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Niemand im deutschen Fernsehen ist so verspottet und beschimpft worden wie Markus Lanz. Spätestens nach dem Ende von "Wetten, dass ..?" schien der Moderator erledigt, "einer wie er dürfte eigentlich nie eine Talkshow moderieren", schrieb die Frankfurter Rundschau noch 2019. Wenige Jahre später hat Markus Lanz aus seiner Talkshow eine der wichtigsten politischen Bühne des Landes gemacht, ohne ihn wäre Karl Lauterbach wahrscheinlich nie Bundesgesundheitsminister geworden. Was ist da passiert? Wie wurden aus Lanz viel kritisierten Schwächen ("er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort") viel gelobte Stärken ("endlich fragt mal einer nach")? Was hat das alles mit den Demütigungen seiner Kindheit und seiner Bewunderung für Deutschland zu tun? Und wieso kommen so viele Politikerinnen und Politiker gern zu Lanz, obwohl sie dort viel härter rangenommen werden als in anderen Talkshows? Spiegel-Bestseller-Autor Lars Haider beschreibt in seinem neuen Buch, für das er mit 50 Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Weggefährten von Markus Lanz gesprochen hat, den Fall und Aufstieg eines Mannes, der niemandem eine Schwäche verzeiht. Am wenigsten sich selbst. "Das Leben ist ein brutales Gemetzel." Markus Lanz "Hast du denn wirklich das Gefühl, dass dein Leben von so vielen schweren Niederlagen gezeichnet wird?" Richard David Precht zu Markus Lanz "Nie werde ich so bemitleidet wie vor und nach meinen Besuchen bei Markus Lanz." Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär "Ich schaue selbst übrigens nie fern." Karl Lauterbach
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Lars Haider
Auf jede Antwort eine Frage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.
IMPRESSUM
1. Auflage September 2022
Umschlaggestaltung: Joachim Bartels
Satz und Gestaltung: Medienwerkstatt Kai Münschke, www.satz.nrw
Lektorat: Sibylle Brakelmann, Hagen
Umschlagfoto: Christian O. Bruch / Laif Agentur für Photos & Reportagen GmbH
Autorenfoto: Mark Sandten / FUNKE Foto Services
Druck und Bindung: Wilco B.V., Vanadiumweg 2,
NL-3800 BL Amersfoort
© Klartext Verlag, Essen 2022
ISBN 978-3-8375-2508-3
ISBN ePUB 978-3-8375-2509-0
Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland, sind geschützt.
KLARTEXT
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Für meine Jungs
Ich sehe, was du denkst
Ich denke, was du fühlst
Ich fühle, was du willst
Aber ich hör dich nicht
Ich hab mir ein Wörterbuch gelieh’n
Dir A bis Z ins Ohr geschrien
Ich stapel tausend wirre Worte auf
Die dich am Ärmel ziehen
Und wo du hingeh’n willst
Ich häng an deinen Beinen
Wenn du schon auf den Mund fall’n musst
Warum dann nicht auf meinen?
Oh, bitte gib mir nur ein „Oh“ (…)
Bitte, bitte gib mir nur ein Wort
Es ist verrückt, wie schön du schweigst
Wie du dein hübsches Köpfchen neigst
Und so der ganzen lauten Welt und mir
Die kalte Schulter zeigst
Dein Schweigen ist ein Zelt
Stellst es mitten in die Welt
Spannst die Schnüre und staunst stumm
wenn nachts ein Mädchen drüber fällt
Zu deinen Füßen red ich mich um Kopf und Kragen
Ich will in deine tiefen Wasser große Wellen schlagen
Oh, bitte gib mir nur ein „Oh“ (…)
Bitte, bitte gib mir nur ein Wort
In meinem Blut werfen die Endorphine Blasen
Wenn hinter deinen stillen Hasenaugen die Gedanken rasen
(Nur ein Wort von „Wir sind Helden“,
Titelmelodie von Markus Lanz)
„Es gibt viel zu besprechen“
Erst verspottet, dann gefeiert: Die wundersame Wandlung des Markus Lanz
Leben mit Lanz – Woche 1
„Er dürfte nie und nimmer eine Talkshow leiten“
Wetten, dass niemand im deutschen Fernsehen so schlecht behandelt wurde?
Leben mit Lanz – Woche 2
„Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!“
Das legendäre Gespräch mit Sahra Wagenknecht und ein altes Trauma
Leben mit Lanz – Woche 3
„Das Leben ist ein brutales Gemetzel“
Warum der Erfolg von Markus Lanz viel mit seiner Herkunft zu tun hat
Leben mit Lanz – Woche 4
„Eine enge, traurige Welt“
Über das Lebensgefühl eines Südtirolers und den frühen Wunsch, nach Deutschland zu gehen
Leben mit Lanz – Woche 5
„Ich dachte, das ist dieser Unterhaltungsfuzzi“
Zwei Interviews, ein Besuch beim Papst und der Anfang vom Ende eines falschen Image
Leben mit Lanz – Woche 6
„Das ist wahr“
Von Gauland zu Laschet oder wie ein Gespräch einem späteren Kanzlerkandidaten zum Verhängnis wurde
Leben mit Lanz – Woche 7
„Wir sind Gesundheitsminister“
Wie Karl Lauterbauch (auch) durch seine Lanz-Auftritte in die Bundesregierung kam
Leben mit Lanz – Woche 8
„Man ist wer, weil man gesehen wird“
Über die Macht der Talkshows und wieso Politikerinnen und Politiker alles für eine Einladung absagen
Leben mit Lanz – Woche 9
„Unterbrechen Sie Ihre Frau auch immer?“
Nur keine Angst: Wie Politikerinnen und Politiker sich auf einen Auftritt bei Markus Lanz vorbereiten
Leben mit Lanz – Woche 10
„Es ist schlimm geworden mit den Jahren“
Warum Politikerinnen und Politiker so sprechen, wie sie sprechen, und eine Ähnlichkeit mit Claus Kleber
Leben mit Lanz – Woche 11
„Die Zähne ausgebissen“
Der härteste Gesprächspartner, der heimliche Lieblingskanzler und ein Interview, das neidisch macht
Leben mit Lanz – Woche 12
„Auf jede Antwort eine Frage“
Geheimnisse einer Interviewtechnik und das große Vorbild, das nicht aus dem Fernsehen kommt
Leben mit Lanz – Woche 13
„Das ist doch alles Voodoo“
Die Sache mit dem Knopf im Ohr und Moderationskarten, auf die man nicht gucken darf
Leben mit Lanz – Woche 14
„Gleich dürfen wir den Ring küssen“
Über Audienzen in der Garderobe und Gespräche, die leider nicht zu sehen sind
Leben mit Lanz – Woche 15
„Nie wieder Publikum“
Warum ausgerechnet die Corona-Pandemie für Markus Lanz zu einem Glücksfall wurde
Leben mit Lanz – Woche 16
„Ein Name ist noch kein Gast“
Wer in die Sendung eingeladen wird, wer nicht – und wer von sich aus nicht kommt
Leben mit Lanz – Woche 17
„Er kann sich nicht doppeln …“
… und deshalb holt Lanz Journalistinnen und Journalisten ins Studio, die viel näher an der Politik dran sind als er
Leben mit Lanz – Woche 18
„Aber Drosten hat gesagt …“
… und sonst müssen alle den Mund halten? Wie Markus Lanz in einen Wissenschaftsstreit geriet
Leben mit Lanz – Woche 19
„Fuck Chirac!“
Ein Hit, der alles veränderte, und ein Vergleich von und mit Jan Böhmermann, der nicht stimmt
Leben mit Lanz – Woche 20
„Habe ich Ihre Handynummer?“
Mein erstes Mal: Wie es ist, wenn eine Einladung in die Sendung kommt, nicht kommt, kommt …
Leben mit Lanz – Woche 21
„Meine Frau ist deutlich prominenter als ich“
Der doppelte Markus: Warum die ganze Geschichte ohne einen Punkrocker nicht erzählt werden kann
Leben mit Lanz – Woche 22
„Was soll ich damit?“
Für immer ZDF – über ein verlockendes Angebot auf dem Höhepunkt der Karriere und eine schwere Entscheidung
Leben mit Lanz – Woche 23
„Was geht dir durch den Kopf?“
Der Podcast mit Richard David Precht und ein peinlicher Typ auf einem alten Foto
Leben mit Lanz – Woche 24
„Wir wurden mit Politik nicht groß belästigt“
Warum für Talkshows mit dem Ende der Ära Merkel eine neue Zeit begonnen hat
Leben mit Lanz – Woche 25
„Ich will das nicht“
So viele Sendungen, so viele Gespräche – es ist Zeit, Danke zu sagen
Erst verspottet, dann gefeiert: Die wundersame Wandlung des Markus Lanz
Markus Lanz ist ein Symptom unserer gesellschaftlichen Verhältnisse: Er kann nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden. Aber warum müssen wir ihm dabei zusehen?
