Hinterm Horizont geht's weiter - Lars Haider - E-Book

Hinterm Horizont geht's weiter E-Book

Lars Haider

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Beschreibung

Endlich: Die geniale Krimireihe um den urlaubsreifen Reporter Lukas Hammerstein, seinen durchgeknallten Dackel und seinen besten Freund Udo Lindenberg (immer tiefenentspannt) geht weiter! Diese Nachricht trifft die Hamburg News wie ein Schlag: Der alte Chefredakteur tritt ab – und sein Nachfolger scheint geradezu versessen darauf, die ganze Redaktion umzukrempeln. So soll Lukas Hammerstein plötzlich über die Reichen, Schönen und Mächtigen der Stadt berichten. Tatsächlich gewähren einflussreiche Hamburger dem Reporter gern Zutritt zu ihren Gemächern – man zeigt, was man hat, lädt zur Abendgesellschaft mit Hausmusik und Kulinarik. Doch immer häufiger verunglücken Hammersteins Gastgeber tödlich – mal stürzt einer betrunken die Treppe hinab, mal rast einer gegen den Baum. Alles Zufall? Mit Dackeldame Finchen und Partner in Crime Udo Lindenberg an seiner Seite beweist Hammerstein wieder einmal den richtigen Riecher. Empfohlen von Klaus Peter-Wolf! Entdecken Sie weitere Fälle der Reihe um Lukas Hammerstein: - Band 1: Einer muss den Job ja machen - Band 2: Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr - Band 3: Hinterm Horizont geht's weiter

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Lars Haider

Hinterm Horizont geht's weiter

Hammersteins dritter Fall

Wir war’n zwei Detektive,

die Hüte tief im Gesicht.

1

Wenn Heinrich von Treuenfeld Gästen seine Villa zeigte, was er gern und voller Stolz tat, begann er immer im obersten Stockwerk. Es gab zwar im hinteren Teil des Gebäudes einen kleinen Fahrstuhl, aber das behielt der Hausherr für sich. Bei seinen Führungen wählte er grundsätzlich die Treppe, hundertvierundzwanzig Stufen bis unter das Dach, weil er es liebte, seinen Besuchern dabei zuzusehen, wie sie außer Atem und ins Schwitzen gerieten. Von Treuenfeld war zu klein für sein Gewicht, und mit vierundsiebzig Jahren war er nicht mehr der Jüngste. Trotzdem hatte er den Ehrgeiz, bei jeder Hausführung als Erster oben anzukommen. Es gelang ihm fast immer. Was auch daran lag, dass all die Dinge, die einem auf dem Weg begegneten, ihn nicht ablenkten. Weder die Reiterstatue eines Vorfahren im ersten Geschoss noch das gigantische Ölgemälde des Hamburger Hafens im zweiten und schon gar nicht die andere Treppe. Heinrich von Treuenfeld kannte viele herrschaftliche Gebäude in Hamburg, aber eine Treppe, die man exklusiv nach oben, und eine, die man nach unten nahm, das gab es in den wenigsten. Die Villa hatte sowieso mehr von einem Theater als von einem Wohnhaus.

Unter einer Dreiviertelstunde machte er es bei seinen Führungen nicht, dafür gab es zu viel zu zeigen und noch mehr aus der jahrhundertelangen Familiengeschichte zu berichten, die seine große Leidenschaft war. Heinrich fing auf der ersten Treppenstufe an zu erzählen und hörte erst auf, wenn er mit seinen Gästen auf der letzten Stufe der zweiten Treppe wieder im Salon angekommen war. »So, jetzt haben Sie einen kleinen Einblick, wie wir hier leben«, pflegte er dann zu sagen und fand das sehr hanseatisch.

Für einen echten Hamburger Kaufmann, und ein solcher war Heinrich von Treuenfeld, zählten zwei Dinge: Verträge, die per Handschlag gemacht wurden, und hanseatisches Understatement. Zu Letzterem passte die Villa an der Außenalster nicht, dafür war sie zu groß und zu prunkvoll. Weil sich das nicht ändern ließ, legte Heinrich großen Wert darauf, dass bei den Hauskonzerten, zu denen seine Frau Teile der Hamburger Gesellschaft alle sechs bis acht Wochen lud, maximal ein Imbiss gereicht wurde. Bodenständig sollte das Essen sein – wenn es nach Heinrich ginge, gäbe es nur ein paar Schnittchen. Er ärgerte sich jedes Mal, wenn seine Frau neumodisches Fingerfood bei einem dieser »Caterer« bestellte. Wenigstens die Weinauswahl war ihm vorbehalten. Weshalb es meistens einen Schaumwein aus England gab, der wie ein Champagner schmeckte, aber eben nicht so hieß, und einen Spätburgunder aus Deutschland, der mindestens so gut war wie viele Weine aus dem Bordeaux, ohne jedoch deren Attitüde zu vermitteln. Understatement eben.

Heute hatte seine Frau einen jungen, vermeintlich vielversprechenden Pianisten aus dem Abschlussjahrgang der Musikhochschule zu Gast, die die von Treuenfelds über ihre Familienstiftung seit Jahrzehnten unterstützten. Mit 200000 Euro im Jahr, wenn sich Heinrich richtig erinnerte, es konnten aber auch 400000 sein, wer wusste das schon so genau? Einer wie er tat Gutes, das gehörte sich so, und selbstverständlich sprach er nicht darüber. Das machten nur die, die es sich eigentlich nicht leisten konnten. Der Hausherr mochte klassische Musik nicht besonders, aber das interessierte keinen, am wenigsten seine Frau. An den Konzertabenden stand Heinrich deshalb jedes Mal an der Tür, um die Gäste zu begrüßen, und freute sich, wenn er jemanden entdeckte, der noch nicht bei ihnen gewesen war. Dann wuchs die Chance, dass derjenige, meist waren es Männer, sich für eine Hausbesichtigung erwärmen und Heinrich von Treuenfeld um große Teile des Konzertes herumkommen würde.

An diesem Abend hatte er doppelt Glück. In der Pause des Konzerts, das angeblich über zwei Stunden dauern sollte, war er mit einem Immobilienmakler und dessen Sohn ins Gespräch gekommen, die sich schon von Berufs wegen für das Haus interessierten. Bevor der Pianist sich wieder an den Flügel setzen konnte, der unhanseatische 180000 Euro gekostet hatte, waren die drei Herren auf der Treppe und Heinrich in seinem Element. Weil es ein schöner warmer Abend war, hatte seine Frau das Essen auf der Dachterrasse anrichten lassen – es gab Frikadellen und Kartoffelsalat, wenigstens das nach Heinrichs Geschmack. Seine zwei Gäste und er hatten eine Kleinigkeit zu sich genommen, als sie oben angekommen waren, und trafen gerade rechtzeitig zum Schlussapplaus wieder im Musikzimmer ein. Wenn Heinrich sich nicht täuschte, hatte seine Frau seine Abwesenheit nicht bemerkt. Er warf trotzdem ein Hustenbonbon ein, weil er nicht nach den Frikadellen riechen wollte, die mit ordentlich Zwiebeln zubereitet worden waren.

