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Dänemark 1944. Immer offener ergreifen die Nationalsozialisten die Macht im dänischen Königreich. Inspiriert von den Worten des Pfarrers Kaj Munk beginnt die Jurastudentin Lea, sich im Widerstand zu engagieren. Doch der Preis ist hoch. Die Nazis ermorden Munk, und die Schlinge um die Widerstandskämpfer zieht sich immer enger zu. Bald hinterlässt die ständige Todesgefahr ihre Spuren … Als Leas Freund, der junge Kriminalbeamte und Pfarrerssohn Jørgen, an den Ermittlungen im Mordfall Kaj Munk beteiligt wird, weiß er, dass ihm nur wenig Zeit bleibt, bevor die Nazis die Nachforschungen unterbinden werden. Jørgen stürzt sich in die Arbeit, auch um die Sorge um Lea vergessen zu können. Bald muss er selbst entscheiden, was ihm die Wahrheit wert ist. In zurückhaltend-schlichter Sprache erzählt Christian Hartung die Geschichte eines jungen Paares im Auf und Ab des dänischen Widerstandes. Mit der Akribie eines Historikers rekonstruiert er dabei die Geschehnisse um den Tod des dänischen Widerstands-Pfarrers Kaj Munk und stellt die Frage nach dem, was größer ist als die Angst.
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Seitenzahl: 299
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Christian Hartung
Hinter der Angst
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-966-5
© 2017 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: Edvard Munch: Zwei Menschen. Die Einsamen. 1905
Satz: Brendow Web & Print, Moers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
www.brendow-verlag.de
Für Paul Gerhard Schoenborn
Du frygter ej Nattens Rædsler, ej Pilen der flyver om Dagen.
Dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen.
Psalm 91,5
Cover
Titel
Impressum
Zitat
Lass es uns aufschreiben …
VOR DER BEFREIUNG
NACH DER BESATZUNG
DANN
Nachwort
Zeitleiste
Karte
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– Lass es uns aufschreiben.
– Willst du es nicht ruhen lassen? Du änderst doch nichts mehr daran.
– Eben. Sonst würde ich ja versuchen, es zu ändern. Darum möchte ich es wenigstens aufschreiben. Damit nicht alles vergessen wird.
– Aber für wen willst du das tun?
– Für Maj.
– Maj? Wer ist das?
– Unsere Tochter.
– Du hättest sie also Maj genannt.
– Im Mai haben wir uns geliebt. Als wir dachten, der Krieg sei zu Ende.
– Das ist er ja auch.
– Gewiss. Und sie bauen alles wieder auf. Als wäre nichts gewesen.
– Lea, ich will jetzt endlich mit dir nach vorne schauen. Nicht zurück.
– Wir haben von einer Welt geträumt, in der das nie wieder passieren würde.
– Ja, mit diesen Träumen haben wir uns geliebt. Aber es sind Träume geblieben, oder? Und Maj durfte nicht leben.
– Ich möchte ihr erzählen, wie es war. Und was wir alles für sie geträumt haben.
– Ach Lea, es ist neunzehnhundertdreiundfünfzig. Und gerade ist Sommer … Wer weiß, wie lange noch.
– Aber manchmal friere ich auch im Sommer.
– Auch in meinen Armen?
– Nein, da nicht. – Doch. Aber da wird es besser.
– Bleibst du denn jetzt?
– In Kopenhagen wartet niemand auf mich.
– In Kopenhagen hast du deine Arbeit.
– Ich finde auch hier was. Bei meinem Vater in der Kanzlei, an der Uni in Aarhus – oder du findest etwas bei der Polizei für mich.
– Und die Ministerin lässt dich gehen?
– Die geht vielleicht irgendwann ganz zur UNO. Ich an ihrer Stelle würde das tun.
– In Dänemark hat sich ja auch nicht viel geändert.
– Nein.
– Und wir waren alle im Widerstand.
– Aber sicher doch! Die einen im Untergrund, die anderen im Ministerium. Aber nur die einen mussten ins Gefängnis oder vors Erschießungspeloton. Jørgen, was soll ich da noch!
– Kleiner Feuerteufel.
– In Frostperioden sind die sehr praktisch, weißt du!
Der Frost hielt das Land fest im Griff. Man konnte freilich mit kleinen Einschränkungen seinen Geschäften nachgehen, der öffentliche Verkehr war nicht gefährdet. Die Meinungen waren keineswegs einheitlich, doch der Widerstand formierte sich offener.
Taarnby, der auf seinem großen schwarzen Fahrrad über die Søndergade zu seiner Dienststelle fuhr, bemerkte nicht einmal das gelegentliche leichte Rutschen der Reifen auf dem Asphalt, er dachte an Lea und setzte sie schließlich kurzerhand auf die Stange, fuhr mit ihr am Seeufer entlang oder noch weiter fort und bekleidete sie mit einem leichten kurzen Kleid und die Natur mit Laub, Juliwärme und Insekten, genoss einen Blick auf ihre schlanken hellen Schenkel, streifte ihre Schulter mit einem Kuss und verflocht die kupferblonden Strähnen mit dem Sommermorgen.
Am Abend hatte sie plötzlich im Hauseingang gestanden und war einen Schritt vorgetreten, als er näher kam, sie war ja im Untergrund. Sie habe ihn sehen wollen. Noch einmal, ein letztes Mal vielleicht, doch das sagte sie nicht. Du bist Jüdin, Lea, du solltest längst in Schweden sein, sagte er nicht, er kannte ihre Antwort. Stattdessen ließ sie durchblicken, dass es auch für ihn Zeit werde, in den Untergrund zu gehen, seine Einstellung sei bekannt, und früher oder später würden die Deutschen auch den letzten Anschein unabhängiger dänischer Behörden beseitigen. Da darauf eigentlich nichts zu erwidern war, küssten sie sich eine Weile nur.
