Grenzerfahrung Gott - Monika Renz - E-Book

Grenzerfahrung Gott E-Book

Monika Renz

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Beschreibung

Viele Schwerkranke Menschen und Menschen in Not machen intensive spirituelle Erfahrungen. Gotteserfahrung ist Grenzerfahrung: Sie ereignet sich bald im Durchstehen innerer und äußerer Krisen, bald im Loslassen, bald im tiefen Finden seiner selbst. Gnadenerfahrung von Berufung, Sinn, Liebe,  Heimat. Monika Renz berichtet eindrücklich aus ihren Erfahrungen an Kranken- und Sterbebetten und  ihrer Begleitung von Menschen mitten im Leben. Sie zeigt Wege moderner Gottsuche auf, und erzählt, was Menschen dabei erleben. Gott wird ganz von der Erfahrung her erahnt: als Sein oder Kraft, als Bundespartner und Beziehung.  Mit vielen Beispielgeschichten und einem Überblick über spirituelle Erfahrungen. Ein ergreifendes Buch.

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Die Autorin

Monika Renz, , Dr. phil., Dr. theol., Musik- und Psychotherapeutin FSP, leitet seit 1998 die Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen. Aufgrund ihrer praktischen Erfahrung und ihrer Forschungstätigkeit in den Bereichen Sterben, Spiritualität, Versöhnung und Vergebung sowie in der tiefenpsychologischen Exegese gilt sie als Pionierin der Spiritual-Care-Bewegung. Ihre Veröffentlichungen finden große Beachtung; internationale Kurs- und Vortragstätigkeit.www.monikarenz.ch

Monika Renz

Grenzerfahrung Gott

Dem Geheimnis nahe inLeid und Krankheit

Vollständig überarbeitete Neuausgabe 2022

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2003

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagmotiv: 1971yes/iStock

Satz: ZeroSoft, Timisoara

Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-451-03322-3

ISBN E-Book 978-3-451-82685-6

Inhalt

Einleitung

1. Gotteserfahrung – Erfahrung von Gnade

1.1 Ist Gott erfahrbar?

1.2 Ein Phänomen – verschiedene Namen

1.3 Merkmale spiritueller Erfahrung

2. Zwischen zwei Welten: der Grenzbereich und seine Gesetzmäßigkeiten

2.1 Drei Erfahrungsberichte

2.2 Was kennzeichnet den Grenzbereich?

2.3 Musik und Schwingung prägen den Grenzbereich

2.4 Aushalten lernen

3. Dunkelbereich und Kampf als Phänomene des Grenzbereiches

3.1 Im Grenzbereich scheiden sich die Geister

3.2 Ort geistiger Kämpfe

4. Wer oder was hilft im Durchschreiten der dunklen Nacht?

4.1 Wege der Gottsuche heute

4.2 Den Gott, den wir suchen, finden wir nicht vor

4.3 Loslassen, anheimgeben, finden – Liebe bewirkt

4.4 Stellvertretendes Hoffen

4.5 Die dunkle Nacht: Erfahrung heutiger Menschen, Erfahrung von Mystikern?

5. Die Chance des Grenzbereichs Gott heißt Wandlung

5.1 Berührt, ergriffen, bewegt: wovon?

5.2 Sehnsucht nach Heil-sein inmitten von Unheil

5.3 Vom Heimweh nach dem Absoluten

5.4 Umkreisung der einen Mitte

5.5 Topographie des Unbewussten

5.6 „Ich war außerhalb aller Angst“

5.7 Im Rundum von Gott geschieht Wandlung: Vom Mangel zur Erfahrung von Fülle

5.8 Wandlung: Schuld, die zur Wahrheit findet

5.9 Wandlung: Wunden können verheilen

6. Ein Rückblick auf eine Studie, deren Fragen und Zahlen

6.1 Transzendenzerfahrung bewirkt

6.2 Sind Transzendenzerfahrungen abhängig von der religiösen Einstellung?

6.3 Realitätsprüfung: „Wie weiß ich, dass es eine spirituelle Erfahrung war?“

6.4 Frage der Sakramentalität

6.5 ‚Es‘ findet statt im Außergewöhnlichen, im Alltäglichen, im kognitiven oder kreativen Durchbruch

