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Ein spektakulärer Quellenfund änderte radikal das Bild, das wir uns bislang über Adolf Hitlers Vater Alois und die Familie Hitler gemacht haben: ein dickes Bündel vergilbter Briefe des Vaters in gestochener Kurrentschrift, das sich auf einem Dachboden über den Kahlschlag der NS-Zeit hinwegrettete und das dem Historiker Roman Sandgruber in die Hände fiel. Die 31 Briefe eröffnen einen völlig neuen und genaueren Blick auf die väterliche Persönlichkeit, die den jungen Adolf Hitler maßgeblich prägte. Und bringen etwas Licht ins Dunkel des von Mythen, Erfindungen und Vermutungen geprägten Alltags der Familie Hitler. Denn immer noch, und immer wieder bewegt uns die Frage: Wie konnte ein Kind aus der oberösterrreichischen Provinz, ein Versager und Autodidakt, einen derartigen Aufstieg schaffen?
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Seitenzahl: 440
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ROMAN SANDGRUBER
HITLERS VATER
WIE DER SOHN ZUM DIKTATOR WURDE
Cover
Titel
Die Schwierigkeit, über Hitler zu schreiben
Vorwort
Rätsel Hitler
Problematische Quellen
Die Last, aus der Provinz zu kommen
Alois Hitler alias Schicklgruber
Der Mythos vom Ahnengau
Hitlers Großmutter
Aus Schicklgruber wird Hitler
Das Dasein, als Zöllner zu leben
Zöllner und Schmuggler im Pinzgau
Mythos Braunau
Schicksalsschläge und Ehestrategien
Die dritte Heirat
Adolfs Vorsehung
Die Lust, Bauer zu werden
Wertheimer und Wieninger
Leidenschaft Bienen – Leidenschaft Landwirtschaft
»Meine Frau ist gerne thätig…«
Die Zollaußenstelle Passau
Der vergessene Wohnort Urfahr
»Wenn dieses Hafeld kein ganz weltvergessener Ort ist …«
Die Finanzierung
»Auf diesem Haus muss es mir noch gut gehen«
Schweine schlachten und Brot backen
Die Pension
Die Mühen des Landlebens
Adolfs Schulbeginn
Kann man hier bleiben?
Der Traum, Politiker zu sein
»In Lambach, wo ich wohl schon oft vorbeifuhr …«
Der Pensionsschock
Sängerknabe und Ministrant
Hitlers Leonding
Politik in der Pension
Hitlers Leondinger Volksschuljahre
Die Folgen, den Vater zu verlieren
Linz und die Provinz
Zeitenwende 1900
Die Realschule
Der Vater-Sohn-Konflikt
Die liebende Mutter
Der Tod des Vaters
Die große Orientierungslosigkeit
Der Tod der Mutter
Die finanzielle Hinterlassenschaft
Die Unmöglichkeit, der Provinz zu entkommen
Der Schatten des Vaters
Hitlers oberösterreichisches Deutsch
Hitlers österreichische Religion
»Ich wurde Nationalist«
Hitlers Antisemitismus
Hitlers Rassenbiologie
Der monströse Provinzkünstler
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Impressum
Kein angenehmer Familienvater und Staatsbürger: Zu Hause ein Patriarch, im Dienst ein Pedant, in der Öffentlichkeit rechthaberisch, gegen die Kinder ein brutaler Despot – so sahen die 6 Zeitgenossen Alois Hitler, den Vater Adolfs.
Adolf Hitler kam aus der Provinz. Er konnte der Provinz nicht entkommen: nicht der Last des dunklen Punkts in seiner Herkunft und der Lücke in seinen sechzehn Ahnen, die er von allen Deutschen eingefordert hatte, über die er aber bei sich selbst nie zu sprechen vermochte. Auch nicht der Last seiner von Repression und Gewalt geprägten Kindheit, von der er sich zwar in zahlreichen Erzählungen zu befreien versuchte, die ihn in seinen Meinungen und Handlungsweisen aber dennoch immerfort bestimmte. Und auch nicht der Last seiner provinziellen Umgebung, die ihm zwar die Kenntnis sehr unterschiedlicher Milieus vermittelte, ihm aber nicht nur den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen unmöglich machte, sondern auch keine weltmännische und moderne Bildung mitgab.
Das erste Drittel seines Lebens, die Jugendjahre von 1889 bis 1907, hat Adolf in Oberösterreich verbracht, sein Vater Alois sogar zwei Drittel, praktisch sein ganzes Erwachsenenleben. Zwischen 1837 und 1903 hatte er sich fast durchgehend in der Provinz aufgehalten: zuerst im Waldviertel und dann in Salzburg und Oberösterreich. Er hat hier Karriere gemacht und es zu einigem Ansehen gebracht, aber auch viel Frustration und Leid hinnehmen müssen. Der Sohn Adolf hat seine Zeit in Oberösterreich als die wichtigsten und glücklichsten Jahre seines Lebens gesehen, obwohl sie nicht so glücklich waren, wie sie sich für ihn in der Retrospektive darstellten. Er hat hier die entscheidenden Linien seines verhängnisvollen Denkens und Handelns eingeprägt erhalten und aufgenommen. Die in Oberösterreich gesammelten Eindrücke und Erfahrungen haben ihn bis zu seinem Ende im Berliner Führerbunker nicht losgelassen. In Hitlers eigener Schilderung seiner Jugendjahre dominieren zwei Themen: der Konflikt mit dem Vater und die Konflikte in der multinationalen Habsburgermonarchie.
Adolf Hitler zählt zu den wenigen Menschen, von denen man mit einiger Berechtigung sagen kann, dass die Geschichte ohne sie anders verlaufen wäre.1 Niemand in der jüngeren Weltgeschichte hat aus dem Nichts in so kurzer Zeit so viel Macht errungen, sie so schrankenlos missbraucht und mit seinem eigenen Untergang so viele Menschen mit in den Tod gerissen und Schicksale beeinflusst wie er. Sein Weg führte so eindeutig wie bei keinem anderen Politiker in die totale Katastrophe. Als er 1889 in Braunau am Inn geboren wurde, konnte man allerdings in keiner Weise ahnen, welch physische Verwüstungen und mentale Verheerungen seine Person einst hinterlassen würde: nicht die Gräuel der Judenvertreibung und Ermordung, nicht die Euthanasiemorde, nicht die Verfolgung der Roma, der Homosexuellen oder der politischen Gegner, nicht die Diskriminierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, nicht die Ausbeutung der Zwangsarbeiter, nicht den von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg, ja nicht einmal den Ersten Weltkrieg, der von der Habsburgermonarchie mitausgelöst worden war. Aber Rassismus, Antisemitismus, Imperialismus, Eugenik und Nationalismus waren schon im 19. Jahrhundert überall präsent. Doch dieses Fin de Siècle, in welchem der junge Hitler aufwuchs, verbreitete auch so viel Glanz, so viel Fortschritt und so viel Selbstzufriedenheit, dass man die Schattenseiten und die Pflanzzellen des Unheils nicht wahrnehmen wollte und diese auch heute hinter der glänzenden Fassade dieser Traumzeit nur widerwillig erkennt.
