Hinübergehen - Monika Renz - E-Book

Hinübergehen E-Book

Monika Renz

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Beschreibung

Monika Renz beschreibt klar und sensibel wie Schwerkranke ihr Sterben erleben: als Übergang und Schwelle hinüber in einen Zustand außerhalb von Schmerzen und Not. Sie weiß um die Angst im Davor, um ein Hindurch und um wunderbare Zustände im Danach. Sie spricht von Loslassen ebenso wie von Würde im Leiden. Im Zugehen auf den Tod vollzieht sich eine Wandlung der Wahrnehmungsweise. Diese aktualisierte und erweiterte Neuausgabe enthält einen ausführlichen Anhang und die neuesten wissenschaftlichen Studien zur Arbeit von Monika Renz. "Zu erkennen, was Sterbende wahrnehmen und fühlen, hilft auch den Angehörigen in ihrer oft schwierigen Gratwanderung zwischen Mitgehen und Loslassen. Ein Verstehen trägt auch dazu bei, dass Verzweiflung und Gefühle von Ohnmacht abnehmen zugunsten von seelischer Kompetenz und einem Staunen." (Monika Renz)

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Monika Renz
Hinübergehen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design
Umschlagabbildung: © ClimbOne/iStock
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung zur Neuauflage
Hinübergehen
Eine Wahrnehmungsverschiebung
Ein Denken in Seelenschichten
Was ist gutes Sterben? Sterbebegleitung als Annäherung an die Sprache Sterbender
1. Was geschieht im Sterbeprozess? – Eine These
2. Davor – Hindurch – Danach: drei Stadien der Wahrnehmungs­verschiebung, dreierlei Erfahrungen von Würde
2.1 Wandlung ist mehr als Weg
2.2 Würde inmitten von Leid – dreierlei Erfahrungsweisen
2.3 Davor (vor einer inneren Bewusstseinsschwelle) – zur Würde im Davor
2.4 Hindurch (über die Schwelle) – zur Würde im Hindurch
2.5 Danach (nach der inneren Bewusstseins­schwelle) – zur Würde im Danach
2.6 »Total Serenity« als Gegenqualität zu »Total Pain«
2.7 Erleben alle Sterbenden einen letzten Frieden?
3. Was ist Urangst? »Das Ich stirbt in ein ›Du‹ hinein«
3.1 Der Urangst im Sterben auf der Spur
3.2 Wem gilt unsere Angst? Bilder von Angst
3.3 Angst ist an ein Ich gebunden, außerhalb des Ichs gibt es keine Angst
3.4 Sterbeprozesse haben eine Richtung: durch Urangst hindurch in eine (spirituelle) Öffnung
3.5 Auch Prägung muss sterben
4. Anderes Hören: akustische und schwingungsmäßige Sensibilität Sterbender
Wie sich verhalten?
