-Opfer.

Grigori Perelman sollte eigentlich so was wie ein Mathe-Superheld sein. Er müsste eigentlich in einem russischen Penthouse residieren, von einer Traube Supermodels umgeben– oder wovon berühmte Typen halt sonst noch so träumen. Perelman hat nämlich die Poincaré-Vermutung bewiesen. Er war der erste Mensch in der Geschichte, der dieses bis dato als unlösbar geltende Problem gelöst hat. Die Poincaré-Vermutung trägt sozusagen dazu bei, die Gestalt des Universums zu erklären, was in gewissen Kreisen als extrem bemerkenswert gilt. Also sollte Perelman in gewissen Kreisen eigentlich als Gott gelten.

Was er hingegen nicht tun sollte, ist, mit seiner Mutter in einer kakerlakenverseuchten Wohnung zu hausen, auf Karriere, Mathe und Körperhygiene zu pfeifen und als der Einsiedler berühmt zu sein, der den Eine-Million-Dollar-Preis für die Lösung eines Rätsels abgelehnt hat– eines Rätsels, an dem sich vorher die genialsten Gehirne der Welt die Zähne ausgebissen hatten. Nicht mal Elsie, die voll auf bizarre medizinische Geschichten abfährt, kann die Größenordnung dieses Ereignisses ermessen.

In habe im Sommer einen Artikel über Perelman gelesen. Seltsamerweise war das auch ungefähr die Zeit, in der das mit meinen Panikattacken anfing.

Ich hätte das meinen Eltern gegenüber so was von nicht erwähnen sollen! Denn jetzt, in meinem letzten Highschool-Jahr, steht plötzlich »Theater« auf meinem Stundenplan. Das hat die Schulpsychologin in Absprache mit meiner Mutter und meinem Vater beschlossen.

Theaterspielen soll »kathartisch« sein. »Reinigend«.

Es soll dazu beitragen, meine »derzeitige mentale Situation« zu verbessern, indem es mich zwingt, etwas zu tun, was »außerhalb meiner gewohnten Fähigkeiten« liegt.

Und es soll »Spaß« machen.

Statt also meine Freizeit mit sinnvollen Dingen zu verbringen, zum Beispiel Schlafen oder dem Versuch, die Riemann’sche Hypothese zu beweisen, muss ich mich jetzt in dem runtergekommenen Kunstgebäude auf die Bühne stellen und so tun, als wäre ich ein Baum, im verzweifelten Versuch, auf Knopfdruck »meine Gefühle auszudrücken«.

Elsie tippt mit ihrem Stift aufs Pult, um mich in die Gegenwart zurückzuholen. »Alles okay, Rey«, murmelt sie, und es hört sich an wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.

Ich schließe die Augen und atme. Ich bin okay. Aber ich sollte eigentlich wesentlich mehr als okay sein.

Ich sollte außergewöhnlich sein.

Es klingelt. Die Lichter gehen an. Die wache Hälfte der Klasse springt auf, die andere Hälfte hievt sich schlaftrunken auf die Füße. Ich schüttele meine depressive Nabelschau-Stimmung ab und stehe ebenfalls auf.

Elsie packt ihre Sachen zusammen. Damien Pagono summt im Vorbeigehen den Refrain von dem Rolling-Stones-Song Brown Sugar, grinst Elsie an und zwinkert ihr auf eine Art zu, die sie längst als »schleimig« kategorisiert hat. Offenbar hat es seinen Enthusiasmus keinen Deut geschmälert, dass wir die letzten zehn Male, als er uns mit Serenaden über dunkelhäutige Mädchen beschenkt hat, keinerlei Reaktion gezeigt haben. Elsie und ich haben das Thema schon ausführlich diskutiert, aber wir sind uns noch immer nicht darüber im Klaren, ob sein Verhalten rassistisch ist oder nicht. Wir ignorieren ihn wie immer.

»Wieder eine Woche geschafft. Bleiben noch sechzehn.« Elsie stopft ihre Bücher in die Tasche. »Also, ist bei dir wirklich alles gut?«

Ich quetsche mich in meinen Blazer, ein knisterndes Kratzungetüm aus Polyester und Wolle, während die Klasse an mir vorbeiwuselt. »Ja, alles bestens. Ich hatte nur gerade … so einen Moment.«

»Okay. Und hast du irgendeine Ahnung, warum deine … Momente sich in letzter Zeit so häufen?«, hakt sie vorsichtig nach.

»Wird das jetzt ein ernsthafter Versuch einer Diagnosestellung oder stochern Sie nur im Nebel, Doktor Nayer?«, frage ich und streiche meine Schuluniform glatt.

Elsie zieht eine Augenbraue hoch. »Wenn ich später mal an einer Schickimicki-Klinik Leiterin der Kardiologie bin, werde ich dich dran erinnern, wie herablassend du den Titel Doktor immer verwendet hast.«

Ich hatte echt nicht vor, ätzend zu klingen, und glaube auch nicht, dass sie echt sauer ist, aber ich entschuldige mich trotzdem, nur für alle Fälle. »Tut mir leid, Els. Ich bin einfach nur … müde.«

Elsie hebt meinen angekauten Bleistift auf, der aus irgendeinem Grund auf dem Fußboden liegt. »Sophia, geh nach Hause. Setz dich vor den Fernseher. Morgen ist morgen immer noch morgen.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Glückskeks-Weisheit?«

Sie grinst. »Nein, Klopapier mit aufgedruckten Zitaten des Tages.«

»Der beste Ratschlag, den du mir anbieten kannst, stammt also von der Toilette? Soll das eine Metapher für mein Leben sein oder was?«

Elsie greift rasch um mich herum und richtet meinen verdrehten Taschengurt. »Metaphorische Toilette hin oder her, Rey, ich finde, man sollte seine Inspiration überallher beziehen, wo man sie nur kriegen kann.«

Ich greife nach meinem Doctor-Who-Stiftemäppchen im TARDIS-Design und ziehe den Reißverschluss auf.

Da liegt eine Karte drin.

