Orgelnachspiel - Christian Hartung - E-Book

Orgelnachspiel E-Book

Christian Hartung

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Beschreibung

Haan im Rheinland, Januar 1983 - Die 18-jährigen Freunde Felix und Stephan sollen im Geschichtsunterricht ein Referat über die Vorgänge in ihrer Heimatstadt im Januar 1933 halten. Bei ihren Nachforschungen befragen sie auch ihre Großeltern und durchleuchten dabei die Geschichte ihrer eigenen Familien und die Vorkommnisse in der Stadt. Je tiefer sie in die NS-Zeit eindringen, desto mehr dunkle Geheimnisse ihrer Kirche decken sie auf. Doch nicht alle Gemeindemitglieder wollen, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und die jungen Männer geraten in große Gefahr. Christian Hartung hat eine spannende Kriminalgeschichte geschrieben und zugleich die historische Aufarbeitung einer Kirchengemeinde beobachtet. Eine fesselnde Lektüre!

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Seitenzahl: 258

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Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten!Psalm 43,1

Inhalt

Präludium

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Fuge

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Nachwort

Weiterführende Literatur

Präludium

1

Am Sonntag Judika des Jahres 1983 brach der geachtete Rechtsanwalt Dr. Arno Schenkendorf während des Orgelnachspiels in der evangelischen Kirche in Haan zusammen, als er sich mit den anderen Gottesdienstbesuchern auf dem Weg zum Ausgang befand. Der Vierundsiebzigjährige war ein regelmäßiger Kirchgänger und seit vielen Jahren im Presbyterium der Kirchengemeinde. Die Organistin – meine Großmutter Elisabeth Breuning in einem ihrer letzten Vertretungsdienste – hatte Mendelssohns Präludium in c-Moll ausgewählt. Selbst als unten vom Mittelgang Schreie zu hören waren, spielte sie weiter: auch die Fuge, die Schenkendorf jedoch nicht mehr hörte. Wer ihm zielsicher ein Stilett zwischen die fünfte und sechste Rippe eingeführt hatte, konnte nie ermittelt werden.

Der Verstorbene wurde unter großer Anteilnahme beigesetzt. Mehrere Besucher des Trauergottesdienstes wollten bemerkt haben, dass die Organistin (es war wieder Elisabeth Breuning) ein paar Takte des Horst-Wessel-Liedes in ihr Spiel eingeflochten habe, freilich spöttisch verfremdet und verzerrt; andere meinten dagegen Motive aus der Internationalen entdeckt zu haben. Doch warum hätte meine Großmutter diese Stücke spielen sollen?

2

Sie wurde am 1. August 1914 geboren, am Tag, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Als Europa und die Welt zum zweiten Mal im Krieg versanken, waren ihr Unschuld und Glück längst abhanden gekommen. Dafür hatte sie einen kleinen Sohn, besaß aber nichts, um ihn großzuziehen. Jeder empfand es als glückliche Fügung, dass gerade die Stelle des Organisten vakant wurde. Warum sollte sie es anders empfinden? Ihr Vater war einer der beiden Gemeindepfarrer. Dank seiner Vermittlung konnte sie den Posten zunächst vertretungshalber übernehmen. Damit war doch für sie und das Kind gesorgt. Gewiss waren es Dankbarkeit und eine dem Leben gegenüber neu gewonnene Bescheidenheit, die sie auch später nichts anderes suchen ließen. Das Presbyterium gab seinen anfänglichen Widerstand schließlich auf – und nach dem Krieg war man froh, dass man sie hatte.

Inzwischen stellte sie keine Ansprüche mehr. Nur manchmal blitzte in ihrem Spiel etwas völlig Unerwartetes auf. Dann schien zugleich die Ahnung von einem Leben durch, das sie unter anderen Umständen vielleicht hätte führen können. Als Rentnerin half sie häufig aus, hörte damit jedoch nach der Beisetzung Arno Schenkendorfs plötzlich auf. Als die alte Orgel wenige Jahre später abgebaut und durch eine neue ersetzt wurde, wollte sie nicht einmal eine Pfeife zur Erinnerung haben.

Die ihr verbleibenden dreißig Lebensjahre widmete sie anderen Tätigkeiten und Interessen. Der Tod fand sie bereit und, wie mir schien, gleichermaßen voll wehmütigen Bedauerns wie neugieriger Sehnsucht. Ich wusste, wen sie wiederzusehen hoffte. In ihren letzten Augenblicken wurde ihr Gesicht wieder ganz jung.

Ich kannte sie als zierliche und kleine Frau von stiller Freundlichkeit, die gerne für sich blieb. Jedes besondere Interesse an ihrer Person wehrte sie ab, wie man geduldig Fliegen verscheucht, denen man ihr Tun zwar nicht verübelt, die man aber doch umso bestimmter fernhält von allem, woran Fliegen nun einmal Interesse zeigen. Nur noch Ausgewählten gegenüber erlaubte sie ihren Augen, zu leuchten wie in der kurzen Zeit ihres unbeschwerten Glücks, und wusste im Übrigen gut zu verbergen, was sie damals wirklich empfunden hatte. Bis ich als unbedarfter Gymnasiast zum ersten Mal daran rührte und unbeabsichtigterweise ihre geheime Asservatenkammer öffnete.