Nicht über eine mögliche gemeinsame oder überhaupt eine Zukunft hatten sie am Ende miteinander gesprochen, sondern über Kaj Munk, der zum Sprachrohr eines ganzen Volkes geworden war, selbst die Kommunisten äußerten sich widerstrebend bewundernd über ihn. Lea meinte, ohne seine Schriften und Predigten wäre die Rettung der Juden vielleicht keine solche Selbstverständlichkeit im Land gewesen, und so habe ihre Familie es letztlich auch Pastor Munk zu verdanken, dass sie auf einem Fischerboot über den Sund entkommen konnte.
Das äußerste Meer. Flügel der Morgenröte. Auch dort deine Hand.
Ihre liebkosende Hand erzählte, was das Leben bereithielt. Nachdem sie es gelernt hatten, lasen seine Finger es um ihre Wangen und Augen. Wenn sie ginge – sie wussten es aufzuschieben –, bliebe er vielleicht mit der Finsternis allein und Nacht statt Licht.
Zwischen zwei Küssen: Der Pharao habe sicher auch seine Gestapo oder SS gehabt.
– Oh, Lea, deinen Sprüngen muss man erst einmal folgen!
– Ich springe nicht. Ich suche einen Ort, wo es gut wird. Und ich versuche, mir Mut zuzupfeifen. Vielleicht hatte Mose das auch nötig. Und vielleicht liegt Kaj Munk jetzt wach, überlegt seine nächste Rede gegen den Pharao und merkt, wie kalt und finster es ist.
Er sei ja vielleicht nicht allein.
– Wir sind nie allein, Jørgen. Jedenfalls versuche ich das zu glauben.
Die Nacht löste sich mühsam von den kalten Häusern. Selbst die Dachfenster erspähten noch keine Morgenröte.
Mittwoch, 5. Januar 1944. Unter den Schaufenstern der Schwanenapotheke waren schon mehrere Fahrräder abgestellt. Seufzend lehnte Taarnby sein Rad daneben an die Wand und verstaute die Hosenklammern in der Tasche seiner gefütterten Jacke, die er noch einmal geradestrich, bevor er die Treppe in den ersten Stock zum Büro der Kriminalpolizei nahm.
Verliebt, von der Familie getrennt, in den Untergrund gegangen: Bilanz eines Sommers, und der Winter würde vielleicht nie zu Ende gehen. Warum war sie noch einmal nach Silkeborg gekommen, als sei es dort August geblieben und Lea Frøhlich nicht längst und erzwungenermaßen so gut wie begraben. Sie hieß jetzt Gerda Hostrup Jensen. Jørgen hatte sie nichts davon erzählt.
Manchmal sehnte sie sich selbst nach der unschuldigen kleinen Frøhlich. Lille Frø, Fröschlein: Jørgen hatte den Spitznamen lachend aufgenommen, vor allem, als er sie zum ersten Mal schwimmen sah und bewundernd feststellte, sie sei wohl eher im als am See aufgewachsen. Wenn gar nichts mehr geht, schwimme ich nach Schweden, hatte sie gemeint, und er schien ihr das tatsächlich zuzutrauen.
Frosch, das war auch ihr Deckname, kürzer und damit passender als die schöneren, die Bjarne vorgeschlagen hatte, der auch nur Buch hieß, weil man ihn selbst jetzt kaum jemals ohne ein Buch in der Hand sah.
– Wofür brauche ich einen schönen Decknamen. Außerdem brauche ich bestimmt noch mehr, bis die Deutschen wieder zu Hause sind.
Du solltest längst in Schweden sein, hatten seine Augen geantwortet, er sagte es nicht mehr laut, sie wussten alle, dass es keinen Sinn hatte.
Nachrichten überbringen, illegale Zeitungen drucken und verteilen. Sie bestanden darauf, sie wenigstens dort einzusetzen, wo es nicht so gefährlich werden konnte, doch wusste man das vorher? Alles, was illegal war, war auch gefährlich, auf Unterstützung von Saboteuren stand sogar die Todesstrafe. Die Nachrichten waren keine Urlaubsgrüße, im Kopf hatte sie wichtige Namen und Adressen, und gerade enthielt ihr Rucksack neben dem, was man bei einer kleinen Studentin erwartete, auch Sprengstoff aus den Abwürfen der Engländer über Jütland. Sie lehnte ihren Kopf an den Rucksack und sah im Übrigen so unschuldig aus, wie es ihr zu Gebote stand.
Äußerlich glich sie dem Mädchen, das im Sommer vierzig zum Studienbeginn nach Kopenhagen gefahren war, sie betrachtete es mit sozusagen biologischem Interesse an der aufgeregten, leicht mulmigen Erwartung des Erstsemesters. Die jüdische Abstammung dieses Mädchens war damals gerade erst ein Problem geworden, aber König und Regierung bestanden unbeirrt darauf, dass sie nur dänische Staatsbürger kannten und eine Judenfrage in Dänemark nicht existiere. Mutiger geworden und zugleich erschrocken über die Blauäugigkeit ihrer Eltern, speziell ihres Vaters, warf sie sich aufs Jurastudium und beobachtete die politische Entwicklung. Als ein Kommilitone sie fragte, ob sie mehr tun wolle, zögerte sie nicht und verschwendete keinen Gedanken an mögliche Gefahren.
Sie sah nicht aus, wie eine Jüdin auszusehen hatte, was an einer nicht näher bestimmbaren Beimischung arischen Blutes oder an der dänischen Luft liegen mochte. Lea beneidete gelegentlich ihre schöne dunkelhaarige Cousine, die dafür auf den gänzlich unjüdischen Namen Tove hörte. Ansonsten hatte sie sich für ihr Äußeres lange wenig interessiert, jedoch schon vor Jørgen die Wirkung ihres Lächelns erproben können – aber erst Jørgen stellte fest, in ihrem Gesicht gehe dann plötzlich eine helle Lampe an; einmal, aber wirklich nur ein einziges Mal, hatte sie diese Lampe einem deutschen Offizier vorgeführt, um ihre Angst zu überspielen und unbeschadet von ihm loszukommen.