Hitler bewunderte die Aufstiegsgeschichte seines Vaters, errungen durch »Fleiß und Tatkraft« aus kleinsten Verhältnissen, setzte aber der ihn beängstigenden Vorstellung, wie sein Vater als »unfreier Mann einst in einem Büro sitzen« zu müssen, seine erträumte Künstlerexistenz entgegen. Das viel wirkmächtigere und verheerende Lebensziel einer Politikerexistenz war da noch nicht angedacht, aber in der Schule schon grundgelegt: »Ich wurde Nationalist«. Und: »Ich lernte Geschichte zu verstehen«, was er als Erkennen von weltgeschichtlichen, von der Vorsehung vorgegebenen Kausalitäten betrachtete.2
Biografien haben in der Geschichtsforschung wieder sehr an Stellenwert gewonnen, weil sie nicht nur Mikro- und Makroebene zu verbinden vermögen, sondern weil in sie auch viele modern gewordene Felder der Forschung einfließen können, von der Alltagsgeschichte bis zur Psychohistorie. In der NS-Forschung haben sie von Anfang an eine besondere Bedeutung besessen, einerseits weil in Diktaturen den Einzelentscheidungen der Handelnden und Täter eine größere Bedeutung zukommt, andererseits weil in einer Gewaltherrschaft auch die Schicksale der Opfer umso mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Der spektakuläre Fund bislang völlig unbekannter Quellen und die neuen Möglichkeiten der digitalen Recherchen in an sich bekannten Quellen gaben für mich den Anstoß, dieses Buch zu schreiben. Zusammen mit meiner aus lebenslanger wirtschafts-, sozial- und zeitgeschichtlicher Forschungsarbeit stammenden Kenntnis der historischen Zusammenhänge und den aus der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung resultierenden Einsichten in die regionale Mentalität und Lebensweise formierte sich der Entschluss zu einem Thema, von dem man überzeugt sein könnte, dass es eigentlich von vorne bis hinten zu Ende geforscht oder überhaupt nicht erforschbar ist. Es ist ein heikles Thema, weil hier auch viele Emotionen mitschwingen und es nicht einfach und auch nicht vertretbar ist, immerzu die für historische Forschung nötige Distanz zu wahren. Ich hoffe, damit nicht nur eine Reihe von Fakten zurechtgerückt zu haben, sondern auch zu einem besseren Verständnis der Entwicklung Adolf Hitlers, der Lebensgeschichte seines Vaters und auch des sozialen und ideologischen Milieus, in dem er sich bewegt hat, beitragen zu können.
Mein Dank gilt vor allem Frau Anneliese Smigielski, die die an ihren Ururgroßvater gerichteten Briefe Alois Hitlers gerettet und mir zur Verfügung gestellt hat, ebenso Herrn Bürgermeister Martin Bruckner, Großschönau, der den Kontakt zu Quellen über Wörnharts ermöglicht hat, Frau Auzinger, die die Unterlagen ihres Großvaters August Kubizek für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, und natürlich zahlreichen Fachkollegen, die mit Rat und Hilfe bereitgestanden sind: dem Direktor des Linzer Stadtarchivs Dr. Walter Schuster und seinem Vorgänger Dr. Fritz Mayrhofer, vom Oberösterreichischen Landesarchiv Frau Direktorin Dr. Cornelia Sulzbacher, Dr. Jakob Wührer und Franz Scharf, in Leonding Herrn Dipl.-Ing. Gerhard Tolar, in der OÖ Landes-Kultur GmbH Frau Dr. Thekla Weißengruber, in Braunau Mag. Florian Kotanko, im Haus der Geschichte Niederösterreich in St. Pölten Dr. Christian Rapp, vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung Dr. Hannes Leidinger; im Linzer Stadtmuseum Nordico Mag. Andrea Bina, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands Mag. Dr. Gerhard Baumgartner und am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz Univ.-Prof. Dr. Michael John und Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler, Dr. Andreas Maislinger, Haus der Verantwortung in Braunau, sowie Fritz Fellner, Schlossmuseum Freistadt und zollgeschichtliche Sammlung. Vor allem danke ich meinem Neffen und Freund MMag. Georg Ransmayr, der das Manuskript nicht nur kritisch gelesen, sondern auch zahlreiche wertvolle Vorschläge und Korrekturen angebracht hat, meiner Frau Margith, die aufmerksam mitgedacht und mich mit kritischer Gegenrede herausgefordert und angespornt hat, und Dr. Johannes Sachslehner und dem gesamten Team des Molden Verlags, die für die hervorragende Ausgestaltung und Präsentation verantwortlich zeichnen.
Das Buch möchte ich meinem hochverehrten Wiener Lehrer, Herrn em. o. Univ.-Prof. Dr. Michael Mitterauer widmen, der mit seinen Forschungen zu ledigen Müttern und unehelichen Kindern wichtige sozialhistorische Grundlagen für dieses Buch bereitgestellt und mir selbst zu entscheidenden fachlichen und persönlichen Einsichten verholfen hat.
Hitler ist wohl jene Persönlichkeit, mit der sich die Geschichtswissenschaft nach objektiver Zählung am meisten beschäftigt hat. Man hat zwar an sehr vielen Beispielen zeigen können, dass das nationalsozialistische Herrschaftssystem eine vielköpfige Polykratie darstellte und von einer Reihe unterschiedlicher Akteure gesteuert war. Aber Hitler war der eindeutige Führer und hat die wesentlichen Weichenstellungen selbst vorgegeben, wobei er nicht nur alle ethischen Grundlinien überschritten hat, sondern auch fremde Fachmeinungen nicht gelten ließ und sich über diese hinwegsetzte. Er war kein »schwacher« Diktator, sondern ein »rücksichtsloser« Gewaltmensch.
Der junge Hitler bietet dabei wegen der dramatischen Quellenarmut und der methodischen Unschärfen ein weites Feld für Vermutungen und Konstruktionen. Man suchte nach den familiären, inzestuösen oder homophilen Verwerfungen, nach den katholischen Wurzeln, den ideologischen Wegbereitern und den geistigen Vorbildern. Man fand tiefenpsychologische und milieubedingte Erklärungen. Für die einen ist Adolf Hitler das vom Vater geschlagene und von der Mutter verzärtelte Kind, für die anderen der verkrachte Schüler und gescheiterte Künstler, der vagabundierende Männerheimbewohner oder der über seine Verhältnisse lebende Kleinbürger. Für die einen ist er ein mittelmäßiger Provinzler, für die anderen der schon in der Jugend charismatische Gewaltmensch, für Peter Longerich, einen der neuesten Biografen, als Jugendlicher ein »Niemand«, für andere ein »Jemand«, dessen Führungsanspruch bereits in der Kindheit und Jugend vorgezeichnet war.
Doch vieles ist von Rätseln umgeben. Wie konnte ein Kind aus den entlegensten Winkeln des Landes und ohne wirklich gute Schulbildung, eigentlich ein Versager und Autodidakt, derartige Erfolge feiern? Wie konnte sich in dem provinziellen Milieu, in dem er aufwuchs, ein solch diktatorischer Charakter ausbilden, der so viele in den Bann zu ziehen vermochte? Wie konnte aus einer Familie, die für die Zeitgenossen wenig Auffälliges beinhaltete, ein Gedankengut entwickelt werden, das zur Zerstörung eines ganzen Landes und zur Auslöschung so vieler Juden und sonstiger rassisch diskriminierter Gruppen fähig war? Wie, wann und warum haben sich Hitlers Denkmodelle, Vorurteile und Leitbilder ausgebildet?