Stephan Delbrück und ich sollten im Geschichte-Leistungskurs ein Referat über die Ereignisse in Haan während der Machtergreifung Hitlers halten. Berlin wäre weit genug fort gewesen, das hätte hier niemanden gestört. Doch ich möchte Herrn Krauss zugutehalten, dass er vermutlich nicht ahnte, was er mit dieser Aufgabe bei uns auslösen würde.

Ich hatte seinen Kurs eher aus Verlegenheit gewählt und bereute dies bereits. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn wir uns mehr mit den alten Römern oder dem finsteren Mittelalter beschäftigt hätten als mit Zeiten, die noch nahe genug waren, um Unheil anzurichten. Ich verfügte über eine lebendige Fantasie, welche mir die Unterrichtsgegenstände näher rückte, als mir lieb war. Sie verfilmte sie mir ungefragt mit ausführlichen Tagträumen, die mich zeitweise vergessen ließen, dass wir bereits 1983 schrieben und nicht 1933. Ich geriet in die Kämpfe von Nazis und Kommunisten, wurde schreckensstarr zum Zeugen äußerst brutaler Szenen, rannte durch Haans Straßen und Gassen, floh im Ittertal die Hänge hoch und in die Büsche, wurde wechselweise von den einen oder den anderen gestellt, für einen ihrer Gegner gehalten und entsprechend behandelt. Welche Heldentaten ich auch versuchte – am Ende fand ich mich zwischen allen Stühlen, verfolgt und gehetzt und ohne Zuflucht.

Da mir zur gleichen Zeit die mühsam bewahrten Reste eines halb verschütteten Kinderglaubens abhanden kamen, fühlte ich mich zunehmend ungeborgen. Wenn ich mich noch einmal in unsere Kirche verirrte, sah ich im mittleren Chorfenster den segnenden Christus von einer anderen Welt hereinschauen und unbeteiligt dort schweben – unerreichbar und ohne sich im Mindesten darum zu bemühen, näherzukommen und sich irgendwo, vielleicht gar neben mir, niederzulassen. Mein Blick glitt immer wieder von ihm fort zur Stirnwand neben dem Chorbogen, zu den dort links oben gemalten Tafeln der Zehn Gebote und dem Satz: „Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit.“ Damals verstand ich noch nicht, dass es besser sein kann, die Wahrheit nicht zu kennen.

3

„Herr Breuning, Herr Delbrück, von Ihnen hätte ich gerne ein Referat zu den Geschehnissen um Hitlers Machtergreifung. Den Geschehnissen hier in Haan. Wie hat sich dieses Ereignis in unserem Städtchen niedergeschlagen? Was passierte in den Wochen davor? Was danach? – Sie müssen das aber erst Ende des Monats vortragen. Zum Beispiel in der Woche vor dem dreißigsten Januar?“

So gemütlich zurückgelehnt, geradezu augenzwinkernd, wie Herr Krauss gleich nach den Weihnachtsferien seine Aufgabe stellte, blieb leider auch mir der darin liegende Sprengstoff verborgen. Ich weiß nicht, wie weit Stephan ahnte, in was wir da verwickelt wurden. Im Hinausgehen schlug er mir vor, uns in den nächsten Tagen zu treffen, „um den Stoff zu sichten“. Ich nickte bloß. Die anschließende Mathematikstunde nahm meine Gedanken mehr in Anspruch.

Erst als ich mich nach der Schule aufs Rad schwang, dachte ich wieder an die Aufgabe. Ich fuhr an den schmutzigen Resten des ersten Schnees dieses Jahres vorbei. In der Tasche auf dem Gepäckträger befanden sich nicht meine Schulbücher, sondern ein großer Stapel kommunistischer Flugblätter. Und dort vorne am Güterbahnhof wartete ein Trupp der Hitlerjugend auf mich. Auch hinter mir – ein rascher Blick zurück über die Schulter bestätigte meine böse Ahnung. Die ganze Umgebung sah feindlich aus – so, wie ich sie mir um 1933 vorstellte. Was sollte ich tun? Der HJ in die Hände zu fallen, wollte ich gerne vermeiden; dass meine Flugblätter ihnen in die Hände fielen, galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Doch meine Lage war aussichtslos. Ich war allein, und die anderen waren viele. Sie brauchten sich nicht zu beeilen. Zur Linken versperrten mir die Lagerhallen einen möglichen Fluchtweg und zur Rechten der Gleiskörper. Und dort bemerkte ich jetzt die motorisierte Draisine. Die Arbeiter auf dem Fahrzeug, das auf meiner Höhe angekommen war, winkten und riefen mir zu und zeigten auf meine Tasche. Ich lenkte das Fahrrad in die Brennnesseln und Disteln, ließ es dort fallen, riss die Tasche vom Gepäckträger und stolperte hastig auf die Gleise, warf die Tasche auf die Draisine und wollte mich gerade hinterherziehen, als mich jemand von hinten packte. Ich versuchte, mich freizukämpfen und zugleich das Fahrzeug nicht loszulassen, doch ich hatte keine Chance. Da hörte ich hinter mir einen lauten Schrei, der Griff, der mich gefangen hielt, lockerte sich plötzlich, andere Hände griffen von der Draisine nach mir und zogen mich hoch. Ich sah einen der Arbeiter mit einem schweren Schraubenschlüssel in der Hand da stehen – und am Rand der Gleise einen der Hitlerjungen in verkrümmter Position in einer Blutlache liegen …

