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SOMMER DER LIEBE IN BATH von THORNTON, CLAIRE
Als Abigail der attraktive Marinekapitän Gifford Raven vorgestellt wird, möchte sie vor Scham am liebsten im Erdboden versinken: In der Nacht zuvor sind sie sich schon einmal begegnet - und sie trug lediglich ein Negligé! Gifford muss sie für ein schrecklich loses Frauenzimmer halten. Das Schlimmste ist jedoch: Wann immer sich nun ihre Wege im sommerlichen Bath kreuzen, verspürt sie eine tiefe Sehnsucht nach ihm …
VERWEGENE SEHNSUCHT von NICHOLS, MARY
Ein Skandal zwingt Lady Jane, ihre Verlobung mit Harry Hemingford, dem künftigen Earl of Bostock, zu lösen. Doch Harrys Küsse bleiben unvergesslich! Kein anderer der Gentlemen, die sich um Janes Gunst bemühen, vermag ihr Herz so zu berühren. Zwei Jahre später kreuzen sich ihre Wege in London erneut, und Jane spürt: Sie liebt Harry noch immer. Aber kann er verzeihen, dass sie ihn damals so schmählich abgewiesen hat?
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Seitenzahl: 504
Claire Thornton, Mary Nichols
HISTORICAL LORDS & LADIES BAND XX
IMPRESSUM
HISTORICAL LORDS & LADIES erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, in der Reihe: HISTORICAL LORDS & LADIES, Band 57 – 2016
© 2002 by Claire Thornton Originaltitel: „Gifford’s Lady“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Roy Gottwald Deutsche Erstausgabe 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 420
© 2004 by Mary Nichols Originaltitel: „The Hemingford Scandal“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Vera Möbius Deutsche Erstausgabe 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 455
Abbildungen: Harlequin Books S.A., markc212 / Gregor Buir / Thinkstock, slavun_fotolia, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733765552
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY
Die Nacht war so warm, dass Abigail nicht einschlafen konnte. Sie löschte die Kerze auf dem Tischchen neben ihrem Bett, stand auf und ging zum Fenster. Nachdem sie die Vorhänge zurückgezogen und beide Flügel weit geöffnet hatte, rückte sie den Sessel so nah wie möglich heran und nahm sich ihren Fächer von der Kommode. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich in die Polster fallen und wedelte sich Kühlung zu.
Plötzlich zerriss ein wilder Schrei die nächtliche Stille. Für einen Moment war Abigail wie gelähmt vor Schreck, und das Herz begann ihr bis zum Halse zu klopfen. Sie beugte sich vor und starrte in die Dunkelheit. In einem der Zimmer im zweiten Stockwerk des gegenüberstehenden Hauses wurde es hell, und durch das offene Fenster sah sie einen dunkelhäutigen Mann, der einen Leuchter mit brennenden Kerzen hochhielt. Vor ihm stand ein Weißer und bedrohte ihn mit einem Dolch. Überzeugt, ein Verbrechen zu beobachten, erhob Abigail sich halb und überlegte, ob sie schreien solle, um den Angreifer abzulenken, oder ob es besser wäre, Hilfe zu holen. Aber wer würde nachts um halb zwei herbeieilen? Betroffen blickte sie auf die Straße, auf der weit und breit kein Mensch zu sehen war.
Sie hörte einen der Männer etwas sagen, schaute sofort zu den beiden zurück und sah, dass der Weiße die Hand mit der Waffe hatte sinken lassen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war die Gefahr für den anderen Mann vorbei. Abigail klammerte sich an den Fenstersims und bemühte sich, das Gespräch zu verstehen.
„Zum Teufel, was ist los, Gifford?“, vernahm sie. Das war der Farbige. Er hatte nicht furchtsam, sondern vielmehr verwundert geklungen.
„Ich habe geträumt“, antwortete der Weiße und ließ das Messer fallen. Offensichtlich hatte er nicht vor, gewalttätig zu werden. Erst jetzt fiel Abigail auf, dass das einzige Kleidungsstück, das seinen von der Sonne gebräunten muskulösen Körper bedeckte, ein Paar langer Unterhosen war. Seine ansonsten unbekleidete, breitschultrige Figur strahlte eine beeindruckende männliche Kraft aus. Er war schön wie ein griechischer Gott, und Abigail, die nie zuvor einen so weit entblößten Mann gesehen hatte, konnte die Augen nicht von ihm wenden.
„Ein Monat in Bath und kein einziges Abenteuer“, sagte er in diesem Moment hörbar belustigt und strich sich über das schwarze Haar. Unwillkürlich überlegte Abigail, wie es sich anfühlen mochte, ihn zu berühren, wenn schon sein Anblick ein solches Vergnügen war.
„So ist es, Gifford. Auch im Schlaf nicht.“ Der Mann mit dem Leuchter nickte.
„Niemand hat Einfluss auf seine Träume“, erwiderte der andere darauf. „Außerdem bin nicht ich derjenige, der mit einem Kerzenhalter bewaffnet zu Gott weiß welcher Stunde durchs Haus geistert. Ich habe geschlafen.“
Abigail hatte den Eindruck, dass in diesen Äußerungen eine Herausforderung enthalten war.
„Es ist halb zwei Uhr nachts und zu heiß zum Schlafen“, erwiderte der Farbige nachsichtig.
„Ha! Aber da ich jetzt wach bin, kannst du mir wenigstens leuchten. Ich bin hungrig. In diesem Haus muss es doch irgendwo etwas Essbares geben.“ Der Mann, den der Farbige Gifford genannt hatte, machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
„Du solltest dir einen Morgenrock anziehen“, empfahl der Farbige. „Wenn du Mrs. Chesney in diesem Aufzug begegnest, sieht das gefährlich nach einem Abenteuer aus.“
„Unsinn!“, widersprach Gifford. „Nach einem Skandal vielleicht, aber das ist nicht dasselbe wie ein Abenteuer. Doch aus Rücksicht auf dich …“ Er wandte sich dem Fenster zu. Mit einem Mal wurde Abigail sich bewusst, dass nur die schmale Straße sie und den Mann gegenüber trennte. Während er dastand und zu ihr herüberschaute, wagte sie sich nicht zu bewegen, obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass er ihre Silhouette sehen konnte. Sie hoffte indes, er möge ihr Gesicht nicht erkennen. Gespannt harrte sie aus. Da verneigte er sich langsam in ihre Richtung.
„Was zum Teufel …“, begann Anthony, während er Gifford folgte.
Gifford machte die Schlafzimmertür zu. „Ich muss herausfinden, wer in dem Haus auf der anderen Straßenseite wohnt“, antwortete er entschlossen, „vor allem, wer die Frau in dem Zimmer gegenüber ist.“
„Hat sie dich gesehen?“, fragte Anthony schmunzelnd.
„Ja“, antwortete Gifford. „Zweifellos eine alte, verknöcherte Jungfer oder eine sittenstrenge Witwe, die sich jetzt darüber aufregt, dass ich halb nackt war.“
„Bist du ganz sicher, dass es sich bei der Person um eine Frau handelte?“
„Ja. Schlimmstenfalls gibt es jetzt einen Skandal. Wenn du im Kurhaus Gerede über einen Verrückten mit einem Dolch in der Hand hören solltest, dann weißt du, wer gemeint ist. Aber das ist ganz entschieden kein Abenteuer.“
„Ich frage mich, wer die Frau ist.“
„Auch ich will das wissen. Ich hoffe, sie wird dem dramatischen Augenblick gerecht, wenn sie ihr Erlebnis weitererzählt.“
Mit zitternden Händen zog Abigail die Vorhänge zu und widerstand dem Drang, sich unter der Bettdecke zu verkriechen. Sie hatte längst festgestellt, dass der Wunsch, im Erdboden versinken zu können, zu nichts führte. Sie würde sich der Situation stellen müssen.
Im August hielten sich nur wenige Kurgäste in Bath auf, und die beiden von ihr soeben beobachteten Männer hatten kerngesund auf sie gewirkt. Vielleicht würden sie bald wieder abreisen. Nein. Sie waren seit einem Monat in der Stadt, ohne ein Abenteuer erlebt zu haben. Jedenfalls hatte das der Weiße gesagt.
Unwillkürlich fragte sie sich, welche Art von Abenteuern dieser Gifford in der Vergangenheit erlebt haben mochte. Es mussten gefährliche Erfahrungen gewesen sein, seiner Reaktion auf den Traum nach zu schließen. Sein Verhalten hatte ihr Furcht eingeflößt und sie gleichzeitig beeindruckt. Wenn sie einen Albtraum hatte, was selten vorkam, dann pflegte sie, wenn sie aufwachte, dazuliegen und darauf zu warten, dass ihre Ängste sich legten und sie wieder vernünftig denken konnte. Sie war nicht beherzt genug, um aus dem Bett zu springen und sich so tapfer wie dieser Gifford den nächtlichen Schreckgespenstern zu stellen. Sie überlegte, wie man sich fühlte, wenn man so mutig war, und fragte sich, welcher Art die Monster sein mochten, die ihn heimgesucht hatten.
Wenn die beiden Männer der in Bath herrschenden Sitte gefolgt waren, dann hatten sie ihre Namen und Adressen in dem im Brunnenhaus ausliegenden Gästebuch eingetragen. Miss Wyndham legte großen Wert darauf, dass Abigail täglich in den Pump Room ging und nachsah, ob irgendwelche interessanten Neuzugänge eingetroffen waren. Folglich würde sie wohl im Verlauf des Vormittags das Rätsel gelöst haben. Sie war indes nicht sicher, ob jemand, der nachts in seinem Zimmer halb nackt mit einem Dolch in der Hand herumfuchtelte, mit den Gepflogenheiten in Bath vertraut war.