6.6 Kann man Erfahrungsinhalte kategorisieren?

7. Fünf Erfahrungsweisen des Einen, Heiligen Ganzen – zwei Erfahrungsweisen am Rande

7.1 Engel und heilige Atmosphäre

7.2 Verlorenheit, Dunkelerfahrungen

7.3 Einheits- und Seinserfahrung

7.4 Gegenüber-Erfahrung

7.5 Der väterlich-mütterliche Gott

7.6 Der ‚Gott inmitten‘ – Erfahrung von Präsenz, Christus

7.7 Geist-Erfahrung

8. Religionsdialog: Ist Gott „Sein“ oder „Beziehung“?

8.1 Gefragt sind vorerst die Fragen

8.2 Religionen sind existenzielle Antwort – doch worauf? Kriterium ‚Prägung‘

8.3 Loslassen und Finden – Kriterium ‚Beziehungsfähigkeit‘

8.4 Sein sowie Beziehung – Kriterium ‚Gnade‘

8.5 Anfrage an das Gottesbild – Kriterium Sinnhaftigkeit

8.6 Wiederannäherung an die Kultur und Religion der Herkunft

8.7 Gottesbilder im Werden – das Kulturspezifische ist auch Potential

8.8 Gotteserfahrungen von Vollendung, Integration und Ziel

9. Spirituelle Begleitung: Beruf und Berufung

9.1 Spiritual Care

9.2 Seelsorge oder Psychotherapie am Krankenbett?

9.3 Umgang mit schwierigen Situationen – Ideenkartei

9.4 Spirituelle Begleitung auf dem Prüfstand

9.5 „Ich sehe das Leiden – ich glaube die Liebe“ (Sölle, 1995)

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Wer ist der „Gott von gestern“ (Bundschuh-Schramm, C., 2020) Und gibt es den Gott von morgen? Gott ist kein Gott der Vergangenheit, den man nur zu biblischen Zeiten wirklich hätte erfahren können. Er ist auch nicht der, der erst noch kommen wird.

Gott ist, der „da“ ist, wie zu Mose Zeiten: der „Ich-bin-der-ich-bin-da“. Damals, jetzt, immer. Das ist die Verheißung der Mystiker zu allen Zeiten. Und es ist Erfahrung auch heute, über die Schranken von Religionen hinaus. Gotteserfahrung geschieht und dies vornehmlich an einer äußersten oder innersten Grenze. Das lehrten mich viele Patienten und Patientinnen. Dorthin wagen wir uns meist nicht von alleine vor. Wir werden dorthin gespült, etwa in Krankheit und schweren Krisen, oder wenn Gott uns sachte mitten im Leben ruft. Gott hat uns etwas zu sagen. Von der Grenze aus können wir ihn hören, uns angerufen erfahren und neu ins Leben zurückkehren oder getrost dem Sterben entgegensehen. Im Folgenden achte ich auf das, was Menschen unserer Tage mit Gott – oder als Gott – erfahren und vermissen. Dabei habe ich kranke und leidgeprüfte Menschen vor Augen, aber auch andere, die mitten im Leben eine wegweisende Gotteserfahrung machen durften.

In vielen Gesprächen im Anschluss an Vorträge wurde ich gefragt, ob denn spirituelle Erfahrung – und darum geht es in der Gotteserfahrung – nur eine Sache von Sterbenden sei. Oder ob sie sich nur ereigne zu Beginn des Lebens, im Mutterleib, in den ersten Kindermonaten, in Momenten des unbegreiflichen Glücks. Nein, Gott ist immer gegenwärtig, selbst in seinem Schweigen. Die Erfahrung mit oder von Gott ist immer möglich. Doch der Mensch rückt bisweilen weit weg von ihm und damit auch vom Ort, wo das Unaussprechliche sich ereignet. Spirit heißt vom Wort her „Geist“, „Pneuma“. Der Begriff kommt von „atmen“, „wehen“, „riechen“. Spirituell heißt „geistgewirkt“. Spirituelle Erfahrungen werden uns bisweilen auch mitten im Leben geschenkt. Gleichgültig, ob man dem dabei erfahrenen Einen, Heiligen, Ganzen „Gott“ sagt oder anderswie.