Unwillig schüttelte ich den Kopf und fuhr wieder an, als die Ampel an der Bahnhofstraße auf Grün sprang. Ich schämte mich plötzlich und meinte, man müsse mir meine Träumereien ansehen – auch wenn mich niemand weiter zu beachten schien: einen unscheinbaren, blassen Oberschüler im grünen Parka, wie sie ihn damals fast alle trugen; und mein Schnurrbart war noch zu frisch, um wirklich ernst genommen zu werden. Immerhin konnte ich meine Fantasien jederzeit wieder abstellen wie einen Fernseher. Diesen Gefallen würde mir die Realität leider nicht tun.

Ich fuhr zu meiner Großmutter. Das tat ich immer noch oft, nachdem ich mehr oder weniger bei ihr aufgewachsen war. Meine Mutter und meine große Schwester arbeiteten bis nachmittags und ich mochte es einfach nicht, in eine leere Wohnung zu kommen. Aus dem alten, verwinkelten bergischen Häuschen meiner Großmutter war meistens Musik zu hören. So auch an jenem Tag. Sie hatte die Terrassentür, durch die ich in der Regel eintrat, angelehnt stehen und übte auf ihrem alten Klavier, das sich nicht mehr richtig stimmen ließ und dennoch willig ihren Fingern überallhin folgte. Leise setzte ich mich auf das mit Noten, Büchern und Zeitungen überladene Sofa, wofür ich Charles-Marie Widor (nicht den Komponisten, sondern den alten Kater meiner Großmutter) anheben musste, der auf dem einzig freien Platz sein Mittagsschläfchen hielt und es auf meinen Beinen fortsetzte. Ich kraulte Monsieur Widor sanft hinter den Ohren, er schnurrte kaum hörbar, und meine Großmutter spielte ihr Stück in Ruhe zu Ende, bevor sie sich halb auf dem Klavierhocker nach mir umdrehte und mich lächelnd willkommen hieß.

„Felix.“

„Großmutter.“

Unsere übliche Begrüßung. Wir brauchten nicht viele Worte. Daher verstand sie auch ohne Worte, dass mich eigentlich etwas beschäftigte, auch wenn ich es inzwischen schon halb wieder vergessen hatte.

„Du siehst nachdenklich aus.“

„Hm.“

Ich kraulte, Monsieur Widor schnurrte und meine Großmutter lächelte behutsam. Es war dieses Lächeln, das ich so besonders an ihr mochte. Es ließ sie immer viel jünger aussehen. Ich fand, dass sie trotz ihrer achtundsechzig Jahre eine schöne Frau war. Eine unprätentiöse Art von Schönheit, die viel mit diesem Lächeln zu tun hatte, das einerseits einladend und herzlich war und andererseits manche Geheimnisse zu bergen schien.

„Ich könnte uns Pfannkuchen machen. Und du könntest erzählen, was dich beschäftigt. Wenn du magst.“

Ich setzte Charles-Marie Widor wieder auf seinem angestammten Platz ab und folgte ihr in die kleine Küche. Dort nahm ich mir einen wackeligen Holzhocker und schaute meiner Großmutter zu, wie sie Pfannkuchenteig anrührte. Dabei erzählte ich, ohne lange darüber nachzudenken, von der Aufgabe, die Stephan und ich bekommen hatten. Einmal dabei, erzählte ich auch von meinen Tagträumen und den wirren Fantasien, die mich verfolgten.

Irgendwann brach ich ab. Bestürzt nahm ich wahr, dass meine Großmutter, die mir zuerst interessiert und dann ernst und konzentriert zugehört hatte, plötzlich ganz verloren aussah. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, mich und den Teig eingeschlossen. So hatte ich sie noch nie gesehen. Auf einmal wirkte sie viel älter, als sie tatsächlich war. Und zugleich wie ein verlassenes Kind. Ein Mädchen, dem man Leid zugefügt und das man dann damit alleingelassen hatte.

Ich schwieg und biss mir auf die Lippe. Da fing sie sich wieder. Doch das schöne Lächeln war verschwunden. Ihre Miene hatte etwas Hartes, Abwehrendes bekommen. Ich verstand, dass es nicht mir galt. Doch ich hatte es ausgelöst und hätte das gerne ungeschehen gemacht.