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2012)
Im verwirrenden Dauerfeuer der Verlautbarungen und Verordnungen des Coronajahres 2020/21 sorgten die abendlichen Gesprächsrunden mit Markus Lanz und seinen Gesprächspartner:innen für Aufklärung, Einordnung und Orientierung. Ein wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs, vor allem in Zeiten des Lockdowns.
(Jury des Deutschen Fernsehpreises, 2021)
Wenige Wochen nach Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 beschloss mein Nachbar, später ins Bett zu gehen. Das Licht in seinem Wohnzimmer brannte plötzlich oft bis nach Mitternacht und der Fernseher lief.
„Was guckst du denn noch so spät?“, fragte ich.
„Ich gucke Markus Lanz“, sagte der Nachbar.
„Du guckst Markus Lanz? Ich dachte, du kannst den nicht ausstehen, weil er seine Gäste nie ausreden lässt und immer so aggressiv auf dem Stuhl hin und her rutscht.“
„Das war früher. Heute ist er der Einzige, der wirklich nachfragt. Der lässt keinen entkommen und die meisten Leute, die er einlädt, haben wirklich etwas zu sagen. Hast du gestern Lanz gesehen?“
Dies ist die Geschichte einer Wandlung, wie es sie im deutschen Fernsehen nicht oft, vielleicht nie gegeben hat. Es geht um einen Mann und seine Sendung, die beide viele Jahre nicht ernst genommen wurden, und das ist höflich formuliert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, oben bereits zitiert, schrieb 2013: „Er ist kein Tribun, kein Princeps, er fällt kein Urteil und will am Ende mit allen noch ein Bier trinken können. Keinen Streit, nicht mal eine Kontroverse hält er aus. (…) Dass es mal ungemütlich wird und man wirklich Argumente liefern muss, braucht in seiner Sendung niemand zu fürchten.“ Markus Lanz war gerade dabei, Wetten, dass..?, das letzte Lagerfeuer der TV-Nation, auszutreten, seine eigene, nach ihm benannte Talkshow war, nun ja, genau das: eine Talkshow wie viele andere, Unterhaltung halt, man zappte mal rein und dann wieder raus und niemand wäre auf die Idee gekommen, am nächsten Tag den Arbeitskollegen, die Freundin oder eben den Nachbarn zu fragen, ob sie gestern Markus Lanz gesehen haben.
Ein gutes Jahrzehnt später brennt das Lagerfeuer wieder und es ist ausgerechnet Markus Lanz, der es angezündet hat. Micky Beisenherz, selbst Moderator, nannte ihn in der Süddeutschen Zeitung „Deutschlands schönste Grillzange“, was alte Vorurteile gegenüber Lanz bediente, aber nett gemeint war. Denn spätestens Ende 2020 war der als Fragesteller bei Politikerinnen und Politikern auf einmal so gefürchtet und geachtet wie Marietta Slomka vom heute journal. „Ich finde, dass Markus Lanz inzwischen die beste politische Talkshow macht. Es gibt keine Gefälligkeitsfloskeln, man geht nicht nett miteinander um, ich muss einen Test bestehen als Politiker. Und das mache ich immer wieder gern“, sagt der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, obwohl Lanz ihn besonders oft besonders hart befragte. Auch dafür erhielt der Moderator, der im ZDF mit seiner Sendung nach wie vor im Bereich Unterhaltung geführt wird, 2021 den Deutschen Fernsehpreis – in der Kategorie Information, vor den Magazinen Frontal und Panorama. Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit und selbst Gastgeber der Talkshow 3 nach 9, sagte drei Wochen vor der Bundestagswahl im September 2021: „Markus Lanz hat die wirkungsvollste politische Bühne, die es im deutschen Fernsehen gibt.“ Der Podcast, den Lanz ebenfalls im September mit dem Philosophen Richard David Precht startete, verdrängte das Coronavirus-Update des Virologen Christian Drosten von Platz 1 der deutschen Charts. Zuvor hatte bei Markus Lanz das Ende der politischen Karriere des späteren CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet begonnen, genauso wie der Aufstieg des schrägen Karl Lauterbach. Ohne Lanz (und Twitter) wäre der SPD-Politiker niemals Bundesgesundheitsminister geworden.
Micky Beisenherz schrieb, dass es „nicht ganz klar ist, wann exakt sich die Sendung des lange unbeliebten, ja verhassten Markus Lanz zur oft interessantesten politischen Talkshow im deutschen Fernsehen entwickelt hat“. Dass das so ist, ist unbestritten.
Wie ist es dazu gekommen? Wie hat Markus Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach“) zu machen? Wie ist es ihm gelungen, aus einer Unterhaltungssendung die wichtigste politische Talkshow im deutschen Fernsehen werden zu lassen, und das zu unmöglichen und permanent wechselnden Sendezeiten? Frank Plasberg, Anne Will, Maybrit Illner und Sandra Maischberger, bisher die großen Vier des Politiktalks, haben in der Regel lange Feierabend, wenn Markus Lanz beginnt. Normalerweise ist das irgendwann zwischen 22.45 Uhr und Mitternacht. Anne Will bekommt ihre Zuschauerinnen und Zuschauer vom vorher laufenden Tatort serviert, Maybrit Illner startet direkt nach dem heute journal, das passt. Markus Lanz muss sein Publikum selbst mobilisieren, unter denkbar schwierigsten Bedingungen, weil viele Menschen dienstags, mittwochs und donnerstags kurz vor Mitternacht normalerweise etwas anderes tun, als vor dem Fernseher zu sitzen. Sie schlafen.
Was ist das Geheimnis von Markus Lanz? Wie haben sich Sendung und Gastgeber in all den Jahren verändert? Und was sagt das über den politischen Diskurs, die Gesprächskultur in unserem Land?
Der US-Digitalexperte Jeff Jarvis warnt schon länger vor einer Situation, in der alle sprechen, aber niemand zuhört. Der Hamburger Autor Carsten Brosda, „nebenbei“ auch Kultursenator der Stadt und Vertrauter von Bundeskanzler Olaf Scholz, griff das auf und sagte: „Es scheint oft nur darum zu gehen, wer lauter, wer zugespitzter und pointierter ist, es gelingt uns nicht mehr, ein öffentliches Gespräch herzustellen. Und damit verändern sich die Grundlagen unserer Demokratie, weil kaum noch jemand weiß, worum wir uns alle kümmern müssen.“ Das ist einer der Punkte, an dem Markus Lanz und sein Chefredakteur und Geschäftspartner Markus Heidemanns ansetzen, wenn sie sagen, dass man in die Sendung keine Gäste einlade, „damit es kracht“, im Gegenteil: „Am Ende geht es darum, den Menschen etwas Substanzielles zu erzählen und die Sendezeit zu nutzen.“ Und ja, es geht auch darum, dass alle, die einschalten, verstehen, was die, die dort sitzen, erzählen. Das ist für Lanz guter Journalismus. Die nahe liegenden Fragen zu stellen, auch wenn sie vielleicht platt wirken, und sich nicht abschütteln zu lassen von Menschen, die trainiert darauf sind, diese Fragen nicht zu beantworten. „Der Zuschauer kann bei und mit Lanz im Idealfall die eigene Politisierung vorantreiben“, schrieb die taz.