Während jetzt die überwiegend weiblichen Konzertbesucher mit seiner Frau in Richtung Dachterrasse zum Essen verschwanden – sie zeigte ihnen doch tatsächlich den Fahrstuhl! –, stieg Heinrich mit dem Immobilienmakler und seinem Sohn hinab in den Weinkeller. Er öffnete dort einen Chadwick, der angeblich der teuerste Rotwein Chiles sein sollte, im Vergleich zu anderen Rotweinen dieser Güte aber immer noch günstig war. »Dann wollen wir mal zum gemütlichen Teil des Abends übergehen«, sagte er, stieß mit den beiden an und setzte seinen Vortrag über das Gebäude und seine Familie fort.

Als Vater und Sohn sich, ohne selbst viel gesagt zu haben, anderthalb Stunden später verabschiedeten, war es ruhig im Haus. Heinrich rief nach seiner Frau und ging, als er nichts hörte, davon aus, dass sie sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Die beiden schliefen seit Jahren getrennt, angeblich weil Heinrich so laut schnarchte. Ihm war das ganz recht, weil er so nicht allzu oft Gefahr lief, dass seine Frau ihn nackt sah, um dann wieder einmal festzustellen, dass er »einen ganz schönen Bauch bekommen« hatte. Das stimmte zwar, aber das hörte man auch mit vierundsiebzig nicht gern.

Als Heinrich gucken wollte, wie spät es war, stellte er fest, dass sein Handy weder in einer der Sakko- noch in den Hosentaschen steckte. Er suchte erst im Weinkeller danach, bevor er sich zu erinnern meinte, es auf der Dachterrasse liegen gelassen zu haben. Das Telefon hatte geklingelt, als er mit seinen Gästen dort oben gewesen war, und Heinrich hatte es leise gestellt und neben den Teller mit den Frikadellen gelegt. Wo es immer noch lag, wie er zufrieden feststellte, als er wenige Minuten später, ausnahmsweise und weil er allein war, mit dem Fahrstuhl im obersten Stockwerk ankam. Das Büffet war fast leer gegessen, die letzten zwei Frikadellen schob sich Heinrich schnell in den Mund, bevor ein Mann mit weißem Hemd und schwarzer Schürze den Teller abräumte. Der Hausherr konnte mit Mühe einen Rülpser unterdrücken, spülte die Reste des Hackfleisches mit den Resten des Rotweins herunter, der hier oben ausgeschenkt worden war, und spürte eine wohlige Bettschwere in sich aufsteigen. Womöglich war er auch etwas angetrunken, schließlich war es im Weinkeller nicht bei einer Flasche geblieben.

Heinrich nickte dem Mann mit der Schürze zu, der wohl dieser »Caterer« sein musste, und ärgerte sich einmal mehr über diese furchtbaren englischen Begriffe, die heute so selbstverständlich verwendet wurden, als brauchte man die deutsche Sprache bald nicht mehr. Der Fahrstuhl war wieder nach unten gefahren, das tat er nach einer gewissen Zeit automatisch, aber Heinrich hatte sowieso vorgehabt, zu Fuß zu gehen. Als er am Treppenabsatz stand, glaubte er, hinter sich ein Geräusch zu hören, wahrscheinlich von den Aufräumarbeiten. Zu träge, um sich umzudrehen, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Dass er in diesem Moment an seinen Golfkumpel, den achtundachtzig Jahre alten Grafen Ferdinand zu Benthausen, denken musste, hätte ihm eine Warnung sein sollen. Der Graf hatte erst die Woche zuvor, es musste am fünften oder sechsten Loch gewesen sein, davon erzählt, dass bei Treppenstürzen in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen ums Leben kamen als im Straßenverkehr, und scherzhaft ergänzt, dass »wir Alten« aufpassen müssten, »jede Treppe kann unser Todesurteil sein«. Was Heinrich von Treuenfeld jetzt allerdings auch nichts mehr nützte.

2

Es war ein furchtbarer Tag gewesen, der schlimmste, seit Lukas Hammerstein bei den Hamburg News arbeitete. Er war froh, als er die Redaktion um achtzehn Uhr verlassen musste, um rechtzeitig zum Konzert von Udo Lindenberg auf Kampnagel zu kommen. Lukas hatte sich ohnehin sehr über die Einladung zur Aufnahme des zweiten Unplugged-Albums gefreut, er liebte Udos Musik. Aber nach all dem, was heute passiert war, brauchte er den Sänger noch aus einem anderen Grund: Udo war für Lukas eine Art Antidepressivum, seine bloße Gegenwart hatte ihm schon aus manch dunkler Stunde geholfen. Genau erklären konnte er die Wirkung nicht, die seine Musik und vor allem der Mensch auf ihn hatten, aber wenig verscheuchte seine schlechte Laune oder Ängste aller Art so zuverlässig wie eine Begegnung mit Udo. Darauf baute Lukas auch heute, was blieb ihm anderes übrig?

Vor sechs Wochen war der alte Keil als Chefredakteur der Hamburg News abgelöst worden. Man hätte damit rechnen können – schon vor seinem gerade gefeierten dreiundsechzigsten Geburtstag hatte es innerhalb der Redaktion immer mal Gerüchte gegeben, dass er sich bald zurückziehen könnte und wer dann wohl sein Nachfolger werde. In solchen Gesprächen war auch Lukas’ Name gefallen, schließlich hatte er mit seinen Geschichten über die Journalistenmorde und die Vorfälle bei Fridays for Future nicht nur geholfen, schwerste Verbrechen aufzuklären, sondern auch Preise eingeheimst. Lukas wusste nicht, ob er Lust dazu hätte, Chefredakteur zu sein – das schien ihm doch mehr ein Repräsentations- und Verwaltungsjob, und beides lag ihm im Grunde nicht. Er war Journalist geworden, um zu recherchieren und sich wie ein Ermittler in komplizierte Fälle zu stürzen und die Hintergründe öffentlich zu machen. Dass ihm das schon zweimal so gelungen war, dass seine Arbeit von der eines Detektivs oder Kommissars kaum zu unterscheiden war, machte ihn stolz.