„Lass uns von was anderem reden, Großmutter. Das Thema bringt‘s echt nicht. – Ich bin nur froh, dass ich nicht wirklich damals gelebt hab!“

Kaum hatte ich diesen Satz gesagt, bereute ich ihn.

„Du kannst ja nichts dafür, Felix“, murmelte sie. „Vielleicht verstehst du es irgendwann einmal …“

Dann gab sie sich einen Ruck und zwang sich zu etwas, das für einen Fremden notdürftig als Lächeln durchgehen konnte.

„Holst du mir ’ne Pfanne und machst ’n bisschen Butter heiß? Der Teig wäre so weit!“

Ich kramte eine Pfanne hervor, erhitzte ein Stück Butter und schaute zu, wie meine Großmutter eine Schöpfkelle des Teigs in der Pfanne verteilte, nun wieder ganz bei der Sache. Scheu blickte ich sie von der Seite an, was in meinem Fall auch bedeutete, etwas auf sie herunterzuschauen, denn sie reichte mir nur bis zur Schulter. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, ihr einen Kuss gegeben, doch trotz meiner Länge, meiner achtzehn Jahre und meines noch recht neuen Schnäuzers fühlte ich mich wie ein hilfloser kleiner Junge. Als ich nun auch noch glaubte, es in ihren Augen glänzen zu sehen, verlor ich endgültig die Fassung und wartete stumm ab, wie die Dinge sich entwickeln würden. Ich hatte sie schon vor Freude und Glück weinen gesehen, auch bei einem anrührenden Film brauchte sie ein oder mehrere Taschentücher – aber das hier war etwas Neues. Zwar verstand ich nicht, worum es genau ging, doch begriff ich sehr gut, dass es etwas mit dem Vortrag zu tun hatte, den Herr Krauss von Stephan und mir verlangte.

Es gelang uns tatsächlich, über andere Dinge zu sprechen. Doch der Mittag war verdorben. Er hatte alles verloren, was diese Mittage bei meiner Großmutter sonst auszeichnete: die Leichtigkeit, das liebevolle, herzliche Willkommen, die Musik in der Luft. Meine Großmutter war völlig verstört, wenn sie sich auch alle Mühe gab, es mich nicht merken zu lassen. Und ich wagte nicht, nachzufragen. Bald sollte ich verstehen, dass ich in aller Unschuld das Bollwerk zerstört hatte, das sie über Jahrzehnte hinweg um unbetretbare Regionen ihres Herzens errichtet hatte wie eine hohe Mauer um einen alten Garten. Ich kannte sie nur in ihrem Häuschen mit ihren Noten, Büchern und Schallplatten, ihrem Klavier und ihrem alten Kater. Von ihrer Jugend ahnte ich nichts, daher hatte ich auch nie danach gefragt. Nun hatte ich diese Schutzmauern zum Einsturz gebracht. Sie merkte, dass ich im Geiste durchlebte, was sie in Wirklichkeit hatte durchstehen müssen. Mehrmals schien sie anzusetzen, mir etwas zu erzählen, beließ es jedoch dabei.

* * *

Am Abend dieses Tages kehrte ich noch einmal zu ihr zurück. Diesmal erklang kein Klavierspiel durch die trotz der Abendkälte wieder angelehnt stehende Terrassentür, sondern Zigarettenqualm bahnte sich einen Weg nach draußen. Ich hatte meine Großmutter kaum je rauchen gesehen – und wenn, dann nur eine einzige Zigarette in einem Augenblick völliger Entspanntheit. Es passte gar nicht zu ihr, zu rauchen, um sich von innerem Druck zu befreien. Jetzt war es nicht einmal die erste Zigarette, wie ihr Aschenbecher zeigte. Sie hatte die Stapel auf ihrem Couchtisch beiseitegeschoben und so Platz geschaffen für alte Fotos, die sie aus einer verbogenen Zigarrenkiste holte und auf der Tischplatte vor sich ausbreitete. Bei dieser Tätigkeit überraschte ich sie und fühlte mich sofort als unwillkommener Eindringling.

Beschämt senkte ich den Blick. Unerwartet warm und freundlich meinte sie: „Komm, Felix. Setz dich neben mich. Du darfst auch gucken.“

Es mochten an die fünfzig Bilder sein – alte Schwarz-Weiß-Fotos, überwiegend in privaten Dunkelkammern abgezogen. Das, welches sie gerade in der Hand hielt, war ein Schnappschuss – doch der eines wahren Könners; so viel erkannte ich, auch wenn ich damals noch nicht viel von Fotografie verstand. Ein hinreißend hübsches Mädchen hatte sich übermütig bei einem jungen Mann eingehängt und lachte unbeschwert in die Kamera.

Ich pfiff unwillkürlich: „Mann, Großmutter, du warst ja echt ’n heißer Feger!“

Lächelnd nahm sie das Kompliment hin, antwortete jedoch nicht.