5. Symbolsprache: häufige Metaphern Sterbender
5.1 Sterbende erleben nicht logisch, sondern ana-logisch
5.2 Häufige Symbole – bedacht auf das Davor, Hindurch, Danach
6. Was hindert, was fördert das Sterben-Können? Schauplätze, in denen die Wahrnehmungs­verschiebung sichtbar wird
6.1 Angst
6.2 Kampf – eine Zumutung und Auszeichnung
6.3 Vom Sich-Aufbäumen zur Einwilligung
6.4 Familiäre Bereinigungen, Abschiede, Versöhnungen
6.5 Reifung
6.6 Auch Sterbebegleitung bleibt bisweilen auf der Strecke
7. Folgerungen betreffend Sterbebegleitung und würdiges Sterben
7.1 Zusammenfassung
7.2 Abschied von dieser Welt und ihren Reizen
7.3 Indikationsorientierte Sterbebegleitung und Palliativmedizin
7.4 »So sterben möchte ich nie« – Antworten gegen unsere Angst
7.5 Für ein würdiges Sterben – Menschenwürde auch im Leiden
7.6 Politische Debatte: Was steht auf dem Spiel?
7.7 Die Frage nach dem Geheimnis und den letzten Dingen
8. Mein Menschenbild: eine grafische Darstellung
9. Lehrbuch Sterbebegleitung: Übungen und Fragen zur Sensibilisierung
Literaturverzeichnis
Anhang
Arbeitsweise
Forschung mit 680 Sterbenden, Methode: Dying is a Transition (Renz et al., 2013)
Ergebnisse, Tabellen
Grafiken von Sterbeverläufen
Anmerkungen
Über die Autorin
Einleitung zur Neuauflage
Hinübergehen
Der Titel provoziert. Hinübergehen klingt wie ein Bekenntnis und ist es doch nicht. Das Wort legt nahe, dass nach dem Tod etwas komme. Gleichzeitig kann dieses Etwas aber auch das gänzlich Unbekannte, sogar das Nichts sein. Ob glaubend oder zweifelnd, es bleibt unserem Auge verborgen. Das Buch Hinübergehen handelt vom Zugehen auf dieses Unbekannte hin und von Gesetzmäßigkeiten eines solchen Überganges. Es nimmt »Befindlichkeiten an der Schwelle« in den Blick und lässt doch offen, was wir nie wissen können.
Zwischen der Erst- und Neuauflage dieses Buches liegen mehrere Jahre. Neue Themen sind in der Sterbebegleitung im Fokus, etwa die Erkenntnisse der Bedeutung von Traumata im Sterbeprozess (Glick, Cook, Moye & Pless Kaiser, 2018). Auch unsere Folgestudie, welche Sterbeverläufe graphisch sichtbar machte (vgl. Grafiken im Anhang), ist abgeschlossen (vgl. Renz et al., 2018). Diese Studie wurde durch die Pflegenden und das interdisziplinäre Team zweier Palliativstationen (ländliches Spital Münsterlingen, städtisches Spital St. Gallen) an insgesamt 80 Patienten durchgeführt (Methodologie vgl. im Anhang). Trotz neuer Entwicklungen ist die Frage nach dem guten Sterben dieselbe geblieben. Meine These der Wahrnehmungsverschiebung hat sich verdichtet. Sie ist in je individueller Nuance längst zur Beobachtung vieler Angehöriger und Fachleute geworden und das Buch Hinübergehen zum äußeren und inneren Begleiter. Es hilft im Verstehen.
Eine Wahrnehmungsverschiebung
Sterbende scheinen einmal oder mehrfach eine innere Bewusstseinsschwelle zu überschreiten, wobei sich ihre Wahrnehmung verändert: Sie verlassen schon vor ihrem Tod unser Empfinden in Raum und Zeit, in »Ich und Du«, in Subjekt und Umwelt mit all ihren Facetten; und sie tauchen immer wieder in eine gänzlich andere Erlebnisweise ein. Nahtoderfahrungen berichten von einer solchermaßen veränderten Wahrnehmung: von einem endlosen und nicht lokalen Bewusstsein (van Lommel, 2011). Endlos verweist auf ein Außerhalb von Zeitdimension und Limitierung. Nicht-lokal heißt: ohne räumliche Begrenzung und ohne körperhafte Verdichtung. Solche Erfahrungen beschreiben meist eine auffallend friedliche bis sogar heilige Atmosphäre (vgl. Film, Renz, 2018), sie erzählen von Liebe und Licht.
Nicht nur Menschen mit einem Herzstillstand, auch bereits Sterbende scheinen immer wieder in Berührung zu kommen mit diesem anderen Sein, wobei Bilder durchaus verschieden und persönlich sind. Wie allerdings dieses Sein zu deuten ist, ob als Ausdruck einer jenseitigen Wirklichkeit oder nur der Todesnähe, bleibt offen. Das Buch Hinübergehen setzt nicht zwingend den Glauben an ein Jenseits voraus, es ist kein Glaubensdogma, sondern eine Auseinandersetzung mit den Gesetzmäßigkeiten des letzten Überganges und dies selbst dort, wo es sich metaphorischer Bilder aus Bibel, Märchen und Riten bedient. Über die Todesnähe wissen wir aus Erfahrung und Forschung einiges, der Tod selbst ist Geheimnis. Lediglich das Staunen bleibt uns Lebenden als Anfrage an ein Darüber-hinaus.