Tove und ihre Familie waren inzwischen Gott sei Dank in Schweden, das hatte die andere Cousine Edith aus Oslo nicht.
– Ein toter Mann … im Graben der Hauptstraße A 15 nach Pårup … Hørbylunde Bakker … um acht Uhr fünfzehn aufgefunden … Doktor Kronholm, Engesvang … Wir fahren sofort raus … Ihr Benzinvorrat ist zu klein – ja, dann nehmen wir einen Arzt mit. Und der Zeuge ist wieder an die Fundstelle gefahren? … Danke, Doktor.
Er notierte die Zeit des Anrufs: 9.15 Uhr, und informierte den Kriminalassistenten, der seinerseits einen Arzt und den Polizeimeister verständigte und Taarnby anwies, das Polizeiauto startklar zu machen und sich mit zwei weiteren Beamten bereitzuhalten.
ob man notfalls auch mit Gewalt vorgehen könne oder müsse, und dann beschafften sich Buch und Nielsen Sprengstoff und lernten, wie man damit Schienen wegsprengt, unmittelbar bevor ein Zug kommt. Das erste Mal richteten sie nur wenig Schaden an, doch es stand in der Zeitung, und sie wurden besser. Lea wusste zu viel darüber, und das reichte im Zweifelsfall. Vielleicht hatte es jedenfalls am Anfang noch etwas von Abenteuerspielen kleiner Jungs, aber vielleicht war dies dann auch die einzige Möglichkeit, es überhaupt zu tun, und bald dachte sie darüber nicht mehr nach. Es war Krieg, die Züge verlängerten den Krieg, alles verlängerte den Krieg, was aus Dänemark kam oder durch Dänemark hindurchfuhr. Dabei war der Krieg im Grunde entschieden, doch die Deutschen würden bis zum bitteren Ende kämpfen, und es kam mehr denn je darauf an, wo Dänemark stand. Die Alliierten zählten auf Dänemark, und nur die Widerstandsgruppen waren in der Lage, diese Erwartung zu erfüllen.
Aber ob man auch darüber hinaus Gewalt ausüben müsse, könne, dürfe oder solle. Gewalt nicht nur gegen Züge oder Gebäude oder vielleicht in Notwehr gegen die Besatzer. Es gab die ersten Liquidierungen. Denn es gab ja auch die ersten Hinrichtungen. Und man wusste, wer den Deutschen seine Landsleute verkauft hatte.
Sie solle lernen, ein Maschinengewehr zu gebrauchen, hatte Pastor Munk einer Freundin zurückgeschrieben. Christus habe befohlen, Witwen und Waisen zu helfen, und das könne man unter anderem dadurch, dass man die Räuber erschieße, die sie überfallen wollten. Es sei kein Christentum, andere den Verteidigungskampf und die Qual auf sich nehmen zu lassen und selbst sitzen zu bleiben und im Nirwana aufzugehen, sie solle jetzt lernen, in Jesu Namen zu töten.
Ihre Konfirmandenseele sei im Aufruhr gegen diesen Rat, erwiderte die Freundin. Lea fühlte sich nicht zuständig, das zu beurteilen, doch es leuchtete ihr ein, selbst Gebote über Bord zu werfen, wenn Menschen in Gefahr.
Der Tote lag auf dem Rücken am Rand der Böschung, das Gesicht zur Straße, die Beine leicht angewinkelt, die Füße im Straßengraben. Der Kleidung nach kein Landstreicher. Sah man näher hin, bemerkte man die Schusswunde in der linken Schläfe, gleich über dem linken Auge. Er war steif gefroren und fünf bis sechs Stunden tot. Eine Schiebermütze lag auf der Straße, in einer Blutlache festgefroren, darunter eine Kugel, vermutlich aus der Kopfwunde des Toten. In der Brieftasche fand sich die vorgeschriebene Legitimationskarte für das Sicherheitsgebiet Jütland, ausgestellt auf Kaj Munk, Gemeindepfarrer, Vedersø. Die weitere Untersuchung offenbarte eine Schusswunde im Nacken. Lippe und Nase waren geschwollen wie nach einem Schlag, möglicherweise durch den Aufprall. Neben der Leiche fanden sich außerdem eine Fellmütze und ein Koffer, in den Deckel eingeklemmt ein Zettel in fehlerhaftem Dänisch und deutscher Handschrift: Das Schwein habe nemlich doch für Deutschland gearbeitet. Die Hülse einer weiteren Patrone wurde sichergestellt.
Von Silkeborg war Luftalarm zu hören. Der Tatort wurde abgesperrt, als Menschen sich anzusammeln begannen, Reifenabdrücke wurden abgenommen und elf Fotografien gemacht. Der Rettungswagen wurde aus Silkeborg gerufen. Um 13.30 Uhr wurde die Leiche im Silkeborger Krankenhaus aufgebahrt.
Im Sommer nach ihrem Abitur hatte sie Kaj Munk zum ersten Mal persönlich erlebt. Dänemarks führender Dramatiker, der die Diktatoren bewunderte. Und trotzdem der Rufer in der Wüste gegen die deutsche Judenpolitik. Der Pfarrer, der sich im Namen seines Christus mit allen anlegte, wenn es darauf ankam. Sein Stück über den jüdischen Jesus war in Südjütland abgesetzt worden, aus Rücksicht auf den mächtigen Nachbarn. Mit der Nachbarschaft hatte es sich ja nun, und sie wartete darauf, dass einer die Scharen gegen Deutschland sammelte. Einer wie Kaj Munk.