Dabei will Lanz als Fragesteller nicht zynisch wirken, sondern zugewandt und empathisch bleiben. Er ist ein Getriebener, einer, für den das ganze Leben eine einzige große Gesprächsrunde ist. Das hat nicht nur mit all den bösen Kritiken der Vergangenheit zu tun, sondern auch mit seiner Kindheit in Südtirol, dem Hin und Her zwischen Deutschland und Italien, zwischen privatem und öffentlich-rechtlichem Fernsehen. Man muss sich Markus Lanz als zerrissenen Menschen vorstellen, der ausgerechnet in und durch die Corona-Krise dort angekommen ist, wo er immer hinwollte. Und der nach dem Ende der Pandemie mit dem Krieg in der Ukraine ein neues Thema bekam, das ihm erlaubte, genauso weiterzumachen.
Als ich durch einen Zufall selbst als Gast bei ihm eingeladen wurde – ich hatte ein Buch über den neuen Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben, das zu dessen Wahl am 8. Dezember 2021 erschien –, war mir endgültig klar, dass ich mich diesem Mann und seiner Sendung nähern wollte, es, nein, er ließ mich nicht mehr los. Ich bin seit Jahren ein Talkshow-Junkie: Montag Hart, aber fair, Donnerstag Maybrit Illner, Sonntag Anne Will, es musste schon viel passieren, dass ich eine der Sendungen verpasste. Markus Lanz konnte ich lange nicht ertragen, den seltsamen Gästemix von den Geissens über Bushido bis zu Sahra Wagenknecht, die Art der Moderation, die vielen Ungenauigkeiten, dazu die unchristlichen Zeiten. Ich hatte als Hamburger und Chefredakteur des Hamburger Abendblatts ausgerechnet die einzige Hamburger Talkshow mit wachsendem politischen Anspruch etliche Jahre nicht auf dem Schirm. Ich habe deshalb, anders als mein Nachbar, lange nicht bemerkt, wie sich Markus Lanz entwickelt hat. Vielleicht wäre es mir, wäre es uns allen ohne die Corona-Pandemie nie aufgefallen. Ohne diese Ausnahmesituation, in der man abends niemand treffen und sich austauschen konnte, es aber so viel zu besprechen und zu verstehen gab, und ohne den Moment, in dem TV-Sendungen mit Zuschauerinnen und Zuschauern im Studio verboten wurden, was Markus Lanz so gutgetan hat wie keiner anderen Talkshow. Wobei man dort auch mit Abstand am meisten daraus gemacht hat. Lanz braucht niemanden, der ihm applaudiert oder der über ihn lacht, das lenkt ihn eher ab. Er braucht jemanden, mit dem er reden, streiten, diskutieren kann, gern lange. „Ich mag das“, sagt er.
Aber gilt das auch in eigener Sache? Wenige Wochen nach meinem Auftritt schrieb ich ihm eine SMS, dass ich ein Buch über ihn und seine Sendung machen wolle, und fragte, ob wir uns mal treffen könnten. Markus Lanz schrieb nur einen Satz zurück: „Gern treffen, es gibt viel zu besprechen.“
Das gab es wirklich. Ich habe mir monatelang jeden Tag alte und neue Folgen seiner Sendung angesehen und viele Podcasts von Lanz und Precht angehört. Ich habe für dieses Buch mit etwa 50 Weggefährten, Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen, die Lanz gut kennen und/oder bei ihm zu Gast waren. Fast alle, die ich angefragt habe, waren schnell zu einem Gespräch bereit – allein aus den Reihen der CDU und der Grünen kamen ein paar Absagen – und hatten einiges zu erzählen.
Nur einem war das Projekt bis zum Schluss nicht ganz geheuer. Aber alles andere hätte auch nicht zu dem gepasst, was ich inzwischen über Markus Lanz gehört und gelesen habe.
Vielleicht ist das Erfolgsgeheimnis von Markus Lanz, dass er gar kein Moderator ist. Vielleicht rutscht er immer so unruhig auf seinem Stuhl im TV-Studio hin und her, weil er raus will, mit Fotoapparat und Kamerateam, um mit den Leuten zu sprechen, die ihn mehr interessieren als Ministerpräsidentinnen, Generalsekretäre oder Karl Lauterbach. Zum Beispiel Drogenabhängige, Obdachlose, Menschen, die gerade ihren Job verloren haben und deshalb in ihrem Auto leben müssen, weil es das Einzige ist, was ihnen geblieben ist. Als Anfang 2022 die gesammelte Talkshow-Konkurrenz noch in der Winterpause ist, sieht man im ZDF Markus Lanz durch Amerika reisen, durch ein im Gegensatz zu Deutschland wirklich gespaltenes Land, in dem der Präsident eins wissen muss: Alles, was er macht, wird von der einen Hälfte der Bevölkerung beklatscht und von der anderen niedergebrüllt. „Joe Biden hat nichts zu verlieren, außer die amerikanische Demokratie“, wird Sigmar Gabriel, ehemaliger Außenminister, ehemaliger SPD-Vorsitzender und amtierender Chef der Atlantik-Brücke, eines Vereins, der die Beziehungen zu den USA pflegt, in der ersten Sendung im Januar 2022 sagen. Vorher hat man Lanz’ neue Reportage aus den USA gezeigt. „Amerika ungeschminkt“ ist das Gegenteil von dem, was er dienstags bis donnerstags macht, und das nicht nur, weil die Gäste seiner Talkshow bekanntermaßen extra für die Sendung geschminkt werden. Markus Lanz spricht in den USA auch mit einigen wichtigen Menschen, etwa mit Wissenschaftlern, aber das ist die Ausnahme. Stattdessen holt er eine junge drogenabhängige Frau aus einem Zelt, in dem sie auf der Straße wohnt, er fragt einen Mann, wo denn nun das Auto sei, in dem er angeblich lebt (und bekommt heraus, dass es dieses Auto nicht gibt), er geht durch Wohngegenden, in denen „jeder eine Waffe hat“. „Ich habe mich eigentlich immer als Reporter verstanden“, sagt Markus Lanz.