Wie zeigt sich eine Wahrnehmungsverschiebung den Umstehenden (Fachleuten und Angehörigen)? Im erwähnten Folgeprojekt gingen wir davon aus, dass die Wahrnehmungsverschiebung manifest wird amsich verändernden Raum-, Zeit- und Körperempfinden(altered time/space/body experience) sowie amsich verändernden Beziehungs- und Sozialverhalten(altered social connectedness, vgl. Renz et al., 2018). Viele der involvierten Fachleute äußerten einen persönlichen Benefit genau im Sensibilisiertwerden für diese zwei Parameter. Veränderungen der Sterbenden, die früher namenlos blieben oder untergingen, konnten eingeordnet werden, so etwa das terminale Starren, das innere Fallen (vgl. Kap. 3; 5) oder der sich verändernde Geruch der Atmung. Interessant ist die neurowissenschaftliche Erkenntnis, dass sich die Wahrnehmung unseres Ich-Bewusstseins primär aufkörperlicher Ebene abspielt: als Wahrnehmung des Körpers in Raum und Zeit (vgl. Blanke, 2012).
Dieses Buch ist geworden aus den Einsichten meiner 20-jährigenBerufserfahrungmit über 1000 Sterbenden, aus der entsprechendenForschungmit 680 Patientinnen und Patienten (vgl. Anhang; Renz et al., 2013). Die Neuauflage ist darüber hinaus befruchtet von der genannten Folgestudie auf den zwei Palliativstationen, von den …zigSeminaren zum Thema im deutsch- und englischsprachigen Raum, von der Übersetzung des Buches ins Englische und den Kontakten aus dem englischsprachigen Raum. Die These der Wahrnehmungsverschiebung kann auch das dort viel diskutierte Phänomen Sterbebettvision (deathbed vision, Fenwick und Brayne, 2011) neu erklären.
Ein Denken in Seelenschichten
Wie können wir uns einem Sterbenden annähern, ihn auch im Sprachlosen besser verstehen? Erhellend ist für michein Denken in Seelenschichten,wonach wir unsere vielen Erfahrungen nicht als zufälliges Nebeneinander gespeichert haben, sondern systematisch übereinander ge­lagert (Topographie des Unbewussten, vgl. Renz, 2018; Jung et al., 1964/1979; Hark, 1988). Jüngere, bewusste Eindrücke haben sich über ältere, unbewusste gelagert, bspw. unsere vielen Ängste über das tiefer wurzelnde Urvertrauen (vgl. Abbildung Kap. 8). Wenn im Sterbeprozess unser Alltagsbewusstsein zunehmend in den Hintergrund tritt, sind viele halbbewusste und unbewusste Eindrücke dennoch da und aktiv. Sie erschließen sich uns nicht über kognitives Denken oder verbale Sprache, son­dern über andere Medien (innere Bilder, Symbole, Körpersprache, Musik, Segensspendung) und auch dies wahllos. Es geht in der Sterbebegleitung nicht darum, einem Sterbenden möglichst viele supportive Dienstleistungen anzubieten, sondern gezielt zu fragen: Wo, in welcher Seelenschicht, befindet er sich wohl? Wo liegt das aktuelle Problem, wie ist er ansprechbar?
Die Musiktherapeutin in mir hört und erkennt die direkte Empfänglichkeit vieler Sterbender für Schwingungen (vgl. Kap. 4) und eine primäre Angst, die sich ebenfalls über Schwingung manifestiert (vgl. Kap. 3). Über rezeptive Musiktherapie kann ich Nöte oft unterwandern und so an das tieferliegende Urvertrauen andocken. Elemente aus Körperpsychotherapie und Traumatherapie ergänzen meine musiktherapeutischen Interventionen (Übungen zur Körperwahrnehmung, vgl. Kap. 9). Die Tiefenpsychologin in mir nimmt Gesetzmäßigkeit in Sterbeprozessen wahr, die zu sehen sich manch anderer verbietet (vgl. Kap. 2, 3, 6). Selbst wirre Sprachfragmente Sterbender sind oft von innerer symbolträchtiger Logik (vgl. Kap. 5, C. G. Jung et al. 1964/1979). Wie in der Traumdeutung und aktiven Imagination nähere ich mich einer Be-Deutung und Auflösung fragend an. Kann sich eine Spannung lösen? Die Theologin in mir schließlich wagt die Brücke zu bauen vom schlichten Staunen am Sterbebett zu den großen Dimensionen von Schöpfung und Religion. Spirituelle Begleitung erschöpft sich nicht mit dem »einfach Dasein«, wenn Patienten spirituelle Bedürfnisse