Sie hatte von Hitler geträumt. Es waren diese Träume, in denen sie sich nicht bewegen und nicht schreien konnte. Und dann erzählte Munk von einem westjütischen Bauern, der Frau und Kindern den Hals durchschnitt und sich im Wald erhängte, nachdem er Hitler im Straßengraben gesehen haben wollte, der ihn von dort aus anstarrte. Lea starrte den unscheinbaren, mageren, etwas gebeugten Redner an, der sie aus der südfünischen Sommerlandschaft in die Welt ihrer Albträume beförderte.
Sie war bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Svendborg zu Besuch und mit ihnen nach Ollerup gefahren, wo Tove an der Sommerschule der Gymnastikhochschule teilgenommen hatte. So stand sie nun zwischen Onkel und Tante, sah die vielen hübschen Mädchen in ihren blauen Kleidern bei den Darbietungen, Tove strahlend mittendrin, und war überzeugt, ihre Cousine mache die beste Figur von allen, und dann der Festvortrag in der neuen großen Turnhalle. Unscheinbar und mager, wie gesagt, selbstironisch freundlich, mit leichter, unaufdringlicher Wärme – doch die Blumen hätten für ihn dieses Jahr nicht geduftet und der Gesang der Vögel sein Ohr nicht erreicht.
Die Besatzung. Und dann seien die Hauptstadtzeitungen ein paar Tage später wie immer in sein abgelegenes Nest gekommen, in der üblichen Stärke und ohne Trauerrand. Wie konnte das sein? Hitler. Eine der größten Gestalten der Weltgeschichte. Dagegen konnte eine parlamentarische Demokratie, die jedes Risiko scheute, nichts ausrichten. Hitler sei wie besessen, wie die Priesterinnen des delphischen Orakels, die unter Einwirkung giftiger Dämpfe unartikulierte Laute ausstießen, er könne agieren und agitieren, weil der Parlamentarismus, diese geniale Idee, zu einer bloß ökonomischen Affäre verkommen sei und keine Verantwortung übernehme, sie vielmehr jedem, also niemandem, übertrage.
Staatsminister Stauning habe seine Demokratie Hitler ausgeliefert, und die dänischen Fahnen knicksten immer, wenn sie ein Hakenkreuz sähen. Stauning, der dem deutschen Volk Verständnis und Sympathie bekundete. Unsere Regierung habe Leiden verhindern wollen. Doch so bekamen wir Hitler und behielten Stauning. Die ganze Welt habe sich empört, als Deutschland im Weltkrieg in Belgien einmarschierte. Nun empörten sich nicht einmal die Dänen selbst.
Und jetzt? Sich erhängen wie jener Westjüte? Am Tag des Gerichts gehe es solchen besser als denen, die jetzt gut von Dänemarks Not lebten. Aber: Wahrheit bleibt Wahrheit, unabhängig von Sieg oder Niederlage. Unrecht bleibt Unrecht, und Gewalt bleibt Gewalt. Die Deutschen zu hassen gehe für einen Christen nicht an. Doch ihnen bis auf weiteres mit Korrektheit und Kälte entgegenzutreten, bis die ungebetenen Gäste wieder draußen seien.
Tosender Beifall, und Lea spürte, dass der Redner ihr einen steinigen und vielleicht dornigen Weg gewiesen habe, aber zuerst würde er ihn selbst gehen. Viele schienen ebenfalls bereit.
Taarnby schrieb sein Protokoll. In den Räumen der Kriminalpolizei war es still. Das Klappern einer Schreibmaschine klang merkwürdig verzögert, als wolle es sich für die Unterbrechung entschuldigen. Blätter wurden leise umgedreht, Aktenordner zögernd aus dem Regal genommen oder an ihren Platz zurückgestellt, unumgängliche Telefonate mit gedämpfter Stimme geführt, wie in Anwesenheit eines Toten.
Taarnby hielt sich an den korrekten, amtlichen, unpersönlichen Formulierungen fest. Jetzt war Dänemark wirklich im Krieg.
Lea hatte recht: Er sollte darüber nachdenken, in den Untergrund zu gehen. Das hier konnte nicht mehr lange so weitergehen. Unwahrscheinlich, dass sie ihnen überhaupt erlauben würden, den Mord aufzuklären. Die Entscheidung über die nächsten Schritte lag inzwischen in Kopenhagen. Persönlich hatte er Munk vorhin zum ersten Mal gesehen. Es war für vieles zu spät.
Abends hatten sie lange wach gelegen. Tove erzählte voller Begeisterung vom charismatischen Schulleiter, den Lehrerinnen und Kameradinnen, der Zukunft.
Doch früher oder später musste die Rede auf Kaj Munk kommen. Er hatte Tove begeistert – und irritiert. War es so schlimm? Lea, die ihre Cousine liebte, mochte sie nicht darauf hinweisen, dass es schon lange schlimm war. Und schlimmer werden würde. Von Schulleiter Bukh hieß es, er könne gut mit den Deutschen. Die gleichen Vorstellungen von körperlicher Ertüchtigung der Jugend. Auch darüber verlor sie kein Wort, sie glaubte Tove in dieser Hinsicht außer Gefahr und war selbst sportbegeistert genug, um das Schwelgen ihrer Cousine zu verstehen.
Munk hatte Hitler eine der größten Gestalten der Weltgeschichte genannt. Doch war er das nicht tatsächlich: Und wenn er Bocksfüße hatte, sah man die ja nicht.
Dann die Zeitung am nächsten Morgen. Der Onkel wütend, die Tante sprachlos, und Tove weinte, da sei doch aber nichts Falsches gewesen. Dem Svendborg Avis reichte die Wiedergabe einer willkürlichen Hälfte des Vortrags. Demnach sei Pastor Munk nur über die dänische Demokratie hergezogen. Auch habe er aus seiner Bewunderung für Deutschlands Führer keinen Hehl gemacht.