„Herzlich willkommen zu unserer Sendung, in der wir gleich zu Beginn die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP begrüßen. Das ist deshalb interessant, weil sich in ihrer Partei gerade etwas zusammenbraut, das es in sich hat. Zur Erinnerung: Unter der neuen Regierung steuert Deutschland auf eine allgemeine Impfpflicht zu. Doch in ihrer Partei rumort es deshalb. Obwohl die FDP Teil dieser neuen Regierung ist, wollen offenbar einige Abgeordnete dagegen stimmen. Angeführt wird diese Revolte von Wolfgang Kubicki, aber auch unser heutiger Gast ist ausdrücklich gegen eine allgemeine Impfpflicht. (…) Die Frage ist: Ist das schon richtig böse gegen Olaf Scholz oder ist das einfach nur Demokratie?“ So stellt Markus Lanz die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus vor und die wirkliche Frage lautet: Ist es nur tollkühn oder schon gefährlich, eine Gesprächsrunde, die mehr als eine Stunde dauern soll, derart aggressiv anzufangen? Zumal Lanz genauso weitermacht, als er über den saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans, der friedlich auf dem Stuhl neben ihm sitzt, Folgendes sagt: „Wolfgang Kubicki sagte kürzlich, auch so ein interessanter Satz: ‚Ich bin entsetzt über das jakobinerhafte Verhalten vieler in diesem Land, deren Freude an 2G und Impfpflicht wirklich nicht mehr rational ist.‘ Wie sieht dieser Mann das und wie heikel ist dieser Moment für ihn und seine politischen Pläne? Dazu muss man wissen: Er hat als Ministerpräsident des Saarlandes als Erster im neuen Jahr eine Landtagswahl vor der Brust. Und während es am Anfang viel Zustimmung gab für seinen Kurs in der Pandemie, rumort es ja auch in seinem Land. Und der führende Epidemiologe in seinem Land warf ihm kürzlich vor, es verbockt zu haben.“ Sagt Lanz, fügt sein „Ich freue mich sehr“ an, das standardmäßig auf jede Vorstellung eines Gastes folgt, und regt sich dann auf, dass in der Pandemie in Deutschland Entscheidungen auf Basis von Infektionszahlen getroffen werden, von denen niemand weiß, ob sie stimmen. „Wie kann das sein?“ Mir fällt auf, dass ich mir die Frage gar nicht mehr stelle, weil ich mich daran gewöhnt habe, dass die Zahlen so sind, wie sie sind. Vielleicht ist eine der Stärken Lanz’, dass dieser Gewöhnungsprozess bei ihm nicht eintritt und dass er sich nicht zu schade ist, immer wieder Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gibt. Auch wenn es und er dadurch manchmal nicht nur penetrant, sondern beinahe beleidigt wirkt.
Ein Prinzip von Markus Lanz ist, Antworten seiner Gesprächspartnerinnen und -partner zu wiederholen. Das wirkt manchmal etwas seltsam, etwa, wenn Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien zur Zukunft der Schulen in der beginnenden Omikron-Welle sagt: „Wir wollen den Präsenzunterricht aufrechterhalten. Schulen sind das, was zuletzt geschlossen werden darf in Deutschland.“ Und Lanz dann entgegnet: „Das ist der Plan, so habe ich Sie verstanden, Schulen bleiben auf jeden Fall offen.“ Hat sie doch gesagt, aber das ist Lanz egal, ihm geht es darum, klare Punkte zu machen. Jeder soll verstehen, was in seiner Sendung gesagt wird. Als der Virologe Hendrik Streeck versucht zu erklären, wie man mithilfe eines „sozioökonomischen Panels“ bessere Daten über die Verbreitung des Corona-Virus in Deutschland bekommen könnte, sagt Lanz: „Für Menschen, die nicht so schlau sind wie Sie, ich kann da nicht folgen: Was ist die Idee dahinter?“ Das wirkt, Streeck erklärt noch einmal, diesmal so, dass man begreift, worum es geht. Der Bonner ist gern gesehener Gast bei Lanz, auch wenn er eines der Kriterien, die den Machern der Sendung am wichtigsten sind, nicht optimal erfüllt. Er kann nicht ganz so anschaulich und verständlich über die Pandemie sprechen wie Christian Drosten, der zusammen mit Streeck im Expertenrat der Bundesregierung zur Pandemie sitzt. Doch der kommt nicht zu Lanz, Drosten kommuniziert vor allem über einen Podcast des NDR. Grundsätzlich hat die Journalistin Eva Quadbeck recht: „Wir haben kein Erkenntnis-, wir haben ein Umsetzungsproblem.“ Wenn man sich nur ein bisschen mit Omikron beschäftigt hat, staunt man, dass Lanz Grafiken aus England wie eine Sensation ankündigt, aus denen hervorgeht, dass die neue Variante viel ansteckender ist als frühere, aber nicht so oft zu Krankenhausaufenthalten führt. Weiß doch längst jeder, denke ich. Weiß das wirklich jeder?, würde Lanz wahrscheinlich entgegnen. Er mag und macht Erklär-Fernsehen und er stellt auch Fragen, um Antworten zu bekommen, die er längst kennt. Nicht für sich, sondern für sein Publikum.
Wetten, dass niemand im deutschen Fernsehen so schlecht behandelt wurde?
Beim Deutschen Fernsehpreis im Jahr 2021 war Thomas Gottschalk eingeladen, um die Auszeichnung für die beste Schauspielerin/den besten Schauspieler vorzunehmen. Doch als er von Moderatorin Barbara Schöneberger auf die Bühne gerufen wurde, konnte Gottschalk sich zwei Sätze über den Mann nicht verkneifen, der zuvor den Preis in der Kategorie „Beste Information“ erhalten hatte. „Darf ich die Gelegenheit nutzen, Markus Lanz zu gratulieren“, sagte er, kaum dass die Fernsehkameras auf ihn gerichtet waren. „Gibt ja Sachen, die er kann.“ Das klang, als sollte es lustig sein, und Barbara Schöneberger lächelte tatsächlich, um dann zu sagen: „Jetzt verstehe ich es erst, sehr, sehr komisch, hatte ich schon alles wieder vergessen. Ihr auch, glaube ich, und alle anderen auch.“
Die zwei vermeintlich harmlosen Sätze von Thomas Gottschalk waren nicht witzig gemeint und kaum jemand im Saal dürfte vergessen haben, wie böse Markus Lanz in der Vergangenheit mitgespielt worden war. Wenn doch, dann wurden er oder sie von Gottschalk ziemlich plump daran erinnert.