Das vorliegende Buch erzählt solche Erfahrungen und beschreibt, wie und unter welchen Gesetzmäßigkeiten es dazu kommt, im Kranksein und auch in tiefen Grenzerfahrungen mitten im Leben. Das Buch versucht zu zeigen, um welche Grenze es da geht, und in welcher Sprache da vornehmlich gesprochen oder besser erlebt wird. Träume und Märchen lehren uns einiges dazu, die Wüstenväter sowie kundige Seelenführer unserer Tage desgleichen. Menschen also, die sich zugleich vor dem äußersten Geheimnis noch fürchten und doch die Engelsbotschaft „Fürchte Dich nicht“ leben, weil sie Gott, dem Göttlichen oder Absoluten trauen.

Das hier vorliegende Buch durchlief mehrere Etappen. Ursprünglich entstand es aus der Nähe zu vielen Patienten und Patientinnen in ihren eindrücklichen Leidenswegen und auch aus einem Forschungsprojekt mit dem Namen: „Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit“. Darin, wie auch im Bekenntnis zu Gott, bewegte es. Allein schon die dort erstmals dargelegte Erfahrungskategorie vom „Gott Inmitten“ löste in der Leserschaft Wogen aus. Diese Erfahrungskategorie umschreibt das Unsagbare, welches sich häufig einstellt, wo Menschen eine herausragende menschliche Liebe erfahren durften. Sie schließen daraus auf etwas Grundsätzliches. Ich habe auf keines meiner Bücher so viele Reaktionen erhalten wie auf dieses. Von kirchlichen ebenso wie von kirchenfernen Kreisen. Von Menschen, die Gott erfahren hatten, wie von solchen, die ihn vermissten oder gar abgeschrieben hatten. Von leidenden, wütenden und gelassenen Menschen, von Kranken wie Gesunden.

Diese Neuauflage ist vollständig neu durchgearbeitet. Mitte des Buches sind, wie schon bei der ersten Auflage, die fünf Erfahrungsweisen des Einen, Heiligen, Ganzen (Kap. 7.3–7.7). Aber auch das „Durchschreiten der „dunklen Nacht“ blieb unvermindert bedeutsam (Kap. 4.1–5). Mehr Gewicht als in früheren Auflagen wurde der Grenze als „Grenze“ gegeben: Sie ist Chance größtmöglicher Wandlung (Kap. 2–7.2). Die Brisanz der spirituellen Erfahrungen heutiger Menschen für den Dialog über Mystik und über die Religionen versuchte ich schärfer herauszuschälen (Kap. 8). Der spirituellen Begleitung wurde ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 9). Für Seelsorger und Therapeuten im Speziellen hilfreich kann die Ideenkartei sein (Kap. 9.3.). Die Frage der spirituellen Begleitung ist ähnlich und anders angedacht als im Buch „Hoffnung und Gnade“, welches einst aus demselben Patientenmaterial entstand, nachdem „Grenzerfahrung Gott“ nicht mehr aufgelegt wurde. In der vorliegenden Ausgabe stärker entfaltet wird die Bedeutung zwischenmenschlicher Liebe. Liebe bewirkt, doch welche Liebe? Anderes – vieles – wurde gekürzt. Auch in Beispielen. Wenn die Menschen, die hinter diesen eindrucksvollen Beispielen standen, mir nach all den Jahren noch gegenwärtig waren, verwendete ich manch ein Beispiel nochmals, nur dann. Neue Beispiele kamen hinzu. Auch eine Darstellung zur Topografie des menschlichen Unbewussten wird hier, in Anlehnung an das Buch „Angst verstehen“, gebracht. Dies in der Hoffnung, dass das Phänomen der „Grenzerfahrung Gott“ so besser verstanden werde.

Ich selbst bin in all diesen Jahren vielleicht ein wenig gelassener und zugleich radikaler geworden. Ich brauche heute auch persönlich nicht weniger, sondern noch mehr Gott: GOTT. Gott aber anders. Wer, was, wie dieses äußerste Geheimnis sei, wird hier ganz aus der Erfahrung heraus erahnt. So braucht es meines Erachtens auch kein Zurücknehmen von uns selbst in unserer Religiosität, es braucht keine religionslose Religion. Es ist ein Glauben aus Erfahrung. Und eine solche steht für sich und macht ergriffen, vor Urzeiten wie heute. Die Art und Weise, wie heutige Menschen dieses ewige Geheimnis erfahren, scheint bisweilen traditionellen Gottesbildern erstaunlich zu entsprechen und dann wieder nicht. Möge das Buch begeistern, trösten und uns im Umgang mit unseren eigenen spirituellen Erfahrungen ein Stück weit begleiten.