Für Hitlers Verhaltensweisen als Diktator und für seine verantwortungslosen und verbrecherischen Entscheidungen sind seine Kinder- und Jugendjahre ein wichtiger Schlüssel. Nicht nur seine Sprache und Rhetorik und sein Kunstgeschmack wurden in seiner Jugend grundgelegt, sondern auch sein nationalistischer Fremdenhass, seine Kirchenfeindschaft, sein antisemitisches Vernichtungsdenken und seine rassistischen Zielsetzungen. Tiefe Prägungen aus seiner Herkunft, seiner Familie und seinem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umfeld blieben ein Leben lang bestehen. Hitler neigte besonders stark dazu, von einmal gefassten Vorstellungen, Zielsetzungen und Entscheidungen sein ganzes Leben lang nicht mehr abzurücken.
Über keine andere historische Persönlichkeit gibt es mehr Bücher als über Adolf Hitler: wissenschaftliche und triviale. Die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 150.000 Buch- und Zeitschriftentitel, die sich mit dem Nationalsozialismus und dem NS-System beschäftigen. Es gibt einige hundert Hitler-Biografien, davon mehrere ganz hervorragende und sehr ausführliche, die aber die Jugendjahre meist nur mehr oder weniger kursorisch mitbehandeln, aber auch ein paar Dutzend Monografien über die Jugendjahre. Es gibt Bücher zu allen möglichen Facetten, Stationen und Begleitern seines Lebens, von seiner angeblichen Homosexualität bis zu den Frauen um ihn, von seinem Charisma über sein Leseverhalten, seine Religion und sein Kunstverständnis bis zu den Wurzeln seiner Ideologie und zu seinen geistigen Wegbereitern. Man findet Biografien über Hitlers Fotografen, Pressechef, Rechtsanwalt, Bankier, Chauffeur, Leibarzt und Chefastrologen, über seine Sekretärin, Diätköchin, Hebamme, über die Mutter und die Schwester, über seinen Halbbruder, seine Nichte, seinen Neffen, sogar über seine Großmutter und über angebliche Kinder, natürlich über seine Geliebte und spätere Ehefrau, aber keine über Hitlers Vater.
Dass Alois Hitler fehlt, mag an der Quellenarmut gelegen sein. Außer zwei Ansuchen über die Rückerstattung seiner Dienstkaution in dürrem Amtsdeutsch, zwei oder drei Privatbriefen und mehreren Kartengrüßen waren von ihm bislang keine persönlich verfassten Schriftstücke bekannt. Der Personalakt ist verschwunden. Die Standesdaten sind unvollständig oder schlecht gelesen und die Zeitzeugenberichte widersprüchlich, ob sie nun aus der NS-Zeit stammen oder aus der Nachkriegszeit. Zu Hitlers Kindheits- und Jugendgeschichte gibt es nur drei etwas ausführlichere Schriften mit Quellencharakter, von denen alle weiteren Darstellungen ausgehen. Quellen im historiografischen Sinn möchte man sie gar nicht nennen, weil sie eigentlich alle drei aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus mehr oder weniger Kampfschriften darstellen: Erstens Hitlers eigene Autobiografie Mein Kampf, die explizit als Propagandamedium gedacht war und als solches ein schwer entwirrbares Konglomerat aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und glatten Lügen darstellt. Auch die kritische Edition konnte bezüglich der Kindheits- und Jugendgeschichte Hitlers wenig zusätzliche Klarheit schaffen. Die beiden Veröffentlichungen von Franz Jetzinger und August Kubizek, die als die wichtigsten Grundlagen für Hitlers Jugend vorhanden sind, sind keine Quellen im Fachsinn, sondern ebenfalls Kampfschriften. Beide stecken sie voller Vorurteile und Irrtümer, sind aber dennoch als Ausgangspunkt aller weiteren Forschungen zum jungen Hitler unersetzlich, wobei sich die dort enthaltenen Fehler oft durch alle nachfolgenden Veröffentlichungen fortpflanzen.
Mehrere wichtige Quellenfunde haben das mit einem Male verändert: erstens ein dickes Bündel vergilbter Briefe Alois Hitlers in zeittypischer Kurrentschrift, die auf einem Dachboden über den Kahlschlag der NS-Zeit hinweggerettet werden konnten und dem Autor zur Verfügung gestellt wurden.3 Diese sehr inhaltsreichen Briefe und Dokumente, die Alois Hitler an den Straßenmeister Josef Radlegger geschickt hat, vervielfachen mit einem Schlag nicht nur die Ego-Dokumente zur Familie Hitler vor dem Ersten Weltkrieg, sondern eröffnen auch einen völlig neuen und genaueren Blick auf jene Person, die auf Adolf Hitlers Werdegang zweifellos den größten Einfluss hatte: seinen Vater.
Dazu kommt, dass auch der Vertrag über den Hausverkauf Alois Hitlers in Wörnharts aufgetaucht ist und damit in die finanzielle Situation der Familie mehr Klarheit kommt. Nicht zuletzt ist mit der Auffindung der handgeschriebenen Urfassung von Kubizeks Buch aus dem Jahr 1943 eine sehr viel kritischere Sicht auf Hitlers Linzer Jugendjahre möglich geworden. Dass es auch gelang, mit zusätzlichen Meldedaten einen einjährigen Aufenthalt der Familie in Urfahr in den Jahren 1894/95 zu beweisen, schafft nicht nur die Behauptung aus der Welt, dass Alois ein Jahr lang getrennt von seiner Frau und den Kindern gelebt habe, sondern bringt auch neue Fragen, weil der damalige Hausherr der Familie einer der reichsten Linzer Juden war.
Auch längst bekannte Quellen fließen durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung plötzlich sehr viel reichlicher. Der Zugang zu den Pfarrmatriken ist sehr viel leichter geworden. Vor allem hat die Digitalisierung von Zeitungen und Zeitschriften neue Erkenntnisse eröffnet. Vor allem die Linzer Tages-Post, die von der Familie Hitler nicht nur regelmäßig gelesen wurde, sondern für die Alois Hitler auch selbst Leserbriefe und Artikel verfasste und in der er immer wieder auch Annoncen und Anzeigen platzierte, ergänzt die neu zum Vorschein gekommenen Quellen. Wie bedeutsam diese Tageszeitung für die Familie und auch Adolf Hitlers Jugend war, bekräftigte er noch im Jahr 1944: Sehr traurig sei der Führer, notierte Joseph Goebbels 1944 in sein Tagebuch, dass in Linz die Zeitung eingestellt worden sei, die er schon in frühester Jugend gelesen und für seinen Vater gekauft habe.4 Auch August Kubizek erinnerte sich, dass er Frau Klara damals immer wieder bei der Lektüre der Tages-Post angetroffen habe.5
Neben Hitlers Mein Kampf und August Kubizeks Zeitzeugenbericht ist Franz Jetzingers Darstellung der Jugendzeit Hitlers aus dem Jahr 1956 als die wichtigste Quelle zu nennen. Jetzingers Buch ist eigentlich als Werk der Geschichtsschreibung und nicht als Zeitzeugenbericht einzustufen. Er hat Hitler persönlich nicht gekannt und ist mit ihm nie zusammengetroffen, ist aber unverzichtbar, weil er heute nicht mehr verfügbare Zeitzeugen interviewt und wichtige Dokumente zusammengetragen hat, auch wenn seine Arbeit bedingt durch die damaligen Umstände voller Fehler ist.6 Entstanden ist dennoch eine verdienstvolle wissenschaftliche Arbeit. Bedenkt man die Möglichkeiten der Nachkriegszeit, die absolute Quellenarmut zu Hitlers Frühzeit und die extreme Verderbung dieser Quellen durch Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten und durch in jeder Hinsicht sehr unglaubwürdige Zeitzeugen, so kommt Jetzinger das Verdienst zu, erstmals die Kinder-und Jugendjahre Hitlers in den Grundzügen rekonstruiert zu haben. Er musste viel Frustration ertragen, sowohl über sein verpfuschtes Leben, das ihm alle Freunde geraubt hatte, wie auch bei seinen Hitler-Forschungen, wo ihm August Kubizek, der von ihm einige Daten erhalten hatte, mit der Veröffentlichung zuvorgekommen war. Und seine Frustration wäre noch größer geworden, hätte er erleben müssen, wie die spätere Wissenschaft seine Ergebnisse abwertete und ihn, der immerhin in seinem ersten Beruf Professor für Altes Testament an einer Theologischen Lehranstalt gewesen war, als wissenschaftlichen Amateur einstufte und seinen von ihm zu Recht kritisierten Konkurrenten Kubizek hochjubelte.7
Während Jetzinger wie ein Historiker arbeitete und sich nicht auf eigenes Erleben beziehen konnte, kommt August Kubizek die Qualität eines unmittelbaren Zeitzeugen zu. Der Tapeziererlehrling und begeisterte Musikliebhaber hatte Ende 1905 auf dem Stehplatz des Linzer Landestheaters den jungen Hitler kennengelernt und war die nächsten zwei Jahre in Linz und dann noch etwa vier Monate in Wien mit ihm in engem Kontakt, verlor ihn dann aber ganz aus den Augen. Sein Musikstudium in Wien schloss er 1912 ab, konnte nach dem Krieg aber nichts daraus machen und war in Eferding als Gemeindebeamter tätig. Erst 1938 trafen sich die Jugendfreunde wieder kurz in Linz. Hitler begrüßte Kubizek, sprach ihn aber mit »Sie« an und lud ihn für 1939 nach Bayreuth zu den Festspielen ein. 1942 trat Kubizek in die NSDAP ein und wurde, während er weiter als Gemeindesekretär tätig war, beauftragt, seine Erinnerungen festzuhalten. Von den zwei Heften, die 1943 entstanden sind, war der zweite Teil immer bekannt, während der erste Teil über die Linzer Jahre erst jetzt aufgetaucht ist.