Es gibt keinen Menschen im deutschen Fernsehen der jüngeren Vergangenheit, der so übel verspottet und beschimpft wurde wie Markus Lanz. Die Kritik, die der Moderator mehrere Jahre ertragen musste und die 2014 ihren Höhepunkt erreichte, als er als Nachfolger von eben jenem Thomas Gottschalk bei Wetten, dass..? scheiterte und die Sendung daraufhin eingestellt wurde, hatte etwas von „Wer will noch mal, wer hat noch nicht“. Wenn man mit Journalistinnen und Journalisten heute über diese Zeit spricht, ist von einer „Hetzjagd, die sich verselbstständigt hat“ die Rede. Horst Lichter, neben Lanz eines der bekanntesten Gesichter des ZDF, spricht von „übelster Nachrede“. Markus Lanz selbst hat zu all dem, was damals über ihn geschrieben wurde, gesagt: „Einmal in der Welt, zementieren sich Klischees unabhängig von der Realität. Das bewegt mein Weltbild nicht ernsthaft, sonst müsste ich mir die Kugel geben.“
Damals war Lanz zum Abschuss freigegeben, es gehörte fast zum guten Ton, sich über ihn lustig zu machen. 2013 hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Markus Lanz hat jetzt 500 Ausgaben seiner Talkshow im ZDF absolviert. Gern würde er 500 weitere machen. Doch davor kann man nur warnen.“ Im Spiegel hatte der Medienkritiker Stefan Niggemeier schon ein Jahr vorher geschrieben: „Markus Lanz hat eine rasante Karriere gemacht vom Moderator von RTL-Boulevardmagazinen wie Explosiv, der die erste Fernseh-Liveübertragung einer Brustvergrößerung direkt vom OP-Tisch kommentieren durfte, zum wichtigsten Unterhaltungsmenschen im ZDF. (…) Lanz ist vielleicht der größte Streber im deutschen Fernsehen. (…) Überraschenderweise hat Lanz neuerdings den Ruf, auch kritisch nachhaken zu können. Das muss daran liegen, dass er es geschafft hat, aus der Zwangsstörung von Menschen, die das Haus nicht verlassen können, ohne wieder und wieder und wieder überprüft zu haben, dass der Herd aus ist, so etwas wie eine Interviewtechnik zu machen.“ Im Internet legte Niggemeier nach: „Ich habe im Spiegel dieser Woche versucht zu erklären, was Markus Lanz für mich so unausstehlich macht. Es sind ja nicht nur diese Posen, das Finger-an-den-Mund-Legen, der Dackelblick, dieses sich Spreizen, die Witzelsucht, die konsequente Unterforderung des Zuschauers, die persönlichen Zudringlichkeiten, das Desinteresse an Inhalten, die Fragetechnik, die von Johannes B. Kerner gelernte Kunst, sich von sich selbst zu distanzieren, die Phrasen, die angestrengte und anstrengende Vortäuschung des kritischen Nachfragens, das Aufondulieren der Sprache, die Wichtigtuerei, das ganze streberhafte Gehabe. Es ist auch das Ausmaß, in dem er aus seiner Talkshow eine Art Betriebsausflug gemacht hat, mit diesem unbedingten Willen zur kontrollierten Ausgelassenheit und dieser gezwungenen Kumpelhaftigkeit. Hinter einer Fassade moderner Munterkeit tun sich Abgründe spießiger Bräsigkeit auf.“
Die Frankfurter Rundschau entwickelte gar eine Lanz-Phobie, die bis heute in Kritiken zu spüren ist und die sich selbst 2019, als Wetten, dass..? längst Geschichte war und Markus Lanz in seiner Sendung bemerkenswerte und ernst zu nehmende Interviews mit Politikerinnen und Politikern geführt hatte, so las: „Aber ein Moderator, der nicht moderiert, sondern Fragen abschießt, der es in seiner typischen Haltung, ganz vorne auf der Stuhlkante sitzend, als wolle er sich auf das Gegenüber stürzen (und so seine Nervosität und Überforderung zeigt) fast nie schafft, seine Gäste ausreden zu lassen, und dann irgendwann sagt: ‚Lasst uns diese Schärfe rausnehmen‘ – die er selbst hineingebracht hat in das Gespräch: Solch ein Mann dürfte nie und nimmer eine Talkshow leiten. Nun tut das aber Markus Lanz seit Jahren und es ist eines der großen Rätsel der bundesdeutschen Fernsehlandschaft, dass er das trotz seiner offensichtlichen Unfähigkeit immer noch tut.“ Oder zu einer Sendung, in der die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu Gast waren: „Und sie schlugen sich tapfer, denn es war ein Gefecht und der Feind saß auf dem Moderatorenstuhl. (…) Er stellte Fragen, wollte aber die Antwort nicht hören, sondern die nächste Frage abschießen. Dass er die beiden Gäste unterbrach, wäre untertrieben: Er ließ sie einfach nicht richtig zu Wort kommen. Vor allem auf Saskia Esken hatte er es abgesehen und da bekam der Nicht-Dialog auch noch etwas eklig Frauenfeindliches.“
Die Bild-Zeitung ließ ihren Kolumnisten Franz Josef Wagner 2014 auf Seite 2 einen kurzen Brief schreiben, eher eine Postkarte: „Lieber Markus Lanz“, begann Wagner, „irgendwie sind wir alle mittelmäßig, hat ein Philosoph einmal gesagt. Das zu erkennen, ist nicht lustig. Markus Lanz ist ein netter Mensch, aber leider nicht Mozart oder Gottschalk. Es ist tragisch, von Dingen zu träumen, die sich nicht erfüllen lassen. Schlechteste Einschaltquote, seit es Wetten, dass..? gibt. Wenn ich Markus Lanz wäre, würde ich mich in mein Auto setzen und wegfahren. Durch Städte, über Autobahnen, an Häusern vorbei, wo Licht brennt, immer weiter. Ich würde zu einem Ort fahren, wo Frieden ist. Wind in den Bäumen. Aus einer Quelle kommt Wasser. Was für ein schöner Ort, wo ein Mensch glücklich werden kann.“
Kaum eine Sendung werde „so gehasst wie die von Markus Lanz“, schrieb wieder die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2019 (um wenigstens hinzuzufügen, dass Lanz inzwischen das einzige Format im Fernsehen habe, in dem es „echte Gespräche der Gäste“ gebe). Woher kam dieser Hass, der sich in Überschriften wie „Fack ju, Lanz!“ manifestierte, warum „saßen die Typen mit gespannter Flinte da“, wie Lanz es einmal selbst formulierte? Sagt die mediale Hetzjagd, die damals betrieben wurde, am Ende vielleicht mehr über diejenigen aus, die sie angeführt haben, als über Markus Lanz selbst?
Wenn man sich Antworten auf diese Fragen nähert, landet man wieder bei Horst Lichter, der sagt, dass Markus Lanz vieles von dem habe, was denen, die ihn kritisierten, fehle: „Er sieht verdammt gut aus, er ist intelligent, er ist musikalisch, er ist rhetorisch brillant, er ist ein hervorragender Fotograf. Mit anderen Worten: So einen können andere Männer gar nicht gut finden.“ Tatsächlich hatte die Kritik an Lanz früh etwas Oberflächliches. Der Artikel auf der Internetseite von Stefan Niggemeier, der übrigens nicht mit mir über den Moderator sprechen wollte, weil der Verlag, in dem dieses Buch erscheint, ihm nicht auf seine Anfragen antworte, war mit „Kein schöner Lanz“ überschrieben. Dass gutes Aussehen im Fernsehen eine große Rolle spielt, muss man nicht diskutieren, bei Lanz wurde es aber von Anfang an, und teilweise bis heute, gegen ihn verwendet. Motto: Wer so gut aussieht, kann inhaltlich nicht gut sein, seriös schon gar nicht. Lanz hat so lange gegen dieses Vorurteil gekämpft, dass er ungern über sein Äußeres reden mag. Er kleidet sich bewusst in seinen Sendungen so, dass weder seine Anzüge noch seine Krawatten oder Schuhe Anlass für irgendwelche Diskussionen geben. „Wenn ein Mann nicht wie ein Eimer aussieht, macht er sich der Doofheit verdächtig“, hat Lanz einmal gesagt. Das stimmt und dabei bleibt es nicht. Allein, dass er so aussieht, wie er aussieht, werten manche schon als Eitelkeit.
Markus Lanz, das war dieser Schönling, der alles „wegmoderiert hat, was man ihm vorgesetzt hat“, der Boulevard-Heini und „Ersatzmann“, der mit der („viel älteren“) RTL-Moderatorin Birgit Schrowange liiert war, der keine Floskel und Stanze ausließ und der beim ZDF Kochsendungen moderierte. Die Frage, ob „der überhaupt eine journalistische Ausbildung hat“, verfolgt ihn bis heute. Lanz kam in den Texten, die über ihn verfasst wurden, wie ein öffentlich-rechtliches Missverständnis rüber und spätestens, als bekannt wurde, dass er Wetten, dass..? übernehmen sollte, war er auch genau das. Niemand hätte die Sendung, deren Zeit erstens gekommen und die zweitens unwiderruflich mit Thomas Gottschalk verbunden war (und ist), retten können. Aber Markus Lanz war sicher derjenige, der dafür am wenigsten geeignet war. Er war von RTL zum ZDF gewechselt, um endlich anderen Journalismus machen zu können, Dokumentationen, Reportagen, politische Gespräche, all das, für das er spätestens 2020 gefeiert wurde. „Es ging ihm von Anfang an um die ernsten Dinge des Lebens“, sagt einer seiner engsten Weggefährten, die Welt der Unterhaltung liege ihm nicht, weil ihn die Menschen dort nicht interessierten.