Trotzdem freute er sich insgeheim, dass andere in der Redaktion ihm offenbar zutrauten, Keils Nachfolge anzutreten. Und hätte er geahnt, dass der geschätzte Chefredakteur wirklich so kurz vor dem Abschied stand, und vor allem, wer seinen Platz einnehmen sollte, dann hätte Lukas sicher versucht, sich für den Posten ins Spiel zu bringen. Jetzt war es zu spät.

An jenem schicksalhaften Tag sechs Wochen zuvor hatten alle in der Redaktion am frühen Morgen eine Mail erhalten, in der sie gebeten wurden, unbedingt in die große Konferenz um zehn Uhr zu kommen: »Es geht um eine wichtige Personalie.« Was die Geschäftsführung der Hamburg News nicht hätte dazuschreiben müssen – wenn zwischen Einladung und Konferenz gerade einmal zwei Stunden lagen, war klar, dass es brisant würde. Lukas und seine Kollegen hatten in der Kürze der Zeit herauszufinden versucht, worum es ging, und wussten am Ende, dass ein Wechsel in der Chefredaktion bekannt gegeben werden sollte. Doch wer für den alten Keil kommen würde, blieb bis zur Konferenz ein Geheimnis, bei der sich fast hundertdreißig Menschen in einem Raum drängten, der maximal für hundert ausgelegt war.

Die vorhandenen Stühle waren um zehn vor zehn besetzt gewesen, viele Redakteure hatten in den Gängen stehen müssen. Der Geschäftsführer und der Chefredakteur hatten Mühe, sich ihren Weg zum Podium zu bahnen. Dann war alles schnell gegangen: Der Geschäftsführer hatte dem alten Keil für dessen »herausragende« Arbeit gedankt und von einer »Ära« gesprochen, die zu Ende gehe. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten alle gewusst, dass ihr Chefredakteur gleich nicht mehr ihr Chefredakteur sein würde, und Lukas hatte in einigen Augen Tränen gesehen. »Sie wissen, dass ich kein Mann der großen Worte bin«, hatte der alte Keil gesagt, »und ich weiß, dass gute Journalisten in solch einer Situation nicht sonderlich interessiert, wer geht, sondern eigentlich nur, wer kommt. Und Sie alle sind sehr gute Journalisten.« Er hatte den letzten Satz einfach so im Raum stehen lassen, eine Verbeugung angedeutet und das Mikrophon an den Geschäftsführer zurückgegeben. Bevor der damit beginnen konnte, den neuen Chefredakteur vorzustellen, der in einem Nebenraum wartete, standen die ersten Redakteure auf und klatschten. Es dauerte keine zehn Sekunden, und niemand von denen, die einen Platz gefunden hatten, saß noch. Der Applaus erinnerte Lukas an die Glanzzeiten des Hamburger SV, als im Volksparkstadion noch Siege im Europapokal gefeiert worden waren. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Redaktion im Chor »alter Keil, alter Keil« gerufen hätte. Lukas und seine Kollegen klatschten sich die Hände wund, und sie hörten auch nicht auf, als der Geschäftsführer nach gefühlt zehn Minuten versuchte, für Ruhe zu sorgen und zum zweiten Teil der Veranstaltung zu kommen. Die Verkündung des neuen Chefredakteurs, der inzwischen das Podium erklommen hatte, ging im Abschied des alten unter, und man sah, dass das dem Neuen nicht gefiel.

Es hätte der Redaktion eine Warnung sein müssen.

Der siebte Chef in der Geschichte der Hamburg News war der erste, der aus dem Ausland kam. Caspar Schreiber war zwar gebürtiger Norddeutscher, geboren und aufgewachsen in Braunschweig, er hatte aber zuletzt bei einer Sonntagszeitung in der Schweiz gearbeitet. Wie man ihn nach Hamburg gelockt hatte, erzählte Schreiber ausführlich in der ersten Konferenz, die er allein leitete – und erwähnte dabei mehrfach, wie sehr sich die Geschäftsführung der Hamburg News um ihn bemüht hatte. Er redete sowieso sehr gern und viel, war nicht nur in diesem Punkt das genaue Gegenteil des alten Keil. Der Übergang vom einen zum anderen war seltsam fließend gewesen, fand Lukas. Nach der Bekanntgabe des Wechsels waren der alte und der neue Chefredakteur zusammen Mittag essen gegangen, und am nächsten Tag hatte Caspar Schreiber einfach die Geschäfte übernommen. Sechs Wochen später war bei den Hamburg News nichts mehr so, wie es einmal war.

Schreiber hatte sich diese Zeit ausbedungen, bevor er der Redaktion seine Strategie für die »nächsten Jahre und Jahrzehnte« präsentieren würde. Er hatte wirklich von Jahrzehnten gesprochen, als hätte er, der Neununddreißigjährige, vor, bis zur Rente hier Chefredakteur zu bleiben. Die Hamburg News sei eine sehr gute Zeitung, hatte er noch gesagt, aber sein Ehrgeiz sei es, sie »zur besten Zeitung Deutschlands zu machen – und wenn das nicht reicht, zur besten der Welt«. Lukas hatte nie zuvor in seinem Arbeitsleben einen Journalisten kennengelernt, der so viele Superlative benutzte.

Schreiber hatte ihn zwei Wochen nach seinem Amtsantritt zu einem Gespräch gebeten. »Mein Starreporter«, hatte er zur Begrüßung gesagt und dann lange über das Büro des alten Keil geredet, aus dem er eine Wand herausnehmen lassen würde, damit es »endlich eine angemessene Größe für den Chefredakteur der Hamburg News hätte.« Lukas wurde das Zusammensein mit dem Typen von Minute zu Minute unangenehmer. Am Anfang hatte er noch versucht, Schreibers Monolog zu unterbrechen, nach einer Viertelstunde gab er auf. Zwischendurch war eine der drei Assistentinnen, die der neue Chef mitgebracht hatte, ins Zimmer gekommen und hatte auf ihre Uhr gezeigt, nach dem Motto: Der nächste Termin wartet, vergessen Sie bitte nicht, wie wichtig Sie sind. Aber Schreiber hatte weitergeredet und Lukas unter anderem berichtet, dass er in der Schweiz zweimal hintereinander zum Chefredakteur des Jahres gewählt worden sei und das jetzt in Deutschland wiederholen wolle, mindestens! Woher nahm dieser kleine Kerl mit der Nickelbrille und den bereits dünner werdenden Haaren bloß sein Selbstbewusstsein?

