Historical Saison Band 73 - Georgie Lee - E-Book
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Historical Saison Band 73 E-Book

Georgie Lee

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Beschreibung

GEFÄHRLICHE KÜSSE IM NAMEN DER KRONE von GEORGIE LEE

Eine Verschwörung gegen die englische Krone? Von höchster Stelle erhält Bartholomew Dyer den Auftrag zu ermitteln. Doch dazu braucht er Zugang zur adligen Gesellschaft. Nur die wunderschöne Moira, Lady Rexford, kann ihm helfen. Die Frau, die sein Herz damals in tausend Scherben zerbrochen hat - und die er immer noch liebt …

ALLES ANDERE ALS EIN GENTLEMAN? von LIZ TYNER

"Entführen Sie mich!" Katherine hat einen gewagten Plan: Der verwegene Brandt Radcliffe soll sie kidnappen und so vor einer Ehe mit einem verhassten Mann bewahren. Doch was macht Radcliffe, dieser Draufgänger? Er blitzt sie frech an und schlägt Katherine schließlich vor, er könne sie heiraten …

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Georgie Lee, Liz Tyner

Historical Saison BAND 73

IMPRESSUM

HISTORICAL SAISON erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 73 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2017 by Georgie Reinstein Originaltitel: „Courting Danger with Mr Dyer“ erschienen bei: Mills & Boon, London in der Reihe: HISTORICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Eleni Nikolina

© 2018 by Elizabeth Tyner Originaltitel: „Saying I Do to the Scoundrel“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto in der Reihe: HISTORICALS Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Maria Fuks

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733749651

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

Gefährliche Küsse im Namen der Krone

1. KAPITEL

London, 1813

Du musst es tun.“ Bartholomew Dyer stieß Frederick Chambers, den 5. Earl of Fallworth, hart gegen die Wand, als könnte er ihn auf diese Weise dazu bringen, wieder für die gemeinsame Sache zu kämpfen. „Wir brauchen dich.“

„Ich kann nicht, verstehst du das denn nicht?“, knurrte Freddy und grub seine Fingernägel in Barts Arme. „Ich habe genug geopfert. Ich weigere mich, noch weitere Risiken einzugehen.“

„Lassen Sie ihn los.“ Die Dame hinter ihm verlieh ihren Worten Nachdruck, indem sie den Hahn einer Pistole spannte.

„Verdammt“, entfuhr es Bart. Wenn sie sich mit der Waffe nicht gut auskannte, würde die Kugel durch ihn hindurchgehen und dann den Earl treffen. Langsam nahm er den Arm von Freddys Brust und trat einen Schritt zurück.

„Moira, es ist nicht, wie du denkst“, rief Freddy und versuchte, seine Schwester zurückzuhalten.

Bart knirschte unwillkürlich mit den Zähnen – verärgert über die reflexartige Reaktion seines Körpers, wenn nur ihr Name genannt wurde. Es wäre ihm sehr viel lieber gewesen, wenn ein Dienstmädchen oder Freddys ältliche Tante erschienen wäre und nicht ausgerechnet seine ehemalige Verlobte, die zu allem Unglück noch Fallworths Schwester war. Die junge Dowager Countess of Rexford war ein hinreißender Anblick, aber auch der letzte, den Bart sich jetzt gewünscht hätte.

„Wie ist es dann?“ Sie richtete die Pistole noch immer auf Barts Brust und nahm den Blick ihrer schönen grünen Augen keinen Moment von ihm.

Sie hatte sich verändert in den letzten fünf Jahren, in denen er sie nicht gesehen hatte. Damals war sie eine junge Dame gewesen, die erst kürzlich nach London gekommen war, und er ein ehemaliger Soldat, der eine Karriere als Anwalt begann. Die unschuldige, unsichere Haltung von damals war verschwunden. Jetzt hielt sie sich sehr viel selbstbewusster und ernster – eine Ernsthaftigkeit, die gewiss daher rührte, dass sie in den letzten Jahren ihren Gemahl, ihren Vater und ihre Schwägerin verloren hatte. Das ovale Gesicht, die hohen Wangenknochen, das glänzende blonde Haar – alles an ihr war nicht minder eindrucksvoll und verführerisch als damals. Doch Bart hütete sich davor, sich wieder von ihr bezaubern zu lassen. Er hatte nicht das Verlangen, erneut gesagt zu bekommen, dass er nicht gut genug für sie sei, oder gar seine Mission zu gefährden, nur weil Moira die Situation missverstehen könnte.

Ironisch lächelnd verbeugte er sich vor ihr. „Guten Abend, Lady Rexford. Es ist ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.“

„Leider kann ich nicht dasselbe behaupten, Mr. Dyer. Wären Sie nicht einer der berühmtesten Anwälte Englands, vor dem unzählige Friedensrichter in Ehrfurcht erzittern, hätte ich Ihnen bereits eine Kugel durch den Leib gejagt, damit Sie endlich aufhören, meine Familie zu belästigen.“

Er breitete die Arme aus, um ihr eine größere Angriffsfläche zu bieten. „Warum nutzen Sie nicht einfach die günstige Gelegenheit?“

Verärgert über seine höhnische Bemerkung, verzog sie verächtlich den Mund, richtete jedoch weiterhin die Pistole auf ihn. „Da ich nicht den Wunsch habe, wegen Mordes gehängt zu werden, verlange ich von Ihnen, dass Sie sofort von hier verschwinden und niemals wiederkehren.“

„Ihre Tante erteilte mir vor Jahren denselben Befehl, aber wie Sie sehen, blieb er wirkungslos“, antwortete er gereizt.

„Ich denke, ich bin wohl ein wenig überzeugender als sie.“ Sie blickte flüchtig auf ihre Pistole.

Er bewunderte ihren – wenn auch völlig unangebrachten – Wunsch, ihren Bruder zu beschützen. Dennoch konnte er sich nicht mit solchen Lappalien aufhalten, denn das, was ihn hergeführt hatte, war unendlich viel wichtiger als sein Leben oder das irgendeines anderen Menschen.

„Moira, es ist gut. Lass uns allein. Wir haben etwas zu besprechen.“ Lord Fallworth hob sein Brandyglas an die Lippen und leerte es.

„Was habt ihr schon zu besprechen! Welche Spielhölle ihr besuchen wollt?“, fragte sie böse. „Glaub ja nicht, Tante Agatha hätte mir nicht geschrieben, was ihr, du und Mr. Dyer, getrieben habt, als du vor zwei Jahren in London warst. Ich lasse nicht zu, dass du dich ruinierst, kaum eine Woche nachdem wir in der Stadt angekommen sind.“

Bart unterdrückte ein gereiztes Knurren. Wüsste Lady Rexford die wahren Gründe für jene Nächte vor zwei Jahren, würde sie die Pistole senken, sich ihm an den Hals werfen und ihm für seine Dienste für das englische Königreich danken.

„Freddy, ich überlasse dich nicht dem Einfluss eines solchen Mannes.“ Lady Rexford machte eine Handbewegung, als wollte sie Bart verscheuchen. „Nicht jetzt, da du so verletzlich bist nach Helenas …“

„Du brauchst es nicht auszusprechen!“ Lord Fallworth griff nach der Karaffe mit dem Brandy und füllte sein Glas nach.

Bart öffnete den Mund, um Lady Rexford zu sagen, sie solle sich aus Sachen heraushalten, von denen sie nichts verstand, doch dann hielt er sich zurück. Freddy gab sich in letzter Zeit immer mehr dem Brandy hin, und Bart überlegte, ob er überhaupt geeignet war für die Mission, die ihnen bevorstand. Gleichzeitig drängte sich der Gedanke, Lady Rexford anstelle ihres unwilligen Bruders für diese Aufgabe zu gewinnen, immer stärker auf. Sie stand kerzengerade vor ihm, einen Fuß vor dem anderen, sodass ihr Rock die Form ihres schlanken Schenkels umspielte. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, ihr Blick konzentriert und anscheinend konnte sie mit einer Waffe umgehen. Zudem würde niemand eine Dame verdächtigen. „Sie sind mit Lady Camberline befreundet?“

Seine Frage verwunderte sie, das konnte Bart deutlich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen. „Nicht befreundet, sondern eher bekannt. Wir unterstützen beide die Geburtsklinik hier in London.“

„Kennen Sie sie gut genug, um sie zu besuchen und Einladungen von ihr zu erhalten?“

„Nein, Bart, hör auf damit“, warnte Lord Fallworth ihn.

Lady Rexford sah von Bart zu ihrem Bruder und wieder zurück. „Ja, so gut kenne ich sie schon.“

„Gehen Sie heute Abend zu ihrem Ball?“

„Ja, aber wozu wollen Sie das wissen?“

„Ich sagte, hör auf damit.“ Fallworth stellte sein Glas geräuschvoll auf den Tisch und verschüttete dabei die Hälfte des Brandys. „Nicht sie.“ Er packte Bart bei den Aufschlägen seines Jacketts und schüttelte ihn. „Ich habe meine Frau verloren wegen einer Handvoll Verräter. Ich will nicht auch noch meine Schwester verlieren!“

Wäre Freddy irgendein Londoner Gentleman gewesen, hätte Bart ihn wie einen Sack Mehl fallengelassen. Doch sein Freund hatte vor zwei Jahren sehr viel geopfert, und bis heute war Bart nicht bewusst gewesen, wie sehr ihn das verändert hatte.