Aber dann blieb noch der Chronicle, in dem wöchentlich die neuen Kurgäste aufgeführt wurden. Und sollte auch das nicht zu einem zufrieden stellenden Ergebnis führen, gab es noch Mrs. Chesney, die Besitzerin des gegenüberliegenden Hauses. Erstaunt stellte Abigail fest, dass sie von ihrer Nachbarin gar nichts über deren Gäste erfahren hatte.
Normalerweise pflegten Junggesellen kein Haus zu mieten, sondern in einem Hotel abzusteigen. Vielleicht hatten die beiden Männer ihre Familien bei sich. Aus irgendeinem Grund behagte Abigail diese Vorstellung ganz und gar nicht. Aber alle Mutmaßungen waren fruchtlos. Sie würde innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden etwas über den Farbigen und den Weißen herausgefunden haben, möglicherweise mehr, als ihr lieb war. Die kurze, von ihr beobachtete Szene war indes das Aufregendste gewesen, das sie in ihrem bis jetzt so geregelten Dasein erlebt hatte.
Nachdem Gifford in sein Schlafzimmer zurückgekehrt war, stellte er fest, dass die Vorhänge in dem Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite zugezogen worden waren. Es wäre wohl auch müßig gewesen, sich zu wünschen, die Frau, die ihn und Anthony gesehen hatte, würde ihm den gleichen unterhaltsamen Anblick gestatten, den er ihr geboten hatte. Der Gedanke verleitete ihn zu einem flüchtigen Schmunzeln. Die Vorstellung, was sie beobachtet hatte, erzeugte ihm jedoch Unbehagen. Sie hatte einen wild mit einem Dolch drohenden Verrückten gesehen, der unsichtbare Schreckgespenster angriff. Das war kaum das Verhalten eines wahren Helden.
Gifford zog die Fenstervorhänge zu. Die Hitze war unangenehm, doch er fand, er habe bereits genug für die Unterhaltung seiner Nachbarn getan.
„Ah, Miss Summers! Genau Sie wollte ich sprechen!“
Abigail las noch im Gästebuch, als sie von Admiral Pullen begrüßt wurde. Lächelnd drehte sie sich zu ihm um. Vor eineinhalb Jahren hatte er sich in Bath niedergelassen, und man hatte sich rasch miteinander angefreundet. Sie genoss es stets, mit ihm zu plaudern, weil er immer faszinierende Geschichten über seine Zeit auf See und fremde Länder, die sie nicht kannte, zu erzählen hatte.
„Guten Morgen, Sir.“ Jäh hielt sie inne, als sie bemerkte, dass er nicht allein war. Zwei Gentlemen standen neben ihm und schauten sie höflich interessiert an. Ihr stockte das Herz. Einer von ihnen war der Farbige, und der andere … war gefährlich. Er trug eine schwarze Klappe über dem linken Auge, und eine lange Narbe verunstaltete sein Gesicht von der Wange bis zur Stirn. Seine markanten, aristokratisch wirkenden Züge waren sonnengebräunt, und die Farbe seines rechten Auges war blau. Er musste attraktiv gewesen sein, ehe er die Verletzung davongetragen hatte. Aber er strahlte noch immer etwas Gebieterisches, Wildes aus. Er war etwas größer als der Admiral und überragte Abigail um Haupteslänge. Da er von kräftigem, breitschultrigem Wuchs war, kam sie sich neben ihm klein und zierlich vor.
Ihr fiel sofort auf, dass er merkte, welchen Eindruck er auf sie machte. Sie atmete langsam durch und war sich bewusst, dass er sie ebenso gespannt betrachtete wie sie ihn. Aufgeregt schluckte sie bei der Überlegung, ob er wusste, dass sie ihn halb nackt gesehen hatte. Vielleicht war ihm so klar wie ihr, wer da vor ihm stand. Sie zweifelte nicht daran, dass die beiden Begleiter des Admirals die Männer waren, die sie in der Nacht zuvor beobachtet hatte. Vermutlich handelte es sich um zwei Freunde, die nach Bath gereist waren.
In der Dunkelheit hatte sie das Gesicht des Weißen nicht deutlich genug gesehen, um die Narbe erkennen zu können. Sie war jedoch sicher, dass er derjenige war, der sich vor ihr verneigt hatte. Panik erfasste sie. Plötzlich war sie überzeugt, dass er wusste, wer sie war. Kein Wunder, dass er ein so arrogantes Lächeln zur Schau trug. Heimliche Beobachter waren immer im Nachteil, wenn man ihnen auf die Sprünge kam.
„Ich weiß, der Ärmste sieht seitdem eher wie ein Pirat aus. Er war jedoch der beste junge Offizier, der je unter mir gedient hat.“
Zu spät begriff sie, dass der Admiral ihr seine Begleiter vorgestellt haben musste. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, um Fassung ringend. „Ich war so in die Lektüre des Gästebuchs vertieft. Wie geht es Ihnen, meine Herren?“ Sie streckte die Hand aus und war froh, dass sie nicht zitterte. Sie war auch stolz darauf, dass ihre Stimme verhältnismäßig gelassen geklungen hatte. Das Herz hingegen klopfte ihr zum Zerspringen.
„Miss Summers war die Freundlichkeit in Person, seit ich hier lebe“, verkündete der Admiral. „Ohne ihre Ratschläge und ihre Freundschaft wäre ich verloren und einsam gewesen.“
„Oh, nein!“, widersprach Abigail im selben Moment, da der wie ein Freibeuter aussehende Gentleman ihr die Hand schüttelte. „Du meine Güte“, fügte sie unwillkürlich hinzu. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er mit den Fingern, die jetzt ihre hielten, einen Dolch umschlossen.
Der Druck seiner Hand war angemessen fest, als sei er sich seiner Kraft so genau bewusst, dass er auf übertriebene Vorsicht verzichten konnte, und dennoch war die Berührung irgendwie aufregend. In Gedanken sah Abigail ihn wieder halb nackt vor sich und spürte ein ungewohntes Prickeln in sich aufsteigen. Verzweifelt redete sie sich ein, dass es dunkel gewesen war und der Mann namens Gifford nicht sicher sein konnte, dass sie ihn indiskret beobachtet und belauscht hatte. Wenn sie sich vernünftig benahm, würde er es nie erfahren.
„Ich hoffe, mein Aussehen erschreckt Sie nicht, Miss Summers“, sagte er freiheraus. „Auf dem Quarterdeck eines Schiffes würde ich weniger auffallen als hier im Brunnenhaus.“
Sie hatte seine Stimme erkannt und fand den tiefen, etwas rauen, zu ihm passenden Klang angenehm. „Oh, nein, Sir. Nicht Ihr Aussehen … Ich meine, ich war in Gedanken, und als Admiral Pullen mich ansprach, habe ich natürlich angenommen, er sei allein. Daher hat Ihre Anwesenheit mich überrascht. Ich versichere Ihnen, mehr war es nicht.“ Sie nickte heftig und spürte sich vor Verlegenheit erröten. Sie wollte gelöst wirken, nicht aufgeregt und verkrampft.
„Heute können Sie Miss Wyndham mitteilen, dass einige interessante Leute eingetroffen sind“, meinte der Admiral. „Miss Wyndham ist eine nette alte Dame, aber leider nicht mehr kräftig genug, um das Haus verlassen zu können“, fügte er, an seine Begleiter gewandt, erklärend hinzu. „Miss Summers ist ihre Gesellschafterin. Ich habe Miss Wyndham gesagt, sie könne sich glücklich schätzen, eine so loyale und liebevolle Freundin zu haben.“
Nach diesem Lob spürte Abigail sich noch mehr erröten. „Sie war immer sehr freundlich zu mir“, erwiderte sie atemlos. „Bleiben Sie lange in der Stadt?“, fragte sie und schaute die beiden fremden Gentlemen an. Sie bedauerte, dass sie mit ihren Gedanken woanders gewesen war, als der Admiral sie ihr vorgestellt hatte, da sie noch immer deren Namen nicht kannte.
„Einen Monat“, antwortete der Farbige.
Auch seine Stimme erkannte sie wieder. Er war ebenso elegant gekleidet wie sein Freund und strahlte ruhige Gelassenheit aus. „Aber Sie beide wirken so gesund!“, rief sie aus. Sie war nicht imstande, den ersten Eindruck, den sie von den Männern gewonnen hatte, zu vergessen. Die Herren lachten, und plötzlich hatte Abigail das Gefühl, von ihren Sachen beengt zu werden. „Oh, verzeihen Sie!“, platzte sie heraus. „Natürlich sind Sie bei Admiral Pullen zu Besuch und nicht hier, um eine Trinkkur zu machen.“
„Dieser junge Bursche ist jedenfalls in bester Verfassung und kräftig wie ein Stier“, erwiderte der Admiral und klopfte seinem Begleiter mit der Augenklappe nicht gerade rücksichtsvoll auf den Rücken. Der zuckte mit keiner Wimper, ein Zeichen dafür, dass die Behauptung des älteren Gentleman zutraf. „Er ist ein prächtiger Kerl! Er hat jeden Angriff der Franzosen überlebt, und noch mehr. Und das trifft auch auf Anthony zu, obwohl ich nie die Ehre hatte, ihn zu meiner Mannschaft zählen zu können.“
Anthony? Verzweifelt wünschte sich Abigail, zugehört zu haben, als der Admiral sie mit den Herren bekannt gemacht hatte. Fragend schaute sie den Farbigen an. Er nickte leicht, als sei das die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Er wirkte nicht so gefährlich wie sein Freund. Die Situation erheiterte ihn jedoch sichtlich.