Nach der NS-Zeit und den sechzehn Monaten im amerikanischen Umerziehungs- und Entnazifizierungslager »Camp Marcus W. Orr« in Glasenbach versuchte Kubizek diese Vorarbeiten in einem Buch zu verwerten. Aus eigenem Erleben konnte er etwa zweieinhalb Jahre abdecken, wobei er zwar weniger Einblicke gewonnen hatte, als er vorgab, aber doch viel mehr als alle übrigen Zeitzeugen aus Hitlers Kindheit und Jugend. Kubizek war kein guter Schreiber und Stilist, wohl auch kein überzeugter Nationalsozialist, aber in pansophischen Kreisen gut vernetzt.8 Unter Mithilfe zweier geübter Ghostwriter, der beiden hochrangigen Nationalsozialisten Karl Springenschmid und Dr. Franz Mayrhofer, wurde Kubizeks Manuskript zu einem am Lesergeschmack orientierten und um eine Liebesgeschichte ergänzten Buch ausgeweitet.9 Dass deren Einfluss nicht unwesentlich gewesen sein konnte, geht allein schon aus dem Umstand hervor, dass sich die drei Autoren die Tantiemen drittelten oder auf Verlagsvorschlag in einem Schlüssel fünf zu vier zu drei aufteilen sollten, obwohl der 1908 in Linz geborene Mayrhofer für Hitlers Jugendzeit keinerlei eigene Erfahrung einbringen konnte und der 1897 in Innsbruck geborene Karl Springenschmid noch viel weiter weg vom Geschehen gelebt hatte. Die drei entwickelten aber beträchtliche Energien, um Hitlers Jugendgeschichte als Vorschule seines späteren Auftretens als »Führer« erscheinen zu lassen: als Genie, Ideologe, Antisemit, Städteplaner, Baumeister. Für eine Neuauflage überlegten sie noch weitere Höhepunkte: den jungen Hitler als begeisternden Feuerredner und frühen Parteiprogrammatiker und dachten auch ein Filmprojekt und ein Musikdrama über Hitlers verborgene Liebschaft an, wäre Kubizek nicht 1956 gestorben.10
Für den Verlag dürfte Karl Springenschmids Erzähltalent wichtig gewesen sein, mit dem er schon vor 1938 als Ghostwriter für Luis Trenker gepunktet hatte und mit dem er nach dem Krieg mit unzähligen völkischen Bauern- und Bergsteigergeschichten sein Geld verdiente.11 Franz Mayrhofer, der Neffe von Adolf Hitlers Leondinger Vormund Josef Mayrhofer, steuerte als studierter Geografie- und Geschichtelehrer wohl seine regionalen und kulturellen Kenntnisse über die Linzer Umgebung bei, die er aus eigener Erfahrung und aus seiner 1940 in Druck gegebenen Dissertationsschrift übernehmen konnte.12
Kubizeks Buchveröffentlichung ist vierfach fehlerverdächtig: Erstens wegen des fast fünfzigjährigen zeitlichen Abstands mit entsprechenden Erinnerungslücken, zweitens wegen der Beauftragung durch die NSDAP und der daraus entstehenden Parteinähe, drittens durch sein Bemühen, sich nach 1945 zu entlasten und gleichzeitig wichtiger zu machen, als er war, und viertens wegen der Beiziehung von Karl Springenschmid und Franz Mayrhofer als Mitautoren, die nicht nur aus der NS-Zeit schwer belastet waren, sondern sich auch nach 1945 nie von ihren ideologischen Positionen lösen konnten und als keineswegs bekehrte hochrangige Nationalsozialisten einen entsprechend hohen Mitteilungs- und Rechtfertigungsbedarf hatten.
Man muss daher von Glück sprechen, dass nunmehr von der Urfassung aus dem Jahr 1943, deren zweiter Teil für die Zeit in Wien in einer 51 Seiten langen, maschinschriftlichen Abschrift im Nachlass Jetzinger schon immer bekannt war, auch der erste Teil über die Linzer Zeit in handschriftlicher Form mit 106 Blatt in zweizeiliger, großer Schrift aus dem Besitz der Enkelin aufgetaucht ist. 13 Aus den ca. 60 Druckseiten, welche die beiden Teile des Urmanuskripts ergeben hätten, machten die drei Autoren ein Buch mit je nach Auflage 339 bis 352 Seiten.14 Die beiden Fassungen von 1943 und 1953 unterscheiden sich nicht nur im Umfang, sondern auch in den Schwerpunktsetzungen. Die ohne fremde Unterstützung angefertigte erste Fassung ist nicht nur viel kürzer, sondern auch viel authentischer. Die Unterschiede zu dem später gedruckten Text sind bezeichnend, weniger wegen der sprachlichen Schwäche der ersten Fassung und der gefälligen Teile, die 1953 völlig neu hinzugefügt wurden, sondern wegen jener Passagen, die 1943 enthalten waren und 1953 gestrichen wurden und die antiklerikalen, antimodernistischen und rassenbiologischen Tendenzen bereits beim jungen Hitler sehr viel deutlicher erkennen lassen.