äußern (vgl. Renz, 2014). Sterbende formulieren selten mehr, und doch tut sich ihnen eine innere Welt auf. Habe ich das Sensorium dafür sowie die nötige Vorsicht? Theologie studierte ich im Zweitstudium, als ich bereits jahrelang in der Psychoonkologie und Sterbebegleitung am Kantonsspital St. Gallen tätig war, nachdenklich ob vieler offenen Fragen. Bis heute faszinieren mich biblische Aussagen und Bilder, doch ich lese diese aus der Optik der Sterbe- und Nahtoderfahrungen. Genau dann werden viele Worte und Bilder aus der Überlieferung der Religionen neu verständlich (vgl. Kap. 5.2; 7.6).1Mein Zugang, um das Wesen Mensch, Welt und Religion näher zu verstehen, sind die Sterbenden, deren Zeugnisse und spirituelle Er­fahrungen, nicht umgekehrt. Im Gegenüber eines Patienten darf es nicht um diese oder jene Weltanschauung gehen, sondern nur um ihn, seine Persönlichkeit, Not, Sehnsucht, um seinen Prozess. In der direkten Begegnung mit Sterbenden bin ich einfach Mensch.2
Was ist gutes Sterben? Sterbebegleitung als Annäherung an die Sprache Sterbender
Können wir beurteilen, was gutes Sterben ist? Ist es der plötzliche Tod nach einem Unfall oder Herzversagen? Monate todkranken Daseins und Leidens bleiben erspart. Umso unerbittlicher trifft es die Angehörigen, die keine Chance erhielten, sich zu verabschieden. Oder ist gutes Sterbenlangsames Gehen, das zugleich viel Leiden und Mit-Leiden zumutet? Stirbt gut, wer bis zum Schluss verdrängt? Oder ist gutes Sterben bewusst durchlebtes Leiden und Abschied-nehmen?
Gutes Sterben sei »der Abschluss von erfülltem Leben«, sagen einige. Es geschehe »im Einverständnis mit sich selbst«, meinen andere und nähern sich dem schon zu Lebzeiten an. Gutes Sterben sei »erlebtes Sterben«. Auch diese Antwort begegnet mir immer wieder, etwa im Gegenüber von Patienten, die es trotz Schmerzen ausdrücklich ablehnen, medikamentös in Schlafzustände versetzt – sogenannt sediert – zu werden. Sie wollen wachen Sinnes auf ihren Tod zugehen. Eine Frau formulierte, sie wolle »dabei sein, wenn es geschieht«. Gutes Sterben sei schmerzloses Sterben, sagen wiederum andere, die sich am liebsten möglichst frühzeitig und dauerhaft sedieren lassen möchten. Mit dem Risiko, dass Angehörige sie in diesem Zustand bisweilen nicht mehr erreichen; und auf die Gefahr hin, dass ein seelischer oder spiritueller Prozess immer wieder unterbrochen wird.3Oft geht gutes Sterben einher mit sorgfältiger medizinischer Entscheidungsfindung. Und was ist gute Sterbebegleitung? Palliativmedizin, Palliativpflege, Hospizdienste haben sich in den vergangenen Jahren sehr entwickelt, zunächst vor allem im Menschlichen, in der Kommunikation und in der Symptomkontrolle (vgl. Pantilat, 2009; Pellegrino, 2002). Das me­di­zinische Versorgungssystem ist trotz regionaler Unterschiede engmaschiger geworden, das Wissen um Behandlung und deren Grenzen größer. Ärzte nehmen aber auch die Gefühle der Patienten ernst, ihre Hoffnungslosigkeit wie ihre Hoffnung, ihre Weltanschauung und Sehnsucht nach Spiritualität. Auf Würde und Sinn fokussierte sowie familienzentrierte Therapiekonzepte sind entstanden (vgl. Chochinov et al., 2005; Breitbart et al., 2010; Lo et al., 2016; Rosenfeld, Cham, Pessin und Breitbart, 2018; Gaeta und Price, 2010).
Trotzdem ist der Blick nach wie vor einseitig auf die formulierbaren und bewussten Bedürfnisse Sterbender ausgerichtet. Sterbebegleitung wurde abgeleitet von dem, was für unser Auge sichtbar ist, und definiert aus der Optik eines rationalen und selbstbestimmten Ichs. Das erweckt den Anschein, als könne Sterben »gestaltet« werden. Zahlreiche nonverbale Signale, unbewusste Prozesse und Veränderungen im Erleben Sterbender bleiben unberücksichtigt. Und komplexe Situationen wie »Total Pain« (totaler Schmerz) werden zwar gesehen, aber oft nicht verstanden (vgl. auch Strasser, Walker und Bruera, 2005).