„Als sie mir schrieben, dass Sie herkommen wollen, habe ich gleich an Mrs. Chesney gedacht“, sagte der Admiral zu dem Mann mit der Augenklappe. Abigail sah jedoch an der Art, wie er ihr zulächelte, dass er sie in die Unterhaltung einbezog. „Ich hatte den Auftrag, ein geeignetes Quartier für die beiden Herren zu finden“, raunte er ihr zu. „Sie haben die dumme Wette abgeschlossen, ob es möglich sei, hier einen Monat zu verbringen, ohne in ein Abenteuer zu geraten. Können Sie sich das vorstellen? Aber ich schweife ab. Als ich den Auftrag bekam, wusste ich sogleich, was ich zu tun hatte. Sie haben Mrs. Chesneys Haus gemietet. Miss Wyndham und Miss Summers wohnen genau gegenüber, und wie ich schon sagte, Miss Summers war die Freundlichkeit in Person zu mir. Ich wusste, sie würde auch Sie beide gleichermaßen willkommen heißen“, setzte er an den Gentleman mit der Augenklappe gewandt hinzu.
Abigail wollte sterben. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken und nie mehr unter die Lebenden zurückgekehrt. Obwohl sie die Lider gesenkt hatte, wusste sie, dass Admiral Pullens Freund sie prüfend anschaute. Durch die Äußerungen des alten Herrn war sein Interesse an ihr offenkundig nur noch gesteigert worden.
„Nun, ich …“, begann sie zögernd und hielt inne, da ihr wieder einfiel, was sie gesehen hatte, und weil ihr klar war, dass er wusste, dass sie ihn beobachtet hatte.
„Ich möchte der Dame nicht zur Last fallen“, unterbrach der Gentleman sie trocken.
„Aber das tun Sie doch nicht“, versicherte ihm der Admiral. „Miss Summers liebt Geschichten von der Seefahrt und von fernen Ländern. Und Sie haben Unmengen von abenteuerlichen Episoden zu erzählen. Sie wird Sie heute Morgen im Pump Room herumführen. Und bei Ihrem nächsten Treffen werden Sie ihr von Ihren Heldentaten berichten, die Sie vollbracht haben, nachdem ich Sie zu Ihrer ersten Prise entsandt hatte. Eine kleine Promenade durch das Brunnenhaus wird für Sie beide sehr angenehm sein.“
Ihnen war unmissverständlich eine Order erteilt worden.
„Zu Befehl, Sir“, erwiderte der wie ein Pirat aussehende Mann und überraschte Abigail mit seiner Willfährigkeit. Die anmaßende Einstellung des Admirals schien ihn eher zu amüsieren statt zu kränken. Er reichte ihr den Arm. „Es ist mehr als zwanzig Jahre her, seit ich zum letzten Mal in Bath war“, sagte er beiläufig, während sie sich von seinen Begleitern entfernten. „Und damals war ich kaum in dem Alter, um die reizvollen Attraktionen der Stadt würdigen zu können. Aber …“
„Ich war es!“, unterbrach Abigail ihn hastig. „Sie wissen, dass ich es war. Ich wollte Sie nicht beobachten. Aber es war so heiß. Und dann haben Sie geschrien, und ich dachte, jemand würde ermordet. Und ich habe überlegt, was ich am besten tue. Ich wollte Ihnen wirklich nicht zusehen. In Zukunft werde ich die Fenstervorhänge immer geschlossen halten. Es tut mir so Leid.“
Ihr Begleiter war mit ihr stehen geblieben, während Abigail ihr Geständnis ablegte. Jetzt starrte sie ihn in qualvoller Erwartung an und fragte sich, was er erwidern würde. „Und ich habe nicht aufgepasst, als Admiral Pullen mir Ihren Namen nannte“, fügte sie hinzu, um alle ihre Verfehlungen zu bekennen. „Daher weiß ich nicht einmal, wer Sie sind. Ich war einfach entsetzlich erschrocken.“
„Ich heiße Gifford Raven“, stellte er sich vor.
Er hatte, als sie zu reden begann, seinerseits zunächst ziemlich überrascht, dann unbehaglich und schließlich belustigt ausgesehen. Sein Lächeln veränderte seine ganze Erscheinung. Die gefährliche Ausstrahlung war zwar noch immer Teil seiner Persönlichkeit. Sie wurde jedoch durch seine heitere Miene ausgeglichen.
Abigail seufzte vor Erleichterung. Er schien weder beleidigt noch ihr böse zu sein. Zweifellos war ihre Beichte nur eine Bagatelle für jemanden, der es gewohnt war, gefährliche Abenteuer durchzustehen. „Ich befürchte, Bath kann sehr langweilig sein, besonders im Sommer“, äußerte sie. „Ich bin sicher, das kommt Ihren Erwartungen entgegen.“
„Meinen Erwartungen?“, fragte er und nötigte sie sacht zum Weitergehen.
„Ja, Ihrem Wunsch, kein Abenteuer zu erleben“, erklärte sie. „Oh!“ Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur zugegeben hatte, ihn beobachtet zu haben. Sie hatte auch gestanden, das Gespräch zwischen ihm und seinem Freund belauscht zu haben. „Oje!“ Sie presste die Fingerspitzen auf die brennenden Wangen. „Ich wünschte, die Erde würde mich verschlingen“, murmelte sie. „Das alles ist mir so peinlich! Ich versichere Ihnen, Sir, dass ich normalerweise …“
„Was für eine hübsche Uhr“, fiel Gifford ihr ins Wort. „Wissen Sie etwas über ihre Geschichte?“
Abigail atmete tief durch und bemühte sich um Fassung. Vermutlich hielt Mr. Raven sie für grenzenlos dumm. Es überraschte sie, dass er so viel Geduld mit ihr hatte. Mit zitternder Hand klappte sie den am Armgelenk hängenden Fächer auf und vermied es, ihren Begleiter anzusehen, während sie sich heftig Kühlung zufächelte. Sie war froh, Linderung auf den glühenden Wangen zu spüren. Sie hatte das Gefühl, am ganzen Leibe zu brennen. Im Brunnenhaus war es unangenehm warm, obwohl der Vormittag noch nicht weit fortgeschritten war. Es würde wieder ein sehr heißer Augusttag werden.
Sie drehte sich zu der Standuhr um und war entschlossen, Mr. Raven zu beweisen, dass sie nicht vollkommen ungebildet war. „Ein schönes Exemplar, nicht wahr?“, fragte sie in zustimmendem Ton. „Ich glaube, sie wurde von Thomas Tompion hergestellt. Wenn ich mich nicht irre, hat er sie der Stadt im Jahr 1709 geschenkt. Und das da drüben ist eine Statue von Beau Nash. Sie stammt aus der Zeit, als Bath wirklich en vogue war.“ Schließlich wagte sie es, Mr. Raven einen vorsichtigen Blick zuzuwerfen.
„Vielleicht haben Sie die Güte, den ersten Anblick von mir zu vergessen“, erwiderte er.
„Die Güte?“, wiederholte sie überrascht.
„Mein Verhalten war der Umgebung kaum angemessen“, sagte er steif.
Er wirkte zwar äußerlich gelassen, doch Abigail hatte den Eindruck, dass er sich unbehaglich fühlte, sich vielleicht sogar verabscheute. Sie war so sehr mit ihrem Unbehagen beschäftigt gewesen, dass sie nicht darüber nachgedacht hatte, wie er die Situation einschätzte. Vielleicht war er ebenso peinlich berührt wie sie. Er war schließlich derjenige, der den Albtraum gehabt hatte. Mehr auf seine Stimmung als auf seine Bemerkung eingehend, sagte sie: „Ich fand Sie sehr mutig.“
„Mutig!“ Er wirkte verblüfft.
„Wenn ich nach einem Albtraum aufwache, bin ich viel zu verängstigt, um mich regen zu können“, erklärte sie. „Ich wäre nie so couragiert, aufzuspringen und mich zu wehren.“ Mr. Raven starrte sie so lange an, dass sie befürchtete, ihn beleidigt zu haben. „Ich wollte nicht impertinent sein“, versicherte sie ihm ängstlich. „Wir werden nicht wieder über diese Angelegenheit sprechen.“
In der nachfolgenden Stille suchte sie verzweifelt nach einem anderen Thema. Plötzlich erkannte sie, dass sie keinen Grund hatte, sich unbehaglich zu fühlen, nur weil sie wusste, dass Mr. Raven nach Bath gekommen war, um Abenteuern auszuweichen. Schließlich hatte Admiral Pullen ihr das erst vor einigen Minuten bestätigt. „Geraten Sie oft in gefährliche Situationen?“, erkundigte sie sich und hoffte, Mr. Raven möge ihre Frage nicht als aufdringlich empfinden.