„Wovon redest du denn nur, Freddy?“, fragte Lady Rexford mit leicht bebender Stimme. „Was für Verräter?“

Bart und Lord Fallworth wechselten einen besorgten Blick. Moira kannte nicht die Wahrheit über Lady Fallworths Tod – nur wenige Menschen kannten sie –, und jetzt war nicht der Augenblick, um sie aufzuklären.

„Nichts“, antwortete Fallworth mit einer Stimme, die wenig überzeugend klang. „Ich habe mich versprochen.“

Er warf Bart einen weiteren warnenden Blick zu, bevor er ihn losließ und sich in einen nahen Sessel sinken ließ. Bart betrachtete ihn mitfühlend. Er wusste, welchen Schmerz er seinem alten Freund zufügte. Wenn es in seiner Macht läge, würde er ihn in Frieden lassen, doch dieses Mal stand zu viel auf dem Spiel. „Wenn ich ihre Pläne nicht bald aufdecke, könnten die Regierung und der König gestürzt und stattdessen Napoleon auf den Thron gesetzt werden.“

„Wovon redet ihr?“, verlangte Lady Rexford zu wissen.

„Lass mich ihr davon erzählen. Dann kann sie selbst entscheiden“, fuhr Bart im selben gedämpften Ton fort, den er für gewöhnlich anwandte, wenn er einem Klienten schlechte Nachrichten überbringen musste.

Lord Fallworth griff wieder nach seinem Glas und sackte in seinem Sessel zusammen. „Dann sag es ihr.“

„Was soll er mir sagen?“ Lady Rexford ließ den Hahn ihrer Pistole überraschend geschickt zurückgleiten. Manch andere Frau wäre zu schnell vorgegangen und hätte das verdammte Ding abgefeuert. Noch ein Punkt, der für sie sprach.

Bartholomew atmete tief durch. Was er gleich enthüllen würde, könnte die gesamte Mission in Gefahr bringen, wenn Lady Rexford bei irgendeiner Teegesellschaft auch nur ein falsches Wort ausplauderte. Aber da Freddy nicht in der Lage war, ihm zu helfen, war seine Schwester vielleicht Barts einzige Chance. In Bezug auf ihre katastrophale Verlobung hatte sie sich jedenfalls als diskret erwiesen. Niemand außer ihrer Familie und seiner wusste etwas davon. Er war sicher, dass er sich auch jetzt auf ihre Vernunft verlassen konnte.

Bart wandte sich mit dem gleichen Respekt an sie, den er an den Tag legte, wenn er einen Richter ansprach. „Ich bin nicht nur Anwalt, Lady Rexford, sondern auch Berufsrichter. Als solcher hat mir das Außenministerium die Befugnis erteilt, Verräter außer Gefecht zu setzen, die unser Land unterwandern und zu Grunde richten wollen. Eine Anzahl von Männern arbeitet dabei für mich, und Ihr Bruder gehörte einst zu ihnen. In den vielen Nächten vor zwei Jahren, von denen Ihre Tante Ihnen berichtete, verprassten Ihr Bruder und ich nicht unser Geld am Spieltisch oder für Alkohol, vielmehr taten wir alles, um den Plan von Lord McCreery zu vereiteln. Dieser Gentleman hatte vor, im Auftrag der Scottish Corresponding Society, einem radikalen Geheimbund, den Premierminister zu ermorden. Wir verbrachten tatsächlich viel Zeit damit, zu trinken und uns mit jenen Männern an den Spieltisch zu setzen, die mit dem Geheimbund in Verbindung standen. Auf diese Weise erfuhren wir Einzelheiten über die Verschwörung, denn Alkohol lockert die Zunge. Er bringt die Menschen dazu, sich zu vergessen.“

Er hob vielsagend die Augenbrauen. Moiras sinnliche Lippen, die er vor fünf Jahren voller Genuss gekostet hatte, wurden jetzt gereizt zusammengepresst, und eine heftige Röte überzog ihre Wangen. Offenbar erinnerte sich Lady Rexford genauso wie er an ihre gemeinsame Vergangenheit und die Zeit, die sie eng umschlungen auf Lady Greenwoods Balkon verbracht hatten. Bart achtete nicht darauf, sondern fuhr fort: „Dank der Hilfe Ihres Bruders gelang es uns, den Anschlag zu verhindern, doch inzwischen braut sich eine neue Verschwörung zusammen. Eine Gruppe, die sich Rouge Noir nennt, arbeitet zurzeit daran, die englische Krone zu schwächen und Napoleon auf den Thron zu setzen. Bei ihren Mitgliedern handelt sich um eine Ansammlung von Londoner Aristokraten, die Verbindungen zum Kaiser der Franzosen unterhalten.“

„Ich soll Ihnen tatsächlich glauben, dass englische Adlige sich verschworen haben, um die Regierung zu stürzen?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sodass die Pistole locker an ihrer rechten Hand herunterhing, und blickte Bart fassungslos an. Er war ebenso skeptisch gewesen, als Charles Flint im Auftrag des Außenministeriums das erste Mal mit dieser Sache an ihn herangetreten war. Obwohl er genügend Erfahrung darin hatte, betrügerische Machenschaften aufzudecken, um seine Klienten zu beschützen, und obwohl er in seiner Zeit als Captain der englischen Armee in Österreich einiges erlebt hatte, war es ihm schwergefallen, diese Geschichte zu schlucken. Wie lächerlich musste sie da erst einer Dame erscheinen, die die letzten Jahre zurückgezogen auf dem Land gelebt hatte.

„Ich weiß, Sie verabscheuen die Aristokratie, aber ich hätte nicht gedacht, dass Sie so tief sinken und sie des Hochverrats beschuldigen würden.“

Bart sah sie aus leicht zusammengekniffenen Augen an und bemühte sich, so gefasst zu bleiben, als würde er einen Klienten vor Gericht verteidigen. Doch Lady Rexford hatte einen wunden Punkt getroffen und war damit eine der wenigen Personen, denen dies je gelungen war. „Es mag sein, dass ich einen Großteil des Adels ablehne, dennoch habe ich geschworen, auch diese Menschen zu beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass auch nur einer meiner Landsleute, ob arm oder reich, von Napoleons Stiefel zertreten wird.“

„Es ist wahr, Moira“, warf Freddy ein.

Sie drehte sich zu ihrem Bruder um. „Das kann nicht sein!“

„Doch“, beharrte Bart. „Die Regierung ist schwach, der Premier ebenfalls. Eine Handvoll angestaubter Männer regiert das Land. Der König ist geisteskrank und sein Sohn ein unnützer Dandy. Sollte es Rouge Noir gelingen, sie zu töten, wird England auf die Knie gezwungen und Napoleon kann ohne Mühe über uns hereinbrechen und uns seinen Willen aufzwingen. Meine Informanten und ich konnten vor einer Weile einige weniger wichtige Mitglieder der Gruppe aufspüren. Wir glaubten, wir hätten sie genügend in ihren Plänen gestört, um sie gänzlich aufzuhalten. In der vergangenen Woche wurde jedoch einer ihrer Kuriere in Dover festgenommen. Er hatte eine Nachricht für Napoleon im Gepäck, in der zu lesen war, dass Rouge Noir mit ihren Vorbereitungen gut vorankämen. Ich denke, es wird etwas geschehen, und zwar bald. Ich weiß nicht, was es ist, und ich weiß nicht, wo es stattfinden wird, aber ich muss es herausfinden. Derzeit verdächtige ich einige Personen im Bekanntenkreis von Lady Camberline. Leider kann ich mich ihnen nicht nähern, ohne Verdacht zu erregen.“

„Wenn Sie glauben, Freddy wird Ihnen dabei helfen, dann irren Sie sich.“ Sie stellte sich demonstrativ zwischen Bart und Lord Fallworth, als wollte sie ihren Bruder beschützen. „Es geht ihm nicht gut genug, um bei Ihrem Vorhaben mitzumachen.“

„Ihn bitte ich ja auch nicht darum. Ich bitte Sie.“

Moira ließ die Arme sinken. Das konnte nicht wahr sein. Doch der harte Ausdruck auf dem markanten Gesicht des Anwalts und der eisige Blick seiner dunklen Augen zeigten ihr, dass es wahr sein musste. „Mich?“

„Ich brauche Sie, Lady Rexford. England braucht Sie“, drängte er. Es war das erste Mal, dass sie miteinander sprachen, seit jenem Morgen vor fünf Jahren, als sie die Verlobung mit ihm gelöst hatte. Damals hatte sie etwas von ihrer Pflicht ihrem Vater gegenüber gestottert und davon, dass sie dem guten Ruf der Fallworths nicht schaden durfte. Er hatte es nicht sehr gut aufgenommen und ihr aristokratischen Dünkel und Schwäche vorgeworfen. Sie ihrerseits hatte versucht, ihm zu erklären, wie sehr sich ihr kranker Vater um ihre Zukunft sorgte. Aber Bart hatte nicht einmal zugehört. Sie hatten sich voll Bitterkeit voneinander getrennt. Als ein paar Jahre später Tante Agathas verzweifelte Briefe bei Moira eintrafen, war sie überzeugt gewesen, dass ihr Gehorsam ihrem Vater gegenüber sie davor bewahrt hatte, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen. Dabei hatte Bart die ganze Zeit für etwas sehr viel Wertvolleres gekämpft als den Gewinn am Kartentisch! „Sie können Lady Camberlines Nähe suchen, ebenso wie die ihres Zirkels – ganz besonders der Personen, die ich in Verdacht habe.“

„Sie sind Baron Dennings fünfter Sohn, warum nutzen Sie nicht Ihre eigenen Verbindungen?“, protestierte sie.