Was fehlt, ist die Innenperspektive der Sterbenden selbst. Zwar nehmen neuere Forschungen das Moment der Wandlung vor dem Tod durchaus auf und bedenken etwa körperliche Veränderungen und Symptome als Hinweis, dass jemand in Kürze sterben wird (vgl. Domeisen et. al., 2013; Hui et. al., 2015). Oder sie fragen, wie der nahe Tod und wie Transzendenzerfahrungen von Patienten erlebt (Kellehear, 2014; Kuhl, 2002) und kommuniziert wurden (vgl. Arnold und Lloyd, 2014). Phänomene wie Angst (Kolva et al., 2011), spirituelle Not (Puchalski, 2012; Selman et al., 2018; Steinhauser und Balboni, 2017) oder Sterbebettvisionen (Fenwick und Brayne, 2011) wurden erforscht, wenngleich »nur« isoliert be­trachtet. Das ist ein Anfang – und doch mangelt es am Sinn für den Sterbeprozess als ein Ganzes, einschließlich der Frage nach dessen Etappen und innerer Richtung. Was beinhaltet der Wandel, was musslosgelassen, was willgefundenwerden? Und dies nicht formuliert aus der einengenden Sichtweise dieser oder jener Weltanschauung. Die Frage gilt vielmehr den Wesenszügen und Wahrnehmungen der Sterbenden selbst, ihren Ungelöstheiten, Verzweiflungen sowie ihrem für uns unverstehbaren Glücklich-sein. In solch vortastendem Begleiten braucht es nebst Empathie und guter Kommunikation einWissen um Gesetzmäßigkeiten, auch im Seelisch-Geistigen. Zu verstehen, bewahrt vor einem Zuwenig an Betreuung wie auch vor einem Zuviel bis hin zu Wellnessangeboten, welche den sich verändernden Bedürfnissen Sterbender vielleicht gar nicht mehr entsprechen.
Dieses Buch fordert eine indikationsorientierte Sterbebegleitung (vgl. Kap. 7.3). Wir brauchen nicht nur die Perfektion medizinischer Systeme und immer mehr Maßnahmen, sondern einen etwas anderen, den Patienten entsprechenden Blick. Zu erkennen, was Sterbende wahrnehmen und fühlen, hilft Ärzten, Pflegenden, Therapeuten, Seelsorgern und Laienhelfern, aber auch Angehörigen in ihrer oft schwierigen Gratwanderung zwischen Mitgehen und Loslassen. Gefühle von Hilflosigkeit weichen so einem Respekt, einer intuitiven seelischen Kompetenz und einem Staunen. Ziel dieses Buches ist es, mein »Wissen« rund um den Sterbeprozess einer breiten Öffentlichkeit vorzulegen. Es möchte Fachleute ebenso ermutigen wie Angehörige und interessierte Laien. Es formuliert die These einer Wahrnehmungsverschiebung im Sterbeprozess und beschreibt, wie dadurch eine neue Erfahrung von Würde entsteht (vgl. Kap. 1; 2). Das Buch bietet Ideen darüber, was sich hinter konkreten Ängsten oder einem Zurückschrecken verbergen könnte. Das Stichwort lautet »Urangst« (vgl. Kap. 3); es geht um eine Schwellenangst (vgl. auch Dunkelzone in der Abbildung Kap. 8). Das Buch geht auch derSpracheSterbender nach und ­versucht, an die akustisch-musikalische (Kap. 4) wie auch an die symbolisch bildhafte Ebene des Patientenerlebens heranzuführen (vgl. Kap. 5). Hier findet sich ferner eine Auflistung von häufigen Metaphern und möglicher Deutung. In all dem berührt das Buch auch die für alle Religionen wichtige Frage nach den letzten Dingen (vgl. Kap. 7.7). Die Theologie spricht von Eschatologie (vgl. Kehl, 1986). Eschatos, griechisch, bedeutet das Letzte, auch Letzt­liche. Das Buch versucht dies anhand der »Bilder von Sterbenden und für Sterbende«. Vielleicht trägt es dazu bei, uraltes apokalyp­tisches Gedankengut von Kulturen und Religionen besser zu erahnen.