Er lachte und entspannte sich etwas. „Diese Frage würde ich gern verneinen“, antwortete er. „Leider war es mein Mangel an Zurückhaltung, der Anthony zu der absurden Wette verleitet hat. Nur Tage nach der Rückkehr von unserer letzten Reise wurde die Postkutsche, in der wir saßen, von Straßenräubern überfallen.“
Abigail dachte an den Dolch, den sie in Mr. Ravens Hand gesehen hatte, und rief entsetzt aus: „Sie haben die Verbrecher doch nicht getötet!“
„Nein“, erwiderte er verbissen. „Großer Gott! Was denken Sie von mir? Das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich. Es wäre doch wohl angebrachter gewesen, sich nach meiner Sicherheit und der der anderen Reisenden zu erkundigen, statt um das Schicksal der Wegelagerer besorgt zu sein! Sie stehen im Übrigen kurz vor der Deportation“, fügte er nach einigen Sekunden des Schweigens hinzu. „Anthony hat sich sehr darüber amüsiert, dass ich nicht einmal nach London fahren konnte, ohne in ein Abenteuer zu geraten. Daher bin ich genötigt, den nächsten Monat damit zu verbringen, ihm zu beweisen, dass ich mich so gesetzt aufführen kann wie ein gut situierter Kaufmann.“
„Oh, ich verstehe!“, murmelte Abigail und warf Mr. Raven einen Blick zu. Sie hatte den Eindruck, dass er durch ihre Bemerkungen längst nicht so gekränkt war, wie sie zunächst befürchtet hatte. Sie erinnerte sich an die Aufforderung des Admirals und schlug vor: „Ich würde mich freuen, Ihnen alles über die Stadt zu erzählen, was ich weiß. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür, dass meine Pflichten bei Miss Wyndham Vorrang haben. Admiral Pullen hat übertrieben, als er sich über meine Hilfsbereitschaft äußerte. Wenn ich Ihnen irgendwie von Nutzen sein kann … Aber fühlen Sie sich bitte nicht genötigt …“
„Wenn er einen Befehl erteilt, erwartet er, dass er ausgeführt wird“, erwiderte Gifford und lächelte leicht. „Als Fremder in Bath bin ich bestimmt auf Unterstützung angewiesen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich als Ihren Freund betrachten könnten.“
Abigail fächelte sich heftig Kühlung zu. „Admiral Pullen ist ein reizender Mensch“, meinte sie. „Oh, Sir! Sie haben mir nicht gesagt … Ich bin sicher, er hat es getan. Haben Sie einen Titel? Es würde Admiral Pullen auffallen, wenn ich Sie falsch anrede. Das wäre sehr peinlich.“
„Ja, er hat sich ohnehin schon genug auf unsere Kosten amüsiert“, stimmte Mr. Raven überraschenderweise zu. „So gesund und kräftig wie ein Stier! Wirklich!“
Diese unerwartete Bemerkung brachte Abigail zum Lachen. Mr. Raven hatte nicht verärgert geklungen, nur scherzhaft verstimmt.
„Admiral Pullen hat mich Ihnen als Captain Sir Gifford Raven vorgestellt, und mein Cousin heißt Anthony Hill.“
„Cousin?“, wiederholte Abigail unbedacht.
Gifford versteifte sich etwas und schaute sie an. In ihren Augen stand jedoch nur ein verwirrter Ausdruck. Sie schien nicht darüber schockiert zu sein, dass Anthony sein Vetter war. Sie gab auch nicht die abstoßende lüsterne Neugier zu erkennen, der er sich manchmal ausgesetzt sah. Sie wirkte einfach nur verblüfft und etwas peinlich berührt über ihre Frage. Ausnahmsweise war er geneigt, seine verwandtschaftliche Beziehung zu Anthony genauer zu erklären. „Mein Onkel war sein Vater“, sagte er kühl und verschwieg, dass sein Onkel nicht mit Anthonys Mutter verheiratet gewesen war. Er erwähnte auch nicht, dass Anthony die Eltern schon in frühester Kindheit verloren hatte. Sein Vater hatte den Vetter mit seinen Söhnen aufgezogen.
„Oh?“ Erneut schaute Abigail zu Mr. Hill und dann wieder lächelnd Sir Gifford Raven an.
Es überraschte ihn, wie erleichtert er darüber war, dass sie sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Anthony so selbstverständlich hinnahm. Im Allgemeinen waren ihm die Meinungen anderer Leute gleich.
„Es ist mir eine Ehre, Sie beide kennen gelernt zu haben“, fuhr sie fort. „Ich bin sicher, Mr. Hill weiß, dass ich aus dem Fenster gesehen habe. Ich möchte nicht, dass er denkt …“
„Ich werde ihm die Situation erklären“, versicherte Gifford.
„Danke. In der letzten Zeit war es wirklich ungemein heiß“, wandte sie sich einem anderen Thema zu.
Sie errötete, und trotz ihrer Bemühungen, gefasst zu erscheinen, bemerkte Gifford, dass sie immer noch sehr aufgeregt war. Auch er war nicht die Ruhe selbst, wenngleich er sich Mühe gegeben hatte, sein Unbehagen zu verhehlen. Schließlich war Miss Summers die Frau, die gesehen hatte, wie er sich in der vergangenen Nacht zum Narren gemacht hatte. Vermutlich glaubte sie, er gehöre in eine Bewahranstalt. Kein Wunder, dass sie so durcheinander gewesen war, nachdem der Admiral ihr seine Gesellschaft aufgenötigt hatte. Sie musste Gifford sofort erkannt haben. Er wusste, sein Äußeres war unverwechselbar. Außerdem hatte Anthony ihm den verdammten Leuchter direkt vors Gesicht gehalten. Sie war hübsch, wenngleich keineswegs ungewöhnlich schön. Er hatte nur kurz Zeit gehabt, ihren makellosen, hellen Teint zu bewundern, ehe ihr Gesicht sich vor Verlegenheit gerötet hatte.
Von ihrem Haar konnte er nur wenig erkennen, weil es zum größten Teil unter einem schlichten Strohhut verborgen war. Ihre Augen waren grün mit goldenen Flecken und drückten genau aus, was sie empfand – Entsetzen, Verlegenheit, Verwirrung, Mitgefühl. Er fand sie und ihren Blick gefährlich. Sie hatte gemerkt, dass seine dumme Schwäche ihn in Verlegenheit stürzte, und nun versuchte sie, ihn mit Lob zu trösten. Ihm wurde heiß bei dem Gedanken, dass sie glaubte, er sei auf solche Unterstützung angewiesen.
Sie war mittelgroß und reichte ihm knapp bis zur Schulter. Wenn sie ihn anschaute, musste sie leicht den Kopf in den Nacken legen. Sie trug ein einfaches Kleid aus hellgrünem Stoff, das mit dunkelgrünen Ranken verziert war. Gifford konnte die Farbe nicht ausstehen und fand, ihre Aufmachung sei langweilig, obwohl er nicht viel von weiblicher Mode verstand. Sie hatte jedoch eine straffe Figur, und ihre Brüste waren erfreulich rund und fest. Ihm fiel auch auf, dass sie einen Sonnenschirm und ein Réticul bei sich hatte und sich mit dem Fächer heftig Luft zuwedelte. „Macht die Hitze Ihnen zu schaffen?“, erkundigte er sich und nahm an, dass die drückende Schwüle der vergangenen Nacht der Grund für den Albtraum gewesen war.
„Nein, im Allgemeinen nicht“, antwortete Abigail. „Das heißt, ich würde den Sonnenschein mehr genießen, wäre ich auf dem Land. Aber selbst hier in der Stadt ziehe ich den Sommer dem Winter vor. Die Sydney Gardens sind sehr hübsch. Manchmal finden dort im Sommer Konzerte mit anschließendem Feuerwerk statt.“
„Besuchen Sie diese musikalischen Darbietungen?“ In stillem Einverständnis begann man, zu Admiral Pullen und Anthony zurückzugehen.
„Miss Wyndham fühlt sich selten kräftig genug, um das Haus zu verlassen“, antwortete Abigail. „Aber Admiral Pullen hat mich freundlicherweise im letzten Sommer zu einer Veranstaltung mitgenommen. Das war schön! Er hat gesagt, er würde mich vielleicht in diesem Jahr wieder begleiten, falls Miss Wyndham auf mich verzichten kann. Bitte, entschuldigen Sie mich“, fügte sie hinzu, weil man bei den beiden anderen Herren eingetroffen war. „Ich bin schon zu lange fort. Miss Wyndham erwartet mich sicher längst.“ Herzlich lächelte sie die Gentlemen an. „Admiral Pullen. Captain Raven, Mr. Hill – es war mir ein Vergnügen, Sie kennen gelernt zu haben. Auf Wiedersehen.“
„Eine reizende Person“, sagte der Admiral, während man der sich eilig entfernenden Miss Summers hinterherschaute. „Sie ist immer fröhlich und gutherzig, denkt stets praktisch und ist eine ausgezeichnete Wirtschafterin. Miss Wyndham lässt ihr im Haushalt freie Hand. So, verschwinden wir aus diesem Mausoleum, auch wenn es der beste Ort ist, um Leute kennen zu lernen.“
Flüchtig tauschte Gifford einen Blick mit Anthony. Er war ziemlich sicher, dass der Admiral ihn und seinen Vetter nur ins Kurhaus mitgenommen hatte, damit sie Miss Abigail Summers trafen.
„Vielleicht wird es dir schwerer fallen, hier kein Abenteuer zu haben, als ich dachte“, raunte Anthony Gifford zu. „Der nächste Monat könnte sich als sehr unterhaltsam herausstellen.“
Stirnrunzelnd nahm Gifford die Erheiterung seines Cousins zur Kenntnis. „Ich sehe keinen Grund für diese Vermutung“, erwiderte er kühl.
Nach der Ankunft zu Hause stellte Abigail fest, dass Miss Wyndham einen wichtigen Besucher hatte.