Jetzinger und Kubizek arbeiteten nach 1945 zur selben Zeit an ihren Publikationen und unterstützten sich anfangs auch gegenseitig, wurden aber zu erbitterten Konkurrenten, als Kubizek sein Buch drei Jahre früher als Jetzinger herausbrachte und ihm Jetzinger nicht nur einen Plagiatsvorwurf machte, sondern ihm auch zahlreiche Fehler nachweisen konnte, ein Vorwurf, den man umgekehrt aber auch Jetzinger nicht wirklich ersparen kann. Seit Brigitte Hamanns Wien-Buch wird Kubizeks Text viel positiver beurteilt: Sein Buch stelle eine reichhaltige und für die frühe Hitler-Zeit einzigartige Quelle dar, war ihr Resümee.15 Jetzinger hingegen behauptete, dass 90 Prozent von Kubizeks Buch erfunden seien – über den Prozentsatz mag man streiten, die Tatsache, dass nicht viel davon von Kubizek tatsächlich erlebt oder erfahren wurde, ist unbestreitbar. Es ist selbstverständlich, dass Kubizeks Buchpublikation sehr viel kritischer beurteilt werden muss, als das bisher geschehen ist. Diese Skepsis mag Brendan Simms in seiner neuesten Hitler-Biografie bewogen haben, Kubizek als Quelle ganz auszuscheiden. Er übersieht dabei aber, dass die Literatur, die er zum jungen Hitler benutzte, erst recht wieder auf Kubizeks Darstellung beruht. Umso wichtiger ist Kubizeks 1943 entstandene Urfassung, die niemals den Weg an die Öffentlichkeit und auch in kein Parteiarchiv gefunden hat, zumal Kubizek es 1943 auch wagte, einzelnen Aussagen Hitlers aus Mein Kampf zu widersprechen.16
Bleibt als dritte umfangreichere Quelle für Hitlers Kindheit und Jugend seine eigene Autobiografie. Mein Kampf ist aber eben keine Lebensgeschichte, sondern eine Kampfgeschichte. Dass er sie weitgehend selbst geschrieben hat, ohne Beiziehung von Ghostwritern, dürfte inzwischen feststehen.17 Allerdings orientierte er sich an Vorbildern. Hitler konstruierte sein Leben nach dem Muster klassischer Autobiografien und Bildungsromane. Und er kreierte einen neuen Typ der politischen Autobiografie, der es nicht um Rechenschaft oder Erklärung geht, sondern um Programmatik und Propaganda, geschrieben nicht im Herbst des Lebens, sondern mit 35 Jahren am Ausgangspunkt der politischen Laufbahn. Noch problematischer als Mein Kampf sind Hitlers gelegentliche Ausflüge in seine Jugendgeschichte, die er bei den Tischgesprächen oder auch gegenüber einzelnen Weggefährten und Mitarbeiterinnen tätigte. Nicht nur ist die Wiedergabe durch die Gewährsleute umstritten und nicht nachprüfbar, sondern auch Hitlers eigene Glaubwürdigkeit in diesen Aufzeichnungen entsprechend zu hinterfragen.
Eine weitere zeitnahe Quelle, die Jugend-Erinnerungen eines zeitgenössischen Linzer Realschülers von Hugo Rabitsch (München 1938), werden hingegen meist als »ohne jeden Informationswert« beiseitegeschoben, »da der Autor weder den jungen Hitler kannte, noch irgendwelche Beiträge zu seiner Biographie« bringe.18 Das ist zwar richtig, aber grob ungerecht. Denn Rabitsch, der sieben Jahre jünger als Hitler war, besuchte dieselbe Linzer Realschule und kannte die Professoren und das Milieu. Obwohl Rabitsch mit Hitler-Lob nicht sparte, wurde es von diesem sehr kritisch aufgenommen und kam in Deutschland nie auf den Markt, weil manche Passagen Hitlers eigenen Darstellungen und Aussagen in Mein Kampf widersprachen.19 Schwierig einzuschätzen sind auch die Erinnerungen des jüdischen Arztes von Hitlers Mutter, Eduard Bloch, der Adolf 1938 im Angesicht der für ihn sehr bedrohlichen Situation sehr positiv charakterisierte, diese Darstellung aber 1941 in den USA, als für ihn die Gefahr explizit vorbei war, trotzdem noch einmal dezidiert bekräftigte. Allerdings war Bloch im Alter schon stark von zunehmender Vergesslichkeit gezeichnet.
Widersprüchlich und oft völlig unbrauchbar sind die Aussagen vieler anderer Zeitzeugen, ob sie nun aus der Zeit vor 1945 oder nachher stammen. Auf irgendeine Weise sind sie immer gefärbt und beeinflusst. Seither haben sich viele Autoren mit Hitlers Jugendzeit beschäftigt, zuerst einmal entsprechend kursorisch alle jene, die an einer Gesamtbiografie arbeiteten, vor allem aber jene, die sich speziell der Kindheits- und Jugendgeschichte zugewendet haben, darunter auch zahlreiche Entwicklungspsychologen, Pädagogen und Theologen, die viele Mosaiksteinchen finden und interessante Einsichten hinzufügen konnten, aber allzu oft auch vieles ungeprüft übernommen haben und sich vor allem mangels regionaler Kenntnisse mit den räumlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten in Oberösterreich sehr schwer getan haben. Nicht zuletzt hat der eklatante Quellenmangel zu fiktiven Konstruktionen und skurrilen Geschichtsklitterungen geführt, auf die man gar nicht eingehen muss, wie zum Beispiel Norman Mailers Roman zum jungen Hitler Das Schloss im Wald oder Ilse Krumpöcks Geschichtsroman Hitlers Großmutter, weil dazu ohnehin aus berufenem Mund das Nötige gesagt wurde.20
Der dunkle Punkt in Adolf Hitlers Herkunft wurde verschwiegen: Die Ausstellung »Sippenforschung in Schule und Haus« 1937 im Berliner Stadthaus konnte auf die »20 Ahnentafel des Führers« nicht verzichten.
Pfeife rauchen, im Wirtshaus sitzen, Bienen züchten, Kinder schlagen. Das ist der Grundton der meisten Aussagen über Hitlers Vater: zu Hause ein Patriarch, im Dienst ein Pedant, in der Öffentlichkeit rechthaberisch, gegen die Kinder ein brutaler Despot. Alois Hitler war sicherlich kein angenehmer Ehemann, Familienvater, Arbeitskollege und Staatsbürger. Was er aber sicher nicht war, war ein Alkoholiker oder Müßiggänger, der seine Zeit im Wirtshaus und in der Bienenhütte vergeudet hätte, auch kein Spießbürger oder Provinzbeamter, dessen Horizont nicht über Braunau hinausgereicht hätte, auch kein Ehemann, der die Familie seinen eigenen sexuellen Bedürfnissen oder seinem beruflichen Fortkommen gänzlich untergeordnet hätte, und schon gar nicht ein Kinderschänder und Teufelsbeschwörer, als den ihn Norman Mailer in seinem Hitler-Roman hingestellt hat. Alois Hitler scheiterte auf vielen Feldern: als Vater, Ehemann, Erzieher, Wirtschafter und letztlich auch als Mensch, ohne viele Freunde und ohne wirkliches Zuhause. Aber es gibt auch die anderen Seiten: Die penible Pflichterfüllung, das stete Karrierebewusstsein, den kritischen Bildungsdrang, das Interesse an Innovationen, die Freude an geselligen Zusammenkünften.