Wenn hier Symbole und Bilder insbesondere aus dem mir vertrauten Jüdisch-Christlichen aufgenommen werden, so sind Vertreter anderer Kulturen aufgefordert, die Bilderihrer Religion auf deren Bedeutung für Sterbende hin zu reflektieren und einzubringen. Aus Gründen der Rücksichtnahme auf andere Traditionen und aus Gründen der Werthaltung der Patienten auf die Aufarbeitung solcher Bilder zu verzichten, scheint mir keine Alternative zu sein. Denn viele Sterbende (religiöse wie nichtreligiöse) leben in diesen Bildern von Angst, Kampf, innerem Drängen und einem letzten Frieden. Sie warten auf Resonanz.
Mit Blick auf die spirituelle Begleitung Schwerkranker unterscheidet dieses Buch zwischen zwei Ebenen und formuliert entsprechend zweierlei Herausforderungen:
1. eine offensichtliche, obere Ebene mit bedürfnisorientierter und individueller Ausrichtung
2. eine verborgene, darunterliegende, kulturprägende und archetypische Ebene (vgl. Abbildung Kap. 8, Traumbewusstsein und Unbewusstsein), deren Symbolik nach einem Verstehen ruft. Diese Ebene verweist auf die Frühstadien menschlicher Entwicklung und auf das, was an Erbe daraus wurde.
Die hier vorgestellte Wahrnehmungsverschiebung und Bewusstseinsveränderung im Sterben ist in der unteren Ebene anzusiedeln. Auch wenn Bilder und Worte individuell und kulturspezifisch sind, ist das Phänomen an sich doch von religions- und kulturübergreifender Brisanz.
Im Praktischen ist das Buch aber auch Hilfe für die vielfältige Entscheidungsfindung (wie viel medizinische Behandlung, wo sterben, welche Begleiter beiziehen, usf.), die meist schon vor dem eigentlichen Sterbeprozess beginnt, etwa in Patientenverfügungen4. Und es vermittelt Anstöße zur Bewusstwerdung rund um die Frage, was menschenwürdiges Sterben sei. Der Ausdruck »selbstbestimmtes Sterben« ist irreführend. So wichtig Selbstbestimmung zu Lebzeiten im Gegenüber von Menschen und (medizinischen) Systemen ist, so sehr kommt diese doch an ihre Grenze angesichts von Natur, Schicksal, Tod und der Frage nach einem Darüber-hinaus. Sterben ist vergleichbar mit der Geburt; es »geschieht« schlussendlich. Wenn ich mich einem Patienten gegenüber sehe, der selbstbestimmtes Sterben (etwa Suizidbeihilfe) wünscht, höre ich oftmusikalischhin:Wiesagt er mir das, in welchem Tonfall? Höre ich Angst? Oder verbirgt sich hinter einem Sterbewunsch eine Anspruchshaltung, als hätten wir Sein, Leben und Sterben in Besitz (vgl. Kap. 7.6)? Im Leben wie im Sterben gibt es, ob ausgesprochen oder nicht, eine Alternative zwischen zwei Existenzweisen: Haben versus Sein, Angst versus Vertrauen, Macht im Ich versus Beziehung, welche das Sich-Einlassen und das Zulassen von Angewiesen-Sein einschließt (vgl. Renz, 2017). Das vorliegende Buch enthält wichtige Antworten gegen die Angst und ist darin Beitrag in der aktuellen Debatte um Suizidbeihilfe und selbstbestimmtes Sterben (vgl. Kap. 3; 6.1; 7.4–7.6).5 Die Neuauflage vermag die Aussagen gegen die Angst mit den Grafiken sogar zu illustrieren (vgl. Anhang). Und sie leitet mittels konkreter Übungen zur eigenen Sensibilisierung für Sterbebegleiter und interessierte Angehörige an und ist darin auch Lehrbuch (vgl. Kap. 9).
Nochmals frage ich: Was ist gutes, würdiges Sterben? Kann diese Frage aus der Sicht ichbezogenen Denkens und Wünschens überhaupt beantwortet werden? Steht die so gestellte Frage nicht im Widerspruch zu dem, was Sterben natürlicherweise ist: etwas unserem Wollen Vorenthaltenes, das dem sterbereifen Ich schlussendlich geschenkt wird? Jedes Sterben ist individuell, Zumutung und Erlösung in einem. In gewisser Hinsicht zu früh und in anderer zugleich zu spät. Immer bleibt etwas halb ausgesprochen oder halb abgeschlossen zurück, immer ist da – nebst allem Ergreifenden – in irgendeiner Hinsicht auch ein emotionaler Ab-Bruch. Sterben ist Bruch. Der Tod beendet Leiden und bringt gleichzeitig neues Leiden für die trauernden Angehörigen. Sterben ganz ohne Leiden gibt es ehrlicherweise nicht. Es gibt aber auch kein Sterben ohne Mysterium, ohne religiösen oder nicht-religiösen letztlichen Prozess ins Unbekannte hinein. In größtem Respekt vor der Persönlichkeit des Dahinscheidenden geschieht hier uns Begleitern doch Mal um Mal ein Stück Initiation.