Mein erster Dank geht an Herrn Simon Biallowons vom Verlag, der den Mut hatte, das vergriffene Buch nochmals neu aufzulegen. Ich danke meinen Mitstreitern im Religiösen: Roman Siebenrock, Adrian Schenker, Roman Giger, Paul Zulehner, Regina Stillhart, Helen Renz, Patrick Renz. Ich danke den mit mir Verbündeten im Beruf, im Leiden und im Leben: Peter Fenwick, David Lorimer, meinem Mitarbeiter Claudio Gloggner, meiner Mitarbeiterin Anne Duveen, meiner früheren Forschungsassistentin Miriam Schütt Mao. Mein großer Dank geht an die vielen Patienten und Patientinnen sowie an Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen. Sie liehen mir ihre kostbaren Erfahrungen. Mein letzter Dank geht an meine Nächsten, meine Mutter, meinen verstorbenen Vater, an meine Geschwister und meinen Mann Jürg.

November 2021

1. Gotteserfahrung – Erfahrung von Gnade

1.1 Ist Gott erfahrbar?

Ob es Gott gibt oder nicht, diese Frage erhitzt die Gemüter nicht mehr. Die Meinungen sind weitgehend gemacht, zumindest in Westeuropa. Gott ist weder beweisbar noch widerlegbar. Unter den Nägeln brennt die Frage nach Spiritualität und der Erfahrung. Ist Gott, ist das Göttliche erfahrbar? Kann man solchen Erfahrungen Glauben schenken? Haben sie einen Einfluss auf unser Leben? Immer wieder werde ich von kranken wie gesunden Menschen im Nachgang einer vielleicht eindrücklichen oder gar fast nebensächlichen Erfahrung oder eines Traumes gefragt: „War das eine Erfahrung von Präsenz, von Transzendenz, von Gott“? Es folgen drei Beispiele:

Ein Erlebnis wurde mir persönlich vor Jahren zum Initialzünder im Thema Gottnähe und Spiritualität. Es begann mit folgendem Traum: „Ich sitze in einem kleinen Auto. Es ist mein Wagen und doch sieht er anders aus. Plötzlich steht daneben ein riesiger Bär, zehn Meter groß. Er ist im Begriff, mich mitsamt dem Auto zu verschlingen. Es gelingt ihm nicht. Dreimal dasselbe Geschehen, derselbe Schreck. Haarscharf am Tod vorbei, bin ich schlussendlich gerettet. Neben mir steht das zerstörte, glänzend gewordene Auto. Ich sage resolut: „Jetzt ergreife ich das Steuer“. – Tags darauf fliege ich zu einem Kongress, Thema: Spiritualität. Im Anschluss an meinen Vortrag werde ich, wie nie zuvor, mit Fragen bestürmt: Ob ich persönlich an die Möglichkeit von Gotteserfahrung glaube? Ob das, was Menschen dann erleben, wirklich Gott sei? Nach dem Kongress werde ich in einem kleinen Auto auf der dreispurigen Autobahn im Abendverkehr zum Wiener Flughafen chauffiert. Plötzlich fährt bei Höchstgeschwindigkeit rechts neben uns ein anderes Auto auf uns zu. Schleudern – nach links, nach rechts, nach links … dann ist nur noch Licht, blendendes Licht da. Endlich kommt das Auto zum Stehen, halbwegs quer zur Fahrbahn. Ein Bus donnert auf uns zu und vermag gerade noch zu bremsen. Unser Auto ist noch fahrtauglich. Ich steige vom Rücksitz aus und sage: „Jetzt fahre ‚ich‘.“ Wie ich mich am Flughafen verabschiede, schaue ich nochmals zum Auto zurück und erschrecke: So ähnlich hatte das Auto im Traum ausgesehen. – War das eine Erfahrung mit Gott? Was soll ich damit anfangen? Wie kann ich meinen Traum im Vorfeld dieses Ereignisses verstehen? Mich schauderte über Tage. Eines weiß ich seither: Spiritualität hat mit einem in menschlichen Ordnungen nicht fassbar „Großen“ (Traumbild riesiger Bär) zu tun. Und der Umgang damit setzt vonseiten des Menschen Autonomie (Traumbild Auto) und ein steuerungstüchtiges Ich voraus. Und ich überlege: Ich wäre töricht oder eine verbissene Atheistin, würde ich nicht an meine Erfahrung und an Gott dahinter glauben. Umgekehrt wäre ich sektiererisch, würde ich mir nicht auch meine Zweifel und eine nüchterne Distanz erlauben.