„Abigail! Sie waren so lange fort! Charles ist zu Besuch gekommen!“, rief Miss Wyndham in dem Moment aus, als Abigail den Empfangssalon betrat.
„Wie geht es Ihnen, Miss Summers?“, fragte Mr. Charles Johnson und erhob sich aus dem Sessel. „Sie sehen so bezaubernd wie immer aus.“
„Vielen Dank, Sir. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?“ Abigail gestattete Miss Wyndhams Großneffen, ihr einen Handkuss zu geben, zog ihre Finger jedoch so schnell wie möglich zurück.
„Ich bin in bester Verfassung, Miss Summers“, verkündete er. „Und nun fühle ich mich noch wohler, weil ich meine Lieblingstante und ihre hübsche Gesellschafterin sehe.“
„Ich bin deine einzige Tante“, hielt Miss Wyndham ihm vor und warf ihm einen vergnügten Blick zu.
„Ganz recht. Aber du könntest auch ein alter Drache sein, so dass ich nicht den Wunsch hätte, dich aufzusuchen. Aber es ist nun einmal so, dass du meine einzige nette und charmante Tante bist, nach deren Gesellschaft ich mich sehne, wenn ich nicht bei ihr bin“, erwiderte Charles und verneigte sich galant.
„Schmeichler!“ Miss Wyndham strahlte über das dick aufgetragene Kompliment. „Ich habe nicht damit gerechnet, dich vor dem Herbst zu sehen. In deinem Brief hattest du doch geschrieben, du würdest den Sommer in Brighton verbringen. Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Ist es nicht sehr aufmerksam von ihm, Zeit mit einer müden alten Frau zu verbringen, obwohl er sich mit seinen Freunden amüsieren könnte?“
„Ja, das ist sehr entgegenkommend“, antwortete Abigail trocken.
Charles Johnson war Mitte zwanzig und stets nach der neuesten Mode gekleidet. Er prahlte damit, dass er nur in den besten Kreisen verkehrte. Er hatte einen teuren Geschmack, obwohl seine einzige Einkommensquelle der hoch verschuldete Besitz war, den er einige Jahre zuvor von seinem Vater geerbt hatte. Miss Wyndham war in Wirklichkeit seine Großtante. Ihre jüngere Schwester war seine Großmutter gewesen. Er hatte sie jedoch erst nach dem Tod seiner Eltern und Großeltern kennen gelernt und war ihr einziger lebender Verwandter.
Abigail kümmerte sich um die Haushaltsführung. Nach jedem von Mr. Johnsons Besuchen war sie gezwungen, für den Rest des jeweiligen Vierteljahrs sehr sparsam zu wirtschaften. In der Vergangenheit hatte sie taktvoll versucht, Miss Wyndham zu verstehen zu geben, Mr. Johnson sei erwachsen und könne für sich sorgen. Miss Wyndham hatte ihre Hinweise jedoch beiseite gewischt. Abigail vermutete, dass die alte Dame sich darüber im Klaren war, dass er sie ausnutzte, und dass der Gedanke sie sehr bekümmerte, der junge Verwandte brächte keine ehrliche Zuneigung für sie auf. Dennoch zog Miss Wyndham es vor zu glauben, die Besuche ihres Großneffen seien auf Rücksichtnahme auf sie und nicht auf finanzielle Interessen zurückzuführen.
Es stand Abigail nicht zu, ihre Arbeitgeberin zu desillusionieren, erst recht nicht, weil sie keine Beweise für ihre Mutmaßungen hatte, abgesehen von Mr. Johnsons Bereitwilligkeit, um nicht zu sagen Eifer, die Geldzuwendungen seiner Großtante einzustreichen.
Sein unerwartetes Erscheinen hatte in diesem Fall jedoch eine gute Nebenwirkung. Miss Wyndham war so entzückt über den Gesellschaftsklatsch aus London und Brighton, dass sie vollkommen vergaß, Abigail zu fragen, ob neue Gäste in Bath eingetroffen seien.
Gifford und Anthony verbrachten den ganzen Tag mit Admiral Pullen. Gifford hatte erwartet, dass der Admiral seine peinlichen Versuche, ihn mit Miss Summers zusammenzubringen, fortsetzen werde, und war darauf vorbereitet gewesen, jeden ihm lästigen Hinweis, er möge ihr den Hof machen, zurückzuweisen. Der Admiral hatte sie jedoch im Verlauf des Tages kaum erwähnt. Folglich war Gifford etwas enttäuscht darüber, dass er nicht mehr über sie erfuhr. Er wollte sie zwar nicht für sich haben, war jedoch neugierig, was sie anging.
Er blickte aus dem Fenster und sah sie zu seiner Überraschung in ihrem Zimmer. Rasch zog er sich halb hinter den Vorhang zurück und beobachtete sie verstohlen, auch wenn das ungehörig war.
Zu seiner Verwunderung war sie emsig damit beschäftigt, die Rücklehne eines Stuhls unter die Türklinke zu klemmen. Das gelang ihr nicht. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich im Raum um. Ihre Haltung lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihre hübsche Figur. Sie hatte eine sehr schmale Taille und angenehm gerundete Hüften. An manchen Stellen war sie wünschenswert schlank, an anderen besaß sie eine aufreizende Fülle. Gifford wünschte sich, er könnte sie im Nachthemd sehen. Das wäre nur ein gerechter Ausgleich dafür, dass sie ihn mit bloßem Oberkörper beobachtet hatte.
Plötzlich ging sie auf eine kleine Kommode zu. Erstaunt sah er, dass sie versuchte, das Möbelstück an der Wand entlangzuschieben. Offensichtlich war es zu schwer. Nach einigen vergeblichen Versuchen hielt sie inne, setzte sich halb auf die Kante und atmete mehrmals tief durch. Unwillkürlich spannte Gifford die Muskeln an, zum Teil aus dem Bedürfnis, ihr zu helfen, hauptsächlich jedoch auf Grund des Anblicks, den ihre vollen Brüste nun boten. Nach einigen Augenblicken wandte sie ihm den Rücken zu und entfernte alle Schubladen aus der Kommode. Dann versuchte sie erneut, das Möbelstück zu rücken. Dieses Mal hatte sie Erfolg. Sie schob es vor die Tür, setzte die Schübe wieder ein und rieb sich mit sichtlich zufriedener Miene die Hände. Dann ging sie zum Fenster, um sich abzukühlen.
Gifford hielt sie für praktisch veranlagt. Sie hatte Scharfsinn bewiesen, indem sie die Schubfächer entfernte, um die Kommode leichter bewegen zu können. Es war ziemlich anstrengend für sie gewesen, sie unter die Klinke zu rücken. Sie musste einen guten Grund für ihr ungewöhnliches Verhalten haben. Gifford furchte die Stirn. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass sie es für notwendig hielt, ihre Schlafzimmertür auf diese Weise zu verbarrikadieren. Falls ein Brand ausbrach, säße sie in der Falle.
Er dachte über die Situation nach. In dieser Nacht konnte er wenig tun, nahm sich indes vor, das Rätsel am nächsten Morgen zu lösen. Vielleicht würde er mit dem Admiral anfangen. Er glaubte nicht, dass er ihn lange dazu drängen müsse, über seine heiß geliebte Miss Summers zu reden. Das einzige Problem war, den Eindruck zu vermeiden, dass er sich persönlich für sie interessierte. Er würde den Admiral jedoch nicht zum ersten Mal verbal auszutricksen versuchen.
Miss Wyndhams Räume befanden sich in der ersten Etage. Sie begab sich selten ins Parterre oder in den zweiten Stock, wo Abigail ihr Zimmer hatte. Wenn Mr. Johnson zu Besuch kam, benutzte er jedoch eine Schlafkammer, die auf demselben Korridor lag. Abigail empfand stets Unbehagen über sein Verhalten ihr gegenüber. War Miss Wyndham anwesend, benahm er sich untadelig aufmerksam, wenngleich nie in einer Weise, die seine Großtante hätte eifersüchtig werden lassen. War er allerdings mit Abigail allein, veränderte sich sein Benehmen. Es war klar, dass er auf sie herabsah. Er hielt sie für nichts Besseres als ein Hausmädchen. Einmal hatte er sich sogar auf der Treppe an sie gedrückt.
Ihr grauste bei der Vorstellung, er könne sie noch intimer berühren. Sollte das der Fall sein, würde ihr Wort gegen seines stehen, das der armen Gesellschafterin gegen das des gut aussehenden, begehrten jungen Verwandten. Es würde ihm leicht fallen zu behaupten, sie hätte ihm Avancen gemacht. Und für sie wäre es schwierig, das Gegenteil zu beweisen.
Es war bedauerlich, dass kurz nach Mr. Johnsons letztem Besuch der Schlüssel zu ihrem Zimmer verschwunden war. Sie kam sich lächerlich vor, weil sie ihre Schlafzimmertür mit der Kommode verbarrikadiert hatte, doch leider war es ihr nicht gelungen, den Stuhl unter die Klinke zu klemmen. Sie benahm sich wie die Heldin in einem schlecht geschriebenen Kitschroman. Falls sie jedoch ihren guten Ruf oder gar ihre Stellung bei Miss Wyndham einbüßte, stand sie vor dem Nichts.
„Guten Morgen, Miss Summers.“
Überrascht schaute Abigail auf und sah Sir Gifford neben sich stehen. „Guten Morgen, Captain Raven“, erwiderte sie verdutzt. Mit der Augenklappe und der gefährlichen Ausstrahlung wirkte er inmitten der Leihbücherei vollkommen fehl am Platz. „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie gern lesen“, fügte sie atemlos hinzu.