Das mochte mehr oder weniger korrekt zitiert sein. Und trotzdem schien Entscheidendes zu fehlen. Tove war sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich gehört hatte. Die Vorstellung, an etwas teilgenommen zu haben, was nicht wirklich in Ordnung war, schien ihr fürchterlich. Lea ahnte bereits, dass sie an noch mehr Dingen teilnehmen würde, die nicht in Ordnung waren. Dafür fühlte sie sich von Munk vorbereitet und gestärkt.
Die Obduktion ergab: Einschusswunde an der linken Schläfe, von der sich ein Schusskanal durch die Stirnlappen erstreckte, leicht nach oben und hinten gerichtet, mit nach oben gerichteter Ausschusswunde in der rechten Schläfe. Weitere Einschusswunde am linken äußeren Augenwinkel, von der sich ein Schusskanal durch das Hirn nach oben, hinten und rechts erstreckte, mit Ausschusswunde in der rechten Scheitelgegend. Schließlich eine Einschusswunde in der Nackenregion linksseitig, von der sich ein Schusskanal entlang der Unterseite des Gehirns nach vorne und leicht nach innen erstreckte und in der Nasenhöhle endete, deren Dach zertrümmert worden war. Gleich innerhalb der Einschusswunde fanden sich einige kleine Projektilreste und am vorderen Ende des Schusskanals ein flachgedrücktes Projektil, das den am Tatort gefundenen glich. Als Todesursache wurden die nachgewiesenen Schussverletzungen festgehalten, die vermutlich zum sofortigen Tod geführt hatten.
Die kriminaltechnische Untersuchung der am Tatort aufgefundenen Patronenhülsen sowie der in der Einschusswunde nachgewiesenen Projektilreste zeigte, dass zwei verschiedene Waffen benutzt worden waren. Zuerst sei ein Genickschuss mit einer deutschen Ortgies-Pistole des Kalibers 7.65 abgegeben worden. Die vermutlich schadhafte Patrone habe den Schädel nicht durchbrechen können und sei bei einem weiteren Genickschuss an derselben Stelle zersplittert. Dieser und die weiteren zwei Schüsse, deren Schusskanäle bei der Obduktion festgestellt wurden, seien mit einer 9-mm-Colt-Pistole durchgeführt worden. Die drei sichergestellten Patronenhülsen seien derselben Waffe zuzuordnen.
Kaj Munk hatte in Kopenhagen predigen sollen, doch die Deutschen hatten es verboten. Da verbreitete sich unter der Hand, er werde im Dom predigen. Mit anderen vom Widerstand war auch Lea gekommen. Sie war Kirchen nicht gewohnt und hatte keine klare Vorstellung davon, was sie hier erwartete.
Der Gottesdienst begann, aber Munk war nicht zu sehen. Plötzlich kündigte der Pastor ihn an, und im nächsten Moment stand er auch schon auf der Kanzel. Eine Geschichte Jesu über junge Frauen, die über dem Warten auf den Bräutigam einschliefen und nicht alle genug Öl in ihren Lampen hatten. Lea verstand, dass es wieder darum ging, vorbereitet zu sein. Als guter Jude habe Jesus nicht auf eine jenseitige Ewigkeit vertröstet. Politik gehöre in die Kirche, denn Gottes Wille müsse getan werden. Wenn eine besondere Gruppe unserer Landsleute aufgrund ihrer Abstammung verfolgt werde, müsse die Kirche rufen, dies verstoße gegen das Grundgesetz des Reiches Christi: die Barmherzigkeit – und müsse versuchen, mit Gottes Hilfe das Volk zum Aufruhr zu bringen. Die dänische Jugend, über die manches harte Wort gesagt werde, setze Leib und Leben und Ehre aufs Spiel für ihr Land und das, woran sie glaube, dabei streifte der Blick des Predigers Lea und ihre Freunde. Auf der ganzen Welt blühe geradezu ein wilder, verzehrend böser Hass. Doch von Christus könne man lernen, sich gegen das Böse aufzulehnen, ohne zu hassen und ohne sich vom Hass schwächen zu lassen. Der tiefe Unterschied zwischen gerechter Strafe und Rache. Lea sehnte sich einen Moment danach, diesen Gedanken in Ruhe und Frieden im Strafrechtsseminar bei Professor Hurwitz zu erörtern. Wenn einmal die Zeit der Abrechnung komme, solle diese im Namen Gottes geschehen und nicht im Namen des Teufels.
Nach der Predigt verschwand Kaj Munk sofort wieder durch die Sakristei und fuhr unbehelligt fort. Das war jetzt einen Monat her, und nun war er tot.
Lea. Kaj Munk. Zwei Namen, die in Taarnbys Leben getreten waren und ihm eine bestimmte Färbung verliehen. Munk in grellem Licht, der sich dem Zug entgegenstellte, der auf den Abgrund zu stürzte. Lea, die sich zur gleichen Zeit in den Schatten auflöste, der Zug hätte sie auch nur stillschweigend überfahren. Die einzige Tochter des Landgerichtsanwalts Viggo Frøhlich, dessen Haus in der Hostrupsgade in Silkeborg von den Nachbarn bis zur Rückkehr der Besitzer versorgt wurde, denn Nachbarschaften gehörten zu den Dingen, die man jetzt aufrechterhalten musste. Es gab ja auch Landsleute, die andere verrieten, und man hatte ihnen vertraut, aber bei Frøhlichs wurden sogar regelmäßig die Blumen gegossen. Das war die Welt, für die Munk gesprochen hatte und die sich nun zunehmend in die Schatten zu beiden Seiten auflöste, während der Zug ungebremst weiterstürzte.