Norbert Noth, ein Sterbender Mitte 50, weiß nicht, ob er sich selbst als Christ oder als Buddhist verstehen soll. Er hat sich von allen verabschiedet und stirbt doch nicht. Zwei Wochen ist er da, einfach um da zu sein, wie er einmal sagt. Monochordklänge berühren ihn. Er begreife nicht, was ihm da geschehe. Eigentlich sei da ja nichts als Ton. Aber dieser Ton habe ihn erschüttert wie Meereswogen. Er habe Musik sonst nie so sinnlich einfach gehört. Es war die Musik und doch viel mehr: „Mit der Musik war etwas da. Wie wenn ich die Atmosphäre schwingen höre.“ – „War eine Präsenz spürbar?“, frage ich vorsichtig. Tage studiert er dieser Frage nach und versinkt immer mehr in einen anderen Bewusstseinszustand, ist manchmal kaum erreichbar. Ein zweites Mal berührt ihn diese Musik. Kommentar: „Die Töne mit den Obertönen sind wie ein Himmelszelt, in welches ich hineinfalle oder -fliege. Ob fallen oder fliegen, spielt keine Rolle mehr, ist dasselbe. Ob Christ oder Buddhist auch nicht. Nur eines ist wichtig: Präsenz! Etwas ist da, und ich bin da, aber bald nicht mehr.“ Immer schweigsamer wird Herr Noth, immer dichter die Atmosphäre um ihn herum, in die er schließlich still hineinstirbt, das Geheimnis um seine letzte Identität mitnehmend.

Karin Kaufmann, einer kinderlosen, kirchenfernen Akademikerin, geht es von Tag zu Tag schlechter. Unsere ersten Gespräche handeln von Beziehungsproblemen und ihrer Schwierigkeit, sich berühren zu lassen. Jetzt liegt sie mit aufgesperrten Augen, Schmerzen, Atemnot und panischer Angst vor der Intensivstation da. Ich rege sie in einer Klangreise dazu an, imaginativ ein Licht durch ihren Körper führen zu lassen. Sie solle sich zuschauen, wo das Licht aufgenommen werde, wo weniger, wo es angenehm sei, wo nicht. Religiöse Worte fallen keine. Die Erfahrung beschreibt sie als dicht: „Das war Engelnähe. Das Licht wurde größer, kam von außen und war wie Jesus, der mir sagte: Du überlebst es, lass es zu.“ Nach einem weiteren Eingriff sagt sie: „Das Licht war auch auf der Intensivstation da, wie eine Nahtoderfahrung.“

1.2 Ein Phänomen – verschiedene Namen

Transzendenzerfahrung, spirituelle Erfahrung, Gotteserfahrung sind drei Begriffe, die Ähnliches meinen und doch in je eigener Nuance.

Transzendenzerfahrung kommt vom lateinischen Begriff transcendentia (= das Übersteigen). Sie verweist auf etwas, was durch Erfahrung ausgelöst wird und zugleich über sie und die Realitäten dieser Welt hinausweist. In den eben genannten Beispielen waren die Menschen erschüttert oder durchströmt, ein Licht brach in ihr inneres Dunkel ein, sie hatten ein Aha-Erlebnis im Glauben, das auf die andere – göttliche – Dimension hin öffnete. Der Begriff Transzendenzerfahrung wird in der Palliative Care vor allem für spirituelle Erfahrungen von Atheisten (McGrath, 2005) verwendet. Dieser eingeschränkte Blickwinkel wird im Folgenden nicht übernommen.