Sie sieht glatt und neu aus, blau mit einem silbernen Schnörkel-und-Sternchen-Muster auf einer Seite. Eine Spielkarte in Standardgröße. (Neunundfünfzig mal einundneunzig Millimeter. Keine Ahnung, woher ich das weiß.)

Ich drehe die Karte um.

Die Herz-Zwei.

Elsie beugt sich übers Pult zu mir herüber. »Spielst du seit Neuestem Blackjack? Bei deinem fotografischen Gedächtnis könnten wir ein Vermögen damit machen.«

»Elsie, die gehört mir nicht. Ist das deine?«

Sie schnaubt. »Seh ich etwa aus wie meine Tante Amita? Ich fange erst mit Kartenlegen an, wenn mir auch so ein hübscher Wechseljahr-Schnurrbart wächst.«

Ich starre die Karte stirnrunzelnd an. Sie starrt zurück.

Die Herz-Zwei ist von einer zart gezeichneten schwarzen Sanduhr umschlungen. In den Sandbehältern oben und unten stehen die roten Herzen, die Spitze jeweils aufeinander gerichtet, und durch den schmalen Mittelteil sickert ein Faden roter Sand, der die beiden Herzen miteinander verbindet. Ein ganz schlichtes Motiv. Aber irgendwie auch schön.

»Elsie, jetzt im Ernst, wo kommt das Ding her?«

Sie seufzt. »Sophia, jetzt steiger dich da nicht rein. Es ist doch nur eine Spielkarte.« Sie zupft an ihrem Pferdeschwanz, dass er auf und ab wippt– das Zeichen dafür, dass sie angenervt ist und die Unterhaltung beenden will. »Ich muss zur Bandprobe. Bist du sicher, dass du allein klarkommst?«

Ich schüttele meinen Kopf frei. »Ja, klar. Sehen wir uns heute Abend?«

»Jep. Ich brauche Hilfe bei den Physik-Hausaufgaben. Und in Mathe auch. Und ich habe jede Menge neue Flyer über Campus-Unterkünfte. Wenn wir nicht bald was Gutes aussuchen, lande ich am Ende noch in einem Schlafsaal voller amerikanischer Cheerleaderinnen mit Riesenzähnen. Oder schlimmer noch– voller Bibelkreis-Teenies.« Sie wirft mir ihr typisches breites Lächeln zu und ist schon raus aus dem Bioraum, bevor ich etwas erwidern kann.

Ach Scheiße, ich habe heute Abend so was von keine Lust auf Elsies Zukunftsplanung!

Ich schaue wieder die Karte an.

Sie ist wirklich hübsch. Wahrscheinlich soll es so aussehen, als ob der Sand von einer Seite der Sanduhr auf die andere fließt, aber es lässt sich unmöglich sagen, in welche Richtung. Ein perfekt palindromisches Bild; Herzen, die einander spiegeln und das Unmögliche versuchen, nämlich die Zeit festzuhalten. Aber…

Mein Mäppchen hat die gesamten achtzig Minuten, die der Bio-Unterricht gedauert hat, direkt vor mir auf dem Pult gelegen, mit Reißverschluss zu. Ich habe mich kein einziges Mal wegbewegt. Niemand hat sich meinem Tisch genähert.

Fakt: Diese Karte gehört mir nicht. Und Elsie gehört sie auch nicht. Diese Karte war zu Beginn der Stunde noch nicht da und es gibt keine logische Erklärung dafür, wie sie in meiner Stiftemappe gelandet ist.

Ich drehe sie wieder um.

Die Herz-Zwei…

Faszinierend.

2. KAPITEL

DAS PARADOX DES ZEITREISENS

Vom Bus muss ich durch peitschenden Regen nach Hause rennen. Das ist so die Sorte Regenguss, die von der Seite kommt und vor der einen kein Schirm der Welt schützen kann, egal wie sehr man sich damit verrenkt. Ich lebe schon seit meiner Geburt in Melbourne, aber das Wetter hier macht mich immer noch völlig fertig. Jeder noch so hellblaue Morgen kann sich bis zum Mittagessen in ekliges Sturmgrau verwandeln, als würde die Stadt unter chronischen, krankhaften Stimmungsschwankungen leiden.

Ich taumele durch die Seitentür in unsere eiskalte Küche. Mein Bruder kampiert am Esstisch, die magere Gestalt unter einem Parka versteckt. Sein Atem bildet Wolken, seine Lippen sind bläulich verfärbt. Erst vor Kurzem hat Toby sich als Lernpartner im Fach Wirtschaft einen finnischen Austauschschüler angelacht und der stopft das Hirn meines Bruders jetzt mit allem möglichen Unsinn über Gedächtnis-Umcodierung durch Wärmeregulierung voll– das entbehrt zwar jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, aber trotzdem dürfen wir jetzt (danke, Viljami!) während der Prüfungszeiten keine Heizung mehr anmachen.

Tobys Bücher liegen ausgebreitet vor ihm. Seine schwarzen Haare schauen seitlich aus dem Kragen hervor und ein Drittel seines Poloshirt-Saums ist aus dem Hosenbund rausgerutscht. Mein Bruder muss extrem gestresst sein. Normalerweise würde er sich niemals erlauben, so rockstarmäßig herumzulaufen.

Er zuckt zusammen, als hinter mir die Tür ins Schloss kracht. Im ersten Moment denke ich fast, er hätte Schmerzen, so wie damals, als Dad ihm aus Versehen den Minigolfschläger in die Eier gedonnert hat. Aber dann nimmt sein Gesicht wieder den Ausdruck undurchdringlicher Leere an.

»Hey«, sagt er, macht den Mund auf und gleich wieder zu.

»Hey«, gebe ich zurück. Dann schmeiße ich meine nassen Sachen auf den Küchenboden und wische mir die triefenden Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Toby richtet seine Stifte parallel aus. »Schönen Tag gehabt?«, murmelt er.

»Ja, super. Es war … Schule halt.« Ich schiele zur Kühlschranktür, wo Dads Souvenir-Magnete und die Fotos vom Cricket-Team aus Sri Lanka hängen. Anscheinend haben sie nichts zur Unterhaltung beizutragen.