Dann schaute ich mir den Jungen genauer an. Er hatte eine Schiebermütze lässig etwas zur Seite geschoben und eine Zigarette im Mundwinkel. Irgendetwas in seinem Gesicht erinnerte mich an jemanden, den ich meinte, kennen zu müssen.

„Wer ist das?“

Sie zuckte mit den Schultern und antwortete ausweichend: „Leo Bronski. Sein Bruder Robert hat uns fotografiert.“

Es war, als werfe sie mir diese Bröckchen hin, damit ich nicht nach dem fragte, was sie mir verschwieg. Eine Frage drängte sich mir gleichwohl auf: „Was ist aus ihnen geworden?“

„Sie sind beide schon lange tot“, erwiderte sie leichthin und doch fast widerwillig. Ich verstand, dass ich hier nicht weiterfragen sollte. Jedenfalls noch nicht.

Also schwieg ich. Während ich wartete, ob vielleicht doch noch etwas kommen würde, betrachtete ich die anderen Fotos. Immer wieder dieser Leo Bronski und meine Großmutter, mal zu zweit, mal einzeln, mal mit anderen Personen. Viele der Aufnahmen eindeutig von demselben ausgezeichneten Fotografen.

„Der konnte wirklich fotografieren!“

Mit einem leisen bitteren Lachen erwiderte sie: „Er war immer mit seiner Kamera unterwegs. Bestimmt wäre er ein ganz großer Fotograf geworden! Sie haben ihm erst die Kamera zerschlagen – und dann ihn selbst.“

Es gab eine natürliche Erklärung dafür, dass mir eiskalt wurde. Es war Januar und bereits dunkel – und die Tür zum Garten stand immer noch halb offen. Ich hatte sie nicht hinter mir geschlossen.

Und es gab die andere Erklärung. Meine Tagträume waren in der Wirklichkeit angekommen.

„Wer hat das getan? Die Nazis? War er Kommunist? Und Leo auch? War Leo dein Freund?“

Sie räumte die Fotos energisch zusammen. Ich wusste, dass ich an diesem Abend keine weitere Erklärung mehr bekommen würde.

* * *

Ich saß auf meinem Bett, die Knie angezogen, und schaute ins Leere.

Leo Bronski. Meine Großmutter war also in einen jungen Kommunisten verliebt gewesen. Und seinen Bruder Robert hatten sie umgebracht – so viel hatte ich von ihr erfahren. „Sie“ – das waren offenbar die Nazis. Wie in meinen Tagträumen. Es hatte eine Schlägerei gegeben. Robert war mit seiner Kamera dabei gewesen, hatte vielleicht das Ganze dokumentieren wollen. Da hatten sie ihm die Kamera entrissen und kaputt geschlagen; und dann ihn selbst.

Ich hatte keine Ahnung, wo das gewesen sein sollte. Doch da meine letzte Fantasieschlägerei vor der Bruchermühle stattgefunden hatte, siedelte ich auch diese dort an. War es ein geplantes Zusammentreffen und Robert deshalb mit der Kamera dabei – oder hatten sie etwas anderes vorgehabt und waren in den Hinterhalt eines Schlägertrupps der SA geraten? Ich tippte auf Letzteres.

„Passt auf! Die Braunen!“

Robert, der das Treffen der kleinen Gruppe festgehalten hatte, wirbelte herum, riss die Kamera hoch und drückte ab, alles fast in einer Bewegung. Mit dem heiser gebrüllten Ruf „Nehmt das für Karl Paas, ihr roten Schweine!“ stürzten sich mehrere Braunhemden auf einen seiner Kameraden.

Paas war ein Parteigenosse aus Solingen-Gräfrath gewesen, den die Nazis als Märtyrer stilisierten. Er war vor gut zwei Jahren vom Lastwagen gefallen und an seinen Verletzungen gestorben – nach dem eigentlichen Handgemenge auf der Straße. Dass die Kommunisten damit etwas zu tun gehabt hätten, war nie bewiesen worden, doch Paas war seitdem ein Held, ein „Gefallener der Bewegung“, für die NSDAP ein gefundenes Fressen. Nach der Beerdigung hatten ihre Schläger zu Hunderten von LKWs herab im roten Haan randaliert.

Robert drückte wieder auf den Auslöser, im gleichen Moment, als sein Kamerad zu Boden ging. Blitzschnell stellte sich ein anderer schützend vor ihn und raunte ihm zu: „Hau ab damit und sieh zu, dass die Fotografie was wird!“

Die Nazis waren in der erdrückenden Überzahl, die Kommunisten dagegen nur eine Handvoll und nicht auf den Angriff vorbereitet. Robert verstand, dass er nur mit seinen Aufnahmen helfen konnte, und trat vorsichtig den Rückzug an, nicht ohne noch ein paar der mit schweren Knüppeln, Steinen und Brettern bewaffneten prügelnden Braunhemden auf seinem Film festzuhalten. Diese Schlacht hier war verloren, kaum dass sie begonnen hatte. Doch die Fotos waren Gold wert!