Gotteserfahrung bringt Gott ins Spiel. Auch das Absolute, Gewaltige, aber auch das Unbequeme der Erfahrung. Vor dem Ausdruck Gotteserfahrung schrecken viele Menschen zurück, die einen, weil gefangen in Aversion, die andern aus Respekt, weil sie dieses letzte Wort vor dem Verschweigen (vgl. Rahner, 1969) lieber Geheimnis sein lassen. In diesem Buch tritt noch ein dritter Grund für das Zurückschrecken hervor: hinter vermeintlichen Allergien liegt oft eine menschliche Urerfahrung mit dem Numinosen, die als unbedingt, hautnah und darin als zutiefst überfordernd vorgestellt werden muss. Ein kleines Ich begegnet (im entferntesten Sinn des Wortes und doch bisweilen fast leibhaftig) dem, was wir Gott nennen. Gott ist dabei immer auch als das riesige, unendliche Ganze zu begreifen. Mein eigenes oben erwähntes Beispiel sprach von einem überdimensioniert großen Bären und von einem blendenden Licht. Andere Menschen träumen von einem Elefanten, der übrigens im Indischen ein heiliges Tier darstellt. Der Begriff Gotteserfahrung rückt den Aspekt der unmittelbaren Begegnung ins Zentrum und gleichzeitig den unüberbrückbaren Unterschied zwischen dem kleinen wehrlosen Menschen und dem unfassbar großen Gegenüber. Dieses wird bald schützend, rettend, lebenspendend, bald bedrohlich bis überwältigend erfahren. Angesichts eines solchermaßen Bedrohlichen entstand vor Urzeiten ein „Tabu Gott“. Tabuisiert ist der erfahrbare Gott selbst. Das Tabu wird immer neu durch entsprechend schauerliche Erfahrungen am Rande des Unbewussten genährt. Über Jahrhunderte wurde Gottes unmittelbare Erfahrbarkeit aus den kirchlichen Lehren ausgeklammert und nur von Mystikern in ihren randständigen Positionen eingebracht. Heute nicht minder verdrängt ist auch der Aspekt der Verbindlichkeit. Wo von Gotteserfahrung die Rede ist, ist der Mensch ungleich stärker angebunden und zur verantwortenden Haltung herausgefordert als dort, wo allein vom Göttlichen, vom Kosmos oder vom großen Sein gesprochen wird. Nur die wenigsten Menschen sind schlicht offen für ganz unterschiedliche Gotteserfahrungen, solche, die dem jüdisch-christlichen Gedankengut entsprechen neben ganz anderen.

Spirituelle Erfahrung: Im Wort „spirituell“ wird das Phänomen sehr offen erfasst. Der Begriff wird heute unterschiedlich verwendet, im weiten Spektrum zwischen ganzheitlichem Well-being, Bewusstseinserweiterung und Mystik. Peng (vgl. Vögeli, 2021) definiert Spiritualität als Offenheit für das Transzendente (S. 10). Begriffsgeschichtlich betont das Wort Spiritualität die Erfahrung mit Gott, mit dem Göttlichen. Derweil Religiosität auch die je eigene Überzeugung und Einstellung meint, steht das Wort Spiritualität für die Erfahrungsdimension von Religion. „Spiritualis“ ist das lateinische Wort für das griechische „pneumaticos“ und meint „geistgewirkt“. Das Verb pneo heißt: atmen, wehen, riechen. Der Ausdruck „spiritualis“ stand im 2. Jahrhundert nach Christus für die hochgeistige innere Erfahrung, die ein erwachsener Täufling bei seiner Taufe machen durfte – oder auch nicht. Aus der Erfahrung erwuchs geistesgeschichtlich betrachtet mehr und mehr eine jeweilige, spezifische Haltung und Frömmigkeit. Spiritualität stand sodann für ein Leben aus dem Heiligen Geist. Mönche, Wüstenväter, Mystiker berichteten davon. Nach 1700 tauchte im Französischen das Wort „spiritualité“ auf. Es drückte die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott aus. William James war der Begründer einer auf Erfahrung beruhenden Religionspsychologie. James sprach von persönlicher religiöser Erfahrung, die ihre Wurzeln und ihr Zentrum in mystischen Bewusstseinszuständen habe (vgl. 1902/1979, S. 358).

Nachfolgend wird das immer selbe Phänomen bald in dieser, bald in jener Begrifflichkeit umkreist, je nach zu betonender Nuance. Bisweilen spreche ich von besonders „tiefen“ spirituellen Erfahrungen, denn diese sind es, die der Heiligkeit von Gotteserfahrungen entsprechen. Im einstigen Forschungsprojekt war durchgehend von der spirituellen Erfahrung die Rede.

1.3 Merkmale spiritueller Erfahrung

Wichtiger als der Name sind Phänomene und Charakteristika. Mittlerweile spreche ich von eigentlichen Merkmalen spiritueller Erfahrung:

Erfahrung: Spiritualität ist Erfahrung (vgl. Sudbrack, 1999). Ohne Erfahrung keine Spiritualität.