„Meine Arbeit als Anwalt und die Vorbehalte, die mein Vater dagegen hat“, sagte er und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, „haben viele Leute gegen mich eingenommen. Außerdem ist der Rang eines Barons nicht hoch genug, als dass eine Marchioness Umgang mit mir pflegen würde. Sie hingegen können Ihre Bekanntschaft mit den Camberlines dazu nutzen, Informationen über die Verdächtigen einzuholen.“

„Die mich töten werden, falls sie herausfinden, dass ich für Sie spioniere.“ Sie hatte in den Zeitungen viel über politische Verschwörungen gelesen und wusste, was mit jenen geschah, die sich auf so etwas einließen.

„Falls Sie sich dafür entscheiden, mir zu helfen, verspreche ich Ihnen, alles zu tun, um Sie zu beschützen. Ich will jedoch ehrlich sein und zugeben, dass es keine Garantie gibt.“ Er warf Freddy einen betrübten Blick zu, worauf dieser noch etwas tiefer in seinem Sessel versank. Offensichtlich breitete die Finsternis der letzten zwei Jahre wieder ihren Schatten über ihn aus.

Moira wollte die Arme um ihn schlingen und ihn trösten, so wie sie es getan hatte, als sie damals nach Fallworth Manor gekommen war, um sich um Freddy und ihren Neffen Nicholas zu kümmern und ihnen durch die düstere Zeit nach Helenas Tod zu helfen. Dabei war sie damals selbst noch in Trauer um ihren Mann gewesen. Und jetzt bat Mr. Dyer sie darum, sich in Gefahr zu bringen und zu riskieren, dass Freddy und Nicholas wieder ein Mensch entrissen wurde, der ihnen nahestand und ihnen Halt gab – wie damals, als Helena getötet worden war. „Ich kann Ihnen nicht helfen.“

„Begreifen Sie, was auf dem Spiel steht? England und alles, was uns lieb und teuer ist, wird Napoleons Willkür unterworfen werden. Unser aller Glück, auch Ihres und das Ihres Bruders und Ihres Neffen wird verloren sein, wenn Rouge Noir Erfolg haben sollte. Doch mit Ihrer Hilfe können wir sie aufhalten.“

„Ich begreife schon, was auf dem Spiel steht, Mr. Dyer, aber während Sie mich bitten, mein Leben für König und Vaterland zu riskieren, denke ich an einen kleinen Jungen, der ohne Mutter aufwachsen muss.“ Sie warf die Pistole auf einen Tisch neben sich. „Ich kann ihn ebenso wenig im Stich lassen, wie Sie es zulassen können, dass diese Rouge-Noir-Verschwörung England schadet. Mein Motiv mag ja nicht so edel sein wie Ihres, mir allerdings reicht es.“

Seine Haltung wurde augenblicklich noch aufrechter, seine Miene verriet nichts davon, was in ihm vorging. Mit seiner imposanten Größe und den durchdringenden Augen unter dem dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haar war er ein eindrucksvoller Mann. Ganz offensichtlich war er es gewohnt zu bekommen, was er verlangte. Moira rechnete fest damit, von ihm bedrängt zu werden, und wappnete sich gegen weitere Argumente. Zu ihrem Erstaunen tat er nichts dergleichen.

„Sie irren sich, Lady Rexford. Ich verstehe sehr wohl, wie wichtig Ihnen Ihre Familie ist, und ich weiß sehr wohl zu schätzen, was Sie für Lord Fallworth nach dem Tod seiner Gattin getan haben“, sagte er mit der tiefen Stimme, die sie einst in ihren Träumen gehört hatte – bis die Kirchenglocken jene Träume zum Verstummen gebracht hatten. „Sie haben recht. Ihr Platz sollte an der Seite Ihrer Lieben sein. Ich muss mich bei Ihnen beiden entschuldigen. Wenn Sie mir Ihr Wort geben, dass Sie nicht weitersagen, was hier zwischen uns besprochen wurde, werde ich Sie nicht weiter behelligen.“

Moira entspannte sich langsam. Er war nicht so verständnisvoll gewesen, als sie ihm vor fünf Jahren den Laufpass gegeben hatte. Aber Tante Agatha und sie hatten die Situation auch denkbar ungeschickt gehandhabt, sodass Moira ihm seinen Zorn eigentlich nicht verübeln konnte. Heute verhielt er sich wie ein Gentleman und sie musste ihm mit dem gleichen Respekt begegnen. „Ich verspreche es.“

„Ich danke Ihnen.“ Er verbeugte sich und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

Darüber sollte sie eigentlich froh sein, doch sie war es nicht. Der Blick seiner Augen hatte sie wieder an jene Nacht auf Lady Greenwoods Ball erinnert, wo sie sich zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter unbeschwert und frei gefühlt hatte. Moira wünschte, etwas von dem jungen Mädchen, das kurz unter Barts Bewunderung aufgeblüht war, würde noch in ihr schlummern, doch die Ehe mit Lord Rexford hatte sie verändert.

Die Trennung von Bart war das Beste für alle, sagte sie sich wie schon so viele Male vorher. Ihr Vater hatte geglaubt, die Heirat mit Lord Rexford würde sie absichern, wenn er einmal nicht mehr wäre. Moira hatte sich einverstanden erklärt, damit er beruhigt sterben konnte, ohne sich Sorgen um ihre Zukunft machen zu müssen. Statt eines jungen, kräftigen Mannes hatte sie also einen alten, vermögenden geheiratet. Leider hatte dessen Unfähigkeit, ihr Kinder zu schenken, dazu geführt, dass nach seinem Tod fast alles, was er besaß, an seinen Neffen ging. Ihr Vater hatte dies nicht voraussehen können, dennoch hatte die Ehe mit Rexford ihr kein Glück gebracht.

Freddy stieß einen tiefen Seufzer aus und hievte sich mühsam aus dem Sessel.

„Vielleicht solltest du nach oben gehen und dich ausruhen“, schlug sie besorgt vor. Er erschien ihr heute so verhärmt. Schon lange hatte er nicht mehr so bedrückt ausgesehen. Moira fürchtete, dass die Begegnung mit Bart Erinnerungen in ihm geweckt und den Fortschritt der letzten Monate zunichtegemacht hatte.

„Nein, ich muss mit Miss Kent über Nicholas’ Kleidung und die Falkirk-Party sprechen.“

„Ich kann mit ihr reden, wenn du möchtest, und ihr sagen, dass sie nicht zu viel Geld dafür ausgeben soll.“

Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Das ist sehr aufmerksam von dir, aber ich glaube, es wird Zeit, dass ich wieder eine aktivere Rolle in der Erziehung meines Sohnes übernehme.“

„Natürlich“, antwortete sie erfreut. Vielleicht würden die finsteren Zeiten doch bald vorübergehen und er würde nicht mehr so abhängig von ihr sein. Der Gedanke machte sie glücklich und gleichzeitig ein wenig traurig.

Nicholas’ Lachen drang zu ihnen und gleich darauf hörten sie die hohe Stimme seines jungen Kindermädchens. Diese schien Freddy besonders aufzumuntern. „Ich werde gleich jetzt mit ihr sprechen.“

Moira folgte ihm aus der Bibliothek in die Eingangshalle. Sie freute sich, dass er wieder begierig war, seinen Sohn zu sehen, statt ihm dieselbe Gleichgültigkeit entgegenzubringen wie seinem Gut und allem anderen. Fallworth Manor hatte sich schon zu Lebzeiten ihres Vaters nach einigen aufeinanderfolgenden schlechten Ernten in Schwierigkeiten befunden und Freddys Gleichgültigkeit nach Helenas Tod hatte die Situation noch weiter verschlimmert. Moira hatte in den vergangenen zwei Jahren sehr hart arbeiten müssen, damit das Gut endlich wieder Gewinn abwarf. Dennoch würde es noch einige Zeit dauern, bis sie alle komfortabel von diesen Einkünften würden leben können.

Eine Tür öffnete sich, Nicolas erschien und stürzte aufgeregt auf sie zu.

„Da ist ja mein kleiner Engel.“ Moira kniete sich hin und streckte die Arme aus.

„Tante Moira!“ Nicholas warf sich auf sie und schlang seine pummeligen Ärmchen um ihren Hals.

Sie stand auf und drückte den Dreijährigen, der nach Milch und Erde duftete, an sich. „Wie geht es meinem Liebling heute?“

Der Kleine riss seine dunkelgrünen Augen noch weiter auf. „Ich hab’ ein Vögelchen gesehen.“

„Wirklich?“

Er steckte zwei winzige Finger in den Mund und nickte heftig.