»Ich weiß, Lukas«, sagte Schreiber nach einer gefühlten Ewigkeit, »dass Sie hier gute Arbeit geleistet haben. Aber Sie wissen auch, dass das künftig nicht mehr reicht, oder?«

Bevor Lukas reagieren konnte, fuhr er fort. Offenbar erwartete der Chef keine Antwort: »Ich habe mehrere große Projekte für Sie, bei denen Sie zeigen können, was Sie wirklich draufhaben, und dabei wird es nicht immer nur um die Abgründe gehen, um die Sie sich bisher gekümmert haben.« Schreiber sprach, ohne Luft zu holen, es war Lukas ein Rätsel, wie das ging. Der ganze Mann war ihm ein Rätsel.

»Die Leser wollen nicht immer nur schlechte Nachrichten, sie wollen nicht immer nur Verbrechen und Katastrophen.«

Als hätte ich nur über so etwas geschrieben, dachte Lukas.

»Wissen Sie, womit wir die Leute erreichen? Womit wir die Auflage der Hamburg News und die Reichweite unserer Internetseite nach oben treiben? Na?«

Schreiber hatte tatsächlich eine Pause gemacht, aber sie war zu kurz, als dass Lukas etwas Nennenswertes hätte antworten können.

»Mit tiefen Einblicken in die Hamburger Society, mit Storys über die Reichen, Wichtigen und Mächtigen, wie es sie noch nicht gegeben hat.«

Schreiber strahlte, als hätte er die Nachricht erhalten, tatsächlich Deutschlands Chefredakteur des Jahres zu sein. Wie kann man nur so eitel sein, dachte Lukas noch, als er Schreiber flüstern hörte: »Sie, Lukas, werden meine neue Lieblingsserie betreuen: ›Hinter Hamburgs Türen‹ …«

Dieses Projekt war auch eines der ersten gewesen, das Caspar Schreiber bei seiner groß angekündigten Strategiekonferenz erwähnte. Er hatte darauf bestanden, dass alle Redakteure dabei sind, weswegen zum ersten Mal in der Geschichte der Hamburg News sämtliche Arbeit für zweieinhalb Stunden ruhte. So lange dauerte die Ansprache, die von einer PowerPoint-Präsentation mit hundertzwanzig Folien untermalt wurde. Wenn Lukas den Redeschwall in wenigen Worten hätte zusammenfassen müssen, dann so: Nichts bleibt, wie es ist. Schreiber hatte an allem, was er in den ersten sechs Wochen als Chefredakteur erlebt und gesehen hatte, etwas auszusetzen, es war nicht auszuhalten. Am Ende seines Vortrags wiederholte er den Satz, den Lukas schon kannte: »Wir werden aus den Hamburg News die beste Zeitung Deutschlands machen – und wenn das nicht reicht, die beste Zeitung der Welt.« Weil sie glaubten, dass nun nichts mehr kommen könnte, fingen ein paar Kollegen an zu applaudieren – nach Lukas’ Einschätzung eher, weil man das in einer solchen Situation eben so machte. Aber Caspar Schreiber war noch nicht fertig, und nachdem er wirklich die letzten Sätze gesagt hatte, war niemandem im Raum mehr zum Klatschen zumute.

»Die Hamburg News werden also die beste Zeitung, die man sich vorstellen kann«, sagte der Chef. »Aber leider werden nicht alle von Ihnen diesen Weg mitgehen können. Ich möchte Sie bitten, an Ihren Arbeitsplatz zu gehen und Ihren Computer hochzufahren. Wenn Sie eine E-Mail von mir bekommen haben, wissen Sie, dass unsere Zusammenarbeit an dieser Stelle endet. Danke.«

Lukas mochte das Wort »Schockstarre« nicht, weil Journalisten es bisweilen inflationär benutzten, aber in diesem Moment traf es zu: Wie in Zeitlupe sah er, dass sich der Konferenzraum leerte und die Kollegen zu ihren Tischen gingen, der eine etwas schneller, um es hinter sich zu bringen, die andere langsam, voller Angst, was sie erwarten würde. Auf dem Weg zu seinem Platz hörte er hier und dort ein Pling, das meldete, wenn eine Mail einging, und er konnte an den versteinerten Gesichtern sofort erkennen, wen es erwischt hatte.

Lukas traf fast zeitgleich mit Kaja Woitek, der Polizeireporterin, in der Ecke des Großraumbüros ein, die sie sich seit vielen Jahren teilten.

»Der hat sie doch nicht alle«, zischte sie, fuhr ihren Rechner hoch und überflog ihren Posteingang.

»Und?«, fragte Lukas.

»Nichts«, antwortete Kaja.

»Wäre ja auch noch schöner gewesen.« Lukas setzte sich hin und überlegte, ob er dieses Spiel wirklich mitspielen sollte. Er war sich sicher, dass er nicht auf Schreibers schwarzer Liste stünde, aber er war sich zum ersten Mal nicht mehr sicher, ob er unter diesen Bedingungen weiter bei den Hamburg News arbeiten wollte.

»Hörst du das?«, fragte Kaja leise.

»Was meinst du?«

»Pssst! Da weint jemand.« Kaja sprang auf, murmelte etwas von »dieses Riesenarschloch« und verschwand, um nach dem Kollegen zu sehen, der offensichtlich seinen Job verloren hatte. So wenig beeindruckt die Polizeireporterin von den vielen Verbrechen war, über die sie jede Woche berichtete, so abgebrüht sie sich an Tatorten bewegte, so mitfühlend konnte sie sein, wenn es jemandem in der Redaktion schlecht ging.

»Du kannst mich mal, du Kasper«, flüsterte Lukas ganz gegen sein Naturell vor sich hin und checkte seinen Posteingang. Als er gerade glaubte, keine Nachricht von Schreiber erhalten zu haben, ploppte eine neue Mail hoch. Absender: [email protected]. Das kann nicht wahr sein, dachte Lukas noch und sah sich schon am nächsten Morgen zu Hause auf dem Sofa sitzen, zwischen Jonathan, seinem Sohn, und Finchen, dem Dackel, zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos. Er merkte, dass seine Hand zitterte, als er die Maus bewegte, um die Mail zu öffnen. Lukas schloss kurz die Augen, dann riss er sie todesmutig auf und las, was Schreiber ihm zu sagen hatte. Es waren nur zwei Sätze: »Warte noch auf Ihr Konzept zu ›Hinter Hamburgs Türen‹. Bitte bis Ende der Woche. BGCS«