Im Grenzbereich, in anderer Wahrnehmungsweise: Spiritualität ist Geschehen im Grenzbereich zwischen dem Ich und Gott oder dem Göttlichen. Solche Erfahrungen ereignen sich an der Grenze des Ichs und der dem Ich vertrauten Welt, wo der Mensch eintaucht in eine andere Wahrnehmungsweise. Arnold und Lloyd (2013) sprechen von Wahrnehmungsveränderung als eine von vier Kategorien transzendenter Erfahrungen. Ich unterscheide die Erfahrungen mit Gott, dem Letzten oder Innersten von den Erfahrungen am Rand oder auf dem Weg dahin. Das heißt, ich unterscheide das Eigentliche vom Grenzbereich daraufhin (vgl. Kap. 5.5). Im Eigentlichen erfahren Menschen, wenn es sein darf, Gott oder die Gottheit selbst. Im Grenzbereich sind wunderbare, engelhafte, aber auch Dunkel- und Durchgangserfahrungen anzusiedeln. Grenzen sind fließend. Für beide Bereiche gilt: Sobald der Mensch das Alltagsbewusstsein verlässt, erlebt er in veränderter Wahrnehmung.

Anderes Sein: Transzendenzerfahrungen, Gotteserfahrungen oder spirituelle Erfahrungen

künden

oft von einer gänzlich anderen Seinsqualität. Menschen erleben sich darin unter Umständen frei von Raum, von Zeit, Kausalität und Körperlichkeit. Ein Beispiel sind Nahtoderfahrungen. Van Lommel (2010) und Fenwick (2010) sprechen von einem „nichtlokalen“, „endlosen“ Bewusstsein. Die andere Seinskategorie macht die Intensität einer spirituellen Erfahrung aus. Der Mensch spürt, dass er noch woanders, in anderer Seinsweise beheimatet ist. Die Atmosphäre wird etwa als heilig beschrieben. Erfahrungen von Gott, von Transzendenz oder tiefe spirituelle Erfahrungen lösen Sehnsucht aus.

Bezogensein und Beziehung: Spiritualität ist Beziehungsgeschehen. Spirituelle Erfahrungen machen frei und zugleich bezogen: Menschen fühlen sich frei vom engen Erleben im Ich, frei von Angst und Zwängen, frei, nur mehr sich selbst zu sein. Sterbende sind oft freier denn je, frei „von sich“ und „zu sich“. Ähnliches wird aber auch von Seminarteilnehmern mitten im Leben nach einer Erfahrung mit Gott berichtet. Spirituelle Erfahrungen binden auch an, machen wesentlich, bezogen, „hörend“. In diesem Beziehungsgeschehen kennen wir aber immer nur den einen Part, nämlich uns selbst. Spiritualität lässt aufleuchten, dass der Mensch letztlich mit Gott, mit dem Göttlichen verbunden ist.

Es geschieht im Alltag und auch im Außergewöhnlichen: Spirituelle Erfahrungen finden im Alltäglichen, Unscheinbaren wie im Außergewöhnlichen statt, auch in bedeutsamen Erkenntnissen und in durchbrechender Kreativität. Sie ereignen sich mitten in Sinneseindrücken, in Träumen, im Dasein, in der Liebe oder in der Suchbewegung seelisch-geistiger und künstlerischer Prozesse. Sie werden darin zum „Mehr als“, zum gewissen Etwas. Spiritualität ist dasjenige, was transzendiert und offenbart. Alltägliche Dinge erhalten eine tiefere Bedeutung (vgl. Arnold & Lloyd, 2013).

Gnade: Spiritualität ist Gnade. Die Theologie spricht von Offenbarung. Erfahrungen künden vom Geheimnis und sind darin selbst ein Stück weit Geheimnis, dem menschlichen Zugriff entzogen. Subjektiv erlebt, sind sie unberechenbar da und dann wieder entschwunden, alle Erfahrung mit Gott gleicht einem Wackelkontakt.

Energetisch: Spiritualität ist ein energetisches Geschehen: Der Energieaspekt Gottes ist für uns am ehesten erfahrbar darin, dass spirituelle Erfahrungen „

über sich hinaus

“ wirken und etwas bewirken. Menschen berichten, wie etwas drängt, wie Gewohntes aufgesprengt wird, wie die beiden Pole einer Spannung neu miteinander verbunden werden, wie unvermittelt Friede und Versöhnung möglich sind. Weil so viel auch energetisch geschieht, sind spirituelle Erfahrungen nicht ungefährlich, man denke etwa an manche Synchronizität.