Mein Bruder und ich waren in Sport schon immer die totalen Loser, aber Dad sagt, wenn es eine olympische Sportart namens Ungeschicklichkeit gäbe, wären wir todsichere Goldmedaillen-Kandidaten beim Gemischten Doppel. Außerdem behauptet Dad immer, kleine Scherze würden angespannte Situationen am besten auflockern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass außer ihm niemand in unserem Haus diese Theorie unterstützt.

Toby tippt auf seiner Laptop-Tastatur. »Hat Mum dir gesimst? Sie und Dad sind zu Tante Helen gefahren. Anscheinend gibt es wieder irgendeine Katastrophe wegen Nishas Hochzeitsdeko. Mum hat gefühlte acht Kilo Nudeln mit Hähnchen in den Kühlschrank gepackt. Und Geld für Pizza hat sie auch dagelassen.« Er schnieft. »Wahrscheinlich für den Fall, dass ich es nicht schaffe, die Mikrowelle zu bedienen.«

Er zieht ein Schreibheft zu sich heran, was vermutlich mein Stichwort zum Verschwinden sein soll. Das Problem ist nur, dass ich keinem Rätsel widerstehen kann. Und es frustriert mich, dass ich nicht weiß, woran mein Bruder da gerade arbeitet.

»Also dann bleibst du heute zu Hause? Woran sitzt du denn gerade?«

Ich schiele auf sein Heft, das für mich auf dem Kopf steht. Ich habe zwar keine Ahnung, was »Wettbewerbsgleichgewicht« heißt, aber selbst von meiner Kopfsteh-Position aus betrachtet ist sonnenklar, dass seine letzte Antwort komplett falsch ist.

Toby fallen fast die Augen aus dem Kopf, als er merkt, dass ich in seine Unterlagen linse. Ich bin in Sachen Körpersprache-Deutung die totale Null, deshalb kann ich bei meinem Bruder auch nur vage Vermutungen in dem Bereich anstellen. Elsie ist überzeugt, dass wir eines Tages nach Hause kommen und Toby und Viljami in eindeutig zweideutiger Pose erwischen– Toby in Lack und Leder, Viljami wie ein Rollbraten verschnürt. Ich glaube, das Einzige, wobei wir Toby und Viljami unterbrechen könnten, wäre eine ihrer Marathon-Debatten über Steuergesetze. Ganz abgesehen davon, dass ich die Vorstellung von meinem in sexuelle Handlungen– welcher Art auch immer– verwickelten Bruder widerwärtig finde.

»Willst du mir vielleicht sagen, wo ich einen Fehler gemacht habe?«, fragt er, ohne mich anzusehen.

Die richtige Antwort liegt mir auf der Zunge, noch bevor ich im Kopf die Gegenprobe gemacht habe. Im Anbetracht von Tobys Tonfall und der Tatsache, dass er weiterhin stirnrunzelnd in sein Heft starrt, schlussfolgere ich, dass seine Frage vermutlich rhetorisch war.

»Nein«, sage ich. »Deine letzten drei Schritte sind falsch. Ich bin sicher, du kommst auch von allein drauf.«

Ich beglückwünsche mich selbst zu so viel Diplomatie, schnappe mir eine Birne und schleppe mich in mein Zimmer.

Ich liebe mein Zimmer. Es ist mein einziger, himmlischer Rückzugsort, meine ganz persönliche Isolationszelle, die sich seit meinem fünften Lebensjahr kaum verändert hat: ein vergilbtes Primzahl-Poster an der Wand neben meinem Bett, im Dunkeln leuchtende Sternbilder vom Himmel über der südlichen Hemisphäre (Toby hat mir vor Urzeiten geholfen, sie an der Decke anzubringen) und ein geniales Plakat mit der Aufschrift Versammlung des Zeitreise-Clubs. Beginn: gestern. Und mein Lieblingsfundstück aller Zeiten (auch wenn Mum und Elsie behaupten, es sei kitschig): ein ausgeblichener Druck von van Goghs Sternennacht, auf dem eine kobaltblaue TARDIS zwischen den Sternen herumwirbelt.

Mein Zimmer gehört mir, anders als der Rest meines Lebens, das sich eher anfühlt, als wäre es für einen anderen Menschen entworfen worden, für eine Person, deren Existenz im besten Fall theoretisch ist.

Ich hieve meine Taschen auf den Schreibtisch und klappe auf meinem Stuhl zusammen. Dabei stupse ich versehentlich die Maus an, wodurch der Bildschirm angeht. Und ich zucke kurz zusammen, als ich sehe, dass sich eine einsame E-Mail in meinen Posteingang verirrt hat.

Ich hole tief Luft, dann klicke ich auf die Nachricht vom Sankt Petersburger Steklow-Institut für Mathematik. Die Betreffzeile ist in kyrillischer Schrift: Grigori Perelman.

Ich schaue auf das Zeitungsfoto an meiner Pinnwand über dem Schreibtisch– das aktuellste Schnappschussfoto, das es von Perelman gibt. Es ist ein körniges und leicht unscharfes Bild. Unter buschigen Augenbrauen schielen dunkle Augen hervor, starren hoffnungslos in die Leere einer finsteren russischen Gasse. Perelman sieht aus wie ein bärtiger Yeti, der sich verlaufen hat.

Wie über so viele Menschen meiner Art lautet auch hier die vorherrschende Meinung: Der Typ ist gleichzeitig genial und komplett durchgeknallt.

Ich muss mit ihm reden.

Ich lerne jetzt zwar schon seit drei Monaten Russisch, kann es aber immer noch nicht fließend. Ich mache in einem neuen Fenster mein Russisch-Online-Wörterbuch auf, schalte die Tastatur auf Kyrillisch um und nehme mir schließlich die E-Mail vor.

Sehr geehrte Ms Reyhardt,

vielen Dank für Ihr anhaltendes Interesse. Unglücklicherweise können wir Ihnen auch diesmal nicht behilflich sein.