Den Rest des Tages verbrachte Lukas damit, Kollegen zu trösten, Gespräche unter vier, sechs und acht Augen zu führen. Niemand wollte das, was hier passierte, einfach so hinnehmen. Aber die, die es getroffen hatte – am Ende waren es dreißig –, waren zu schockiert, um sofort reagieren zu können, und wer von einer Mail verschont geblieben war, hatte zum ersten Mal Angst um seinen Job. »Das will der Schreiber doch nur, dass sich hier keiner mehr was traut. Der will uns einschüchtern«, sagte Kaja, und Lukas ergänzte: »Was ihm leider gelungen ist.«

Er war sich sicher, dass er diesen Tag niemals in seinem Leben vergessen würde, den Andreas Wolter, ein Fotograf, der selbst eine der bösen Mails von Schreiber erhalten hatte, den »Todestag« taufte. Und trotzdem merkte Lukas, wie sein Kopf immer freier wurde, je näher das Konzert rückte. Er genoss es am Abend sogar, in der langen Schlange der Wartenden zu stehen, die wie er das Glück gehabt hatten, eingeladen worden zu sein. Ein Dutzend Doppelgänger von Udo war dazwischen, nicht wenige hatten seine Mimik und die Stimme bis zur Perfektion kopiert. Als Lukas einen von ihnen hemmungslos mit einer jungen Frau knutschen sah, in deren Dekolleté ein Tattoo mit Udos Lebensmotto »No panic« prangte, konnte er wieder lächeln. Die Medizin, die Lindenberg hieß, fing an zu wirken.

Lukas saß in der achten Reihe, zusammen mit einigen anderen Journalisten. Sie kamen vom Blick, vom Politik Insider und von der Chronik, eben von all den Zeitungen und Zeitschriften, die Hamburg ihre Heimat nannten. Er hatte einen Platz in der Mitte und nickte im Vorbeigehen den Kollegen zu. Neben ihm saß ein Kulturkritiker von der Chronik, den er schon des Öfteren im Umfeld von Udo gesehen hatte, er konnte sich an den Namen nicht erinnern.

»Moin«, grüßte der ihn, »schön, dich mal wieder zu treffen.«

»Moin.« Lukas überlegte kurz, ob er sich noch mal vorstellen sollte, fand das dann aber doch zu peinlich.

»Du bist Lukas von den Hamburg News, richtig? Ich bin Rafael von der Chronik, wir haben uns mal getroffen, als Udo seine Biographie präsentiert hat, erinnerst du dich?«

»Natürlich.« Lukas grinste, denn das war schließlich nicht gelogen.

»War ganz schön was los bei euch heute, was?«

»Woher weißt du …«, setzte Lukas an, als Rafael ihm die Website eines Mediendienstes zeigte, die er auf seinem Handy aufgerufen hatte. »Kahlschlag bei den Hamburg News« stand dort. So eine Aktion lässt sich unter Journalisten eben nicht geheim halten, dachte Lukas und: Das hat der Schreiber jetzt davon.

»Überall der gleiche Wahnsinn.« Dieser Rafael steckte das Handy wieder weg. »Bei uns haben sie vor zwei Jahren versucht, vierzig Leute vor die Tür zu setzen. Scheint ’ne Managerkrankheit zu sein.«

»Die langsam auch auf Chefredakteure übergreift«, sagte Lukas. »Wobei Caspar Schreiber kein Chefredakteur ist, sondern ein narzisstischer Sadist. So, und jetzt genug mit diesem Blödsinn. Es geht los.«

Lukas zeigte in Richtung Bühne, auf der ein großes Holzschiff zu sehen war, vor dem Udos Panikorchester stand. Als die ersten Klänge von »Ich träume oft davon, ein Segelboot zu klau’n« ertönten, schwebte sein Freund, der berühmte Sänger, über die Reling herein, und es war, als ob die Last des ganzen Tages mit einem Rutsch von Lukas abfallen würde. Wie ein Schneebrett, das sich von einem Berghang löst und gen Tal donnert. Lukas seufzte tief. Den Rest des Abends würde er weder an Caspar Schreiber noch an den »Todestag« oder daran denken, was hinter Hamburgs Türen passierte. Er tauchte voll und ganz in das Udoversum ein.

Nach dem Konzert gehörte Lukas zu den Ersten, die hinter der Bühne waren. Er konnte es kaum erwarten, Udo in die Arme zu schließen, der ihm das wohl schönste Konzert seines Lebens geschenkt hatte. Als der Sänger endlich kam, war der Jubel groß, jeder wollte mit ihm sprechen und ihn an sich drücken. Als er endlich vor Lukas stand, breitete er die Arme so weit aus, dass der darin hätte versinken können: »Hat’s dir gefallen, Lucky Luke?« Lukas brachte kein Wort heraus. Er nickte und umarmte Udo stumm.

»Alles okay mit dir, Amigo?«

»Jetzt ja«, antwortete Lukas. »Danke, mein Freund.«

»Yeah, easy, dafür nich’.« Udo tippelte auf der Stelle hin und her, als würde er wieder auf der Bühne tanzen. »Dafür sind Buddys da, immer stark wie zwei, gemeinsam durch die guten und durch die schweren Zeiten.« Er zog die dunkle Sonnenbrille herunter und sah Lukas direkt in die Augen: »Ich helfe dir immer gern, Lucky Luke. Und wir müssen uns demnächst mal ganz intimo treffen, only we two. Ich habe nämlich eine große Bitte an dich.«

3

Er konnte sich nicht entsinnen, jemals von ihr gelobt worden zu sein. Normalerweise gerieten die beiden in den Sitzungen aneinander, weil er sich allein schon darüber aufregen konnte, wie lässig und ruhig sie da in ihrem Lehnstuhl saß, während er auf diesem Sofa die Hölle durchmachte. Wie gern wäre er manches Mal aufgesprungen und hätte irgendetwas mutwillig vom Tisch gefegt, wenigstens den Notizblock zerrissen, auf dem sie sich unentwegt etwas aufschrieb, als ob das irgendetwas ändern würde.

Wobei: Es hatte sich etwas geändert. Er war ruhiger geworden in den vergangenen Wochen, er hatte sich besser im Griff, nicht nur, wenn er seiner Therapeutin gegenübersaß, und er konnte sogar die Ruhepausen ab, Phasen minutenlanger Stille, die sie ihm verordnete. Er brauchte den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Momenten, in denen er sich entladen konnte – natürlich auf zivilisierte Art –, und der Erleichterung, die auf diese Momente folgte. Darauf arbeiteten sie hin, und heute hatte Frau Dr. Annalena Bornemann festgestellt, dass er Fortschritte gemacht hatte. Große Fortschritte sogar, die sie auf diese und die vielen anderen Stunden schob, die sie beide in ihrer Praxis unweit des Uni-Campus verbracht hatten. Eines Ortes, den er nie betreten hatte und nie betreten würde, weil er nicht zu diesem, dem besseren, gebildeten Teil der Gesellschaft gehörte. Er war ein einfacher Mann, der sich nach oben gearbeitet hatte, obwohl er in der Schule zwei Klassen hatte wiederholen müssen und in Mathe und Deutsch nie über eine Vier hinausgekommen war.