Doch darauf konnte das ZDF keine Rücksicht nehmen, als sich bei der Suche nach einem Nachfolger von Thomas Gottschalk ein Kandidat nach dem anderen „in die Büsche schlug“, wie Lanz es formuliert hat. „Es war dramatisch. Jeder wusste, wie schwer es sein würde, jeder hatte Angst.“ Die hatte Markus Lanz auch, aber darüber hinaus keine Wahl. Das ZDF schuf Fakten und kündigte ihn als neuen Moderator von Wetten, dass..? an, auch wenn Lanz von diesem Job nun wirklich nicht geträumt hatte. Aber was sollte er machen? Absagen, damit den Sender in Schwierigkeiten bringen, die Zukunft seiner Talkshow riskieren und die der Mhoch2 TV-Produktionsgesellschaft, die er 2010 mit Markus Heidemanns gegründet hatte? Ausgeschlossen, nachdem Lanz zum ZDF gekommen war, weil er es bei RTL nicht mehr ausgehalten hatte: „Ohne den Wechsel hätte ich mit dem Fernsehen wahrscheinlich aufgehört.“ Also trat er die unmögliche Mission an, scheiterte mit Ansage und hatte nun wirklich alle gegen sich. Allen voran die Bild-Zeitung, für die Wetten, dass..? so wichtig gewesen sei wie wenige andere TV-Sendungen, sagt ein Mitglied der Chefredaktion aus dieser Zeit: „Wir hatten nichts gegen Markus Lanz persönlich. Wir hatten nur etwas dagegen, dass Wetten, dass..? auf einmal aus dem Fernsehen verschwand.“ Die Wut über das Aus für die Sendung, die jahrzehntelang verlässlich Schlagzeilen geliefert hatte, kumulierte in der Aufforderung von Bild-Kolumnist Wagner, Lanz möge bitte auch verschwinden, siehe oben.
Der Moderator litt sehr unter der Situation und er fing an, noch stärker an sich zu zweifeln, als er es sowieso getan hatte. Dem Männermagazin GQ sagte er dazu einmal in einem langen Interview: „Ich glaube, die Wahrheit ist: Eigentlich bin ich fürs Fernsehen total ungeeignet. Ich runzle ständig die Stirn, sagt meine Mutter. Ich gucke oft nicht sehr freundlich, sondern so, wie mir gerade zumute ist. Und ich bewege mich viel zu viel, obwohl ich weiß, dass jede Bewegung im Fernsehen zweimal so ausladend wirkt. Deshalb schaue ich mir Sendungen, in denen ich selbst auftauche, nie an. Ich ertrage mich nicht.“
Das Scheitern mit Wetten, dass..? hatte aber noch eine andere Konsequenz. Von diesem Moment an hatte Lanz das Gefühl, dass er „mit dem Leben eine Rechnung offen hat“, und wahrscheinlich hat einer meiner Gesprächspartner bei der Bild-Zeitung recht, wenn er behauptet, „dass Lanz ohne all die Häme, ohne all die Niederlagen von damals heute nicht dort wäre, wo er ist“. Dass er diese Zeit überstanden hat, nicht nur als TV-Figur, sondern vor allem als Mensch, ist und bleibt ein Wunder. Es hätte auch anders ausgehen können, wenn das ZDF ihn fallen gelassen hätte, wäre es das mit der TV-Karriere gewesen. Das weiß Markus Lanz, der heute der Phase „etwas Befreiendes“ attestiert. Auch weil er an einem Punkt war, an dem er nichts mehr zu verlieren hatte. „Ich bin dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, weitermachen zu können“, hat Lanz in einem Gespräch mit Reinhold Beckmann gesagt. „Es hätte auch dort enden können, das hätte wirklich etwas mit mir gemacht.“
Zumal ihm im Jahr 2014, das Tief- und Wendepunkt seiner Karriere werden sollte, nicht nur die Nachfolge von Thomas Gottschalk schlaflose Nächte bereitete. Sondern auch ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht …
Die Omikron-Variante des Corona-Virus überrollt Deutschland, in Hamburg, wo Markus Lanz aufgezeichnet wird, macht sie bereits 90 Prozent aller Neuinfektionen aus. Es gibt kein anderes Thema und es ist schwer, neue Aspekte und Fehler im System der Eindämmungsmaßnahmen zu finden, aber genau das ist Lanz’ Ziel. Der erste Versuch gelingt einigermaßen. Es geht um die Einführung der 2G-plus-Regel für den Besuch von Restaurants. Nur wer von Corona genesen oder dagegen geimpft ist und einen aktuellen, negativen Test vorweisen kann, darf eingelassen werden, mit einer Ausnahme: Geboosterte, also all die, die eine dritte Impfung erhalten haben, sind von der Testpflicht befreit. Markus Lanz ahnt eine Lücke, als er Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig fragt, ob ein Mensch, der morgens geboostert worden sei, abends bereits in einem Restaurant essen dürfe. Ja, sagt Schwesig, das dürfe er, auch wenn, wie der Epidemiologe Timo Ulrichs Lanz bestätigt, die Wirkung des Boosters sich erst nach ein paar Tagen voll entfaltet. „Also ist das vor allem eine politische Entscheidung“, sagt Lanz und damit ein (weiterer) Anreiz, die Leute zum Impfen zu bringen. Punkt für ihn, These eins verfängt. Für die zweite These gilt das nicht. Das Gespräch über Lanz’ Behauptung, Mecklenburg-Vorpommern sei in den vergangenen Wochen zu „alarmistisch“ gewesen, was die Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern anging, führt dazu, dass Manuela Schwesig den Moderator mehrfach unterbricht und korrigiert: „Da haben Sie ein Missverständnis, Herr Lanz“, sagt sie, oder: „Herr Lanz, Entschuldigung, ich muss Ihnen widersprechen: Sie stellen das echt falsch dar.“ Markus Lanz verrennt sich in die Behauptung, Mecklenburg-Vorpommern hätte so getan, als hätte das Land nicht 600, sondern nur 100 Intensivbetten, immer wieder suggeriert er, dass Betten frei gewesen wären, dabei war rund um Weihnachten 2021 das Gegenteil richtig. Man merkt ihm in dieser Phase der Sendung seine Anspannung an, er presst die Fingerkuppen der Hände zusammen, er wirft die Stirn in Falten und sucht unter den anderen Gästen jemanden, der ihm recht gibt. Das Lanz’sche Prinzip, eine Frage so lange zu stellen, bis er die Antwort bekommt, die er haben will, geht diesmal nicht auf, weil das Thema das falsche ist. Das richtige wird zum Ende der Sendung verhandelt: die Impfpflicht, die gegen Omikron zu spät und vielleicht gar nicht mehr kommt. „Es zeichnet sich ab, dass die Impfpflicht ein Irrweg ist“, sagt Journalistin Kaja Klapsa.