Zum Umgang: Im Umgang mit spirituellen Erfahrungen sind unsere Persönlichkeitsstärke und die Fähigkeit zur Ehrfurcht vonnöten: das ganz Andere, Numinose oder Begleiterscheinungen wie wegfallende Schmerzen lassen erstaunen bis erschaudern. In der Bibel sagt der Engel oft: Fürchte Dich nicht. Das kann er aber so nur sagen, weil der Mensch sich im Vorfeld gerade fürchtete. Wo ein Engel auftaucht, löst das Furcht aus. Spirituelle Erfahrungen übersteigen uns. Sie können niemals ausgelotet, sondern nur teilweise begriffen und integriert werden. Dass der Mensch den Realitätsbezug bewahrt, ist, in Abhebung von der Psychose, wichtig. Nur mit einem starken, steuerungsfähigen Ich kann er diese Erfahrungen (für) wahr-nehmen, ohne sich darin aufzulösen. Oft muss der Mensch im Nachgang wieder in Distanz gehen – oder wie Petrus bei der Verklärung Jesu wieder vom Berg Tabor heruntersteigen (Mt 17,1-9). Es braucht beides, den Abstand von und die Erinnerung an die heilige Erfahrung. Rituale helfen uns in beidem. Sich zu erinnern, das war auch der ursprüngliche Sinn von Liturgie. Zum Umgang mit spiritueller Erfahrung und zur Integration berichtet Scagnetti-Feurer (vgl. 2009).

2. Zwischen zwei Welten: der Grenzbereich und seine Gesetzmäßigkeiten

Grenzbereich, so nenne ich den Bereich an der Grenze hin zur Transzendenz, zu Gott. Im Grenzbereich empfindet der Mensch sich nicht mehr unmittelbar als Teil des Ganzen, er hat nicht mehr spürbar Teil am Göttlichen, an Gott. Er erlebt aber auch nicht als ein Ich mit dessen Begrenzung und alltäglichen Sinnen, Bedürfnissen und Sichtweisen. Stattdessen ist er in einem Zustand des Weder-noch oder in einem Sowohl-als-auch.

2.1 Drei Erfahrungsberichte

Lina Leuch, eine hagere und herbe ältere Frau, zittert am ganzen Leib aus Angst vor einem Eingriff. Ob sie sich selbst in die psychiatrische Klinik einweisen müsse? So verstört erlebt sie sich. Eine körpertherapeutische Übung hilft fürs Erste, sich zu spüren und die Angst zu erlauben. Doch dann sieht sie in einer Imagination innerlich ihre Großkinder vor sich. Und sie fühlt sich „gehoben und erhaben“. Sie staunt und fragt: „Wo bin ich denn jetzt? Ich schwebe.“ Eine Ruhe hat sie erfasst. Über Tage.

Elias Ehrendt, ein vornehmer Mann, berichtet von einer Nahtoderfahrung, die ihm im Zuge des Krankenhausaufenthaltes wieder nahe sei. Er sei nicht religiös, aber „das“ war so etwas. Damals sei er nach der Operation fast gestorben. Er habe ein ätherähnliches Licht gesehen, weiß und doch bläulich, wunderbar. Es tut ihm gut, an dieses Licht zu denken. Seine aktuellen Schmerzen sind wie weg. In einer Atemübung rege ich an, dieses Licht zu betrachten und einzuatmen. Plötzlich schießt er hoch: Zuvor sei es gar nicht schön gewesen. Es habe eine Stufe unterhalb eines Altars gehabt. Seine Feinde aus der Grundschulzeit und aus dem Geschäftsleben seien gekommen und hätten gehöhnt. Ein Gedröhne! Er habe sich geschämt. „Dann plötzlich war das wie vorbei, ein Engel stand rechts, ich stieg auf die höhere Stufe. Da sah ich den Altar und darum herum Weihrauch und mehr und mehr nur noch dieses weiß-blaue Licht. Mir schauderte und doch war es so schön! Seither frage ich mich oft, staunend, wer ist dieses Licht?“ – Mir fiel auf, dass Herr Ehrendt nicht fragte: „was“ ist dieses Licht, sondern „wer“.