Die einen versorgten die Blumen der anderen, und in der Kriminalpolizei hatte man Himmelstrup, der sich in Kopenhagen bereit machte, nach Silkeborg zu kommen. Damit war der Fall doch so gut wie aufgeklärt, wenn nur die Deutschen es zuließen, dachte Taarnby, der vom Kriminalassistenten abgestellt wurde, dem Vizepolizeiinspektor jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und deshalb vor Stolz und Aufregung eine weitere Nacht kaum schlief. Im Sommer wäre es schon hell gewesen, als er mit der Sehnsucht nach Lea in seinen Gedanken zu kurzer, schwerer und traumloser Ruhe fand.
Bente und Aksel hatten die Predigt. Es sollte eine Sondernummer werden: Kaj Munks letzte Predigt in Kopenhagen. Lea kannte die beiden noch nicht, hatte aber schon geholfen, Volk und Freiheit zu verteilen, sie verteilte alle illegalen Blätter, die man ihr gab, besonders wenn es galt, rasch noch einen Stoß loszuwerden. Jetzt wollten sie mindestens dreitausend drucken und per Post verschicken. Ein Kommilitone wohnte am Bellevue-Strandbad, dort wollten sie abends und nachts in den Damentoiletten im Keller drucken, Bente habe aus einer ausbezahlten Versicherung eine Druckerpresse gekauft.
Sie nahmen die Klampenborglinie. Hinter dem langgestreckten Backsteinschuppen tauchten Arne Jacobsens leuchtend moderne Schachtelhäuser im Licht des fast vollen Mondes auf. Zuversichtlich weiß luden sie zum Blick auf das nahe Meer ein, und Lea kamen die unbeschwerten Studentensommer in den Sinn, die man selbst den ungebetenen Gästen mit ihren hochtrabenden Stiefeln noch abzutrotzen gewusst hatte. Vielleicht würden auch nächsten Sommer wieder Menschen hier baden, als sei die Welt im Reinen und der Architekt der Anlage nicht aus rassischen Gründen nach Schweden verzogen, sie würden sich hier verabreden, unverbindlich flirten und das Meer, die Sonne, den Sand und sich selbst genießen, jemand würde wieder eine Jazzplatte auflegen, und ein anderes Mädchen würde hier seinen ersten Kuss erleben. Lea hatte nach jenem ersten inzwischen ja auch schon genügend weitere erlebt.
Bis in die frühen Morgenstunden druckten, kuvertierten und frankierten sie und adressierten die Briefe an Pfarrer, Lehrer und Ärzte.
Er hatte so viele Sommersprossen, dass sich die Frage nach seinem Decknamen erübrigte, dazu ein einnehmendes, etwas linkisches, aber offensichtlich unerschütterliches Grinsen: Ich hab dich dort gesehen! Im Gottesdienst.
Sie gab zu, dort gewesen zu sein, und wartete ab, während sie mechanisch Umschläge beschriftete. Sprosse hatte sie dafür vorgeschlagen, als er ihre Handschrift sah, natürlich machten sie es zu dritt, sie hatte längst aufgehört, die Umschläge zu zählen.
Schulterzucken: Mich kannst du einfach Sprosse nennen, so wie alle.
Sie lächelte und mochte ihn, aber nicht mehr. Doch da sie ihn wirklich mochte, revanchierte sie sich: Frosch.
Er machte große Augen, dann, als er verstand, grinste er wieder: Die sind eigentlich grün!
– Flamme war vergeben.
– Kennst du ihn?
– Flamme? Nicht persönlich. Du?
Er schüttelte langsam den Kopf, während das Grinsen von einem nachdenklichen Zug abgelöst wurde. Sie wussten beide, dass es nicht damit getan war, eine verbotene Predigt in Umlauf zu bringen. War der Mord an Pastor Munk nicht eine Antwort auf die von Flamme getöteten Verräter? Einen von Flammes Kameraden hatten sie erwischt, als er vor ein paar Wochen ahnungslos bei einer Denunziantin untergeschlüpft war, er wurde seitdem von der Gestapo im Dagmarhaus verhört und sicher gefoltert. Flamme schien sich geschworen zu haben, dass das nicht noch einmal vorkommen sollte, und wenn er schoss, dann traf er. Lea wusste, dass sie ebenfalls treffen würde, aber das war kein Sport mehr. Es war besser, Briefumschläge zu beschriften. Doch wie lange würde sie die Wahl haben.
Sprosse berührte ihre Hand, als er einen adressierten Umschlag aufnahm, sie tat, als sei es Zufall. Vier Umschläge später warf sie hin, ohne ihn anzuschauen, denn sie mochte ihn wirklich: Ich habe einen Liebsten, drüben in Jütland.
Er grinste unerschütterlich: Ich bin von Nykøbing.
– Seeland?
Er nickte und schaffte es, Umschläge aufzunehmen, ohne ihre Hand zu berühren.
– Ich bin von Silkeborg.
– Jetzt sag bloß noch, du warst dort!
– Als es passiert ist? Fast. Ich meine: Sie haben ihn draußen vor der Stadt getötet.
Als hätte sie den Schuss hören müssen.
Frau Munk gab zu Protokoll, sie habe gegen halb acht Uhr abends mit den Kindern im Wohnzimmer gesessen, als drei in Zivil gekleidete Herren gekommen seien und um ein Gespräch mit Kaj Munk gebeten hätten. Der eine habe sie auf Dänisch mit deutschem Akzent als Kriminalbeamte vorgestellt, jedoch offengelassen, ob dänische oder deutsche Kriminalpolizei, zwei hätten Polizeimarken vorgezeigt. Sie wünschten mit Kaj Munk zu sprechen. Der war nicht gleich zu finden. Sie wurden in sein Arbeitszimmer im Obergeschoss geführt – was für ein verzweifelter Versuch, Zeit zu schinden, dachte Taarnby –, auf der Treppe trafen sie auf den Gesuchten, und die drei Herren baten, ihm ein Köfferchen mit Nachtzeug usw. zu packen. Eine Durchsuchung habe nicht stattgefunden, und sie habe nicht hören können, was die Polizisten mit ihm gesprochen hätten.