Wer als Politiker zu Markus Lanz kommt, muss mit allem rechnen, vor allem damit, dass die Redaktion unangenehme Bilder, Filmausschnitte oder Zitate gefunden hat, die plötzlich eingespielt werden. Als Karl-Josef Laumann, von Lanz als „einziger deutscher Minister mit Hauptschulabschluss“ angekündigt, berichtet, dass in Nordrhein-Westfalen 90 Prozent der über 60-Jährigen gegen Corona geimpft seien – es wird in dieser Sendung wieder nur um die Pandemie gehen –, muss das auf den Moderator wie ein Stichwort gewirkt haben. 90 Prozent? Das hat der Gesundheitsminister doch schon einmal gesagt. Nämlich bei einer Pressekonferenz, auf der Laumann zusammen mit seinem Ministerpräsidenten Hendrik Wüst stolz verkündete, dass in NRW 90 Prozent aller Bewohner in Alten- und Pflegeheimen eine Booster-Impfung erhalten hätten. Die Nachricht klang besser, als sie in Wahrheit war. Denn tatsächlich hatte das Land nur in 90 Prozent seiner Alten- und Pflegeheime eine Auffrischungsimpfung angeboten. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, über den man sprechen kann, aber „vielleicht nicht zehn Minuten“, wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP sagt, nachdem Lanz zusammen mit Robin Alexander, dem stellvertretenden Chefredakteur der Welt, Laumann etwa so lange in die Mangel genommen hat. Wobei das wörtlich zu nehmen ist, denn Lanz sitzt wie immer links, Alexander rechts außen. Der Journalist war so oft in der Sendung, dass das Zusammenspiel mit dem Moderator via Augenkontakt funktioniert. Zwischenzeitlich kann einem Laumann leidtun, der immer wieder einen kleinen Spickzettel zur Hand nimmt, kurz darauf guckt, aber nichts weiter zu den frisierten Zahlen sagt. Das übernimmt Lanz, die ungenauen Daten und Fakten, auf denen die Pandemiepolitik beruht, scheinen sein Lieblingsthema zu bleiben, als ob prozentuale Abweichungen in die eine oder andere Richtung angesichts der gewaltigen Zahlen an Neuinfektionen einen Unterschied machen würden.
Den erwarten Laumann und Strack-Zimmermann von der Einführung der Impfpflicht, beide sind dafür und Robin Alexander hat Verständnis, dass sich angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über Corona auch die Meinung von Politikerinnen und Politikern ändern kann. Wobei er von Bundeskanzler Olaf Scholz klare Ansagen vermisst. „Eine Regierung muss gerade in einer solchen Krise Führung zeigen“, sagt er. Lanz zeigt noch ein Video, aufgenommen von einem Bürger mit einer Handykamera. Zu sehen ist jemand, der seit Jahren nicht in der Sendung zu Gast war, obwohl er immer wieder angefragt wird. Christian Lindner, neuer Bundesfinanzminister, sagte im Wahlkampf im Sommer 2021, dass „Ungeimpfte auch im Herbst in Gaststätten gehen sollen, vielleicht mit der Voraussetzung eines negativen Tests“.
Der Donnerstag ist ein schöner Tag für Talkshow-Liebhaberinnen und -Liebhaber, weil man mehr als zwei Stunden gucken kann, ohne einmal umzuschalten. Der direkte Übergang von Maybrit Illner zu Markus Lanz ist auch deshalb interessant, weil er zeigt, wie unterschiedlich die beiden Formate sind. Hier die klassische Ansammlung von Meinungsbeiträgen, ein Nebeneinander von Argumenten, die mal aufeinander aufbauen und mal nicht; das ist Illner. Dort eine Talkshow, die in Wahrheit aus Einzelinterviews besteht und die immer öfter auch Volkshochschule sein will. Etwa, wenn der Physiker und Corona-Modellierer Dirk Brockmann kurz vor Mitternacht viel Zeit erhält, um Kurven mit Infektionszahlen und Hospitalisierungsraten zu erläutern. Das ist (auch) Lanz, der an diesem Abend einem Mann eine Bühne gibt, der in jeder normalen Talkshow mit seiner ruhigen Art Schwierigkeiten hätte, sich Gehör zu verschaffen. Eigentlich hätte Brockmann schon vor einer Woche zu Gast sein sollen, damals musste er absagen – wegen einer Corona-Infektion, trotz zweiter Impfung und einer Boosterung. „Ich war ein paar Tage richtig krank“, sagt der Wissenschaftler und das hilft, die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer zu später Stunde zu gewinnen und zu halten. Für die „Stimmung in der Bude“, für die normalerweise Markus Lanz zuständig ist, wenn er bei seinen politischen Gästen hart nachfragt, sorgt diesmal der anwesende Politiker selbst. Ralf Stegner sagt über Querdenkende und Impfgegnerinnen und -gegner: „Hätten Sie gedacht, dass Menschen außerhalb von psychiatrischen Einrichtungen solche Theorien verfolgen?“ Da fällt selbst Markus Lanz wenig zu ein: „Echt jetzt?“, sagt er, als könne er nicht glauben, was der Gast da gerade rausgelassen hat, ohne dass der Moderator es darauf angelegt hätte. Es bleibt Lanz’ Frage an Modellierer Dirk Brockmann, wer aus der heutigen Runde sich in den kommenden Wochen mit Omikron anstecken werde. Eine Antwort kann man seriös nicht geben, dafür stellt sich mir eine neue Frage: Wenn Markus Lanz in Quarantäne muss, wer moderiert dann Markus Lanz?
Das legendäre Gespräch mit Sahra Wagenknecht und ein altes Trauma
Am 27. Januar 2014 veröffentlichte Der Postillion unter der Überschrift „Unglaublich! Petition gegen Lanz hat nach jedem Medienbericht über ihren Erfolg mehr Erfolg“ folgenden kurzen Text:
„Journalisten im ganzen Land sind völlig aus dem Häuschen, weil eine Online-Petition mit dem Titel ‚Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!‘ nach jedem Medienbericht eine noch größere Zahl an Unterzeichnern aufweist als zuvor. (…) Inzwischen steht der Zähler der Petition schon bei 225.000. ‚Es ist unglaublich!‘, staunt Redakteur Stefan W. vom Onlinebranchendienst Meedia. ‚Die Petition auf openpetition.de hatte gerade einmal 7.500 Unterstützer, als ich den Artikel ‚Online-Petition gegen Markus Lanz’ mit Link auf die Petition verfasst habe.‘ Noch am selben Tag berichtete focus.de in einem Artikel mit Link auf die Petition von 9.000 Unterschriften, der Kölner Express vermeldete wiederum, dass sich bereits 12.000 Personen an der Petition beteiligten. (…) Weitere Zahlen lieferten an den Folgetagen neben vielen anderen ProSieben (27.000), Epoch Times (50.000), Süddeutsche Zeitung (80.000) und Spiegel Online (130.000). (…) Angesichts der Tatsache, dass die Anti-Lanz-Petition auch nach über 1.000 gut verlinkten Medienberichten stetiges Wachstum verzeichnen kann, planen die großen Medienhäuser Deutschlands die Einrichtung eines gemeinsamen Rechercheteams. Aufgabe der erfahrenen Medienjournalisten soll es sein, die Hintergründe des großen Erfolgs der Petition zu erforschen und in einer längeren Artikelserie zu dokumentieren.“
Wenn ein Satireportal sich über die Medien lustig macht, die sich über Markus Lanz lustig machen, weiß man, dass etwas falsch läuft. Oder, um es mit Josef Joffé, einem der Herausgeber der Zeit zu sagen: „Markus Lanz hat ein unprofessionelles, ja nervendes Interview mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht geführt, das – sagen wir’s so – der Wahrheitsfindung nicht gedient hat. Doch der eigentliche Skandal ist der Shitstorm, der nachdenkliche Menschen in die Depression treiben müsste (…) In analogen Zeiten hieß es: ‚Kauft nicht beim Juden!‘ Heute ist die Verwünschungskultur digital.“