Dr. Bornemann hatte ihm in einem der ersten Gespräche von sich selbst erzählt. Wie sie in der achten Klasse sechs Fünfen im Zeugnis gehabt hatte und sitzen geblieben war. Wie sie sich dann von Klasse zu Klasse gehangelt und über den zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht hatte. Wie die Eltern ihres Freundes ihm nicht erlaubt hatten, sie mit nach Hause zu bringen, weil sie angeblich nicht gut genug für ihn war. Der Freund stammte aus besserem Hause, Vater und Mutter hatten promoviert, er war ein erfolgreicher Investmentbanker, sie Direktorin einer Grundschule. Annalena nahmen sie erst ernst, als diese ihr Psychologiestudium begonnen hatte, aber da war es bereits zu spät: Sie hatte sich einen neuen Freund gesucht.

Die Geschichte hatte ihn beeindruckt, sie gab ihm das gute Gefühl, dass diese fremde Frau ihm würde helfen können und er die hundert Euro, die eine Sitzung bei ihr kostete, nicht umsonst ausgab. Für seine Verhältnisse kam er mit Dr. Bornemann gut zurecht. Aber was hieß das schon für einen wie ihn, der bei den kleinsten Anlässen völlig ausflippen konnte. Dr. Bornemann hatte ihm erlaubt zu schreien, so laut er wollte, wenn ihm während der Sitzungen danach war. Die Nachbarn im ersten Stock würde das nicht stören, sie seien alt und ziemlich schwerhörig. Er hatte es ein-, zweimal getan, aber es hatte sich nicht richtig angefühlt, und erleichtert hatte es ihn auch nicht.

Heute hatte sie ihn endlich gelobt und angedeutet, dass sie die Behandlung in mittlerer Zukunft beenden könnten, wenn es so weitergehe. Was sie nicht wusste, war, dass das alles nichts mit dem zu tun hatte, was sie hier in ihren Sitzungen machten. Nicht mit den Momenten der Stille, nicht mit dem Schreien und schon gar nicht mit dem tiefen Schürfen in seiner Kindheit. Er hatte ihr von seinem Vater erzählt, der aufopferungsvoll als Maler gearbeitet hatte und irgendwann zu einem Geheimtipp unter den Besitzern der großen Villen rund um die Alster geworden war. Sie reichten ihn herum, als wäre er ihr Leibeigener, und wenn es ans Bezahlen ging, behandelten sie ihn genauso: Immer gab es etwas zu beanstanden, so gut wie nie überwies einer dieser Pfeffersäcke die Summe, die sein alter Herr in Rechnung gestellt hatte. Als ihm ein Hamburger Kaufmann für ein halbes Jahr Arbeit statt der geforderten 100000 Euro nur 15000 zahlte, hatte sich sein Vater mit einer Flasche Whiskey zu Hause auf der Toilette eingeschlossen und war als Alkoholiker wieder herausgekommen. Kurz darauf hatten sich die Eltern getrennt und seine Mutter anschließend ihre Lebensgefährten so schnell gewechselt, dass es nicht lohnte, sich ihre Namen zu merken. Mit sechzehn war er dann ausgezogen und fand bei einer Freundin in Pinneberg Unterschlupf, so lange, bis deren Vater ihn wieder rausgeschmissen hatte.

Das hatte er alles Dr. Bornemann erzählt, und sie hatte sich Notizen gemacht, genickt und wieder Notizen gemacht. »Wir kommen der Sache näher«, hatte sie gesagt, »wir kommen der Sache näher.« Er hatte das nicht verstanden, aber es war ihm auch egal. Denn inzwischen hatte er selbst einen Weg gefunden, die Dämonen in sich zum Schweigen zu bringen, den Zorn einzufangen, und es fühlte sich gut an. Endlich hatte er ein Ventil, über das er sich entladen konnte, einen Mechanismus, der ihm half, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er hatte überlegt, ob er mit Dr. Bornemann darüber reden konnte, schließlich unterlag sie der ärztlichen Schweigepflicht. Es hätte ihm sogar Spaß gemacht, ihr von dem zu erzählen, was er getan hatte, weil es das war, wonach sie beide so lange gesucht hatten. Und weil es doch etwas mit seinem Vater zu tun haben könnte, der vielleicht sogar stolz auf ihn gewesen wäre.

Aber dann entschloss er sich, sein neues Glück erst einmal im Stillen zu genießen. Und ansonsten dort weiterzumachen, wo er in dieser Villa an der Außenalster aufgehört hatte.

4

Eine große Bitte hatten auch seine Schwiegereltern an Lukas gehabt. Es ging um Finchen, die Dackeldame, auf die er während ihrer beiden Kreuzfahrten aufgepasst hatte. Klaus und Elisabeth Schuster waren einmal sechs Wochen weg gewesen, das zweite Mal gleich ein halbes Jahr, und Finchen hatte in dieser Zeit das Leben der Hammersteins auf den Kopf gestellt. Was auch daran liegen mochte, dass sie kein normaler Hund war, eher das Gegenteil. Lukas und seine Frau Lilli hatten aufgehört, Finchens Macken zu zählen. Wenn der Dackel aufgeregt war, fing er an, Fußböden und neuerdings Glastüren abzulecken oder sich in die Pfoten zu beißen, als wollte er sie abreißen. Stoppen konnte man ihn nur mit ein paar gezielten Schüssen aus einer Wasserpistole, die Lukas’ Schwiegervater deshalb immer parat hatte. Die half aber nicht, wenn Finchen plötzlich wie ein Wolf heulte, weil sie ein ähnliches Geräusch draußen oder auch nur im Fernsehen hörte. Beim letzten »Tatort« war Lukas in seiner Verzweiflung nichts anderes eingefallen, als dem Hund die Schnauze zuzudrücken. Der zwei Jahre alte Jonathan, das bisher einzige Kind der Hammersteins, war trotzdem aufgewacht. Und natürlich hatte sich der Nachbar aus der anderen Doppelhaushälfte beschwert, der den Dackel auf dem Kieker hatte, seitdem der ihm einen großen Haufen direkt vor die neue Terrasse gesetzt hatte.