Munk wurde hinaus zum Auto geführt, das in der Hofeinfahrt mit der Front zur Straße stand, er habe noch zu ihr gesagt: Vertrau auf Gott, Lise! Sie sei auf den Hof gefolgt, doch da habe er schon im Auto gesessen, das gleich mit recht hoher Geschwindigkeit fortgefahren sei. Ein kleines, hellgraues, geschlossenes Personenfahrzeug, das Nummernschild in der Mitte des Fahrzeughecks außerhalb des Reserverads.
Frau Munk beschrieb die angeblichen Polizeibeamten:
a) Ca. 40 - 50 Jahre alt, mittelgroß, kräftig, vermutlich dunkler, kurzgeschnittener Schnurrbart, rundes fülliges Gesicht, bekleidet mit dunkelgrauem Mantel, Halstuch, langen Hosen, sprach Dänisch mit deutschem Akzent, zeigte Polizeimarke vor, viereckig mit der Krone obenauf und in einem breiten Lederriemen. (Möglicherweise kräftige, dunkle Augenbrauen).
b) 38 - 39 Jahre alt, mittelgroß, von mittlerem Körperbau, dunkler, kurzgeschnittener Schnurrbart, gelbliche, fahle Gesichtsfarbe, kleine stechende, vermutlich braune Augen, ausgeprägte, nach außen gewölbte Nase, ausschließlich deutschsprechend, bekleidet mit dunkelgrauem Mantel, braunem weichem Hut, langen Hosen, zeigte Polizeimarke von gleichem Aussehen wie bei a) vor.
c) 27 - 33 Jahre alt, sehr groß, schlank und gut gebaut, vermutlich bartlos, vermutlich dunkle Augen, sagte gar nichts, bekleidet mit dunklem Mantel, Halstuch, dunklem weichem Hut, dessen Krempe rundherum nach unten gebogen war, gut gekleidet, machte den Eindruck, untergeordnet zu sein, und passte genau auf, was geschah.
d) Wartete draußen, kann nicht näher beschrieben werden. Die Geheime Feldpolizei, die deutsche Sicherheitspolizei in Esbjerg und die Abwehrnebenstelle in Aarhus bestritten, etwas über die Angelegenheit zu wissen, sie hätten keine Verhaftungen angeordnet.
Sie erlaubte Sprosse, sie zu begleiten, so gingen sie zusammen hinter Aksel und Bente her. Bente wandte sich beim Gehen einmal mit dem verschwörerischen Lächeln einer Verbündeten nach ihr um, das Lea erwiderte, hundemüde und wach zugleich, sie hätte vielleicht Angst spüren sollen und merkte nicht einmal recht die frostige Kälte. Schließlich hängte sie sich bei Sprosse ein, was diesen ebenso verwirrte wie erfreute, sollte er doch an der Aufgabe wachsen, sie hier und jetzt vor sich selbst zu beschützen, die S-Bahn fuhr in den Bahnhof ein.
Sie blieb auch neben ihm sitzen. Eine Gruppe Studenten nach einer durchfeierten Nacht. Alle hatten sie Briefe in ihren Taschen und verteilten sie dort, wo sie ausstiegen, auf mehrere Briefkästen. Sie stieg allein in Østerbro aus, warf einige Briefe direkt am Osloplatz ein und andere auf ihrem Weg in die Eckersbergsgade, wo sie seit einigen Tagen bei einem älteren Ehepaar Unterschlupf gefunden hatte. Nur ein unschuldiges junges Mädchen und eine ordentliche, brave Studentin.
Sie würde das Häuschen später durch den Garteneingang verlassen und wünschte sich kurz, es wäre Frieden, und sie könne wirklich hier wohnen und weiterstudieren, Vesterlunds würden sie sofort aufnehmen, das wusste sie.
Was mache ich hier noch, fragte sich Taarnby wieder einmal. Mikkelberg hatte ihm Anfang September, kurz nach dem Ende der Zusammenarbeitspolitik, auf diese Frage ungerührt geantwortet: Bei der Kriminalpolizei bleiben, solange du uns dort nützlich sein kannst. Also war Taarnby geblieben und hoffte, dass er nützlich sein konnte.
Immerhin verfolgten sie keine Saboteure mehr. Nicht, dass das Taarnbys Verdienst gewesen wäre. Es war nicht einmal so, dass er die Zusammenarbeitspolitik der ersten drei Besatzungsjahre ganz abgelehnt hatte, so sehr er auch wie die meisten anderen auf der Polizeischule im April 1940 die Schmach der kampflosen Besetzung Dänemarks empfand, und es ging ihm dabei nicht nur um die Erleichterung der Lebensumstände, die noch schwer genug waren. Als Lea nach dem 29. August 1943 zufrieden meinte, nun bekämen sie endlich auch norwegische Verhältnisse und müssten sich nicht mehr vor der Welt verstecken, brauchte er sie nur an ihre norwegische Cousine zu erinnern, die im November des Vorjahres mit ihrer Familie deportiert worden war, doch als er die Tränen in ihren Augen sah, tat es ihm sofort leid. Er verstand sie und blieb dennoch davon überzeugt, dass ihnen in ihrem Musterprotektorat manches erspart geblieben war, was die Deutschen ja dann auch umgehend nachholten. Der Kanarienvogel war dem Gangster aus dem Käfig entwichen, die Jagd war eröffnet.
Doch jetzt. Der Mord an Munk änderte alles.
Die ganze Stadt war auf den Beinen, um ihm das letzte Geleit zu geben, als sie den Sarg abholten, weiß und mit vielen rot-weißen Blumen, die Fahnen überall auf Halbmast. Freilich war das verboten worden, aber die in der ganzen Stadt beliebte alte Hebamme wurde am selben Tag beerdigt, und die Beflaggung galt natürlich ihr. Im Übrigen ließen die Deutschen sich nicht sehen. Ein feste Burg ist unser Gott. Als der Leichenzug in der Vestergade ankam, waren es an die viertausend Menschen. Schweigend, doch wer konnte, sang die Choräle mit. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: Lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.