„Ich liebe Bücher. Gestatten Sie?“, fragte er und wies auf den freien Platz neben ihr.
„Bitte“, antwortete sie und bekam jäh einen trockenen Mund. Der Baronet war zweifellos der interessanteste Mann, den sie je kennen gelernt hatte.
„Danke.“ Er nahm an ihrer Seite auf der Bank Platz.
Sie war viel zu aufgeregt, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Stattdessen richtete sie den Blick auf seine wohlgeformten, kräftigen und von der Sonne gebräunten Hände. Plötzlich nahm er das Buch an sich, in dem sie gelesen hatte. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, Einwände zu erheben. Seine selbstsichere Ausstrahlung und die Erinnerung an den sinnlichen Anblick, den er ihr geboten hatte, schienen sie zu bannen. In der Hand, in der er jetzt das Buch hielt, hatte er einen Dolch gehabt. In Gedanken sah sie ihn wieder halb nackt im dramatisch flackernden Kerzenlicht. Er passte nicht in diese bürgerliche Umgebung. Er gehörte auf ein Schiff, auf dem er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften gegen die Wucht der Elemente ankämpfte.
Sie machte Anstalten, ihre Lektüre wieder an sich nehmen, doch er ergriff ihre Hand und drückte sie sacht auf den Tisch. Kraft musste er nicht anwenden. Abigail war so überrascht darüber, seine Finger um ihre zu spüren, dass sie ihn gewähren ließ. Mehr noch, das Gefühl gefiel ihr. Es war eine bemerkenswert erregende Empfindung, die ihr durch und durch ging. Es sagte ihr zu, so nahe neben Sir Gifford zu sitzen, und sie mochte es, wie er sie anfasste. Vor Aufregung klopfte das Herz ihr schneller.
Sie hatte jedoch nicht den Wunsch, Mittelpunkt von Klatsch zu werden. Sie wollte auch nicht, dass Sir Gifford einen falschen Eindruck von ihr gewann. Sie errötete und machte ihre Hand los. Verstohlen blickte sie sich um und hoffte, niemand möge die kurze Intimität bemerkt haben. Sie fragte sich, ob dem Baronet überhaupt aufgefallen war, dass sie ihm ihre Finger entzogen hatte. Offenbar bedeutete es ihm nicht sehr viel, sie zu berühren.
„Warum haben Sie vorhin beim Lesen die Stirn gerunzelt?“, fragte er und las ein paar Zeilen. „Ich glaube, ich weiß es“, fuhr er fort und schien sehr mit sich zufrieden zu sein. „Ihre Indignation ist entweder auf einen Herrn in Ihrer Bekanntschaft zurückzuführen, der fünfunddreißig ist, oder auf eine Dame von siebenundzwanzig Jahren. ‚Eine Frau dieses Alters kann nicht mehr hoffen, Zuneigung zu empfinden oder bei jemandem auszulösen‘“, trug er aus dem Buch vor. „Ich vermute, dass es sehr ungehörig wäre, Sie zu fragen, wie alt Sie sind, nicht wahr?“
Ungehalten schaute Abigail ihn an. „Sie haben nicht den mindesten Grund zu der Annahme, dass ich über irgendetwas aus dem Roman die Stirn gefurcht habe“, entgegnete sie. „Vielleicht habe ich an ganz etwas anderes gedacht.“
„Wenn es Ihnen die Sache erleichtert, dann gestehe ich freimütig, dass ich im Dezember fünfunddreißig werde“, sagte er. Da Miss Summers das Stichwort nicht aufgriff, fuhr er beiläufig fort: „Admiral Pullen hat Sie heute Morgen nicht im Kurhaus gesehen.“
„Oh! Nein? Hat er nach mir Ausschau gehalten?“, fragte Abigail beunruhigt. „Ich spreche dort oft mit ihm. Aber da Sie jetzt in Bath sind …“ Sie hielt inne, weil sie befürchtete, es sei offenkundig geworden, dass sie Sir Gifford aus dem Weg gegangen war. „Miss Wyndhams Neffe ist zu Besuch gekommen“, erklärte sie dann hastig. „Und kein Neuankömmling ist für sie auch nur halb so interessant. Ich fand es daher nicht notwendig, im Gästebuch nachzusehen.“
„Ich verstehe“, murmelte Gifford. „Sie konnten Ihren eigenen Interessen nachgehen.“
„Genau“, erwiderte sie und war froh über seine rasche Auffassungsgabe. „Allerdings müsste ich jetzt nach Hause zurück. Miss Wyndham wird mich vermissen, wenn ich zu lange fort bleibe.“
„Dann erlauben Sie mir, Sie zu begleiten“, bat er und erhob sich im gleichen Augenblick wie Miss Summers.
Sie war beunruhigt über die Vorstellung, er könne sich ihr anschließen. „Das ist nicht nötig“, wandte sie ein. „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.“
„Das tun Sie nicht“, versicherte er und lächelte so hinreißend, dass ihr beinahe das Herz stehen blieb. „Im Gegenteil! Es wäre viel umständlicher, wäre ich genötigt, hinter Ihnen her zu gehen, damit Sie mich nicht bemerken. Schließlich müssen wir beide in dieselbe Richtung. Hat Miss Wyndhams Großneffe vor, lange in der Stadt zu bleiben?“, erkundigte er sich beim Verlassen der Leihbücherei.
„Das weiß ich nicht.“ Unschlüssig drehte Abigail den geschlossenen Sonnenschirm hin und her, ohne ihn zu öffnen. Wider besseres Wissen freute es sie, dass Sir Gifford sich ihr anschloss, aber sie befand sich in einem Dilemma. Sie war es nicht gewohnt, männlichen Schutz zu haben.
„Ein interessantes Hilfsmittel“, bemerkte er und deutete auf ihren Parasol. „Ist er kaputt? Lassen Sie mich nachsehen. Ich habe die sehr nützliche Begabung, zerbrochene Dinge wieder in Ordnung bringen zu können.“
„Er ist vollkommen in Ordnung“, entgegnete Abigail und furchte beunruhigt die Stirn. „Ich habe lediglich befürchtet, ich könnte Sie beim Aufspannen damit verletzen. Sie sind so viel größer als ich.“
„Das stimmt. Ich werde den Schirm für Sie halten.“ Ehe sie Einwände erheben konnte, hatte er ihn ihr abgenommen.
Nachdem man ein Weilchen schweigend nebeneinander her gegangen war, erkundigte sie sich neugierig: „Kommen Sie sich nicht albern vor, mit einem rosafarbenen Parasol durch Bath zu flanieren?“
„Nein. Müsste ich das?“
„Nun …“ Der Anblick des ungemein männlichen Captain Raven, der wie ein Pirat aussah und den Sonnenschirm einer Frau in der Hand hielt, hatte etwas Lächerliches an sich. Abigail überlegte, wie er sein Auge eingebüßt haben mochte. Bei der ersten Begegnung mit ihm hatten sie so viele andere Dinge beschäftigt, dass sie kaum dazu gekommen war, darüber nachzudenken. Jetzt war sie neugierig und fühlte sich ein wenig elend bei der Vorstellung, wie er die Verletzung bekommen hatte, durch die er so verunstaltet worden war.
„Woran denken Sie?“, fragte er plötzlich.
„An nichts“, log sie und schüttelte den Kopf.
„Es belastet Sie“, stellte er mit einem leicht harschen Unterton fest. „Stört es Sie, mit mir gesehen zu werden?“
„Nein, natürlich nicht!“ Erstaunt schaute sie ihn an. „Warum sollte es mich stören?“
Er schwieg, und es dauerte einige Minuten, bis er fragte: „Sind Sie schon lange Miss Wyndhams Gesellschafterin?“
„Seit neun Jahren.“
„Das ist ein ziemlich eingeschränktes Leben“, bemerkte er bedächtig.
Sie lachte. „Aber das gilt doch für die meisten Menschen“, hielt sie ihm vor. „Wenn Sie sich an Bord eines Schiffes befinden, und vielleicht sogar dann, wenn das nicht der Fall ist, unterliegen Sie doch dem Kriegsrecht, nicht wahr? Ich lebe nach anderen Gesetzen, werde jedoch im Gegensatz zu Ihnen nicht standrechtlich erschossen oder gehängt, wenn ich mich eines Vergehens schuldig gemacht habe.“
„Was passiert, wenn Sie einen Fehler machen?“, wollte Gifford wissen.
„Dann werde ich rot“, antwortete sie leichthin.
Er begriff, dass sie auf ihre Verlegenheit am Tag zuvor anspielte, und ging sofort unumwunden darauf ein: „Sie haben keinen Fehler gemacht. Sie sind in keiner Weise schuldig, nur weil Ihnen heiß war und Sie sich im Dunkeln ans offene Fenster gesetzt haben.“
In stillem Einverständnis war man stehen geblieben, und Abigail schaute Captain Raven an. Er hielt den Parasol über sie, so wie er das bisher getan hatte. Die Sonne schien ihm voll ins Gesicht. Seine Narbe und die Augenklappe waren nicht zu übersehen. Als Abigail ihn das erste Mal beobachtet hatte, hatte sie befürchtet, er wolle einen Mord begehen. Beim zweiten Mal hatte sie gespürt, dass er gefährlich war. Sie war sich dieser durch sein zivilisiertes Benehmen nur kaschierten Ausstrahlung noch immer bewusst. Sie bemerkte jedoch auch Wunden, die tiefer saßen.