Alois Hitlers Herkunft und Kindheit ist von Mythen, Erfindungen und Vermutungen umgeben. Erstens, weil es kaum Quellen gibt: Wer hätte sich schon für eine kaum herausragende, weder reiche noch besonders auffällige und schon gar nicht wirklich hochrangige Person in der österreichischen Provinz interessieren sollen? Zweitens, weil Adolf Hitler, als er bekannt und mächtig wurde, alles getan hat, um seine eigene Geschichte und die seiner Eltern und Vorfahren zu verbergen oder in seinem Sinne zu drehen und so einerseits Quellen zu beseitigen und andererseits Mythen zu erzeugen. Und drittens, weil die meisten Darstellungen von Adolf Hitlers Kindheit ohne jede Ortskenntnis aus sehr weiter Distanz und vor allem ohne viel Kenntnis der damaligen Lebensweise in dem ländlich-kleinbürgerlichen Provinzmilieu ausgearbeitet sind, in welchem sich die Familie Hitler bewegte.
Tyrannische Väter und liebende Mütter sind kein Einzelfall in der Geschichte. Dass sich daraus Adolf Hitlers mörderischer und gewalttätiger politischer Weg ableiten ließe, ist nicht beweisbar. Einige Hinweise aber gibt es. Sich selbst zu überschätzen und andere Meinungen und Kenntnisse nicht gelten zu lassen, zeichnete sich schon beim Vater ab, ebenso die Neigung zur autodidaktischen Weiterbildung und zur Verachtung aller akademischen und schulischen Autoritäten. Auch der Hang zur Gewalt zeigt Parallelen, beim Vater im Erziehungsstil, beim Sohn im politischen Verhalten. In seinem Sexualleben hingegen unterschied sich der Vater ganz auffällig vom Sohn, auch wenn dieser mit ziemlicher Sicherheit nicht homosexuell war, was ihm gerade in der neuesten Literatur auffallend häufig unterstellt wird. Die ungeklärten Stellen und vorhandenen Lücken im familiären Stammbaum dürften zwar den Sohn mehr belastet haben als den Vater. Aber warum Alois Hitler im Alter von fast vierzig Jahren seinen Familiennamen von Schicklgruber auf Hitler ändern und eine Quasilegitimierung seiner unehelichen Geburt herbeiführen ließ, wirft bis heute Fragen nach dem Hergang und den Motiven auf.
Die Region, in der Alois Hitler sich Zeit seines Lebens bewegte, hat er durch viele erzwungene und freiwillige Ortswechsel in einem für damalige Verhältnisse überdurchschnittlichen Maß kennengelernt. Das beeinflusste seine Sprech- und Schreibgewohnheiten. Anders als bei den Wiener subalternen Zentralbeamten, deren Wienerisch durch das Schönbrunnerisch ihrer meist adeligen Vorgesetzten in einer häufig als herablassend empfundenen Weise verfärbt wurde, dominierte bei Alois Hitler die durch die vielen Milieuwechsel abgeschliffene regionale Mundart, der er mit hochdeutschen Floskeln, exzessivem Fremdwortgebrauch und bürokratischer Diktion einen amtlich-autoritären Ton zu geben versuchte. Seine Briefe schrieb Alois, obwohl ohne jegliche höhere Schulbildung, in einem gestelzten, mit Fachbegriffen untermischten Beamtendeutsch, in das sich immer wieder der Dialektgebrauch einschlich.
Alois Hitlers Herkunft war kleinbäuerlich, sein Status jener eines mittleren Beamten, seine Sehnsucht aber die nach einem Leben als Herrenbauer und einflussreichem Stadtbürger, nach einem Landgut, nach Pferd und Wagen und nach einem Grundbesitz, der über Bienenhütten oder den Umfang eines Kleingartens weit hinausging. Man hatte Dienstboten. Man pflegte Beziehungen zur Stadt. Die Taufpaten der Kinder nahm man aus Wien. Man machte Sommeraufenthalte im kühleren Waldviertel. Man schickte die Kinder in höhere Schulen. Was aber besonders hervorsticht: Man nahm nicht nur Anteil am politischen Geschehen, sondern suchte, es auch aktiv mitzugestalten.
Die zahlreichen Übersiedlungen hatten Alois in viele unterschiedliche Milieus gebracht: vom Waldviertel nach Wien, von dort nach Saalfelden und Salzburg, Wels, Braunau, Passau, Urfahr, Fischlham/Hafeld, Lambach und zuletzt Leonding und Linz. Sein Sohn Adolf hatte sie beginnend in Braunau mit dem Vater notgedrungen mitgemacht. Die ersten zehn oder zwanzig Jahre sind die prägenden Phasen im Leben eines Menschen: Es ist klar, dass Sprache, Ess- und Wohngewohnheiten, Umgangsformen, Bildung, Religion, Weltanschauung und sexuelle Gewohnheiten des jungen Hitler vom Elternhaus und von der Umgebung entscheidend vorgeprägt wurden. Über seine Herkunft wollte Adolf Hitler nie viel sprechen. Als Reichskanzler verbat er sich alle Veröffentlichungen darüber. Wesentliche Dokumente ließ er beschlagnahmen oder vernichten. Vieles bleibt daher ein Rätsel.
Eine Biografie ist immer ein Puzzle mit vielen Einzelteilen, aus denen die einzelnen Lebensabschnitte und die durchgehende Lebenslinie zusammengesetzt werden sollen. Doch es bleiben dazwischen nahezu unendlich viele Tage, gleichförmige und doch erlebnisreiche, über die man gar nichts weiß. Beim jungen Hitler und seinem Vater ist das in ganz besonderem Maße der Fall.
Seine Vorfahren aus dem niederösterreichischen Waldviertel rückte Adolf Hitler in ein mythisch-mystisches Dunkel: »Als ich noch ein Bub war, fand sich das ganze Gebiet meiner Heimat mit Findlingen, erratischen Blöcken, übersät. Die Bauern sind hinaus, um die Findlinge zu sprengen. Es muss das ein Gletscherauslaufgebiet sein, Moränen haben sich vorgeschoben. Das geht herüber bis nach Niederösterreich. Irgendwie macht das die Landschaft liebenswert, sympathisch.«21 Hitler irrte zwar in seiner Einschätzung der Geologie des Landes seiner Vorfahren. Denn vergletschert war das Waldviertel auch in der Eiszeit nie. Er bediente sich hier der romantischen Märchen und Mythen vom deutschen Wald, von seinen Geistern und Hexen, seiner Unzugänglichkeit und Einsamkeit.22 Aber das herbe und kalte Hochland hatte den dort wohnenden und arbeitenden Menschen zu jeder Zeit viel abverlangt. Dem Dunkel des Waldes entsprach die soziale Situation der Leute im Waldviertel.
Als Adolf Hitlers Großmutter Maria Anna Schicklgruber schwanger wurde, war sie vierzig Jahre alt. Der Vater des Kindes war unbekannt: Ob der Müllergeselle und herumziehende Arbeiter Johann Georg Hiedler der Kindesvater war, der sie schließlich fünf Jahre nach der Entbindung heiratete, aber seine Vaterschaft nie offiziell anerkannte, oder dessen Bruder, der Bauer Johann Nepomuk Hüttler, der den Buben schließlich zu sich nahm, weil er vielleicht der wirkliche Vater war, aber als es um eine Legitimierung ging, seinen schon lange verstorbenen Bruder vorschob, ist unsicher. Oder ob irgendjemand aus der Nachbarschaft, aus der Dienstgeberschaft oder eine der vielen Zufallsbekanntschaften infrage kommt, die man in einem Leben einfach macht, oder vielleicht doch ein Jude, wie es sich die Sensationspresse und manche politische Gegner ausdachten? Eine sichere Antwort wird nie möglich sein.23
Uneheliche Kinder waren in Ober- und Niederösterreich so häufig, dass sie kaum Anstoß erregten. Als junge Arbeitskräfte waren sie auf den Bauernhöfen gut zu gebrauchen, auch wenn sie kaum Liebe, Anerkennung, finanzielle Abgeltung oder gar Erbansprüche erwarten konnten. Ebenso schwierig war die Situation für die ledigen Mütter, weil nicht nur manche Verwandte und ein paar Tratschtanten und Moralapostel im Dorf sich über sie den Mund zerrissen haben mögen, sondern weil auch die Kirche nicht müde wurde, in den Predigten und Beichtlehren jede Form vorehelicher Sexualität scharf zu verurteilen. Weil die Heiratschancen und Lebensbedingungen für alleinstehende Frauen mit Kindern deutlich ungünstiger waren, waren sie aus der Not heraus meist gezwungen, ihre Kinder zu Zieheltern wegzugeben. Das machte die Überlebens- und Lebenschancen für uneheliche Kinder deutlich schlechter als für eheliche. Niemand hat sich für ihr Schicksal wirklich interessiert. Und auch die Geschichtsforschung hätte sich für Alois Schicklgrubers uneheliche Herkunft nicht interessiert, wäre der Neugeborene nicht der Vater Adolf Hitlers geworden.