Die Tierpsychologin, zu der Lukas mit Finchen einmal nach Flensburg gefahren war, als die Macken überhandnahmen, hatte einen »übergroßen Beschützerinstinkt« diagnostiziert. In einer ausführlichen schriftlichen Analyse hatte sie »viel Bewegung« empfohlen und, falls das nicht half, »die Anschaffung eines weiteren Hundes, um Finchens enge Bindung zu Menschen aufzulösen«. Noch ein Hund? Lukas beschloss, den Rat der Expertin für sich zu behalten, hatte aber leider vergessen, ihre E-Mail zu löschen. Als Lilli sie fand, hatte sie nichts Besseres zu tun, als sie ihren Eltern weiterzuleiten.

»Was sollen die denn von mir denken, dass ich hinter ihrem Rücken mit ihrem geliebten Dackel zu einer Frau gefahren bin, die nachweislich auf Tiere spezialisiert ist, die nicht alle Latten am Zaun haben?«

»Das kannst du sie gleich selbst fragen«, hatte Lilli geantwortet. »Sie wollen das alles persönlich mit uns besprechen.«

Eine halbe Stunde später saßen Elisabeth und Klaus Schuster bei den Hammersteins im Wohnzimmer, während Finchen den Boden des Flures ableckte, als wäre der nicht erst vor zwei Tagen sauber gemacht worden. Lukas hatte gedacht, dass seine Schwiegereltern sauer auf ihn wären, aber das Glimmen in ihren Augen sprach eine andere Sprache. Sie wirkten nicht wütend, sondern gerührt, und Lukas musste an ein älteres Paar denken, dem ein Frauenarzt gerade eröffnet hatte, dass es noch einmal Eltern werden würde.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Alles in bester Ordnung«, antwortete sein Schwiegervater. »Ihr wisst ja, das letzte Kind hat Fell.« Lilli und Lukas sahen sich unauffällig an. Sie hatten in den vergangenen Jahren keinen Satz von Klaus Schuster häufiger gehört. »Deshalb sind wir natürlich für jeden Tipp dankbar, der unserem geliebten Finchen aus ihren fürchterlichen Angstzuständen heraushelfen kann.«

»Außerdem«, ergänzte Elisabeth, Lillis Mutter, »haben wir schon oft über einen zweiten Hund nachgedacht. So wie ihr«, sie warf ihrer Tochter einen nachdrücklichen Blick zu, »euch wahrscheinlich ein zweites Kind wünscht …«

»… und wir uns einen zweiten Enkel«, beendete Klaus den Satz seiner Frau. Manchmal war es kaum zu glauben, was für ein eingeschworenes Team die beiden waren. »Also, um es kurz zu machen: Wir legen vor.«

 

Zwei Monate später holten sie Rocky ab, bei der gleichen Züchterin, die ihnen Finchen vermittelt hatte. Lukas kamen seine Schwiegereltern vor wie ein Ehepaar, das sich ein neues Auto bei demselben Händler kauft, der ihnen zuvor einen Montagswagen aufgeschwatzt hatte. Klaus und Elisabeth sprachen die Züchterin nicht einmal auf die Verhaltensauffälligkeiten von Finchen an (»Das macht man doch nicht«), und sie fragten auch nicht nach, ob sich die beiden Dackel wohl vertragen würden. Weil sie aus demselben Stall kamen, wie Klaus Schuster sagte, gingen Lukas’ Schwiegereltern davon aus, dass alles gut werden und sich im besten Fall Finchens Leck-, Beiß- und Heulattacken erledigen würden. Was der wahrscheinlich größte Irrtum war, dem sie je aufgesessen waren.

 

So war es zu einem weiteren Hundegipfel bei den Hammersteins gekommen, diesmal mit Finchen und Rocky, wobei die beiden Dackel während des Gesprächs in unterschiedlichen Räumen untergebracht werden mussten – der eine in der Küche, die andere in Lukas’ und Lillis Schlafzimmer. Es hatte sich nicht nur herausgestellt, dass sich die Dackeldame und der Dackelherr überhaupt nicht miteinander verstanden, Finchens Ausfälle waren sogar häufiger und heftiger denn je zuvor. Rocky besaß überdies eine Eigenschaft, die Lukas und Lilli überhaupt nicht tolerieren konnten: Als sie zu Besuch bei Klaus und Elisabeth gewesen waren, hatte der Hund den kleinen Jonathan so angeknurrt, dass der in Tränen ausbrach. Es war offensichtlich, dass der Rüde ein Problem mit Kindern hatte, weshalb er auch so einfach zu haben gewesen war. Tatsächlich hatte eine andere Familie ihn zurückgegeben. Das erzählte die Züchterin den Schusters aber erst, als Lukas sie zwang nachzufragen.

»Das muss die euch doch sagen, bevor sie euch einen solchen Hund verkauft«, sagte Lilli und schüttelte den Kopf, als ihr Vater einwandte, »dass die Frau Herrmann«, so hieß die Züchterin, »angesichts unseres Alters wohl davon ausgehen durfte, dass wir keine kleinen Kinder mehr haben«.

Lukas versuchte zu schlichten. »Und was machen wir …« Er verbesserte sich, weil er in dieses Hundedrama nicht hineingezogen werden wollte. »Ich meine: Was macht ihr jetzt?«

»Könnt ihr Rocky nicht auch zurückgeben, so wie die andere Familie?« Lillis Frage klang scharf, und das sollte sie wohl auch. Ihre Eltern sahen sie an, als hätte sie gerade eine Geschlechtsumwandlung von ihnen verlangt.

»Wir wissen ja, meine liebe Tochter, dass du bisweilen zu Überreaktionen neigst …«, fing ihr Vater an.

»… aber das ist kein Grund, albern zu werden. Man kann einen Hund nicht einfach zurückgeben wie einen Fernseher, das machen nur …« Elisabeth Schuster suchte nach dem passenden Wort.

»Asoziale!«, posaunte Klaus in den Raum.

Lukas sah, wie seine Frau Luft holte, um etwas zu erwidern, was der Stimmung sicherlich nicht zuträglich gewesen wäre, und tat so, als hätte er Geräusche aus dem Kinderzimmer gehört: »Hat Jonathan da gerade gerufen?« war eine Notlüge, die als Frage verkleidet war, ihre Wirkung aber nicht verfehlte. Lillis Aufmerksamkeit war mit einem Schlag auf das Lebewesen gelenkt, das sie mehr interessierte als alle Probleme ihrer Eltern und deren Dackel zusammen.

»Ich geh mal schnell gucken.« Sie sprang auf und verließ das Wohnzimmer, und Lukas spürte, wie er sich für einen Moment entspannte.

»Das war ein Trick, oder?« Sein Schwiegervater hatte ihn durchschaut.