Mein erster Dank gilt unseren beiden Palliativmedizinern PD. Dr. Florian Strasser und Dr. Daniel Büche. Sie sind mir in großer Pionierarbeit beigestanden, sodass es überhaupt möglich wurde, diesen Ansatz zu entwickeln! Mein großer Dank gilt ferner meinem früheren Chef Prof. Dr. Thomas Cerny, meinem heutigen Chef Prof. Dr. Christoph Driessen, Chefarzt Onkologie, Kantonsspital St. Gallen, und meiner Forschungsassistentin Dr. Miriam Schütt Mao und meinem Study-nurse Oliver Reichmuth. Ich danke meinem therapeutischen Team (Michael Peus, Anne Duveen, Dr. Christian Lenggenhager, Dr. Urs Rüegg), Dr. Birgit Traichel, Palliativmedizinerin Münsterlingen, Dr. Rafael Sauter, Biostatistiker, der Palliativpflegenden Mona Mettler und den Palliativstationen St. Gallen und Münsterlingen. Ich danke meiner Supervisorin Dr. Gisela Leyting, dem Kardiologen und Nahtodexperten Dr. Pim van Lommel, dem Theologen Prof. Dr. Roman Siebenrock, meiner Schwester und Philosophin Prof. Dr. phil. Ursula Renz, meinem Bruder Dr. Patrick Renz, Leitung Migration Schweiz, und meiner Mutter Helen Renz. Ein spezieller Dank gebührt allen Patienten und Angehörigen! Ich danke Dr. Rudolf Walter und Tino Heeg vom Verlag Herder für ihre große Unterstützung im Dienste der Sache dieses Buches. Mein persönlicher Dank geht an meinen Mann Jürg.
Monika Renz, St. Gallen, im Sommer 2018.
1.  Was geschieht im Sterbeprozess? – Eine These
Die Quintessenz meiner zwanzig Jahre Sterbebegleitung am Kantonsspital St. Gallen kann in nachfolgender These zusammen­gefasst werden. Ihr liegen phänomenologische Beobachtungen von Zuständen, Aussagen und nonverbalen Signalen Sterbender zu­grunde, auch von Reaktionen auf Interventionen, sowie deren wissenschaftliche Auswertung in vierForschungsprojekten6.
Die These lautet: Sterbende durchlaufen eine Wahrnehmungsverschiebung (transformation of perception) und einen Übergang (transition). Im Zugehen auf den Tod tritt nicht nur das Ich, sondern auch die uns selbstverständliche subjekthafte, ich-bezogene Wahrnehmung (was ICH wollte, dachte, fühlte, alle Bedürfnisse im Ich, Ängste im Ich) in den Hintergrund. Dasselbe gilt für die Reaktionsmuster als ein Ich bis hin zu unseren Reflexen und Instinkten.
Eine andere Welt, ein anderer Bewusstseinszustand, an­dere Sinneserfahrungen und eine andere Erlebnisweise rü­cken in den Vordergrund und all dies unabhängig von Weltanschauung und Glaube. Die Wahrnehmungsverschiebung verändert auch unsere Erfahrung von Sein, von Beziehung und von Würde. Sterben ist ein Prozess.
Erläuterung: Der Tod als Tor hinein in einen Bereich, über den wir nichts wissen, scheint bereits im Vorfeld des Todes wirksam zu werden und eine fundamentale Wandlung der menschlichen Persönlichkeitsstruktur und des menschlichen Bewusstseins voranzutreiben. Das Geheimnis des Todes ist, den Reaktionen Sterbender zufolge, ebenso anziehend wie furchtauslösend und vor allem unumgänglich. Sterben beinhaltet mehr als ein körperliches Ableben, mehr auch als ein seelisch-geistiger Zerfall. Hier ereignet sich etwas, das sich dem Auge des Zuschauers entzieht.