„Es war ein Splitter“, erklärte er auf ihre unausgesprochene Frage.
„Ein Splitter?“ Verwundert dachte sie an die kleinen Späne, die einem in den Finger dringen konnten, wenn man raues Holz anfasste.
Gifford begriff ihre Verwirrung und lächelte leicht. „Wenn eine Kanonenkugel ein Schiff trifft, dann fliegen einem die Holz- oder Metalltrümmer nur so um die Ohren“, erklärte er. „Der Splitter, der mich erwischt hat, war fast sechs Fuß lang. Jedenfalls hat man mir das gesagt. Ich habe ihn nicht kommen gesehen. Hätte er mich nicht getroffen …“
„Oh, mein Gott!“, flüsterte Abigail. „Ist das der Grund, warum … Haben Sie davon geträumt?“
„Nein.“
Der Baronet presste die Lippen zusammen, als bereue er bereits, so viel gesagt zu haben. Sie wünschte sich, taktvoller gewesen zu sein, und überlegte, worüber sie jetzt reden könne. „Sind Sie hungrig?“, fragte sie, da man vor einer Bäckerei stand. „Ich habe Appetit auf Stachelbeerkuchen“, plapperte sie weiter, ohne sich richtig bewusst zu sein, was sie äußerte. „Wenn es welchen gibt, dann kaufe ich zwei Stücke für Miss Wyndham und ihren Großneffen.“
„Wenn es Stachelbeerkuchen geben sollte, dann kaufen wir drei Stücke“, erwiderte Gifford und hielt Miss Summers die Ladentür auf. „Zwei für Miss Wyndham und ihren Großneffen, und ein Stück für Sie.“
Als man daheim eintraf, wusste Gifford, dass Miss Wyndhams Großneffe tags zuvor am Vormittag angekommen war. Daher bestand kaum Zweifel daran, dass das Möbelrücken in Miss Summers’ Zimmer durch die Ankunft dieses Gentleman ausgelöst worden war. Beiläufig hatte Gifford ihr mehrere Fragen über Mr. Johnson gestellt, die von ihr jedoch nur vage beantwortet worden waren. Sie war nicht gewillt, den Verwandten ihrer Arbeitgeberin vor jemandem, den sie nicht gut kannte, zu kritisieren, ganz gleich, welche Bedenken sie dem jungen Herrn gegenüber hatte. Gifford respektierte ihre Loyalität. Die Situation stimmte ihn jedoch unzufrieden. „Hat Mr. Johnson vor, lange zu bleiben?“, erkundigte er sich.
„Dazu hat er sich nicht geäußert“, antwortete Abigail. „Ich nehme an, er wird seiner Tante einige Tage Gesellschaft leisten. Er hat in der Nachbarschaft viele Freunde. Ich bin sicher, auch sie freuen sich darauf, ihn zu sehen.“
„Dann sollten wir hoffen, dass er sie nicht warten lässt“, erwiderte Gifford trocken.
Überrascht schaute Abigail ihn an. Er bemerkte ihr Erstaunen und sah leichte Verlegenheit und Schuldbewusstsein in ihrem Blick.
„Vielen Dank, dass Sie mich nach Hause gebracht haben“, sagte sie nach kurzem Schweigen. „Ich hoffe, Sie finden Ihren Aufenthalt nicht allzu langweilig.“
„Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung besteht das Leben des Kapitäns eines Schiffes Seiner Majestät größtenteils aus Langeweile“, erwiderte Gifford lächelnd. „Ich erteile zwar viele Befehle, Miss Summers, aber danach habe ich im Allgemeinen nicht viel zu tun, außer mir den Anschein der Unbesorgtheit zu geben. Es wäre schlecht für das Selbstvertrauen meiner Leutnants, von ihrer Moral ganz zu schweigen, wenn ich mich unnötig in die Ausführung meiner Anweisungen mischen würde.“
„Oje! Wie ermüdend! Aber das ist eine ausgezeichnete Übung, um hier einen Monat zu verbringen“, setzte Abigail fröhlich hinzu.
Gifford grinste. Er bemerkte überrascht, dass er es genoss, sich mit der praktisch veranlagten Miss Summers zu unterhalten. Sie hatte einen unerwartet lebhaften Sinn für Humor und die seltene Fähigkeit, sich seinen wechselnden Stimmungen anzupassen.
„Nun, dann auf Wiedersehen, Captain“, sagte sie und streckte ihm die Hände hin. „Vielen Dank dafür, dass Sie mir meine Einkäufe getragen haben.“
„Es war mir ein Vergnügen“, erwiderte er galant, händigte ihr den Sonnenschirm und das in der Bäckerei erstandene Päckchen mit den Kuchenstücken aus. Erst als sie das Haus betreten und die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, fiel ihm auf, dass er immer noch die drei Bände des Werkes in der Hand hielt, in dem sie gelesen hatte. Er ging einige Schritte hinter ihr her, blieb dann jedoch stehen. Wenn er die Bücher behielt, hatte er einen Vorwand, um Miss Summers aufzusuchen. Er konnte sogar die Rolle des Liebhabers spielen und einen Band nach dem anderen zurückgeben. Admiral Pullen würde nichts anderes von ihm erwarten. Bei dem Gedanken lachte er auf und furchte dann die Stirn, weil seine Gedanken in diese Richtung gewandert waren. Er hatte nicht die Absicht, Miss Summers’ Verehrer zu werden. Es wäre nicht richtig gewesen, Erwartungen in ihr zu wecken, die er nicht erfüllen konnte.
Zwei Tage waren vergangen, seit Gifford Miss Summers im Kurhaus gesehen hatte. Am Morgen zuvor war sie nicht dort gewesen. Nun jedoch sah er sie, begrüßte sie und unterließ es natürlich zu erwähnen, dass ihre Abwesenheit ihm aufgefallen war. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als habe er sie absichtlich treffen wollen. Es gefiel ihm, sich mit ihr zu unterhalten, und er genoss es, sie zu betrachten. Er war jedoch nicht auf der Suche nach einer Ehefrau.
„Waren Sie schon in den Sydney Gardens?“, erkundigte sich Abigail. „Sie sind sehr hübsch.“
„Ja, ich habe Ihr Buch durchgeblättert“, antwortete er.
„Mein Buch?“, fragte sie verdutzt.
„Ja, der Band, in dem Sie in der Leihbücherei gelesen haben. Vor zwei Tagen vergaß ich, ihn Ihnen zurückzugeben.“
„Wirklich?“ Überrascht schaute Abigail ihn an. „Aus welchem Grund? Ich meine, weshalb haben Sie ihn sich angesehen? Ich hätte nicht gedacht, dass eine solche Geschichte Ihnen zusagen würde.“
„Es war lehrreich“, erwiderte Gifford und überlegte, warum diese ganz natürliche Frage sie so verlegen machte. An ihrer Stelle hätte auch er diese Frage gestellt. Die ehrliche Antwort war, dass er es dadurch vermieden hatte, wieder Albträume zu bekommen. Er hatte jedoch nicht die Absicht, Miss Summers das zu sagen.
„Lehrreich?“, wiederholte sie überrascht.
„Ja“, bestätigte er und dachte an das Gefühl der Klaustrophobie, das er beim Lesen empfunden hatte. „Eine solche Lebensweise habe ich nie in Betracht gezogen. Die Langeweile, von der ich geredet habe … Aber die triviale Sinnlosigkeit des Lebens, die in dem Werk beschrieben wird! Wie kann man ein solches Dasein ertragen?“, setzte er kopfschüttelnd hinzu.
Nachdenklich sah Abigail ihn an. „Noch habe ich das Buch nicht gelesen“, erwiderte sie bedächtig. „Aber wogegen richtet sich Ihr Haupteinwand?“
„Es handelt von der Welt einer Frau“, antwortete Gifford. „Die Männer sind bedeutungslos. Zwei von ihnen hängen ganz von den Launen ihrer betagten weiblichen Verwandten ab, wie Mr. Johnson.“ Er furchte die Stirn. „Selbst die Männer, die in gutem Licht erscheinen sollten, sind unentschlossen und untauglich.“
„Sie meinen, die Autorin ist zu hart mit dem männlichen Geschlecht umgegangen?“
„Nein, nein.“ Gifford setzte sich in Bewegung, weil er zu unruhig war, um still stehen zu können. „Wie gesagt, es geht um die Welt einer Frau. Ich meine, sie wollte, dass wir sie mit ihren Augen sehen. Wenn es tatsächlich so ist, eine Frau zu sein, dann kann ich Gott nur dafür danken, dass ich als Mann geboren wurde.“
„Was ist falsch daran, eine Frau zu sein?“
„Frauen haben keine Wahl, keine wirkliche Handlungsfreiheit. Sie müssen geduldig darauf warten, dass ein Mann sie zur Kenntnis nimmt. Und wenn sein Verhalten sie verwirrt, dann müssen sie sich den Anschein geben, das nicht zu merken, und Gleichmut vortäuschen. Unerträglich!“
Abigail lachte.
Finster schaute Gifford sie an und begriff zu spät, dass ein gebildeterer Leser seinen heftigen Gefühlsausbruch lachhaft finden mochte.
„Entschuldigen Sie.“ Abigail legte ihm die Hand auf den Arm. „Aber Sie haben so entrüstet geklungen.“
Am liebsten hätte er sie gefragt, wie sie ihre Machtlosigkeit als Frau so gelassen ertragen konnte. Doch das verbot sich von selbst. Schließlich wollte er kein besonderes Interesse an ihr bekunden.