Perelman arbeitet schon seit Jahren nicht mehr für uns. Er redet nicht mit Akademikern. Er redet nicht mit anderen Mathematikern. Und am allerwenigsten redet er mit Journalisten. Wir können daher also mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er auch nicht mit Highschool-Schülerinnen reden wird.

Es ist seine eigene Entscheidung, vom Rest der Welt abgeschnitten zu leben, und wir möchten Sie hiermit bitten, dass Sie diese Entscheidung wie wir respektieren.

Alles Gute für Ihre Zukunft.

Scheiße. Aber was habe ich erwartet?

Seufzend schiebe ich meinen Stuhl zurück.

Trotz des Regengeprassels an meinem Fenster höre ich durch den Flur eine Melodie von Tobys Begleitmusik-Playlist. Ich lasse den Blick durch mein Zimmer wandern und wäge meine Möglichkeiten ab: das letzte bisschen Hausaufgaben für den Erstsemester-Unikurs machen, den ich online belegt habe, oder mich durch einen Liebesfilm kämpfen, den Elsie mir geliehen hat, auch wenn mir schon das kurze Stück, das ich bisher gesehen habe, Gehirnschmerzen verursacht hat. Ich weiß, dass die wissenschaftliche Untermauerung des Themas Zeitreisen die meisten Hollywood-Filmemacher nicht im Geringsten interessiert, aber trotzdem– einen Zeitreise-Briefkasten neben irgendeinem willkürlich ausgesuchten Haus am See aufzustellen ist einfach idiotisch.

Auf meinem Schreibtisch liegen noch die letzten beiden Ausgaben meiner Mathezeitschrift, immer noch folienverschweißt. Und ganz oben auf dem Stapel mein Erzfeind: Ratgeber für die Solo-Theaterprüfung. Ich nehme ihn in die Hand. Ich kriege Brechreiz. Ich lege das Buch wieder weg.

Ich schlüpfe in mein altes Lieblings-Sweatshirt, strecke mich auf dem Bett aus und mache ein Nickerchen.

Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Als ich die Augen erschrocken aufreiße, ist jedenfalls auch der letzte Rest Tageslicht verschwunden, und aus dem Flur höre ich schwere Schritte, wie von einer Horde Elefanten. Dann stürzt Elsie in mein Zimmer, schwer beladen mit Büchern. Sie hat ihre Schuluniform gegen eine schwarze Jacke eingetauscht, trägt ihr Lieblings-Starfig-Soles-T-Shirt und dazu einen winzigen roten Rock, der locker als Gürtel durchgehen könnte. Sie schmeißt ihre Sachen auf meinen Schreibtisch und lässt sich dann auf mein Bett fallen.

»Wie ich sehe, verbringt der unvergleichliche Tobias den Freitagabend mal wieder auf extrem aufregende Art und Weise«, keucht sie. »Sag mal, verfügt dein Bruder überhaupt über funktionierende Körperteile unterhalb der Gürtellinie? Soweit ich das beurteilen kann, könnte er auch komplett glatt sein, wie eine Ken-Puppe.«

Ich schüttele mir den Schlaf aus dem Kopf. »Elsie, kannst du bitte aufhören, mir Kopfkino von den Geschlechtsteilen meines Bruders aufzuzwingen? Meine Psychologin hat schon genug Baustellen bei mir gefunden, an denen wir dringend arbeiten müssen.« Ich werfe einen Blick auf die Gänsehaut an ihren dunklen Beinen. »Was hast du denn da überhaupt an?«

Elsie schält sich aus ihrer Jacke und reicht mir dann eine Tüte Apfelsaft. »Neuer Rock. Gefällt er dir?«

»Klar. Aber wo ist die andere Hälfte? Unterwegs verloren?«

Elsie verdreht die Augen. »Ja, danke, Tante Lakshmi. Was kommt als Nächstes– ein Vortrag darüber, dass keiner die Kuh kauft, wenn er die Milch auch umsonst bekommen kann?« Sie greift nach der Schulkrawatte, die, wie ich jetzt erst bemerke, immer noch um meinen Hals baumelt, und zerrt daran. »Außerdem, wo soll ich den Rock denn sonst tragen? Den kann ich nur zu dir anziehen oder zum sonntäglichen Mittagessen bei meiner Oma.« Sie befreit ihre Haare aus dem Pferdeschwanzgummi, sodass die sich wie ein Wasserfall über meine Bettdecke ergießen, als sie sich wieder auf den Rücken fallen lässt. »Obwohl, mir fällt gerade ein, Trevor Pine soll heute eine Party geben. Hast du Lust, einen über den Durst zu trinken und ein paar Fotos von deinem Duckface bei Snapchat zu posten?«

Ich schüttele mich. »Auf keinen Fall.«

Elsie kichert. »Hey, das wäre wie in einem Western, wenn du und ich da reingehen. Das Klavier hört auf zu spielen. Die Typen springen auf und greifen nach ihren Pistolen. Oder halten sich schützend die Hände vor den Schritt. Ups, ich sollte ja keine Pimmelwitze mehr machen.«

Ich stöhne auf. »Na super, jetzt hab ich Kopfkino von Trevor Pines Pimmel. Danke, Elsie.«

Elsie lacht wieder und wackelt mit den Füßen, als sie sich noch tiefer in ihre Bettmulde kuschelt. »Wir könnten das Ganze auch als sozialkundliches Experiment betrachten«, sagt sie schließlich. »Wir studieren die Einheimischen in ihrer natürlichen Umgebung und so. Ist schon lange her, dass wir das gemacht haben.« Sie grinst, aber anders als sonst bilden sich keine Lachfältchen um ihre Augen.

Ich kriege Spontan-Fußschweiß bei dem Gedanken an einen Zwangsausflug ins gesellschaftliche Leben. Ich habe mich schon vor so vielen Familienfeiern gedrückt, dass meine Eltern jetzt nur noch bei Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen darauf bestehen, dass ich mitgehe, und selbst dann verstecke ich mich irgendwo mit meinem Cousin Oscar, der von Fantasy-Podcasts besessen ist und nur Dothraki spricht, wie die Leute in Game of Thrones. Was macht man auf normalen Partys eigentlich so? Die letzte, die ich als halbwegs lustig in Erinnerung habe, hatte was mit Kinderschminken und einem auf morbide Weise übergewichtigen Clown zu tun.