„Nicholas und ich kommen gerade vom Park zurück“, erklärte Miss Kent, sein Kindermädchen, das ihm in gemessenerem Schritt gefolgt war. Sie war die jüngste Tochter eines Baronets, der nicht weit entfernt in Surrey lebte, und gerade achtzehn Jahre alt. Mit ihrem runden, freundlichen Gesicht und der zierlichen Gestalt war sie hübsch anzusehen. Da ihr auf dem Land kaum Möglichkeiten offenstanden, war sie zu Moira gekommen, um ihr ihre Dienste anzubieten. Sie zu Nicholas’ Kindermädchen zu machen, hatte sich als großartige Entscheidung erwiesen.

Freddy nahm seiner Schwester Nicholas ab und drückte ihn fest an sich. „Vielleicht gibt die Köchin dir ein paar Brotkrumen, damit du die Vögel im Garten füttern kannst.“ Sein Vorschlag ließ Nicholas entzückt in die Hände klatschen und Freddy musste lächeln. Er strahlte seinen Sohn an und dann Miss Kent, die errötete und schnell den Blick senkte. „Miss Kent, wenn Sie bitte mit mir und Nicholas ins Kinderzimmer gehen möchten, könnten wir über die neue Kleidung für Nicholas und die Fallkirk-Party sprechen.“

„Selbstverständlich, Mylord.“ Sie knickste vor Moira und folgte Freddy, der Nicholas fragte, was er sonst noch im Park gesehen hatte.

Moira klopfte geistesabwesend die Schmutzflecken von ihrem Rock, die die kleinen Finger ihres Neffen hinterlassen hatten, und bemühte sich, den Anflug von Eifersucht in ihrem Herzen zu unterdrücken. Sie liebte den Jungen ebenso sehr wie Freddy, doch sosehr sie sich auch um ihn kümmerte, er war der Sohn ihres Bruders. Sie hatte kein eigenes Kind, das sie in ihrer Witwenschaft trösten konnte, und das war der größte Kummer unter den vielen, die ihre Ehe ihr gebracht hatten.

„Du verwöhnst Nicholas“, bemerkte Tante Agatha, die gerade aus dem Salon kam. Sie trug ein kupferfarbenes Morgenkleid, das der Rundung ihres üppigen, jedoch gut kaschierten Busens folgte, bevor es den Rest ihrer wohlbeleibten Gestalt umspielte. Die strengen Locken, auf denen ein gelber Seidenturban thronte, zeigten die ersten Anzeichen von Grau.

„Ich kann nicht anders.“ Moira beschäftigte sich mit der Anordnung einiger Lilien, die in einer Vase auf einem der Wandtische standen.

„Eines Tages wirst du deine eigenen Kinder verwöhnen. Ich sehe nicht ein, warum nicht. Es gibt genügend Gentlemen, die es vorziehen, wenn eine Dame über – sagen wir Erfahrung – verfügt.“

„Tante Agatha!“ Moira wusste nicht, was sie mehr erstaunte: Tante Agathas Unverblümtheit oder die Tatsache, dass sie mit Rexford herzlich wenig Erfahrung gesammelt hatte, bevor ihn sein Herz im Stich gelassen hatte. Die Intimität mit einem Mann war ein Aspekt der Ehe, auf den sie sich ganz und gar nicht freute. Die wenigen Male, die Rexford sie belästigt hatte, hatten ihr kein Vergnügen bereitet. Sie hatte lediglich ihre Pflicht als Ehefrau getan und jedes Mal gebetet, er würde ihr ein Kind schenken. Doch auch dieses Opfer war völlig umsonst gewesen.

„Aber es ist doch wahr! Schließlich wird dich keiner wegen deines Vermögens heiraten, da Rexfords Familiensitz und der größte Teil seines Geldes an seinen Neffen gegangen ist“, stellte Tante Agatha fest. Moira pflückte einige verwelkte Blüten ab und verbiss sich eine gereizte Antwort. Die Direktheit ihrer Tante wurde mit jedem Jahr ärgerlicher. „Außerdem rechne ich damit, dass Freddy sich über kurz oder lang wieder verheiraten wird. Und dann, meine Liebe, wirst du nichts weiter sein als die verwitwete Tante. Das ist nicht akzeptabel. Lass uns aber jetzt nicht weiter darüber grübeln. Uns bleibt noch die ganze Saison, um uns darüber Sorgen zu machen.“

Nachdem sie diese traurige Wahrheit so rücksichtslos verkündet hatte, tätschelte Tante Agatha ihrer Nichte den Arm und verließ die Halle.

Moira sah ihr bedrückt nach. Es war nicht angenehm, die eigenen Befürchtungen laut ausgesprochen zu hören. Doch die Tante hatte recht: Sobald Freddy eine neue Ehe einging, würde seine Gattin Herrin auf Fallworth Manor werden und sich um Nicholas’ Erziehung kümmern. Sollte Moira in dieser Saison keinen Mann für sich gewinnen können, würde sie wohl noch auf Fallworth Manor bleiben dürfen, trotzdem wäre es nicht mehr ihr wirkliches Zuhause und sie hätte dort keine Aufgabe mehr. Dass Agatha ihr die Situation mit ihrer gewohnten Schonungslosigkeit verdeutlichte, half ihr nicht besonders. Ebenso wenig wie die Begegnung mit Mr. Dyer.

Als sie sich daran erinnerte, wie ihre Tante vor Jahren in ebendieser Halle gestanden und Bart in unmissverständlichen Worten erklärt hatte, dass er auf Grund seines niedrigen Standes kein geeigneter Bewerber um Moiras Hand sei, errötete sie heftig. Während ihre Tante gesprochen hatte, hatte Moira daneben gestanden, unfähig, dem geliebten Mann in die Augen zu blicken. Doch die schwache Gesundheit ihres Vaters hatte sie gezwungen nachzugeben. Sie hatte seinen Zustand nicht noch verschlimmern wollen, indem sie sich ihm oder der Tante widersetzte.

Inzwischen war ihr Vater nicht mehr da und Bart war zurückgekommen. Eine winzige Flamme ihrer alten Lebensfreude, die so lange erloschen schien, flackerte bei dem Gedanken an ihn wieder auf.

Er ist nicht gekommen, um mich zu umwerben. Sie ging in die Bibliothek zurück, nahm die Pistole und wollte sie in ihren Kasten legen. Dabei versuchte sie, die heutige Begegnung mit Bart und seine Bitte aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Was er über die wahre Natur seiner Arbeit gesagt hatte, änderte alles, was sie bisher über ihn geglaubt hatte.

Nachdenklich wog sie die Pistole in der Hand. Selbst nachdem sie ihn wie einen gemeinen Dieb behandelt hatte, hatte er ihr zugetraut, ihm bei etwas so Wichtigem wie der Rettung Englands zu helfen.

Könnte ich ihm wirklich helfen? Es war nicht ihre Gewohnheit, jemanden abzuweisen, wenn er sich um Hilfe an sie wandte, dennoch konnte sie sich unmöglich in so etwas verwickeln lassen. Sie war nach London gekommen, um sich wieder in Gesellschaft zu begeben, nicht um Spionage für die Regierung zu betreiben. Wenn Bart allerdings recht hatte, waren sie alle in Gefahr, selbst wenn sie sich nur den unschuldigsten Vergnügungen hingaben.

Nein, ich kann mich nicht darauf einlassen. Ihr Platz war an der Seite ihrer Familie, nicht an der Seite eines Spions auf der Jagd nach Verrätern. Entschlossen legte sie die Pistole in ihren Kasten und verließ den Raum. Mr. Dyer zu helfen, war ein aberwitziger Gedanke – jedoch einer, der ihr nicht mehr aus dem Sinn ging.

2. KAPITEL

Bart, ich habe nicht damit gerechnet, dich heute in der Rotten Row zu sehen.“ Barts Bruder Richard lachte und lenkte sein Pferd an Barts Seite. Als ältester Sohn der Familie war er der Erbe und zugleich der einzige Dyer-Sohn, der in den Augen ihres Vaters nichts falsch machen konnte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du ausgerechnet zu einer Zeit herkommst, in der du zwangsläufig den Vornehmsten der Aristokratie begegnest.“ Bart saß auf seinem Pferd etwas abseits des Weges, auf dem zahlreiche Gentlemen und Damen der feinen Gesellschaft vorbeiritten.

„Das würde ich auch gern vermeiden, aber ab und zu komme ich her, um mich mit Klienten zu treffen.“ Dennoch war es nicht seine Tätigkeit als Anwalt, die ihn hergeführt hatte. Er wollte herausfinden, wer sich mit wem traf. Rouge Noir war vielleicht dabei, neue Mitglieder zu rekrutieren oder ihr Vorhaben genauer zu planen. Die stets gut besuchte Rotten Row im Hyde Park war ein idealer Ort, um beides unauffällig zu tun. Bis jetzt war Bart allerdings nichts Besonderes aufgefallen.

„Mama sagt, sie hätte noch nicht von dir gehört, ob du übermorgen zu ihrer Soiree kommst“, tadelte Richard. Sein Pferd tänzelte auf der Stelle und versperrte Bart gerade in dem Moment die Sicht auf den Reitweg, als der Comte de Troyen in seinem roten Phaeton erschien, seine hübsche dunkelhaarige Tochter an seiner Seite. Der französische Emigrant stand ganz oben auf Barts Liste der Verdächtigen. Man hatte ihn dabei beobachtet, wie er sich in den vergangenen Tagen öfter mit dem jungen Marquess of Camberline getroffen hatte. Und dies stets in Parks oder an Straßenecken, wo sie sich unbeobachtet glaubten. Barts Männern war dies nicht entgangen, doch leider konnten sie nicht nah genug herangehen, um zu hören, worüber die beiden sprachen.