Was war passiert? Mitte Januar 2014 hatte Markus Lanz in seiner Sendung Sahra Wagenknecht und den Stern-Journalisten Hans-Ulrich Jörges zu Gast, dazu noch Moritz Bleibtreu und den Lindenstraßen-Star Christian Kahrmann, aber die beiden Schauspieler interessierten damals keinen. „Frau Wagenknecht, schön, dass Sie da sind. Wie läuft es im neuen Bundestag?“, begann Lanz ein Gespräch, das fast 30 Minuten dauern und ziemlich ausufern sollte. Was allerdings weniger am Gastgeber als an seinem Journalistenkollegen liegen sollte. „Ich bin wahnsinnig heftig gewesen“, sagt Hans-Ulrich Jörges. Lanz fragte dagegen 2014 ähnlich, wie er es acht Jahre später in seinen rein politischen und von der Kritik gefeierten Runden tun sollte. „Wenn man sich die Sendung heute anschaut, wundert man sich, worüber sich die Leute damals so aufgeregt haben“, sagt Markus Heidemanns, Lanz’ Geschäftspartner und Chefredakteur. Ja, der Moderator war noch nicht so gefestigt und souverän wie 2022 und er hat es versäumt, Sahra Wagenknecht vor den lautstarken Attacken von Jörges in Schutz zu nehmen, einmal weist er sie sogar zurecht, sie möge den Journalisten ausreden lassen. So konnte der Eindruck entstehen, dass sich zwei Männer gegen eine Frau verschworen hatten, „dabei hatten Markus Lanz und ich uns nicht verabredet, sondern sind jeder auf seine Weise naiv in die Sendung hineingegangen“, sagt Jörges. „Die Wirkung auf das Publikum war trotzdem verheerend.“
Das Publikum, das war an diesem Abend vor allem Maren Müller. Die Betriebswirtin aus Leipzig, ehemaliges Mitglied der Linken-Partei, gehörte 2014 zu denjenigen, die Markus Lanz „eigentlich gern gesehen“ haben. Doch über sein „Verhör“ mit Wagenknecht, über dieses „ewige Nachhaken und Unterbrechen“ habe sie sich so aufgeregt, dass sie nach der Sendung nicht habe einschlafen können. „Was Lanz und Jörges gemacht haben, sah aus wie abgesprochen. Sahra Wagenknecht hatte nicht die Chance zu antworten“, sagt Müller. Sie setzte sich an den Computer und hackte eine Online-Petition mit der Überschrift „Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!“ herunter. Danach ging es ihr besser, Müller ist ein impulsiver Mensch, ihre Wut verflog fast so schnell, wie sie gekommen war. Die Petition im Internet blieb:
„Die Sendung Markus Lanz vom 16. Januar 2014 zeigte zum wiederholten Mal, dass Herr Lanz weder fähig noch willens ist, seinen Gästen gleichberechtigt Wohlwollen, Rederecht und Anstand entgegenzubringen. Ein Moderator, der offenbar große Probleme damit hat, dem politischen Spektrum links von der Mitte mit einem Mindestmaß an Höflichkeit zu begegnen, passt nicht in ein öffentlich-rechtliches Format. Der im expliziten Fall miserable Stil im Umgang mit Sahra Wagenknecht spiegelt in drastischem Maße wider, dass politische Neutralität für Lanz ein Fremdwort ist. Der Bildungsauftrag sowie die Wahrung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit wird durch die von Lanz demonstrierte tendenziöse Diskussionskultur grob vernachlässigt. Unzählige empörte Tweets zeigten bereits während der Sendung, dass viele Zuschauer es leid sind, von einem notorisch peinlichen Moderator durch diverse Sendeformate im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (in dem Falle ZDF) geführt zu werden. Ein Moderator, der nicht fähig ist, ohne Entgleisungen zu moderieren, den Offenheit und der Umgang mit abweichenden Meinungen offenbar überfordern, der Fragen stellt und die Antworten nicht hören will und der seine eigene Meinung stets über die seiner Gäste stellt, sollte nicht vom Beitragszahler alimentiert werden. Ich fordere das ZDF daher auf, sich von Markus Lanz zu trennen. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.“
Maren Müller hatte mit ein paar Hundert Unterstützerinnen und Unterstützern gerechnet, aber niemals damit, was tatsächlich passierte, nachdem sie, eine einzelne, unbekannte TV-Zuschauerin, ihrem Ärger Luft gemacht hatte. „Damals hatten sich die Medien auf Markus Lanz eingeschossen, die hatten den auf dem Kieker“, sagt sie. Die Petition sei ein willkommener Anlass gewesen, „den Moderator fertigzumachen“, die Stimmung gegen ihn sei endgültig gekippt, „das war eine Hetzjagd, die wollten ihn in Grund und Boden ätzen“. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier schrieb: „Markus Lanz. Das ist der Mann, den das ZDF, ein öffentlich-rechtlicher Sender, regelmäßig außerhalb des Kinderprogramms über Politik diskutieren lässt. Ein Mann, für den sich die Debatte um die richtige Europapolitik auf die Frage reduzieren lässt: Europa – ja oder nein. Ein Mann, für den sich die Debatte um die richtige Euro-Politik auf die Frage reduzieren lässt: Euro – rein oder raus. Und ein Mann, der dann wütend wird, wenn sich jemand nicht zu ihm in den Sandkasten knien will, um auf seinem Niveau zu diskutieren.“ Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erklärte im Tagesspiegel: „Lanz ist zur prominenten Symbolfigur geworden. Er steht für ein Flachland-Entertainment, das man eher bei den Privaten erwarten würde und nicht bezahlen will. Aus meiner Sicht ist die Anti-Lanz-Petition eigentlich ein doppelter Protest. Zum einen wird deutlich, dass die Debatte über Rundfunkgebühren keineswegs abgeschlossen ist und es eine gesellschaftliche Unzufriedenheit gibt, die nun am konkreten Fall aufflackert. Zum anderen ist der Unmut Ausdruck einer allgemeinen Inszenierungs- und Medienverdrossenheit. In der Wut auf den gebeutelten, gewiss erschütterten Moderator wird eine Art Inszenierungsekel greifbar: Mit einem derart schlecht geschauspielerten Politikinteresse, einem so fröhlich-kenntnisfreien Fragestil und einer so offensichtlichen Gier nach Aufmerksamkeit möchte man sich nicht konfrontiert sehen.“
Beim ZDF begann man ob solcher Worte unruhig zu werden, bis dahin hatte man dort nicht erlebt, dass sich „das Erregungspotenzial so Bahn gebrochen hat“. Tagelang überlegten die Verantwortlichen, ob Lanz sich für seine Gesprächsführung entschuldigen müsse, am Ende tat er das über den Mediendienst DWDL: „Wenn das energische Nachfragen zu rustikal und sogar persönlich war, dann bedaure ich das. Allein durch die Konstellation – also eine Frau gegen zwei Männer – entstand zwangsläufig der Eindruck: Das ist jetzt unfair. Weil aber Frau Wagenknecht jemand ist, der sich sehr kraftvoll wehren kann und das auch tat, habe ich das in diesem Moment nicht so eingeschätzt. Mein Fehler.“ DWDL-Chefredakteur Thomas Lückerath notierte: „Ich gebe zu: Ich habe den Knall nicht gehört. Irgendwann in den letzten anderthalb Jahren muss es aber passiert sein. Irgendwann in dieser Zeit scheint Markus Lanz zum Abschuss freigegeben worden zu sein.“
Das sah interessanterweise auch die Frau so, die im Mittelpunkt der Debatte stand. Das Gespräch mit Lanz und Jörges sei zwar aus dem Ruder gelaufen, „ich bin nicht zufrieden aus der Sendung gegangen“, sagt Sahra Wagenknecht. Aber die große Aufregung darum, die Anfeindungen gegen Markus Lanz habe sie überhaupt nicht verstanden: „Ich glaube, da spielten auch andere Dinge eine Rolle. Irgendwie kam das in so eine Stimmungslage rein, es war eine öffentliche Kampagne gegen Lanz, die ich nicht angemessen fand. Ich habe mich über die extreme Dynamik damals gewundert.“
Sahra Wagenknecht ist bis heute häufig Gast bei Markus Lanz, wo Politikerinnen und Politiker aller Couleur inzwischen deutlich härter attackiert werden, als sie es damals wurde. „Markus Lanz