Die Geschichtsforschung interessierte sich aber merkwürdig ungenau. Schon was die Mutter des neugeborenen Alois und Großmutter des Diktators Adolf Hitler betraf. Maria Anna Schicklgruber, geboren am 1. Juli 1796, hatte eine ältere Schwester namens Anna Maria, die am 15. April 1795 geboren worden war.24 Im Hochdeutschen sind diese beiden Vornamen tatsächlich zum Verwechseln ähnlich und unterscheiden sich nur durch die Wortfolge. Im mundartlich-bäuer-lichen Alltagsgebrauch war das allerdings ganz anders: Anna Maria wurde »Annamirl« gerufen, Maria Anna hingegen »Mariandl«. Die nur des Hochdeutschen mächtigen Hitler-Biografen haben diese Vornamen immer wieder durcheinandergebracht und Alois entweder die ältere Anna Maria als Mutter oder zumindest der tatsächlichen Mutter Maria Anna die Geburtsdaten ihrer älteren Schwester zugeordnet. Das mag in den meisten Fällen nicht viel ausmachen. Es bedeutet aber bei Frauen einen gewissen Unterschied, ob sie im Alter von 41 oder 42 Jahren ihr erstes Kind zur Welt bringen.25
Die Fehler begannen schon auf der im Sommer 1938 an der Kirchenmauer von Döllersheim angebrachten, heute nicht mehr vorhandenen Gedenktafel für Hitlers Großmutter mit dem Text »Hier ruht die Großmutter des Führers Maria A. Hitler, geborene Schicklgruber, geb. 17. April 1795 zu Strones, gest. 7. Januar 1847 zu Kl. Motten«, wo gleich zwei oder drei Fehler zusammenkamen: Das angeführte Geburtsdatum ist jenes der älteren Schwester Anna Maria, und auch das ist nicht einmal ganz genau, sondern um zwei Tage daneben, und »Hitler« hieß Maria Anna Schicklgruber nie, sondern nach der Heirat wie ihr Mann »Hiedler«. Auch das Grab selbst war ein Fake, weil es leer war. Seither schreiben fast alle Biografien von der bei der Entbindung im Jahre 1837 bereits 42-jährigen Hitler-Großmutter und verwenden das falsche Geburtsdatum.26 Die dritte, jüngere Schwester Josefa (Pepi) Schicklgruber, verehelichte Trummelschlager, spielte nur am Rande eine Rolle, war aber der Grund, dass Maria Anna im Hause der Trummelschlager zur Entbindung kam. Daneben gab es drei überlebende Brüder namens Schicklgruber, und auch der alte Vater der Kindesmutter, Johann Schicklgruber, dem sie den Haushalt führte, war 1837 noch am Leben.
Die falsche Mutter und deren falsches Geburtsdatum sind aber nur das erste Missverständnis in einer langen Reihe. Die Spalte für den Vater blieb in der Döllersheimer Taufmatrik leer. Das nicht deshalb, weil Maria Anna keinen Vater genannt oder gewusst hätte, sondern weil es kirchenrechtlich bei unehelichen Kindern so vorgesehen war. Der Name des Vaters wurde nur dann nachgetragen, wenn das Kind durch eine spätere Heirat legitimiert wurde. Vermögensrechtlich hatte der Name des Vaters ohnehin keine Bedeutung, solange es keine Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen für einen unehelichen Vater gab und uneheliche Kinder selbstverständlich auch von jeglicher Erbberechtigung ausgeschlossen waren.
So blieb die Frage nach Alois Schicklgrubers Vater offen und wurde, je wichtiger der Enkel Adolf wurde, immer mehr zum Gegenstand von Mythen, Erfindungen und Verwechslungen. Dabei ging es weniger um Berufschancen und Geld als um Ehre, Ahnenpässe und arische Herkunft. In den 1920er Jahren, als Adolf Hitler erstmals das Feld der Öffentlichkeit und politischen Bühne betrat, begannen sich nicht nur seine Anhänger, sondern noch mehr seine politischen Gegner für seine Herkunft zu interessieren: für seinen ursprünglichen Namen Schicklgruber, für die ungeklärten Familienverhältnisse, für etwaige inzestuöse Verbindungen und vor allem für mögliche jüdische Glieder in der Ahnenreihe. Der fanatische Judenhasser Hitler selbst ein Jude? Der Führer einer Partei, die auf den Ahnenpass so viel Wert legt, selbst mit einer mehr als dunklen Lücke im Stammbaum!
Als der Wiener Skandaljournalist János Békessy (Hans Habe) 1932 damit an die Öffentlichkeit ging, wurden viele andere zur Beteiligung an dem Suchrätsel angespornt, von Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der mehrere seiner Hofräte in Bewegung setzte, bis zu verschiedenen Berufs- und Hobbygenealogen und Adabeis. Mehr oder weniger gute Ahnenforscher wurden tätig. Einer davon war der Wiener Friedrich von Frank. Am 29. Februar 1932 beauftragte ihn Hitler gegen ein Honorar von 300 Mark mit der Erstellung eines Stammbaums. Im April desselben Jahres wurde das Ergebnis vorgelegt. Ein Vorname in dieser Stammtafel fiel auf: »Katharina Salomon«, was auch in der Neuen Zürcher Zeitung am 16. Juni 1932 zu kritischen Kommentaren Anlass gab. Zwar hatte der Genealoge offenbar einen Fehler gemacht, den er umgehend korrigierte und die Katharina Salomon durch eine »Maria Hamberger« ersetzte.27 Aber damit war den Spekulationen erst recht Nahrung gegeben. War das eine Gefälligkeit gegenüber dem Auftraggeber? Auch als ein anderer Genealoge, der Wiener Rudolf Koppensteiner, eine revidierte Fassung des Stammbaums erstellte, die alle Zweifel beseitigen sollte, half das nicht viel, weil dieser als weitschichtiger Verwandter Hitlers erst recht unter den Verdacht der Voreingenommenheit kam.28
Es war der mit dem Genealogen Friedrich von Frank zufällig namensgleiche berüchtigte Gauleiter des Generalgouvernements Dr. Hans Frank, der in seiner 1945 im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis verfassten Autobiografie Im Angesicht des Galgens die Geschichte von Hitlers jüdischer Abstammung neuerlich aufwärmte: Ein Grazer Jude namens »Frankenberger, Frankenreiter (oder so ähnlich)«, bei dem Maria Anna Schicklgruber als Köchin gearbeitet habe, sei Hitlers Großvater. Die Behauptung war ohne viel Substanz, nicht nur weil Maria Anna wohl kaum in dem vom Waldviertel so weit entfernten Graz eine Beschäftigung angenommen haben wird, sondern weil es in Graz zu der fraglichen Zeit nicht nur keinen Juden mit dem Namen Frankenberger »oder so ähnlich«, sondern überhaupt keine Juden gab.29
Auch Salomon Rothschild, der reichste Kapitalist im vormärzlichen Österreich, der in Internet-Foren immer wieder als Hitlers Großvater genannt wird und dem man einen etwas lockeren Umgang mit kleinen Mädchen zuschrieb, ist mit Sicherheit auszuschließen, nicht nur weil Maria Anna kein junges Mädchen mehr war, sondern weil Salomon sich im fraglichen Jahr gar nicht in Wien aufhielt. Aber ein Propagandaerfolg wäre es tatsächlich gewesen, hätte man den nunmehr berühmt gewordenen Politiker und berüchtigten Antisemiten als Sohn eines Juden oder gar eines so bekannten Juden und Inbegriffs des Reichtums wie Salomon Rothschild entlarven können.30 Auch Adolf Pereira-Arnstein, den Ilse Krumpöck, die langjährige Leiterin des kunsthistorischen Referates im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum, vor einigen Jahren in einer skurrilen »Romanbiografie« ohne haltbare Quellenbelege als »Hitlers Großvater« hervorzauberte, wohl wegen des Namens Adolf, vielleicht auch, weil dieser sein Palais in der Renngasse 6 hatte, nur wenige Meter von Rothschilds Renngasse 3 entfernt, kommt nicht infrage, wobei sie schon auf der ersten Seite ihre absurden Theorien mit dem obskuren Satz gegen jegliche Kritik zu immunisieren versuchte: »Jedes zweite Wort ist wahr.« Krumpöcks krause Zusammenstellung ist von Andreas Kusternig eindringlich korrigiert worden.31 Doch gegen Verschwörungstheorien ist nicht wirklich anzukommen. Sie geistern unausrottbar durch die Weltgeschichte und das Internet.