„Ich nehme an, auf See unterliegen Sie ähnlichen Beschränkungen“, fuhr Abigail fort.
„Ja“, stimmte er stirnrunzelnd zu und entschied sich, das Thema zu wechseln. „Haben Sie nie daran gedacht, einen eigenen Hausstand zu gründen?“, erkundigte er sich angelegentlich.
„Nein. Ich habe kein Vermögen. Ich bin nicht mehr jung. Außerdem bin ich keine große Schönheit.“
Er starrte Miss Summers an. „Gefällt es Ihnen, eine Frau zu sein?“, wollte er wissen. „Wären Sie nicht lieber ein Mann?“
„Das ist eine überhebliche Frage!“, rief sie aus. „Wenn Frauen ein so bedauerliches Los haben, dann liegt das an den Männern, die sie dazu nötigen! Warum sollte ich mir wünschen, ein Mann zu sein?“
Gifford furchte die Stirn. „Die Schwachen werden die Erde erben?“, fragte er ironisch.
„Wir führen ein sehr seltsames Gespräch“, erwiderte Abigail. „Ich bin sicher, es gibt viele Männer, die glauben, Frauen seien verschlagen und hätten überhaupt kein Ehrgefühl. Und dass Frauen in der Tat nicht schwach seien, weil sie sehr durchtrieben im Hintergrund die Fäden ziehen und die Dinge zu ihren Gunsten beeinflussen.“
„Sie sind nicht durchtrieben“, entgegnete Gifford überzeugt.
„Es fehlt mir an Übung. Das ist ein Mangel“, gestand Abigail reglosen Gesichts.
„Das glauben Sie doch selbst nicht!“ Verspätet erkannte Gifford, dass Miss Summers sich über ihn lustig gemacht hatte. Er straffte die Schultern. Es war sehr lange her, dass jemand, von Anthony abgesehen, das getan hatte. Sein Aufenthalt in Bath verwandelte sich langsam in ein Abenteuer, indes nicht in der Weise, die sein Cousin im Sinn gehabt hatte.
Abigail blickte auf die Uhr. „Ich bin schon zu lange hier“, sagte sie. Gifford meinte, einen widerstrebenden Unterton in ihrer Stimme gehört zu haben, war sich jedoch nicht sicher. „Ich bringe Sie nach Hause.“
Sie sträubte sich nicht. „Genießt Mr. Hill seinen Aufenthalt hier?“, fragte sie, während sie mit dem Baronet zum Haupteingang ging.
„Ich nehme es an. Er hat mehrere Ausflüge in die Umgebung unternommen. Das größte Vergnügen scheint es ihm jedoch zu bereiten, Admiral Pullen dazu zu bewegen, ihm von meinen Jugendsünden zu erzählen.“
„Haben Sie lange unter Admiral Pullen gedient?“
„Ja, mehrere Jahre, auf zwei verschiedenen Schiffen“, antwortete Gifford, „und zwar zunächst als Unteroffizier und dann als Oberleutnant.“
„Er ist sehr nett.“
„Das hängt von den Umständen ab“, meinte Gifford und dachte an die Männer, die auf Grund der Befehle, die der Admiral in seiner langen Karriere erteilt hatte, gestorben waren. Und dann dachte er an die Männer, die auf Grund seiner eigenen Befehle gestorben waren. Die Verluste an Menschenleben waren die unausweichliche Folge eines Krieges, aber Gifford wollte nicht vergessen, dass Entscheidungen, die er gefällt hatte, andere das Leben gekostet hatten.
Abrupt fiel ihm auf, dass Miss Summers neben drei älteren Damen stehen geblieben war, und zwang sich zur Aufmerksamkeit.
Abigail hatte gehofft, nicht in die Verlegenheit zu geraten, Sir Gifford mit irgendjemandem bekannt machen zu müssen. Kaum hatte sie jedoch Mrs. Lavenham und ihre beiden Freundinnen gesehen, war ihr klar geworden, dass sie die Damen nicht ignorieren konnte. Sie machte das Beste aus der Situation und stellte ihren Begleiter in ziemlich unpersönlichem Ton vor.
„Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Sir Gifford, Sie kennen zu lernen!“, rief Mrs. Lavenham aus. „In der Gazette haben wir alles über Ihre kühnen Unternehmungen gelesen.“
„Werden Sie bald wieder zur See gehen?“, fragte Mrs. Hendon.
„Kennen Sie Miss Summers schon lange?“, wollte Miss Clarke wissen.
„Mein Sohn Edward ist Leutnant bei der Marine“, fuhr Mrs. Hendon fort.
„Sie beide scheinen sehr gut miteinander befreundet zu sein“, meinte Miss Clarke. „Ich bin sicher, Sie beide sind gute Freunde.“
Abigail warf Sir Gifford einen Blick zu und musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht über seine hölzerne Miene zu lachen. Es sah ganz danach aus, dass der galante Kapitän mehr in seinem Element war, wenn er sein Schiff durch einen Hurrikan steuerte, als wenn er weiblicher Geschwätzigkeit ausgesetzt war. „Sir Gifford ist ein alter Bekannter von Admiral Pullen“, erklärte sie. „Admiral Pullen hat mich gebeten, ihn mit der hiesigen Gesellschaft bekannt zu machen.“
„Der Admiral ist ein charmanter Mensch“, äußerte Mrs. Lavenham majestätisch. „Ich glaube, Sie haben unter ihm gedient, nicht wahr, Captain?“
„Ja“, bestätigte Gifford knapp.
„Edwards größter Ehrgeiz ist es, unter Ihrem Kommando zu fahren, Sir Gifford“, warf Mrs. Hendon eifrig ein. „Er hat mir oft gesagt, wie sehr er Sie bewundert. Werden Sie bald wieder auf See sein, Captain?“
„Nein.“
„Dann bleiben Sie einige Zeit in der Stadt?“, fragte Miss Clarke und ließ neugierig den Blick zwischen Miss Summers und Sir Gifford Raven hin und her schweifen.
„Ja, einige Wochen“, antwortete Gifford ausweichend.
„Für einen Mann wie Sie, der im besten Alter ist, gibt es in dieser Saison so wenig öffentliche Vergnügungen“, wandte Miss Clarke ein. „Aber vielleicht haben Sie einen persönlichen Grund, der Sie hier festhält“, fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf Miss Summers hinzu.
„Ich werde meinen Mann bitten, Sie aufzusuchen, Sir Gifford“, kündigte Mrs. Lavenham an. „Es wäre uns eine Ehre, Sie bei dem Dinner, das wir am Freitag geben, begrüßen zu dürfen.“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden“, erwiderte Gifford kühl.
Vor Angst klopfte Abigail das Herz bis zum Hals. Miss Clarkes vulgäre Unterstellungen erschütterten sie. Außerdem merkte sie, dass Sir Gifford zunehmend ungeduldiger wurde. Sie hatte ihn nie die Beherrschung verlieren sehen, aber vielleicht ließ er sich zu einer Äußerung reizen, die sie bedauern würde, da sie sich später die Meinung der Damen über ihn anhören musste. „Sind Sie nicht in Kürze mit Ihrem Vetter und Admiral Pullen verabredet?“, fragte sie.
„Ja, das bin ich“, rief er mit bei ihm ungewohntem Eifer aus. „Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen, dass ich Sie so brüsk verlassen muss, aber sonst verspäte ich mich. Kann ich Sie ein Stück des Wegs begleiten, Miss Summers?“
Sie war unschlüssig, weil sie einerseits nicht den drei schlimmsten Klatschtanten der Stadt ausgeliefert sein, ihnen andererseits aber auch nicht noch mehr Gesprächsstoff liefern wollte, wenn sie mit Sir Gifford weiterging. „Vielen Dank, Captain“, sagte sie höflich. „Ich weiß, dass Sie den Admiral nicht warten lassen mögen. Ich befürchte, in dieser Hitze kann ich nicht so schnell gehen. Bitte, grüßen Sie ihn und Mr. Hill von mir.“
„Natürlich.“ Gifford verneigte sich vor den Damen und verließ die Trinkhalle.
„Auch mich müssen Sie bitte entschuldigen, meine Damen“, sagte Abigail hastig. „Miss Wyndham erwartet mich.“
„Ich habe gehört, dass ihr Neffe zu Besuch gekommen ist“, erwiderte Mrs. Lavenham. „Ich bin sicher, dass sie sich sehr freut.“
„Ja, wirklich“, bestätigte Abigail mit strahlendem Lächeln. „Auf Wiedersehen.“ Sie eilte aus dem Kurhaus und entspannte sich erst, als sie die Union Street zur Hälfte hinter sich hatte. Jetzt wusste sie, dass der Captain nicht nur ein äußerst erfolgreicher Marineoffizier, sondern auch ein Baronet war, dem, wie Mrs. Chesney ihr morgens erzählt hatte, etliche Besitzungen in mehreren Grafschaften gehörten. Kurzum, er war nicht nur ein Held, sondern auch ein wohlhabender Junggeselle.
Sie fand es unerträglich, dass er oder die Klatschtanten denken könnten, sie hätte es auf ihn abgesehen.
Gifford schreckte aus dem Schlaf und hörte im nächsten Moment eine Frau schreien. Er brauchte drei Sekunden, um zu wissen, wo er sich befand. Er war nicht in seiner Kajüte auf der Unicorn und auch nicht auf dem Kaperschiff gefangen, sondern in Bath. Er sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Es war nichts zu sehen. Die Vorhänge von Miss Summers’ Schlafzimmerfenster waren zugezogen, und kein Laut drang nach draußen.