„Mama hat nichts von mir gehört, weil ich nicht geantwortet habe.“ Bart lenkte sein Pferd zur Seite und sah, dass der Comte seinen Wagen anhielt. Ein Mann näherte sich ihm, allem Anschein nach ein Bettler, einer von vielen, die an den Pforten des Parks herumlungerten und auf ein paar Pennys hofften. Aber Bart ließ sich nicht täuschen. Die Hose unter der schmutzigen Jacke war aus feinstem Material geschneidert und verriet ihm, dass es sich hier um eine Verkleidung handelte. Die beiden Männer trafen sich aus einem bestimmten Grund, den Bart unbedingt herausfinden musste.

„Mama wird enttäuscht sein, wenn du nicht kommst“, beharrte Richard.

„Und Vater wird enttäuscht sein, wenn ich komme.“ Barts Vater schenkte allen seinen Kindern, außer seinem Erben, herzlich wenig Aufmerksamkeit. Es war ein Wunder, dass er sich überhaupt an die Namen seiner letzten beiden Nachkommen erinnerte. „Er will seinen Salon nicht von einem gewöhnlichen Anwalt besudeln lassen.“

Bart sah, dass der Comte dem Bettler ein zusammengefaltetes Stück Papier zusteckte.

„Vater missbilligt nicht, was du tust. Er würde es allerdings vorziehen, wenn deine Fälle nicht ganz so bekannt wären“, sagte Richard in einem Versuch, zwischen Vater und Bruder zu vermitteln.

„Wenn Vater sich wünscht, dass meine Fälle weniger Aufsehen erregen, dann sollte er seinen hochwohlgeborenen Freunden raten, keine Witwen um ihr Erbe zu betrügen. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen möchtest.“ Bart setzte sein Pferd in Bewegung und ritt zu einer der Bänke am Rand des Reitwegs. Dort saß ein Mann, der Zeitung las. Als Bart ihn erreichte, schaute er über deren Rand zu ihm auf. „Folge dem Bettler, der sich gerade von Troyens Kutsche entfernt. Finde heraus, wo er hingeht und mit wem er sich trifft. Und wenn du kannst, sieh dir das Papier an, das der Comte ihm gegeben hat.“

„Jawohl, Sir.“ Joseph, einer von Barts besten Männern und mit der Gabe gesegnet, kaum aufzufallen, wo immer er sich aufhielt, faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie unter den Arm. Dann folgte er dem Bettler in diskretem Abstand aus dem Park heraus und auf die überfüllte Straße.

Der Comte fädelte sich in den endlosen Strom von Reitern und Kutschen ein und grüßte die meisten, an denen er vorbeikam. Bart gehörte nicht zu ihnen. Er war ihm niemals vorgestellt worden, daher konnte er sich ihm nicht einfach nähern und mit ihm und seiner Tochter ein Gespräch beginnen. Daher blieb Bart nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und aufzupassen, mit wem er sprach. Er wollte schon weiterreiten, als eine weibliche Stimme ihn innehalten ließ.

„Mr. Dyer, ich hätte nicht gedacht, dass Sie gern auf der Rotten Row ausreiten.“

Bart drehte sich halb im Sattel herum und sah Lady Rexford, die ihre scheckige Stute mit dem Geschick einer begnadeten Reiterin an seine Seite lenkte. Sie trug ein Reitkostüm aus dunkelblauem Samt, dessen Rock ihre schlanken Beine äußerst vorteilhaft zur Geltung brachte. Das Mieder ihres Kostüms war im militärischen Stil mit goldfarbenen Tressen geschmückt, die das strenge Blau etwas auflockerten. Zugleich lenkten sie Barts Aufmerksamkeit auf die Rundung ihrer vollen Brüste und die zarte Haut ihres Halses über dem Stehkragen. Ein Tschako, ein kurzer Zylinder, saß keck auf ihrem blonden Haar, sodass ihr Gesicht im Schatten lag, aus dem ihre Augen jedoch belustigt hervorblitzten. Ihr Anblick erstaunte Bart ebenso sehr wie ihr Lächeln, das in vollkommenem Gegensatz dazu stand, wie sie ihn heute Morgen begrüßt hatte. „Sie und mein Bruder sind da offenbar der gleichen Meinung.“

„Ich liebe die Rotten Row eigentlich auch nicht, aber ich bin nach London gekommen, um wieder in Gesellschaft zu gehen, also – da bin ich.“

„Ja, da sind Sie. Und welchem Umstand verdanke ich Ihre Gesellschaft?“ Schließlich hatte sie es heute Morgen nicht erwarten können, ihn loszuwerden, und jetzt kam sie selbst auf ihn zu. Sie wollte etwas von ihm, so viel war sicher. Zwar wagte er nicht wirklich zu hoffen, dass sie ihre Meinung geändert hatte, doch er war ein optimistischer Mensch.

„Ich möchte Sie etwas fragen. Wegen einer Sache, über die ich nachdenken muss, seit Sie uns heute Morgen verließen.“ Sie führte ihr Pferd noch dichter an Barts heran. Über den Duft des Grases und den Pferdegeruch hinweg erhaschte Bart einen Hauch ihres Parfums – Flieder. Sofort erinnerte er sich wieder, wie er sie auf Lady Greenwoods Ball in die Arme genommen hatte, wie süß ihre Lippen gewesen waren, wie unbeschwert ihr Lachen. Nach dem Entsetzen des Krieges und der ständigen Missbilligung seines Vaters waren ihr Lachen und ihre Anmut eine wundervolle Erleichterung gewesen. Bald darauf hatte ihre Tante alles zerstört und Moira, die nur Lady Rexford hieß, hatte es zugelassen.

Diese Begebenheit konnte er nicht ignorieren, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihr hübsches Gesicht sich seit damals überhaupt nicht verändert hatte.

„Es geht um Freddy“, erklärte sie jetzt.

Bart nickte. „Es tut mir leid. Mir war bis heute Morgen nicht bewusst, wie sehr er sich verändert hat.“

„Das bemerken nur die wenigsten. Wir blieben auf dem Land, weil Tante Agatha fürchtete, die Leute könnten behaupten, er sei von Sinnen, wenn sie sehen würden, wie verzweifelt er über Helenas Tod war. Bei meinem Vater war es genauso, als meine Mutter starb. Tante Agatha sorgte sich, dass man unserer Familie einen Hang zum Wahnsinn unterstellen könnte. Ein solches Gerücht hätte eine angemessene Ehe für Freddy und mich unmöglich gemacht.“

Er verbiss sich die Bemerkung, wie unangemessen ihre Ehe mit Lord Rexford gewesen war, und nickte zustimmend. Tatsächlich hatte er einmal eine Witwe verteidigt, deren Schwager, Lord Hartmore, sie um ihr Erbe bringen wollte, weil sie angeblich ebenso dem Irrsinn verfallen wäre wie ihr Vater. Also wusste Bart, wie gefährlich es sein konnte, in einem solchen Ruf zu stehen.

„Genau wie Vater war Freddy so tief in seiner Trauer versunken“, fuhr sie fort, „dass er an allem das Interesse verlor – an seinem Gut und sogar an seinem Sohn. Jetzt kommt er endlich wieder zu sich.“

„Mit Ihrer nicht geringen Hilfe, vermute ich.“

„Ja.“

„Das freut mich. Er verdient Ihre Fürsorge.“ Bart senkte den Blick. Ihm war bewusst, wie sehr er seinen Freund vernachlässigt hatte, obwohl der sehr viel dazu beigetragen hatte, das Attentat auf den Premierminister zu verhindern. Auf dem Schlachtfeld hatte Bart immer dafür gesorgt, dass seine Soldaten in Sicherheit waren. Auch vor Gericht gelang es ihm meist, die Schwachen gegen die Starken zu verteidigen. Wenn es jedoch um die Menschen ging, die ihm am nächsten standen, versagte er manchmal trotz größter Bemühungen. „Er hat es verdient, glücklich zu sein.“

„Was meinte Freddy, als er sagte, er hätte Helena wegen einer Handvoll Verräter verloren?“, fragte sie geradeheraus.

Er sah sie verblüfft an. Für gewöhnlich war er es, der unverblümte Fragen stellte. „Hat Ihr Bruder es Ihnen nicht erzählt, nachdem ich gegangen war?“

„Ich habe ihn nicht gefragt. Jedes Mal, wenn Helena erwähnt wird, überfällt ihn wieder sein Kummer. Ich möchte, dass Sie es mir sagen.“

„Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden.“

Sie beobachtete die übrigen Reiter mit einem Misstrauen, das seinem gleichkam. „Vor heute Morgen vielleicht nicht, aber seitdem hat sich viel verändert.“

„Nichts hat sich verändert. Sie nehmen nur sehr viel mehr wahr.“

Sie wandte ihm das Gesicht zu. „Und ich möchte auch den Rest wissen.“

Bart atmete tief durch. „Ihre Schwägerin wurde nicht von einem beliebigen Dieb erschossen, sondern von einem Mitglied der Scottish Corresponding Society.“ Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog. „Eigentlich wollten sie Freddy töten. In jener Nacht wäre er normalerweise mit ihr in der Kutsche gewesen.“

„Aber er war krank und so fuhr sie allein zum Theater“, flüsterte Lady Rexford.