»Na ein Glück, dass wir nicht eingeladen sind«, sage ich. »Ich glaube kaum, dass ich Lust auf eine Party habe, auf der nur Leute sind, die mich abgrundtief hassen.«

Elsie setzt sich auf, streicht sich die Haare nach hinten und fängt an, sich einen Schiffstau-ähnlichen Zopf zu flechten. »Die hassen dich doch nicht. Mag sein, dass sie dich für einen Megafreak halten, na und? Wahrscheinlich haben sie nur Schiss, du könntest so ein mechanischer Fem-Bot aus der Zukunft sein.« Sie schenkt mir ein breites, typisches Elsie-Lächeln, dann springt sie auf und grapscht sich meinen Theater-Ratgeber. »Und, wie läufts? Kriegst du es schon hin, einen überzeugenden Baum zu spielen?« Sie schnaubt vor Lachen und hält sich den Bauch.

»Wie schön, dass du mein Leid unterhaltsam findest.«

»Ach komm schon, ein bisschen lustig ist das schon. Ich meine…« Sie schlägt das Buch auf irgendeiner Seite auf. »›Kreieren Sie einen Soloauftritt, der auf der Figur des Pinocchio beruht.‹ Sind solche Rollen derzeit besonders gefragt?«

Ich vergrabe das Gesicht in meiner Bettdecke. »Elsie, hör auf! Wie konnte ich mich nur auf so einen Schwachsinn einlassen?«

Die Matratze neigt sich, als Elsie sich neben mich setzt, nur eine Handbreit von mir entfernt. »Du hast dich drauf eingelassen, weil deine Eltern dich mit erwartungsvoll-flehentlichen Augen angeschaut haben und du insgeheim das totale Weichei bist.« Ich schiele zwischen meinen gespreizten Fingern hindurch zu ihr hin, aber Elsies Miene ist auf einmal ganz ernst. »Sophia, die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt bei … wie war das … vierundachtzig Jahren oder so?«

»Ja, ich glaube schon. Sofern man Frauen mit angeborenen Krankheiten und die, die vom Bus überfahren werden, außer Acht lässt. Wieso?«

»Weil so ein Soloauftritt gerade mal sieben Minuten dauert. Sieben Minuten, Sophia. Nicht mal lange genug, um zu duschen. Oder ordentlich zu knutschen.«

Ich schnaube. »Woher willst du das denn wissen?«

»Ich dusche täglich«, sagt sie trocken. »Und sieben Minuten sind … keine Ahnung, null Komma null null drei Prozent eines Jahres?«

»Eher null Komma null null null null zwei«, sage ich. Aber ich habe so das Gefühl, dass es ihr nicht darum geht.

Elsie verdreht die Augen. »Du weißt genau, dass es mir nicht darum geht, Rey!«

Ich muss unwillkürlich lächeln. »Worum gehts dir dann, Nay?«

»Mir geht es darum, du begriffsstutziges Ungeheuer, dass diese Theaterprüfung im Vergleich zum Großen Plan des Universums nicht mehr als ein Wimpernschlag ist. Du legst sie ab, du schaffst sie oder rasselst eben durch, und das wars dann auch schon.«

Ich mache die Augen zu. »Elsie, ich fang schon an, von diesem bescheuerten Kunstgebäude zu träumen, in dem wir proben. Ist das normal?«

Elsie betrachtet mich lange und eingehend. Eventuell ist sie besorgt, obwohl das wegen des dicken Make-ups, das sie nach der Schule auflegt, schwer zu sagen ist. Irgendwann deutet sie auf den Saft in meiner Hand. »Heute keine Psychoanalyse. Trink. Und dann hilf mir, einen Ort zu finden, an dem ich das nächste Jahr leben kann und der nicht allzu sehr nach einem Girls Gone Wild-Video aussieht.«

Sie hüpft wieder von meinem Bett runter, greift sich einen Stapel Broschüren und fächert sie auf meiner Decke auf. Auf dem zuoberst liegenden Flyer sind mehrere Leute mit identischen Pullovern zu sehen, dazu der Unheil verkündende Schriftzug Das Erste Jahr. Und schon landet die Düsternis, die bereits die ganze Woche über meinem Kopf hängt, mit einem dumpfen Aufprall in meinem Magen.

Vor mehreren Jahren ist Elsies Lieblingsonkel nach Amerika gezogen, um an einem kleinen Forschungskrankenhaus seine Facharztausbildung zu machen. Mit vierzehn hat Elsie ihn dann besucht und seitdem ist die Emory University School of Medicine in Atlanta, Georgia, ihr einziges und unangefochtenes Lebensziel. Ich weiß, wie unbeirrbar meine beste Freundin sein kann. Trotzdem habe ich irgendwie die ganze Zeit darauf gehofft, sie könnte es sich doch noch anders überlegen.

»Elsie, findest du es nicht voreilig, dir jetzt schon Studentenwohnheime anzuschauen? Du bist doch noch gar nicht angenommen.«

»Reine Formsache«, gibt sie fröhlich zurück. Dann beäugt sie mich und seufzt wieder. »Also gut. Wenn ich die Physikprüfung nicht bestehe, kann ich sowieso nirgends Medizin studieren, außer vielleicht an der Online-Uni irgendeiner tadschikischen Kleinstadt. Und da wir heute ja anscheinend weder Party machen noch Duckface-Selfies auf Snapchat posten, werden wir wohl lernen.«

Ich ersetze die Broschüren durch Bücher und versuche mein triumphierendes Grinsen im Zaum zu halten. Mich streift der Gedanke, dass das so ziemlich die einzige Art ist, wie wir in den vergangenen zehn Jahren unsere Freitagabende verbracht haben– bis auf wenige Uni-Wochenendseminare auf meiner und ein paar Bandproben auf Elsies Seite.