Genauer betrachtet, scheint ein Ich-Tod (Begriff von Stanislav Grof) dem eigentlichen Tod vorauszugehen. Mit Ich-Tod ist der Untergang im Ich gemeint: Nicht nur geht das Ich verloren, sondern auch alles, was an dieses Ich gebunden war und zu diesem Ich gehörte. Alles Wahrnehmen bezogen auf ein Ich (ich sehe, ich höre), alles Empfinden als ein Ich (ich habe Angst, Freude, Hunger), alles Senden und Differenzieren als ein Ich (ich spreche, ich unterscheide, ich will) kommen an ein Ende. Das kann man sich nicht umfassend genug vorstellen: Das Ich als Subjekt aller Wahrnehmung und allen Denkens, als zentrale Steuerungsinstanz im Menschen, wird unwesentlich. Stattdessen taucht der auf sein Sterben zugehende Mensch ein in Zusammenhänge und Wahrnehmungen von ganz anderer, ganzheitlicher Art. Das Wort »ganzheitlich« darf dabei nicht verkürzt – etwa reduziert auf das Ganze von Körper, Geist und Seele – begriffen werden, sondern meint dasGanze schlechthin, welches Materieund Energie, Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf umfasst. Ein anderer Begriff für das Ganze ist das Göttliche. Die Annäherung der Sterbenden ans Ganze geschieht nicht kontinuierlich, sondern – wie aller seelisch-geistige Prozess – sprunghaft, meist in mehrfachem Hin und Her, Vor und Zurück. Der Prozess führt durch Krisen hindurch (krisis, griechisch, bedeutet »Meinung, im Sinne von: eine mit einer problematischen Umwendung verbundene Entscheidung«). Es geht manchmal nicht an einer eigentlichen Katastrophe vorbei. Doch der Sterbeprozess bleibt nicht am Tiefpunkt stehen, gerade nicht, sondern führt von innen heraus in ein Neues, Künftiges. Das entspricht dem ursprünglichen Wortsinn: Katastrophe meint eine radikale »Hindurchwendung«, Umwendung (kata, griechisch, heißt: herab, nieder, völlig, über, hindurch).
Genau die Sterbenden vermitteln uns eine Ahnung darüber, was jenseits dieser unsichtbaren Bewusstseinsschwelle und außerhalb der Zone des Ichs geschieht – ja, dass da überhaupt etwas geschieht. Einige künden staunend von etwas Unbeschreibbarem: »Ohhh«. Andere formulieren oder bestätigen kognitive Worte wie »Durchgang«, Dritte erleben in Bildern wie etwa »Ich falle« oder in apokalyptischen Dimensionen: »Das Schwarz frisst mich auf« und später: »Jetzt wird das Schwarz von den Engeln besiegt«. Viele Sterbende werden irgendwann – unverstehbar – einfach friedlich. Bisweilen geht ein inneres Leuchten von ihnen aus. Ich spreche in all dem von einer spirituellen Öffnung (vgl. Renz, 2008).
Was in solchermaßen ich-fernen Zuständen geschieht, so mein Fazit, hat am ehestenzu tun mit dem Phänomen Wahrnehmung. Etwa können sich die Dimensionen von Zeit und Raum/Ort so stark verändern, dass das Ich nicht folgen noch verstehen kann. So gibt es Erfahrungen von Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit, von der Überwindung aller räumlichen Begrenzung und zeitlichen Ein­engung. Dann erfahren Menschen eine eigentümliche Freiheit, einen überpersonalen Sinn, ein Licht oder eine Atmosphäre von Liebe, Friede und Ehrfurcht (vgl. Moody, 1988; Parnia, 2006). Kurz davor und danach aber ist es, wie wenn das Neue noch nicht da und das Alte schon weit weg wäre. Der Grenzbereich hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten und typischen Erlebnisweisen (vgl. Renz, 2014, Kap. 2). Menschen erfahren sich dann etwa als in engen bis verzerrten Räumen gefangen oder in der Monotonie verloren. Das löst existenzielle Angst und Verwirrung aus (vgl. Greyson und Busch, 1992). »Unverständlich!«, kommentiert ein Sterbender seinen Versuch, dies zu beschreiben. »Hier wird geschossen!«, schreit ein anderer. Ein Dritter zeigt auf die tickende Uhr und ruft: »Das da … bringt mich um.« Eine Patientin träumte: »Hier bleibt dir nur so viel Platz, wie dein Körper braucht, kein Zentimeter mehr.«