„Der Mörder hatte Anweisung, alle Insassen zu töten. Er wusste nicht, wer sie war, und es war ihm auch gleichgültig. Er erledigte, wofür er bezahlt worden war. Als wir ihn verhörten …“

„Sie haben den Schurken gefasst?“

„Ich besitze Verbindungen zur Unterwelt. Deswegen gelingt es mir, so viele Fälle von Betrug zu gewinnen. Im Gegensatz zu anderen Anwälten habe ich keine Angst, mir die Hände schmutzig zu machen. Der Mörder Ihrer Schwägerin ist bald danach gehängt worden. Freddy war dabei, als es geschah.“

Nur dass die Bestrafung Lady Fallworth nicht zurückgebracht hatte. Nichts konnte das tun.

Moira strich geistesabwesend mit dem Finger über die Stickerei auf ihrem Handschuh. „Ich danke Ihnen. Das erklärt vieles.“

„Ihr Bruder gibt sich selbst die Schuld.“ Obwohl er mich anklagen sollte. Ich hätte mehr unternehmen müssen, um sie zu schützen. Bart war froh, dass Moira seine Bitte um Hilfe abgeschlagen hatte. Es war ein Fehler gewesen, sie überhaupt zu fragen, und nur seine verzweifelte Situation hatte ihn dazu getrieben.

„Ja, das tut er.“

Moira verstand plötzlich so vieles, was in den vergangenen zwei Jahren keinen Sinn ergeben hatte. Während Tante Agatha über Mr. Dyers und Freddys Freundschaft die Hände gerungen hatte, hatte Helena sich in ihren Briefen an Moira niemals über die ausschweifenden Nächte ihres Mannes beschwert. Nach ihrer Ermordung war Freddys Trauer so abgrundtief gewesen, dass Moira sich fast ein wenig dafür geschämt hatte, dass ihre eigenen Gefühle nach dem Tod ihres Mannes eher seicht gewesen waren. Lord Rexford war ein liebenswerter, netter Mann gewesen, trotzdem hatte sie für ihn nie das empfunden, was Freddy und Helena füreinander gefühlt hatten.

„Deswegen muss Rouge Noir aufgehalten werden, bevor noch mehr Leben zerstört werden.“ Mr. Dyer betrachtete die endlose Parade der Menschen, die an ihnen vorbeiritten, und seine Augen funkelten grimmig. „Diese Verräter hassen das Land, das ihnen ihr Leben schenkt, ihren Reichtum, ihre Titel und ihren Einfluss. Sie planen Englands Untergang mit einer Skrupellosigkeit, die Sie schockieren würde. Sie haben nicht die verhungernden Menschen in Frankreich gesehen, nicht die Verwundeten und Toten in Deutschland und Österreich. Sie wissen nichts von dem Leid und dem Unglück, das Napoleons Armee zurücklässt. Stattdessen brüsten sich mit ihren angeblichen Idealen, sind entschlossen, diese in England zu verwirklichen. Ich wiederum bin entschlossen, sie davon abzuhalten.“

Moira sah sich um und fragte sich unwillkürlich, wer von diesen Menschen so böse sein konnte, wie Mr. Dyer behauptete. Sie erschienen ihr so unschuldig und unbekümmert, als würden sie sich für nichts anderes interessieren als ihre Kleidung, Bälle und Skandale. Selbst die Oberflächlichsten unter ihnen verdienten es jedoch nicht, dass man ihnen ein Leben in Sicherheit und die Freiheit fortnahm. Moira versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, wenn einem alles genommen wurde und man jeden Tag in Furcht leben musste. Falls Mr. Dyer recht hatte und Rouge Noir nicht besiegt wurde, würde sie es vielleicht am eigenen Leib erfahren.

Sie erbebte leicht, doch nicht aus Angst, sondern weil ihr plötzlich Mr. Dyers Gegenwart sehr bewusst wurde. Seine Nähe war wieder einmal stärker als alles andere, sogar stärker als ihre Vernunft – genau wie damals, als sie ihm erlaubt hatte, sie hinter eine große Topfpflanze in Lady Greenwoods Säulengang zu ziehen. Er hatte sie in seine Arme gerissen und geküsst. Dann hatte er sie mit einem so selbstbewussten Lächeln angestrahlt, als hätte er schon gewusst, dass sie sowohl seinen Kuss als auch seinen Antrag annehmen würde, bevor sie selbst es wusste. Sie war damals genauso aufgeregt gewesen wie heute Morgen, als sie ihn mit der Pistole bedroht hatte. Wenn alles anders gekommen wäre und sie nicht auf Tante Agatha und ihren Vater gehört hätte, was wäre wohl aus Mr. Dyer und ihr geworden?

Doch das spielte keine Rolle mehr. Sie senkte den Blick. Die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Es war die Gegenwart, mit der sie sich beschäftigen sollte, und die sah seit nur wenigen Stunden sehr ungewiss aus.

Plötzlich schien etwas Mr. Dyers Aufmerksamkeit zu erregen. Moira folgte seinem Blick und entdeckte Tante Agatha, die gerade in einem offenen Landauer auf sie zuhielt. Mr. Dyers Pferd tänzelte ein bisschen, offenbar angesteckt von der Unruhe seines Reiters, bevor er es rasch wieder unter Kontrolle brachte.

„Moira, ich freue mich, dich hier zu sehen.“ Tante Agatha bedachte Mr. Dyer mit einem misstrauischen Blick. „Wenn ich auch nicht begeistert bin von der Wahl deiner Gesellschaft.“

Mr. Dyers Pferd schnaubte.

„Mr. Dyer, Sie erinnern sich an meine Tante, Lady Treadway“, stellte Moira sie hastig vor, um die peinliche Situation zu retten.

„Ich erinnere mich“, antwortete er kühl.

„Ich würde ja gern behaupten, dass ich mich freue, Sie wiederzusehen, Mr. Dyer, aber nach unserer letzten Unterhaltung hatte ich eigentlich damit gerechnet, dass Sie es sich sehr gut überlegen, bevor Sie sich Lady Rexford wieder nähern.“

„Helfen Sie mir doch bitte ein wenig auf die Sprünge, Lady Treadway. Worum ging es in unserer Unterhaltung? Ich kann mich leider kaum daran erinnern“, erwiderte Bart mit einem spöttischen Lächeln. „Schließlich sind seitdem einige Jahre vergangen.“ Er wusste noch genau, was sie ihm gesagt hatte, wollte sie jedoch zwingen, es zu wiederholen. Diesmal würde er sich nicht davonscheuchen lassen wie einen lästigen Hund, nur weil die Tante ihn finster anschaute.

Lady Treadway zupfte an ihrem Schultertuch. Anscheinend hatte sie inzwischen Skrupel, ihm ihre Meinung unverblümt an den Kopf zu schleudern. „Wie Sie wissen, ist meine Nichte eine Countess, die Tochter eines Earls und die Schwester eines Earls. Ihre Ansprüche an ihren zukünftigen Gatten führen in eine ganz andere Richtung.“

„Tante Agatha!“, rief Moira in einem Versuch, ihre Tante aufzuhalten, aber die war ebenso entschlossen, Bart auf seinen Platz zu verweisen, wie vor fünf Jahren.

„Es ist doch wahr, meine Liebe. Ich passe lediglich auf dich auf.“

„Und wieder einmal halten Sie mich für unangemessen.“ Es kostete Bart große Mühe, ruhig zu bleiben, während er auf die ältere Dame in ihrem violetten Spitzenkleid herabblickte. Zwar gab es nichts mehr zwischen ihm und Lady Rexford, dennoch bedeutete das nicht, dass er irgendjemandem erlauben würde, ihn zu beleidigen. Was sich Lady Rexford von anderen Leuten vorschreiben ließ oder nicht, war ihre eigene Angelegenheit.

„Meine Nicht ist eine sehr großzügige Dame. Ich möchte nicht, dass ihre Freundlichkeit als eine Art Einladung missverstanden wird.“

„Tante Agatha, du hast die Situation und Mr. Dyer völlig missverstanden!“, protestierte Lady Rexford. Bart musste ihr zugestehen, dass sie ihrer Tante inzwischen mehr Widerstand leistete, als sie sich vor fünf Jahren getraut hatte.

„Sie versteht mich auf genau die Weise, die ihr zusagt“, warf Bart ein. „Sind Sie heute mit dem festen Entschluss aufgestanden, mich zu beleidigen, Madam?“

Dies ließ Lady Treadway doch den Blick senken. Plötzlich schien sie den Griff ihres Sonnenschirms äußerst faszinierend zu finden. „Ich möchte Sie nicht beleidigen, sondern Sie lediglich an die Tatsachen erinnern – das wissen Sie als Anwalt sicher zu schätzen.“

„Ja, das tue ich.“ Er wünschte, Moira besäße einen ebenso starken Willen wie ihre Tante. Dann wären die vergangenen fünf Jahre vielleicht anders verlaufen. Kühl verabschiedete er sich von den beiden Damen.

„Mr. Dyer, warten Sie“, rief Moira ihm nach, aber er gab seinem Pferd die Sporen und ritt weiter.