Die Zeitung druckte die Anzeige: Auto polizeilich gesucht. Die Kriminalpolizei in Silkeborg – Tlf. 45 – bitte jeden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, der in der Nacht zwischen 22 und 8.30 Uhr auf der Strecke Herning – Paarup – Paarup Bakker ein Auto mit der folgenden Beschreibung gesehen habe.
Sehr viel schwieriger gestaltete sich die Aufklärung der Explosion des Wasserturms am Bahnhof nächsten Montagabend. Überall zerstörte Scheiben und andere Schäden. Natürlich wusste Taarnby und wussten alle in der Polizei, dass Mikkelberg dahintersteckte, und man hatte weitere zwei, drei Namen, doch Bestimmteres würde man frühestens wissen, wenn Mikkelberg, den Zeugen gesehen hatten, sicher in Schweden war.
Himmelstrup kam mit zehn Leuten an und verlor keine Zeit, alle wussten, dass es eine Sache von Tagen war, bis sie die Morduntersuchung einstellen mussten.
Eine huschende Veränderung im Schatten von Hauseingang zu Hauseingang, mehr nicht. Im Übrigen war sie offiziell verschwunden. Das konnte heißen: tot. So wie Edith, höchstwahrscheinlich. Gott weiß, was sie mit ihr gemacht haben. Nein, das wusste vielleicht nicht einmal Gott. War dafür einfach nicht zuständig. Und Lea wusste nur von Lagern. Hatte Ortsnamen, im Osten, aber keine klare Vorstellung. Von dort kam man nicht zurück.
Und das, was sie jetzt fühlte, war normale Angst. Mit der sie allein war, da, in den tiefen Schatten der nächtlichen Hauseingänge. In lausiger, feuchter Kälte, die in der verdunkelten Stadt noch klammer wirkte. Nur wärmer angezogen als das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Angst, die sie einen Moment lähmte. Du kannst ja nach Schweden, sie besorgen dir sofort eine Passage.
Sie klammerte sich an den Stoß illegaler Blätter. Sie hatte keine Ahnung vom Fliegen, aber sie hätte jetzt gerne einen Bomber geflogen. Sie führte das Geschwader an. Das verdunkelte Berlin kaum zu ahnen, aber sie hatten ja die Koordinaten. Das Feuermeer, das sie veranstalteten, wärmte sie ein wenig, und sie konnte wieder durchatmen, zum nächsten Hauseingang huschen.
Und hörte Jørgen – denn in Gedanken, wo schon nicht in Wirklichkeit, war er ihr ständiger Gesprächspartner: Sie hätten Kopenhagen bombardiert. Rasch schüttelte sie die Bomberpilotin ab. Wir haben beide recht, Jørgen. Die Zusammenarbeitspolitik hat mir wahrscheinlich bisher das Leben gerettet und mich studieren lassen. Aber wir haben auch dazu beigetragen, dass der Krieg einfach nicht aufhört. Obwohl Deutschland doch längst verloren hat.
Dann zwang sie ein plötzlicher stechender Schmerz, stehenzubleiben: Edith und Daniel und mein Onkel und meine Tante sind von norwegischen Polizisten abgeholt worden! Was hättest du getan, Jørgen? Hättest du uns abgeholt? Oder hättest du den Befehl verweigert? Ihr habt den Deutschen so oft die Arbeit abgenommen! Saboteure aufgespürt und übergeben. Die Regierung hat die Bevölkerung aufgefordert, alle zu denunzieren, die gegen die Deutschen arbeiten. Deswegen haben wir doch jetzt so viele Verräter! Deswegen leben unsere Leute so gefährlich!
Sie schloss die Augen. Frühe Passanten kamen vorbei. Durch das Klopfen in ihren Ohren hörte sie leise dänische Laute, aber das sagte nichts. Doch sie gingen vorbei, ohne Lea zu bemerken.
Weiter. Sie hatte eine Aufgabe. Schwäche wie eben konnte sie sich nicht leisten. Damit gefährdete sie sich selbst und andere.
Das Auto sei mit Benzin gefahren, also bestimmt ein deutsches, alle anderen führen ja mit Gasgeneratoren. Nein, klein eigentlich nicht, ein Opel Kapitän, soweit er habe erkennen können. Das sei schon ein ordentlicher Schlitten, und sie seien ja zu fünft darin gewesen, mit Pastor Munk dann sechs Männer. Kurz vor acht sei der Wagen auf den Hofplatz eingebogen, erzählte der Sohn des Pfarrhofpächters weiter. Die Eltern hätten gerade zu den Nachbarn gehen wollen, und er habe zu seinem Vater gesagt, drüben bei Pastor Munk, da stimme etwas nicht. Ja, das glaube er auch, habe sein Vater geantwortet und seinem Bruder und ihm befohlen, mit der Mutter im Haus zu bleiben, während er zu den Nachbarn gehen wolle, die hätten Telefon. Vier Männer seien rasch ausgestiegen, und drei seien sofort beim Pastor in der Haustür verschwunden, während der vierte draußen Wache gehalten habe. Einen Augenblick später fuhr der Wagen wieder an und hielt genau vor unserer Tür, von wo Bent und ich hinter einer Gardine versteckt das Ganze durch die Scheibe sehen konnten. Es war ganz hell auf dem Hofplatz, nachdem es ein paar Stunden vorher geschneit hatte. Ein paar Meter von mir entfernt konnte ich den fünften Mann sehen, der das Auto mit dem Kühler in Richtung Einfahrt anhielt – bereit abzuhauen. Er zündete sich eine Zigarette an. Es war so still, obwohl der Automotor schwach zu hören war.