»Wie meinst du das, Klaus?«, fragte Lukas zurück.

»Egal, der Zweck heiligt die Mittel, und wir«, er sah zu seiner Elisabeth hinüber, die ergeben nickte, »wir sollten die Zeit nutzen, in der Lilli bei Jonathan ist, um die Sache unter uns zu klären.«

Unter uns, dachte Lukas, wie meinte sein Schwiegervater das? Bevor er die Frage laut stellen konnte, sprach der bereits weiter: »Wir haben eine Bitte an dich, lieber Schwiegersohn, weil du ja derjenige in der Familie Hammerstein bist, der den engsten Draht zu Finchen hat.«

Was, dachte Lukas, wird das?

»Sie mag dich sehr …« Seine Schwiegermutter nahm seine Hand und streichelte sie. »… und ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit, nach all dem, was du mit ihr erlebt hast.«

Lukas wollte »Nein« schreien, aber komischerweise kam aus seinem Mund kein Ton. Was daran liegen konnte, dass er seinen Schwiegereltern ungern widersprach, weil er fand, dass sich das nicht gehörte. Und ein bisschen auch daran, dass er trotz ihrer Marotten nichts gegen Finchen hatte.

»Also«, Klaus Schuster senkte die Stimme, als hätte er Angst, dass Lilli ihn hören könnte. »Wir, deine Schwiegermutter und ich«, Elisabeth nickte erneut, »wollten dich bitten, dich so lange um Finchen zu kümmern, bis wir unseren Rocky so weit haben, dass er für keinen mehr eine Bedrohung darstellt. Können wir uns auf dich verlassen, bester Schwiegersohn aller Zeiten?«

5

Kaja Woitek war nicht zu den Hamburg News gekommen, um über neue Theaterstücke, den Mangel an Erzieherinnen in Kitas oder den Streik der Hafenarbeiter zu schreiben. Sie hatte nur aus einem einzigen Grund den Vertrag unterschrieben, den ihr unter anderem Lukas Hammerstein besorgt hatte: Kaja wollte über Polizeiarbeit berichten, über Verbrechen, über Klein- genauso wie über Bandenkriminalität. Sie stammte aus einer Familie, deren Verbindungen zur und in die Polizei mehrere Generationen zurückreichten, und genau daran knüpfte sie an. Ihre Kontakte in den Polizeiapparat waren legendär, es gab kaum jemanden, den sie nicht kannte, und Kaja konnte garantieren, dass sie von jedem halbwegs bedeutenden Kriminalfall als eine der Ersten erfuhr.

All das hatte sie Caspar Schreiber erzählt, als der sie gut eine Woche nach dem »Todestag« in sein Büro gebeten hatte. Für einen kurzen Moment hatte sie darüber nachgedacht, wie sie reagieren würde, wenn er sie nachträglich auch entsorgen wollte. Zuzutrauen war ihm das. Der neue Chefredakteur war ihr vom ersten Moment an unsympathisch gewesen, aber sie hatte keine Lust, seinetwegen auf den Job zu verzichten, der ihr so viel Spaß machte. Auch wenn es für sie ein Leichtes gewesen wäre, in der Polizeipressestelle unterzuschlüpfen. Angebote von dort hatte es schon gegeben, als sie noch nicht die Freundin des Kripochefs gewesen war. Inzwischen waren Enno von Spoercken und sie schon so eine lange Zeit zusammen, dass die in ihrem früheren Leben für sechs bis acht Affären gereicht hätte. Kaja fragte sich, ob Caspar Schreiber davon wusste. In der Redaktion hatte man schnell registriert, dass er eine Eigenschaft besaß, die mit »promigeil« noch galant umschrieben war. Schreiber umgab sich gern und oft mit Menschen, die in der Stadt etwas zu sagen hatten, es verging kaum eine Konferenz, in der er nicht mit seinen Kontakten prahlte. Kaja wusste, dass er sich mit Enno getroffen hatte, aber sie wusste eben nicht, ob Schreiber auch etwas von dessen besonderer Verbindung zu seiner Polizeireporterin ahnte. Wahrscheinlich nicht, sonst wäre das Treffen in seinem Büro anders verlaufen.

Kaja hatte es nicht für möglich gehalten, dass es im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert noch Gespräche geben konnte, wie sie es mit dem Chefredakteur führen musste. Nicht nur, dass Schreiber sie ziemlich von oben herab behandelte, er guckte auch unverhohlen auf ihre Brüste, so als wollte er sich lieber mit denen unterhalten. Und er ging in keiner Weise auf das ein, was Kaja über ihre Rolle in der Redaktion der Hamburg News erzählte, über ihre ständige Erreichbarkeit und Einsatzbereitschaft und ihre große Begeisterung für alles, was mit Verbrechen zu tun hatte. Caspar Schreiber starrte auf ihre Brüste und sagte: »Alles schön und gut, aber jetzt brechen hier neue Zeiten an, auch für Sie, liebe Kaja.«

Liebe Kaja?, dachte Kaja und noch etwas anderes, das nicht jugendfrei war.

»Jeder meiner Untergebenen«, Schreiber hatte das Wort wirklich gebraucht, »wird sich neu erfinden müssen. Ich will und ich werde aus jedem Einzelnen von euch alles rausholen, rauskitzeln oder rauspressen, je nachdem, was nötig ist.« Das klang wie eine Drohung, und Kaja war sich sicher, dass es genau so gemeint war.

»Heißt das …«, setzte sie an, aber weiter kam sie nicht.

»Das heißt, dass Sie Ihren Polizeikram meinetwegen weitermachen können, liebe Kaja«, Schreiber fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen, was angesichts seiner Fixierung auf Kajas Oberweite noch unpassender war, als es gewesen wäre, wenn er ihr in die Augen gesehen hätte. »Aber das reicht nicht. Ich will mehr von Ihnen lesen als Artikel über Mörder und Vergewaltiger.«

»Oder Mörderinnen und Vergewaltigerinnen.« Das war Kaja so rausgerutscht, wie es ihr jedes Mal rausrutschte, wenn ein Gesprächspartner – meistens waren es Männer – vergaß, die weibliche Form zu erwähnen.

»Ach ja, die Sache mit dem Gendern.« Zum ersten Mal hob Caspar Schreiber seinen Kopf und blickte Kaja direkt ins Gesicht. »Ich habe schon gehört, dass Sie da eine Mission verfolgen, und das können Sie natürlich auch. Aber bitte nach Feierabend. Mit Gendersternchen und Doppelpunkten und dem ganzen Klimbim verschrecken Sie mir die Abonnenten, die wir so dringend brauchen.«