Unbemerkt gelang es ihm, in die Itter zu steigen und im Schutz des Buschwerks am Ufer ein Stück voranzukommen. Doch bald wurde er entdeckt. Einige der Gegner sprangen vor ihm in den Bach – hinter ihm war das Gefecht ohnehin im Gange. Rasch war er umzingelt. Die ersten Hiebe galten der Kamera, die Knüppel sausten auf seinen schützend darübergelegten Arm und zerbrachen ihm die Hand. Er wurde umgerissen und ins Wasser gestoßen, ein schwerer Stiefel zertrat die Kamera und dann seine Nase. Einer seiner letzten Gedanken war, dass sie nun doch von ihm ablassen würden, sie hatten ja alles erreicht, der Film war zerstört und er hatte seine Abreibung bekommen. Da drückten ihn die Stiefel wieder unter Wasser, das längst mit seinem Blut vermischt war ...

Mein Herz schlug heftig. Ich hasste diese Geschichten! Ich wollte sie mir nicht ausdenken, wollte nicht von ihnen überwältigt und bis in die Träume verfolgt werden! Und was wusste ich denn darüber, wie es wirklich gewesen war! Ich saß hier in meinem warmen Bett und dachte mir Schauermärchen aus.

Als ich mich wieder beruhigt hatte, konnte ich der durchaus nüchternen inneren Stimme Gehör schenken, die lediglich einwandte, dass ich der Wirklichkeit vermutlich eben sehr nahe gekommen war. So oder so ähnlich musste es sich zugetragen haben. Ich wusste von Robert Bronski fast nichts. Er war Kommunist – das waren damals in Haan viele. Höchstwahrscheinlich war er Arbeiter in einer der umliegenden Fabriken. Jedenfalls war er ein begnadeter Fotograf und zusammen mit seiner Kamera umgebracht worden. Irgendwann nachdem er die Fotos von seinem Bruder und dessen Freundin aufgenommen hatte. Ungefähr in der Zeit, die Stephan und ich recherchieren sollten. Damals war meine Großmutter achtzehn Jahre alt, Leo Bronski höchstens geringfügig älter. Das Foto war im Winter aufgenommen, auf der Kaiserstraße, die Bäume waren kahl. Es konnte Januar gewesen sein.

4

Leo Bronski wartete sozusagen an der nächsten Straßenecke auf mich, als ich zur Schule fuhr. Vergeblich verwehrte ich ihm den Zugang zu meinen Gedanken, konnte aber wenigstens verhindern, dass er meine Fantasie missbrauchte. Antworten auf meine drängenden Fragen verweigerte er mir, was mich freilich nicht erstaunte, denn bisher war er nicht viel mehr als ein Fotomotiv seines Bruders.

Ich stellte mein Fahrrad im überdachten Ständer hinter der Turnhalle ab und ließ mich von dem Strom der meist jüngeren anderen Schüler sowie einiger Lehrer zum Hintereingang des Gymnasiums schwemmen, von wo ich gleich die Treppe zum zweiten Stock nahm. Herr Krauss empfing uns wie immer mit unerschütterlich unternehmungslustiger Miene zur Doppelstunde des Geschichte-Leistungskurses und nahm mein gedankenverlorenes Lächeln eher wahr als ich.

„Herr Breuning, irgendetwas amüsiert Sie ganz köstlich!“

Ich zuckte grinsend die Schulter.

„Ja. Ein junger Kommunist, der in eine Pfarrerstochter verliebt ist.“

„Heutzutage soll das vorkommen.“

„Ja, heutzutage vielleicht …“

Sein Blick hatte etwas unschuldig Verschwörerisches. Wir ließen meinen Satz beide in der Luft hängen.

* * *

„Schon irgendwas rausgefunden?“

Stephan und ich schlenderten über den Pausenhof. Ich versuchte, ihm zu antworten, ohne mich dabei an meinem Wurstbrot zu verschlucken, das ich schnell aß, um die Hand wieder in die Jackentasche zu bekommen.

„Nur das, was ich vorhin schon gesagt habe.“

„Der Kommunist und die Pfarrerstochter?“

„Meine Großmutter …“

Dann war das Wurstbrot erfolgreich vertilgt und mit wieder freiem Mund erzählte ich Stephan von meinen Besuchen bei meiner Großmutter am Vortag.

„Dann hast du’s ähnlich gemacht wie ich. Hab gestern auch meinen Großvater gefragt. Der war ähnlich gesprächig wie deine Großmutter.“

Unser beider Blicke blieben an der hübschen Katharina hängen. Sie bemerkte es und lächelte uns fröhlich zu.

„Was hat ihr Vater wohl dazu gesagt?“

Stephans plötzliche Frage ließ mich zusammenzucken. Einen kurzen Moment überlegte ich, was Katharinas Vater wozu gesagt haben sollte, dann verstand ich, dass Stephan vom Vater meiner Großmutter sprach.

„Ist eigentlich was draus geworden?“

Es gab Zeiten, wo es mir leichter fiel, Stephans sprunghaften Gedankengängen zu folgen.