„Lass ihn gehen, mein Kind. Es ist besser so“, sagte Tante Agatha, als wäre das Thema damit erledigt. Moira war allerdings ganz anderer Meinung.

„Warum hast du ihn beleidigt?“, verlangte sie zu wissen. „Wir haben uns nur harmlos unterhalten.“

„Es beginnt immer mit einer harmlosen Unterhaltung“, meinte die Tante trocken.

„Und endet damit, dass ich dazu gedrängt werde, einen Mann zu heiraten, der doppelt so alt ist wie ich, den ich nicht liebe und der unfähig ist, mir irgendetwas von dem zu geben, was ich mir wünsche.“

Tante Agatha errötete. Nichts davon war ein Geheimnis, doch bisher hatte es noch niemand deutlich ausgesprochen. Moiras Stute warf unruhig den Kopf zurück. Moira zog die Zügel an und wünschte, sie könnte die widersprüchlichen Gefühle, die seit heute Morgen in ihr tobten, genauso leicht unter Kontrolle bringen. „Uns lag nur dein Bestes am Herzen, mein Liebes“, sagte Agatha schließlich, ohne besonders reumütig zu klingen.

„Ich weiß. Vielleicht wird es allmählich Zeit, dass ich selbst entscheide, was das Beste für mich ist.“

„Nicht, wenn das bedeutet, dass du dich wieder mit Mr. Dyer einlässt. Er mag ja ein sehr erfolgreicher Anwalt sein, aber eben nicht mehr als ein Anwalt. Er ist nicht in der Lage, dir und dem Namen unserer Familie irgendetwas zu bieten.“

„Rexford war ein Earl und was hat er uns bieten können?“

„Ich weigere mich, diese Unterhaltung fortzuführen, solange du dich absichtlich begriffsstutzig stellst und den Unterschied zwischen Lord Rexford und Mr. Dyer nicht sehen willst.“ Tante Agatha schnaubte empört und wies den Kutscher an: „Fahren Sie mich zu Lady Windfalls Kutsche.“

Noch bevor der Landauer sich in Bewegung setzte, riss Moira ihr Pferd herum und ritt die Rotten Row hinunter. Sie hielt die Zügel so fest, dass sie glaubte, die Nähte ihrer Handschuhe würden aufplatzen. Wie konnte Tante Agatha es wagen, mit ihr zu reden, als wäre sie ein dummes Schulmädchen! Keiner kannte den Unterschied zwischen den beiden Männern besser als sie selbst, die dazu gezwungen worden war, einen alten Mann zu heiraten. Alles, was Rexford ihr versprochen hatte, hätte sie in den vergangenen Jahren in einer Ehe mit Mr. Dyer genießen können: ein Zuhause, eine Familie und Sicherheit. Stattdessen hatte sie einen Titel und gesellschaftliches Ansehen bekommen, was sich als ebenso bedeutungslos erwiesen hatte wie die Versprechungen ihres verstorbenen Mannes.

Mühsam kämpfte sie gegen den Kummer und die Reue an, die sie zu überwältigen drohten. Sie durfte sich nicht gehenlassen. Was Tante Agatha auch von ihrem Urteilsvermögen hielt, dieses Mal wollte Moira ihren zukünftigen Gatten selbst aussuchen.

Sie zügelte ihre Stute und hielt sich am Rand des Wegs, während der Verkehr auf der Rotten Row weiter zunahm. Junge Damen in hochmodernen Reitkostümen saßen gerade in ihren Sätteln, ihre Reitburschen folgten ihnen in diskretem Abstand. Die kühneren dieser Damen warfen den anwesenden Gentlemen verführerische Blicke zu, sodass jene ihr Pferd wendeten und sich zu ihnen gesellten. Die schüchterneren Damen verließen sich lieber auf die Hilfe ihrer Mütter. Moira verfügte weder über die Kühnheit noch über die nötige Anstandsdame, und so gelang es ihr lediglich, die Aufmerksamkeit des alten Lord Mortley zu wecken – sehr zum Missmut seiner Gemahlin, die neben ihm in der Kutsche saß.

Moira seufzte leise. Sie war nach London gekommen, um eine neue Ehe einzugehen. Doch als Witwe ohne Vermögen und ohne Ländereien würde ihr dies schwerfallen – ganz zu schweigen von der Konkurrenz so vieler strahlender junger Mädchen, die teilweise über eine enorme Mitgift verfügten. Tante Agatha schien zuversichtlich zu sein, aber Moira war weniger überzeugt davon, dass ihre größere Erfahrung ihr zu einer Verbindung verhelfen würde, die ihren Wünschen entsprach.

Lord Camberline ritt auf seinem schönen Hengst an ihr vorbei, wobei er nicht auf die einladenden Blicke der jungen Damen und ihrer Mütter achtete. Moira wandte sich halb im Sattel um und schaute ihm nach, bis er beim Comte de Troyen und dessen Tochter anhielt. Sein Erscheinen erinnerte sie an das andere Problem, das ihr nicht mehr aus dem Sinn ging.

Selbst wenn sie einen Mann fand, der sie glücklich machte, wäre ihre Zukunft, die Zukunft ganz Englands in Gefahr, wie Mr. Dyer gesagt hatte.

Sie presste grimmig die Lippen zusammen. Das durfte man nicht zulassen. Napoleon beherrschte nun seit fünf Jahren die Häfen des Kontinents und sie und ihre Landsleute litten schon genug unter den damit verbundenen Einschränkungen. Nur noch wenige Rohstoffe und Waren kamen auf die Insel, schlechte Ernten führten zusätzlich zu einem Mangel an Nahrung. Die Fabrikbesitzer konnten ihre Produkte nicht mehr ins Ausland verkaufen und ihren Arbeitern deshalb nur geringen oder gar keinen Lohn zahlen. Im Norden des Landes rebellierten die Arbeiter bereits. Doch all das würde nichts sein im Vergleich zu der Verwüstung, die Napoleon und seine Armee anrichten würden, sollte Rouge Noir die Regierung vernichten und die Franzosen ins Land lassen. Die Vorstellung, dass alles, was ihr etwas bedeutete, dem Untergang geweiht war, ließ Moira das Blut in den Adern gefrieren.

Ich könnte nicht mitansehen, wie Freddy und dem kleinen Nicholas das Land genommen wird oder wie französische Soldaten unsere Städte besetzen.

Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um die Pläne der Verräter zu vereiteln. Und sie würde dafür kämpfen, ihr eigenes Leben zu führen, in Freiheit und ohne die Bevormundung ihrer Familie. Sie würde Mr. Dyer helfen.

3. KAPITEL

Moira stand im beeindruckenden Ballsaal der Dowager Marchioness of Camberline in der Nähe der älteren Damen, die ihren Töchtern dabei zusahen, wie sie über die Tanzfläche wirbelten. Am einen Ende des Saals befand sich eine Empore, von der aus die Musiker zum Tanz aufspielten. Am anderen Ende lag eine breite, geschwungene Treppe, deren wenige Stufen in den Saal führten. Immer mehr Gäste kamen die Stufen herab und gesellten sich zu den übrigen. Andere blieben lieber bei der Treppe stehen und beobachteten das Gedränge von dort. Die hohen Fenstertüren an der langen Seite des Ballsaals standen offen, um kühle Nachtluft einzulassen. Camberline House in Mayfair war eins der letzten Häuser, das noch von einem weitläufigen Garten und etwas Land umgeben war. Das nächste Nachbargebäude war recht weit entfernt. Die hohen Bäume und großen Wiesenflächen, die von Fackeln beleuchtet wurden, riefen bei Moira und den anderen Gästen den Eindruck hervor, auf dem Lande zu sein.

Vor nur wenigen Tagen hatte Moira sich sehr auf diesen Abend gefreut, doch jetzt empfand sie eher Ernüchterung. Freddy war im Spielzimmer und Tante Agatha hatte sich mit einigen Freundinnen auf den Weg gemacht, sich eine Erfrischung zu besorgen. Als Witwe brauchte Moira keine Anstandsdame, also hatte man sie sich selbst überlassen. Sie war noch nie sehr lange in London gewesen und so kannte sie niemanden ihres Alters. Die einzigen Bekannten waren Leute im Alter ihrer Eltern oder Großeltern, die Tante Agatha ihr bei diversen Gelegenheiten vorgestellt hatte, und sie zögerte, sich ihnen anzuschließen. Während ihrer Ehe hatte sie viel Zeit mit ihrem alten Gatten und dessen alten Freunden verbracht, dabei sie war eine junge Frau und wollte sich mit Menschen ihres Alters unterhalten. Doch wie sollte sie sich einer Gruppe von Gästen nähern, wenn ganz offensichtlich niemand an ihr interessiert war?

Sie seufzte. Leicht würde es wohl nicht werden, einen Heiratskandidaten zu finden.

„Guten Abend, Lady Rexford. Ich bin so froh, dass Sie meine Einladung angenommen haben“, hörte sie eine vornehme Stimme mit einem leichten französischen Akzent.