»Danke, Elsie.«

Sie hockt sich im Schneidersitz ans Fußende meines Bettes. »Schon gut. Du hast Glück, dass mich diese Bernoulli-Gleichung echt ankotzt, weil ich sie einfach nicht in meinen Schädel kriege. Aber ich bestehe darauf, dass wir uns hinterher einen Film anschauen. Und ich warne dich, da werden haufenweise Knutschszenen drin vorkommen!«

Ich schlage mein Buch bei der Aufgabe auf, die ich noch nicht zu Ende gemacht habe. Ich lerne natürlich nicht absichtlich langsamer oder so, damit Elsie mithalten kann. Es fühlt sich einfach manchmal gut an, wenn man jemanden neben sich sitzen hat, der an den gleichen Sachen arbeitet. Ich kann das nicht erklären, aber die tosenden Sturmböen, zu denen meine Gedanken sich manchmal verwirbeln, fühlen sich irgendwie leiser an, wenn Elsie da ist. Seit wir kleine Kinder waren, hat Elsie meine Merkwürdigkeiten mit derselben Grundhaltung akzeptiert, mit der sie auf die ganzen seltsamen Fakten reagiert, die sie willkürlich sammelt– mit heiterer Objektivität. Das gehört zu den Eigenschaften, die ich am meisten an ihr liebe.

Fakt: Elsie Nayer ist der schlaueste Nicht-Freak, den ich kenne. Und sie vergleicht zwar manchmal ihre Lösungen mit meinen, aber im Grunde braucht sie selten wirklich meine Hilfe.

Wir machen uns an die Arbeit. Zahlen und Formeln besetzen die einzigen Bereiche meines Gehirns, auf die ich mich– zumindest im Moment– wirklich verlassen kann. Es ist, als würde ich mich in eine altvertraute, abgewetzte Decke wickeln, in der ich mich sicher und geborgen fühle. Meine chronisch verspannten Schultern werden lockerer und das Gefühl, irgendwie in der falschen Haut zu stecken, verschwindet. Während das störrische Zahlenchaos sich vor meinen Augen zu logischen Lösungen ordnet, verspüre ich zum allerersten Mal an diesem Tag einen Funken Glück. Ich mag ansonsten komplett lebensunfähig sein, aber das hier, das kann ich.

Aus den Augenwinkeln betrachte ich die Zeiger meiner Wanduhr und zwinge mich zu einem gemächlichen Tempo, um mehr Zeit auszufüllen. Die kurzen Unterhaltungen zwischen den Lernblöcken versuche ich in sichere Gewässer zu steuern –Gerüchte über eine Schönheits-OP, die unsere Chemielehrerin gemacht haben soll, mögliche Handlungsverläufe bei Doctor Who–, aber Elsie schweift, wie immer in letzter Zeit, ständig zu Amerika und ihren Plänen für nächstes Jahr ab. Ich sehe mehrfach, wie ihre Augen zu den Broschüren rüberflitzen, und noch bevor die Tinte unserer letzten Gleichung getrocknet ist, greift sie schon nach dem Hochglanzstapel. Ich will auf keinen Fall meine prekäre Zufriedenheit ruinieren, daher werfe ich das einzige Spiel in den Ring, von dem ich weiß, dass es meine beste Freundin garantiert ablenkt.

Ich trinke meinen Apfelsaft leer und setze mein frechstmögliches Lächeln auf. »Also, Elsie, was werde ich, wenn ich mal groß bin?«

Elsie setzt im Gegenzug ihre unechte Denkermiene auf. »Labrador-Trainerin«, sagt sie dann entschieden. »Du kriegst in Japan eine eigene Fernsehshow damit, so eine durchgeknallte, wo das Publikum dich mit Essen und Aalen beschmeißen darf. Das wird toll!«

»Hundeflüsterer … Könnte Spaß machen«, antworte ich vage.

Elsie knallt ihr Buch zu. »Sophia, ich habe eine verrückte Idee. Aber lass mich bitte zu Ende reden, bevor du was sagst, okay?«

»Du willst mich aber nicht wieder überreden, in eure Band zu kommen, oder?«

»Nö, danke, dein erster Versuch, ›Purple Haze‹ auf der Blockflöte zu spielen, hat mir gereicht. Nein, ich wollte dir erzählen, dass an der Melbourne Uni morgen Tag der offenen Tür ist, und ich finde, wir sollten hingehen. Ich meine, ich will mich dort nicht bewerben, aber vielleicht wäre das ja was für dich? Von der Augustine’s gehen auch ein paar Leute hin. Mr Peterson hat die Arschkarte gezogen und darf sie als Aufpasser begleiten. Er hat in der Mittagspause darüber gemeckert, aber ich glaube, in Wirklichkeit freut er sich total, mit seinem alten Revier anzugeben.«

»Elsie, ich war schon oft genug an der Melbourne Uni. Ich glaube kaum, dass ich…«

»Dass du Lust hast, mit normalen Sterblichen dort rumzulaufen? Ja, ich weiß. Aber siehs doch mal so: Du kommst aus dem Haus, machst deine Eltern glücklich und auf dem Heimweg holen wir uns ein paar Wan-Tan-Taschen. Win-win-Situation.«

»Elsie…«

Ihr Blick flackert. »Hey, Rey, ehrlich, ich weiß nicht, was in letzter Zeit in deinem Kopf so los ist. Vielleicht war ich ja zu sehr mit meinem Zeug beschäftigt oder so, aber es fühlt sich an, als hätte ich nur einmal geblinzelt und plötzlich…« Sie lächelt ein bisschen zu strahlend. »Plötzlich ist dein auf bezaubernde Weise seltsames Ich noch sonderbarer geworden.« Sie berührt mich am Arm und lässt auch nicht los, als ich zusammenzucke. »Mach doch einfach keine so große Sache draus. Du könntest ja kaum weniger Begeisterung an den Tag legen.«

Ich weiß nicht, warum der Gedanke daran, am Tag der offenen Tür so eine dämliche kleine Uni zu besuchen, meinen Herzschlag auf unnatürliche Art beschleunigt. Ich weiß nicht, wie ich Elsie erklären soll, dass Begeisterung nicht gerade mein Problem ist. Und am allerwenigsten weiß ich, wie ich ihr erklären soll, dass mir mein Abbiegen Richtung Exzentrik durchaus bewusst ist, dass ich aber das Gefühl habe, eine Einbahnstraße entlangzurasen und einfach keine Ausfahrt zu finden.