„Du meinst, aus meiner Großmutter und dem Kommunisten?“

„Mh.“

Ein großes, eigentlich nur schlecht verschlossenes Tor öffnete sich polternd in meinem Kopf und gab den Blick auf ein sehr unvertrautes Gelände frei. Ein leeres Gelände, ohne Anhaltspunkt. Mein Vater hätte diesen fixen Punkt bilden können. Wenn ich mehr von ihm gewusst hätte.

Ich hatte ihn kaum gekannt. Er war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ich fünf Jahre alt war und meine Schwester elf. Mir fiel plötzlich sein Name ein: Robert. Wie der Fotograf. Robert Breuning. Da ich so daran gewöhnt war, keinen Vater mehr zu haben, wusste ich nicht genau, wann er geboren worden war. Doch wenn ich jetzt so darüber nachdachte und nachrechnete …

Leo Bronski konnte mein Großvater sein. Was freilich mehr Fragen aufwarf als beantwortete.

„Felix?“

„Ich glaube, ich muss meine Großmutter ein paar Dinge fragen.“

In Stephans Blick, dem ich gleich wieder auswich, las ich, dass er verstand: Hier ging es nicht mehr in erster Linie um das Referat.

* * *

Sie hatte mich erwartet. Und mein Kommen befürchtet. Nicht so sehr mein Kommen. Die Fragen, die ich mitbringen würde. Vielleicht sah sie schon meinem Gesicht an, welche Fragen es sein würden.

Ich beschloss, uns beiden eine Pause zu gönnen, obwohl ich vor Ungeduld fast platzte. Doch es war unübersehbar, dass sie nicht geschlafen hatte. Und sie konnte die Angst und Verwirrung in ihrem Gesicht, in ihren Augen nur schlecht verbergen, was wiederum mich ängstigte und verwirrte. Sie tat mir leid. Wir beide taten mir leid.

„Spielst du uns etwas vor? Etwas, das so schön ist, dass man darüber alles andere vergisst?“

Meine Bitte schien sie ebenso zu erheitern wie zu befremden, doch immerhin lächelte sie sogar ein wenig, mit belustigt zusammengezogenen Augenbrauen. Einen kurzen Moment war die Luft im Zimmer voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Ich erwiderte ihr Lächeln so unschuldig, wie ich es zustande brachte, und nahm Charles-Marie Widor auf meinen Schoß, kraulte ihn, bis er leise zu schnurren anfing, und wartete, bis meine Großmutter sich für ein Stück entschieden hatte.

Es klang nach Mozart. Ganz zart und zweifellos wunderschön. Aber auch sehr traurig. Ich spürte plötzlich einen dicken Kloß in meiner Kehle.

Mitten im Spiel brach sie ab. Ohne sich nach mir umzuwenden, sagte sie leise: „Du bist gekommen, um mich etwas zu fragen.“

Ich betrachtete sie von hinten. Die zierliche, fast zarte Gestalt. Die etwas unordentlichen, ehemals dunkelblonden, jetzt leicht ergrauten Haare, die sie im Nacken irgendwie zusammengesteckt hatte. Ich dachte an Katharina und versuchte, in der schon lange nicht mehr jungen Frau vor mir am Klavier das bezaubernde Mädchen auf dem Foto wiederzuentdecken. Es war gar nicht einmal schwer. Doch die junge Elisabeth blieb in dem Reich ihres alten Schwarz-Weiß-Fotos gefangen; ich konnte sie mir nicht fröhlich lächelnd oder an Katharinas Seite übermütig albernd auf unserem Schulhof vorstellen. Meine Großmutter gehörte einer Welt an, in der die wichtigen Dinge in Schwarz-Weiß geschehen waren. Aber selbst Katharina wirkte im Vergleich blass.

Immer noch wandte sie mir den Rücken zu. Einen schmalen und, wie mir plötzlich bewusst wurde, zerbrechlichen Rücken. Ich nahm Anlauf und versuchte, es als ein Spiel zu verstehen. Das Spiel hieß „So lange ich dich nicht anschaue, darfst du mich alles fragen“. Ich wärmte meine klammen Finger in Monsieur Widors Altkaterpelz und begann schließlich, wobei ich meiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Ton gab: „Ich würde gerne mehr über deinen Vater wissen. Und über meinen.“

Überrascht hob sie den Kopf und drehte ihn halb zu mir. Es war offensichtlich nicht die Frage, die sie erwartet hatte. Dann schien ihr bewusst zu werden, dass sie diese Frage insgeheim befürchtet hatte, und sie vollendete die Drehung ihres Kopfes nicht. Ihr Profil mir zugewandt, schaute sie durchs Fenster in ihren winterkahlen Garten und sah verloren aus.

„Mein Vater war Pfarrer. Das weißt du doch. Ich war sein einziges Kind und er hätte alles für mich getan.“

Das mochte stimmen oder auch nicht ganz. Ihr Tonfall ließ es offen.

„Hätte oder hat?“

Sie zögerte einen Wimpernschlag zu lang.