Moira drehte sich um. Die Dowager Marchioness of Camberline stand neben ihr, ausgesprochen elegant in ihrem violetten Seidenkleid mit dem schwarzen Überkleid aus durchscheinender Gaze. Als sie damals vor der Schreckensherrschaft der Jakobiner aus Frankreich geflohen und nach London gekommen war, hatte sie vielen Männern den Kopf verdreht mit ihren großen, grauen Augen und der schmalen, vornehmen Nase. Sie hatte zwischen vielen Verehrern wählen können und sich für den sehr viel älteren Marquess of Camberline sowie das riesige Vermögen und den Titel, den er ihr bieten konnte, entschieden. Obwohl ihr Sohn gerade großjährig geworden war, war sie noch immer eine atemberaubende Frau. In ihrem dunklen Haar war nur hier und da ein wenig Grau zu sehen. Eigentlich hätte Moira erleichtert sein müssen, dass jemand sie angesprochen hatte, aber irgendetwas an ihrer Gastgeberin beunruhigte sie.

„Ich erinnere mich gern an Ihre Großeltern, wie sie auf den Gesellschaften von Lady Elmsworth tanzten. Damals war ich gerade von Frankreich herübergekommen. Ihre Großmutter war eine der wenigen, die sich weigerten, den französischen Verdienstorden der Ehrenlegion zu tragen. Manche Leute hielten sie deshalb für exzentrisch – schließlich hätte es ihr niemand übel genommen, wenn sie ihn getragen hätte. Aber sie passte sich hier in England sehr gut an, klammerte sich nicht an ihre alte Heimat Frankreich. Im Gegensatz zu so manch anderem. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Lady Rexford.“

Nach diesen rätselhaften Bemerkungen rauschte die Dowager Marchioness davon und gesellte sich zu Lord Moreau, Lord Lefevre und der jungen blonden Dame an dessen Seite. Moira kannte sie nicht, wunderte sich jedoch über ihren Ausschnitt, der selbst nach der heutigen Mode, die ein tiefes Dekolleté bevorzugte, auffallend viel Haut zeigte. Erstaunlich, dass Lady Camberline die kühne junge Dame billigte. Weniger erstaunlich war es allerdings, dass sie Moira so abrupt stehen gelassen hatte. Sie war ebenso knapp gewesen, als sie Tante Agatha und ihr die Einladung zu ihrem Ball beim Treffen zur Förderung der Geburtsklinik vor zwei Tagen übergeben hatte.

Moira sah sich wieder nach einem vertrauten Gesicht um und hoffte auf eine freundliche Einladung, sich zu einer Gruppe zu gesellen. Leider geschah nichts dergleichen. Wenn sie ehrlich war, so wünschte sie sich heute eigentlich nur eine Person herbei. Sie wollte Bart wiedersehen. Seit sie sich verabschiedet hatten, konnte sie nur an ihn und seine Bitte denken. Nicht einmal die Frage, welches ihrer bedauerlich altmodischen Kleider sie heute tragen sollte, oder die Sorgen, wie ihr erster Abend in der Gesellschaft verlaufen würde, konnte die Erinnerung an seinen strengen Blick und seine kühle Stimme verwischen. Es sah allerdings so aus, als hätte er sich keine Einladung für den Ball sichern können.

Doch dann betrat er den Saal. Er trug einen schwarzen Frackrock zu weißem Hemd und Krawattentuch und eine rehbraune Kniehose. Der dunkle Frackrock betonte seine ernste Miene. Sein Anblick nahm Moira den Atem, obwohl sie wusste, dass seine Erscheinung ihr gleichgültig sein sollte. Zu ihrer Erleichterung war niemand in der Nähe, der ihre Reaktion bemerkt und sie kritisiert hätte. Aber sie wusste selbst, dass sie sich zusammenreißen musste.

Als der Diener die Namen jener Gäste verkündete, die vor ihm standen, schlüpfte Bart an ihnen vorbei. Zuerst sah er sich aufmerksam um wie ein Falke auf der Jagd nach seiner Beute. Moira fragte sich, wen er sah und wen er verdächtigte, doch sie konnte nicht lange genug die Augen von ihm abwenden, um seinem Blick zu folgen.

Als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete, wandte er ihr sein Gesicht zu. Moira wich seinem Blick nicht aus, sondern lächelte, als wäre er ein willkommener Gast in ihrem eigenen Haus. Er runzelte die Stirn, ganz besonders, als er erkannte, dass sie sich einen Weg zu ihm bahnte. Ihr Herz klopfte auf einmal schneller. Während sie weiterging, fürchtete sie unablässig, er könnte sich abwenden und vor ihr davonlaufen. Sie hätte es sogar verstanden, wenn er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Trotzdem sehnte sie sich plötzlich danach, einen Hauch von jenem Abenteuer zu erleben, das er ihr am Morgen angeboten hatte. Natürlich wusste sie, wie unklug sie sich verhielt; schließlich ging es hier um Hochverrat, was unabsehbare Folgen für sie haben konnte. Dennoch ging sie weiter auf ihn zu.

Bart flüchtete nicht in die entgegengesetzte Richtung, sondern kam die Treppe herunter, ohne Moira aus den Augen zu lassen. Als er unten ankam, stand sie vor ihm.

„Mr. Dyer, ich bin froh, Sie hier zu sehen.“ Er duftete nach Seife, aber auch nach etwas anderem, das sie an früher erinnerte und ihr so vertraut war. Sie spürte, wie Hitze in ihr aufstieg, und fächelte sich hastig Luft zu.

„Wirklich?“, fragte er herausfordernd.

„Gewiss.“ Sie wandte sich halb ab, um andere Gäste zu betrachten und sich von ihm abzulenken, doch sie war sich seiner Nähe nur allzu sehr bewusst. „Ich habe lange über das nachdenken müssen, was Sie heute Morgen gesagt haben. Und ich habe beschlossen, Ihnen meine Hilfe anzubieten und Sie jedem vorzustellen, den Sie für wichtig halten. Wenn ich auch leider nicht sehr viele Gäste kenne.“

Während sie auf seine Antwort wartete, spielte sie mit der schweren Diamantkette, die um ihren Hals lag.

Er lächelte nicht erleichtert, wie Moira eigentlich erwartet hatte, sondern betrachtete sie mit einer seltsamen Neugier, die sie verunsicherte. „Was hat diesen Sinneswandel verursacht?“

Moira bemitleidete jeden, der je von ihm verhört worden war. Ihr gegenüber war er zwar eher freundlich, gleichwohl wäre sie am liebsten einen Schritt zurückgewichen. „Ich hatte etwas Zeit, über die Situation nachzudenken und zu erkennen, dass Sie recht haben. Es geht hier um mehr als nur um Freddy oder mich. Ich liebe England und kann nicht tatenlos zusehen, wie es zerstört wird.“

Vor fünf Jahren hätte sie ihm vielleicht mehr als nur ihre Hilfe angeboten, aber die Vertrautheit, die damals zwischen ihnen bestanden hatte, war für immer vorbei. Nichts konnte sie zurückbringen und Moira durfte es sich auch nicht wünschen. Bart hatte sein Leben und sie hatte ihres. Mehr als ihre Hilfe durfte sie ihm nicht anbieten.

Bart fiel auf, dass Moiras Finger leicht bebten, als sie ihre Halskette zurechtzupfte. Die Bewegung ihrer Finger so dicht an der Rundung ihrer festen Brüste brachte ihn ebenso sehr aus der Fassung wie ihr Angebot, ihm zu helfen. Nach der Begegnung in der Rotten Row hatte er keine Hoffnungen mehr in Moira gesetzt. Heute Abend war er mit der Absicht, irgendwie allein zurechtzukommen, auf dem Ball erschienen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Meinung ändern würde, und obwohl er ihre Hilfe dankbar annehmen sollte, zögerte er. Ihr Angebot war gewiss aufrichtig gemeint, trotzdem wusste er nicht, ob er sich auf sie verlassen konnte. Sie würde ihm wenig nützen, wenn sie jedes Mal den Mut verlor, sobald ihre Tante den Mund auftat. Auch heute Abend hatte er Wichtigeres zu erledigen, als missbilligende Verwandte abzuwehren. Wäre ihm danach zumute, würde er zur Soiree seiner Eltern gehen. „Wird Ihre Tante keine Einwände haben?“

„Doch, aber ich entscheide, was ich tue, nicht sie.“ Sie straffte die Schultern, sodass die Diamanten ihrer Kette funkelten.

In ihrem Trotz zeigte sich eine Willensstärke, die er noch nie an ihr bemerkt hatte, und er hoffte inständig, sie würde diese Eigenschaft weiterentwickeln. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, dass ihr Glück davon abhängen würde. Natürlich konnte es ihm gleichgültig sein, ob sie mutiger wurde oder nicht, aber er brauchte sie. Im Augenblick war keiner seiner ehemaligen Klienten anwesend, der ihm hätte weiterhelfen können. Auf diesem Ball war sie seine einzige Chance. „Danke, Moira.“

Sie sah ihn überrascht an, als er sie mit Vornamen ansprach, doch er war nicht weniger erstaunt. Es war ihm einfach so herausgerutscht – als wäre ihm ihr Vorname noch genauso vertraut wie damals, als er ihr einen Antrag gemacht hatte. Hastig verdrängte er jeden Gedanken an die Vergangenheit. Sie hatte nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun.

„Gern, Bart.“ Sie strich sich flüchtig eine blonde Locke, die sich aus ihrer Frisur befreit hatte, hinter das Ohr. „Also, wen möchtest du kennenlernen?“ Plötzlich erschien es ihr völlig normal, ihn wieder zu duzen wie damals.