Allerdings weiß ich auch nicht, wieso ich immer wieder vergesse, dass der Weg des geringsten Widerstands in Sachen Elsie normalerweise auch der Weg des geringsten Schmerzes ist.

»Okay. Du hast recht, ist keine große Sache. Lass uns hingehen.«

Elsie hüpft auf meinem Bett auf und ab, wobei ihr Kürzest-Rock noch ein Stückchen weiter hochrutscht. »Jippie! Wan-Tan-Taschen, süße Uni-Typen– wir kommen! Das wird super!«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ja, total super. Jippie«, sage ich matt.

Wir machen unsere Hausaufgaben fertig, wärmen uns zwei Teller Nudeln von gestern auf und schauen uns einen dieser Liebesfilme an, die Elsie so gern mag. Die Handlung finde ich ziemlich fragwürdig, auch wenn sie immerhin um Längen logischer ist als Keanu Reeves und sein Zeitreisen-Wurmloch im Briefkasten. Ich freue mich darüber, dass ich Elsie mit meinen Kommentaren zum Film immer noch so heftig zum Lachen bringen kann, wenn auch vollkommen unabsichtlich. Ich verstehe zwar nicht immer, was daran so komisch sein soll, aber jedes Mal, wenn sie losprustet, bin ich überzeugt, dass ich mir die seltsame, neuartige Spannungs-Unterströmung zwischen uns nur eingebildet habe.

Um elf kommt Rajesh, mein Liebling unter Elsies Brüdern, und holt sie ab, und ich bleibe in meinem stummen, unveränderlichen Zimmer allein zurück.

Ich dusche und klettere ins Bett. Irgendwann höre ich, wie meine Eltern nach Hause kommen, das Auto fährt vor, im Badezimmer ächzen die Leitungen. Auf der anderen Seite des Flurs geht Tobys Zimmertür mit einem Klick zu, dann breitet sich Stille im Haus aus. Mein Gehirn und ich setzen zu unserem üblichen nächtlichen Gefecht an:

Ok. Uni also. Wird interessant. Vielleicht könnten wir den unausweichlichen Nervenzusammenbruch schon vorzeitig in die Wege leiten? Du könntest so was wie das Phantom der Oper in der Mathematik-Fakultät werden.

Halt die Klappe. Halt. Die. Klappe.

Sechzehn Wochen, Sophia! Sechzehn Wochen– das sind zweitausendsechshundertachtundachtzig Stunden. Und dann tschüss, Highschool. Damien Pagono wäre beinahe von der Schule geflogen, weil er auf der Schul-Webseite ein Foto von seinen Hoden gepostet hat, aber selbst der ist wahrscheinlich besser auf das Leben vorbereitet als du.

Schlafen. Schlaaafeeen.

Wusstest du, dass das Wort Hundert vom protogermanischen Hundrath kommt, das aber nicht 100, sondern 120 bedeutete? Wusstest du, dass der Mensch im Durchschnitt sechs Monate seines Lebens auf der Toilette verbringt? Wusstest du, dass der Herz-König der einzige König im Kartendeck ist, der kein Zepter hält?

Ich setze mich auf.

Wie ein Roboter steige ich aus dem Bett und hole die geheimnisvolle Spielkarte aus meinem Stiftemäppchen. Im wässrigen Mondlicht scheint der Sand sich beinahe zu bewegen, die perfekte Illusion. Ich drehe die Karte um. Der schwache Lichtschein lässt die silbernen Sternchen auf der Rückseite glitzern.

Ich habe zwar keine Ahnung, warum ich das tue, aber ich tue es: Ich verschiebe mein Perelman-Foto ein paar Zentimeter nach links und befestige die Karte an meiner Pinnwand– direkt unterhalb meines Tickets für das Zeitreise-Seminar letzten Sommer, ein Platz, der mir auf seltsame Weise perfekt erscheint für eine schwebende Sanduhr.

Dann gehe ich wieder ins Bett und stopfe mir die Bettdecke rund ums Gesicht, den Blick auf die Herz-Zwei gerichtet. Aus diesem Winkel sieht es so aus, als würde auch Perelman mit seinen unergründlichen Augen auf die Karte starren. In der Dunkelheit scheint es mir fast, als sei er davon ebenso verstört wie ich.

Ich bin nicht völlig verrückt. Ich meine, selbst wenn irgendeine der vielen zweifelhaften quantenmechanischen Theorien des Zeitreisens stimmt, dann würde man sich nach einer solchen Reise entweder in die eigene Großmutter verwandelt haben oder ein Paradoxon verursachen, das sämtliche Rätsel des Universums erklärt– im besten Fall wäre man in einer lächerlichen Kausalitätsschleife gefangen, eine unglückselige Billardkugel, die in einem endlosen Teufelskreis von Zeit und Raum herumwirbelt. Das ist mir alles durchaus klar.

Ich bin nicht verrückt. Jedenfalls nicht komplett.

Noch nicht zumindest.

Aber die Fähigkeit, zu erahnen, wohin ich soll … Mehr als eine einzige Chance haben, es richtig zu machen…

Wäre schon nett, das zu haben.

3. KAPITEL

DIE GRAVITATIONSTHEORIE

Ich habe im Laufe der Jahre schon eine Menge Zeit an der Melbourne Uni verbracht, aber ich glaube, so viele Leute auf einem Haufen habe ich hier noch nie erlebt. Elsie und ich steigen direkt vor dem Haupteingang aus der Straßenbahn und Rajesh hüpft hinter uns her. Elsie und Raj gehen einen Schritt zur Seite aus dem Strom der Leute, wahrscheinlich damit ich kurz verschnaufen kann, aber noch bevor ich mich von dem Gedränge und Geschubse in der Bahn erholt habe, knallt mir eine riesige Traube Luftballons ins Gesicht. Das TARDIS-ähnliche Blau der MU sollte eigentlich beruhigend wirken, aber irgendwie ist das Gegenteil der Fall.