„Hat. – Er hat sich für mich eingesetzt, dass ich die Stelle als Organistin bekommen und behalten konnte. Davon habe ich schließlich bis heute gelebt!“

„Warum musste er sich so dafür einsetzen? Gab es so gute Konkurrenz?“

Ich verstand nicht wirklich viel von der Musik, die meine Großmutter spielte, wenn auch sicher mehr als der Durchschnitt, doch meiner Ansicht nach spielte sie herausragend und ich wusste immerhin, dass sie einige Prüfungen gemacht hatte. Aber wahrscheinlich erst spät.

„Reichten deine Nachweise nicht?“

Sie lächelte ganz leicht.

„Das haben sie dann vorgeschoben. Es stimmte ja auch. Ich hatte kein einziges Zeugnis, als ich anfing. Und …“

Ich wartete, doch sie hatte sich entschlossen, den Satz unvollendet in der Luft hängen zu lassen.

„Was hat dein Vater dazu gesagt, dass du dich in einen jungen Kommunisten verliebt hattest?“

Jetzt lächelte sie richtig, wenn auch wehmütig.

„Begeistert war er nicht …“

Ich wusste nicht genau, was es Anfang der Dreißigerjahre bedeutete, Pfarrer zu sein. Doch ich war davon überzeugt, dass es nicht bedeutete, viel für Kommunisten übrig zu haben, schon gar nicht für solche, die der einzigen Tochter nachstellten.

Und nun zu meinem Vater. Er hieß Breuning, das war der Mädchenname meiner Großmutter; sie hatte nie einen anderen gehabt. Also war er unehelich geboren. Ich konnte mir inzwischen das Wesentliche zusammenreimen.

„Und dann warst du irgendwann schwanger.“

Sie nickte. Mit Tränen, die sie nicht zurückhielt.

„Und auch deswegen musste dein Vater sich für dich einsetzen.“

Sie biss sich auf die Lippen und starrte in den Garten.

„Es war von Leo, nicht wahr? – Mein Vater, meine ich?“

„Ja. Leo Bronski ist dein Großvater. War.“

„Sie haben ihn auch umgebracht.“

„Ja.“ Ihre Stimme war hart geworden. „In der Kemna. Kannst du dir schon mal für dein Referat merken. Obwohl das erst später war. Im Herbst dreiunddreißig. Vorher war er woanders in Schutzhaft. Und dann haben sie in Barmen diese stillgelegte Fabrik dafür umgebaut. Bis die Lager im Moor fertig waren. Doch das hat er nicht mehr erlebt.“

Hart und schnell hatte sie die Worte hervorgestoßen. Dabei hatte sie die rechte Hand auf ihrem Bauch liegen. Als ob ihr schlecht wäre oder als hätte ihr jemand in den Leib getreten. Oder …

Ich sah sie vor mir, gerade neunzehn Jahre alt, die Hand auf dem runden Bauch, ganz allein in einer kleinen Stadt, in der man auch ein Jahr zuvor kein Verständnis für eine Liebschaft zwischen der Pfarrerstochter und dem Kommunisten gehabt hätte, geschweige denn jetzt. Plötzlich erwachsen geworden, ganz auf sich gestellt.

Ihr Vater zerrissen zwischen der natürlichen moralischen Empörung, dem Urteil, das ihm alle Welt in den Mund legen würde, hätte er es nicht längst selbst dort vorgefunden – und seinen Gefühlen für die einzige Tochter, die schöne Elisabeth, die er sicher abgöttisch liebte und verwöhnt hatte und die nun mit einem viel zu sichtbar runden Bauch irgendwo stand und für immer verloren war.

Was hatte eigentlich meine Urgroßmutter zu alledem gesagt? Wahrscheinlich geschwiegen und sich untergeordnet. Ich stellte mir vor, dass es so oder so ähnlich gewesen sein musste. Und er stieg auf seine Kanzel und wusste, dass seine Gemeinde ihn stillschweigend verurteilte, weil er nicht besser auf seine Tochter aufgepasst hatte. Die jedoch wartete auf ihren Freund. Ob er noch einmal freikommen würde?

„Schutzhaft“. Davon hatte ich nur sehr unklare Vorstellungen. Eine stillgelegte Fabrik. Lager im Moor. Kemna? Barmen, das sagte mir mehr.

Sommer sei es gewesen; sie schwanger und er in dieser Fabrik. Ihr Vater sah sie auffordernd an und sie starrte an ihm vorbei, ihm nur halb zugewandt. So wie jetzt.

Mein innerer Drehbuchautor zögerte. Vorwürfe? Eine Moralpredigt? Schrie er sie an? Oder schwieg er bestürzt – aus Liebe und weil sein Verständnis nicht in das völlig unbekannte, abstoßende Land folgte, wohin seine Elisabeth sich auf den Weg gemacht hatte? Und seine Frau, die Mutter dieses störrischen Mädchens, saß still daneben, versuchte zu verstehen und es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Schwarz-Weiß-Gefühle.