»Sorry«, sagt der Typ, der die Ballons hält. »Unfälle mit Gummi sind bei mir Berufsrisiko.« Er grinst mich an, voll der dreiste Dreitagebart-Träger. Unter der Jacke trägt er ein T-Shirt mit Aufdruck – eine Pfeife und darunter auf Französisch: Ceci n’est pas une pipe. Mir brummt der Schädel und mein Französisch ist alles andere als perfekt, aber ich glaube, das heißt so was wie Dies ist kein cooles T-Shirt. Mir wird zwar schlecht bei dem Gedanken, mich schon wieder in eine volle Straßenbahn zu quetschen, aber trotzdem muss ich meine gesamte Willenskraft aufbringen, um nicht sofort den hinter uns im Leerlauf schnaufenden Stahlkoloss zu entern und nach Hause zurückzufahren.

Elsie und Raj flankieren mich zu beiden Seiten, ein Nayer links, ein Nayer rechts. Die Augen von Ballonboy wandern zu Elsies winzigem Jeansrock, der unter ihrer schwarzen Winterjacke hervorlugt. »Darf ich raten? Du bist Aktmodell. Zum Kunstgebäude gehts da lang«, sagt er zu ihren Beinen.

Raj stößt einen Pfiff aus. Elsie schenkt Ballonboy ein breites Lächeln, kneift dabei aber die Augen zu. »Merk ich mir, danke«, sagt sie laut und süßlich auf Französisch. »Für den Fall, dass ich meine Kenntnisse über sexuelle Verhaltensanomalien im film noir mal mit einem Seminar auffrischen muss oder so.«

Der Typ starrt sie verständnislos an. Elsie zeigt auf sein Shirt. »Tu ne parles pas français? Oh, tut mir leid, ich dachte, jemand mit so genialen kombinatorischen Fähigkeiten wäre auch in der Lage, sein eigenes T-Shirt zu verstehen.«

Dann zieht sie mich weg, bevor der Typ antworten kann.

»Kannst du mir bitte noch mal erklären, warum wir keine Freunde haben?«, sage ich und verkneife mir das Lachen.

Elsie schüttelt schief grinsend den Kopf. »Weil du ein sozial inkompatibler Freak bist und ich alle Menschen nervig finde. Außerdem sah der Volltrottel echt so aus, als könnte er mit Colin befreundet sein. Hatte der letztes Semester nicht diesen Film-noir-Kurs belegt, Raj?«

Raj legt ihr locker einen Arm um die Schultern. »Zählt in Unterhosen Netflix gucken überhaupt als Studieren? Keine Ahnung, von wem unser großer Bruder die Faulheitsgene geerbt hat.«

»Wer hätte gedacht, dass man in Landeskunde überhaupt durchfallen kann?« Elsie lacht. »Nix machen müssen außer fernsehen, und selbst das noch fehlinterpretieren – das bringt echt nur Colin fertig.«

Auf den ersten Blick könnten Raj und Toby als Geschwister durchgehen. Beide haben den gleichen Hautton, beide sind total dünn und beide sind vollkommen unfähig, irgendeine Art von Sportgerät zu fangen, zu treten oder zu werfen. Doch anders als mein wortkarger Bruder ist Raj einfach nur lieb. Er ist immer in Plauderstimmung und freundlich, und außerdem Elsies bester Freund auf der Welt (wenn man mich mal außer Acht lässt). Es gibt echt Momente, wo ich ihre Beziehung zueinander … verwirrend finde.

»Okay, Raj, wird Zeit, dass du dich vom Acker machst«, sagt Elsie. »Du hast doch gesagt, du willst dir Bücher ausleihen, und ich brauche ein paar Stunden ohne deine hässliche Fratze vor der Nase.«

Raj grinst. »Sicher, dass du mich nicht als Berater brauchst? Oder als Anstandswauwau bei den ganzen Maschinenbau-Heinis? Meine unschlagbaren Waffen müssen doch zu was gut sein.« Er spannt seine spindeldürren Arme an, die nicht ansatzweise waffenähnlich rüberkommen.

Elsie schnaubt. »Also, wenn du in deinem ersten Jahr hier was halbwegs Cooles auf die Beine gestellt hättest, dann vielleicht. Ich ruf dich an, falls wir den Magic: The Gathering-Sammelkartenclub nicht finden, ansonsten kommen wir ganz gut allein klar, denke ich.«

Raj zieht sich den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch. »Der trifft sich im zweiten Stock des Union House.« Er drückt Elsie einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Schreib mir eine SMS, wenn ihr euch wieder auf den Heimweg macht. Viel Spaß, die Damen.«

Damit verschwindet er in der Menge. Ich blinzele immer noch in den leeren Raum, den er hinterlassen hat, da zeigt Elsie schon mit großer Geste Richtung Haupteingang. »Na los, Sophia. Deine Zukunft erwartet dich!«

Wir schieben uns durch das Gewusel und schnappen uns im Vorbeigehen ein paar Werbetüten, die Elsie sofort mit Broschüren von den unterschiedlichsten Infoständen vollzustopfen beginnt. Irgendwo auf dem Campus dröhnt Musik. Es fühlt sich an, als würde sie von allen Seiten auf mich einschlagen. Als Elsie vor dem Mathegebäude stehen bleibt, widerstehe ich dem Drang, mir die Ohren zuzuhalten.

»Die Leute von der Augustine’s treffen sich in der Zentralbibliothek. Wir sind spät dran, aber bestimmt langweilt Peterson immer noch alle zu Tode mit seinen Hintergrundgeschichten zu allem und jedem. Wollen wir rüber?« Elsie lässt sich von einem freiwilligen Helfer einen Flyer in die Hand drücken. »Hey, es gibt auch ein Statistik-Seminar, das bald anfängt. Das muss für dich doch so verführerisch wie Crack sein, oder?«