Auch Hitler selbst versuchte seine Herkunft zu verschleiern. Wie viel wusste er? Wie sehr war er psychisch dadurch belastet? In Mein Kampf gibt es nur zwei kurze, sich zudem widersprechende Sätze über die Vorfahren seines Vaters: »Als Sohn eines armen, kleinen Häuslers hatte es ihn schon einst nicht zu Hause gelitten …« und später, anlässlich seines eigenen Wienaufenthalts: »… immer das Bild des Vaters vor Augen, der sich einst vom armen Dorf- und Schusterjungen zum Staatsbeamten emporgerungen hatte.«32 Er hat ausgerechnet bei diesen Sätzen sehr lange um die Formulierung gekämpft, ursprünglich hätte es »Häusler und Tagelöhner« heißen sollen. In welches Licht wollte und sollte er seine Herkunft setzen? In die schmerzliche Realität einer armen, niedrigen und ungeklärten Herkunft? Eines inzestuösen Verhältnisses? Einer Lüge?
Hitlers Schwester Paula jedenfalls behauptete 1945 gegenüber der US-Armee, über die Herkunft ihres Vaters im Unterschied zu jener der Mutter praktisch nichts zu wissen: »Der Vater hat sich um die Verwandtschaft nicht gekümmert. Ich habe niemand von den Verwandten meines Vaters gekannt, sodass wir, meine Schwester Angela und ich, öfter gesagt haben: wir wissen gar nicht, der Vater muss doch auch Verwandte gehabt haben.«33 Und auch Adolf Hitler selbst wollte nicht darüber sprechen. Am 21. August 1942 sagte er in der Wolfsschanze: »Von Familiengeschichte habe ich gar keine Ahnung. Auf dem Gebiet bin ich der Allerbeschränkteste. Ich habe auch früher nicht gewusst, dass ich Verwandte habe. Erst seit ich Reichskanzler bin, habe ich das erfahren. Ich bin ein vollkommen unfamiliäres Wesen, ein unsippisch veranlagtes Wesen. Das liegt mir nicht. Ich gehöre nur meiner Volksgemeinschaft an. Ich finde das Ganze uninteressant, belanglos. Ich hatte einen Mann in der Partei, er hat mir ein paar Mal das vortragen wollen, was er in langem Studium über die Geschichte seiner Familie in Erfahrung gebracht hat. Ich sagte ihm: Pfeffer, das interessiert mich nicht! Da ist er ganz geistesabwesend dagestanden!«34 Mit Pfeffer war wohl der später in Ungnade gefallene westfälische Freikorpsführer Franz Pfeffer von Salomon gemeint.35 Aber Hitler hätte auch den oberösterreichischen Archivbeamten Dr. Franz Pfeffer meinen können, der 1938 im Amt des Reichsstatthalters von Oberdonau beauftragt war, Hitlers Herkunft und frühe Geschichte im »Ahnengau« zu erforschen.36
Wir wissen aus vielen lebensgeschichtlichen Erzählungen, dass das Phänomen der Unehelichkeit oft von einer charakteristischen »Heimlichkeitssphäre« umgeben ist, welche die betroffenen Kinder zwar wahrnahmen, aber erst nach und nach zu durchdringen vermochten. Diffus erkannte Unstimmigkeiten über die eigene Herkunft wurden intuitiv zwar als Anderssein gegenüber anderen Kindern empfunden, deren Ursachen aber erst schrittweise erfassbar und beschreibbar gemacht.37 Unbestimmte Ängste konnten ein ganzes Leben aufrecht bleiben. Das mag auch bei Alois der Fall gewesen sein, der erst mit fast vierzig Jahren eine Legitimierung erreichte, die erst recht keine Klärung war. Auch bei Adolf Hitler, der die illegitime Herkunft seines Vaters und dessen Namen nicht nur aus politischen, sondern auch aus psychischen Gründen in einen starren Panzer der Verheimlichung einhüllte, wirkte das noch nach. Auch er verdeckte seine Herkunft, so gut es ging.
Maria Anna, Adolf Hitlers Großmutter, geboren 1796 in Strones, stammte aus einer Bauernfamilie, deren Hof mit 19 Joch (10 ha) Grundbesitz in dieser kargen Gegend eher der kleinbäuerlichen Unterschicht, aber sicherlich nicht einer bäuerlichen Oberschicht zuzuordnen war. Über die Lebensverhältnisse im Waldviertel und über den Lebensstandard der Schicklgrubers lässt sich kein genaues Urteil fällen. Im späten 18. Jahrhundert hatte die Protoindustrialisierung den unterbäuerlichen und kleinbäuerlichen Familien mit Handspinnerei und Handweberei einen bescheidenen Wohlstand bringen können. Aber die Napoleonischen Kriege und die nachfolgende schwere Klima- und Hungerkrise hatten das weitgehend zunichte gemacht. Witterungsmäßig waren die Jahre 1816/17, als Johann Schicklgruber, Maria Annas Vater, den Hof an die nächste Generation übergab, die kältesten des ohnehin kalten 19. Jahrhunderts: 1816 war das Jahr ohne Sommer, mit schweren Missernten, Hungersnöten und einer galoppierenden Inflation.
Den elterlichen Hof Maria Annas hatte im Jahr 1817 ihr Bruder Josef übernommen, mitten im schlechtesten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der Vater erhielt ein Ausgedinge in einem kleinen Haus (Strones 22) mit recht detaillierten Naturalansprüchen, deren Geldwerte sich angesichts der 1817 herrschenden Teuerung unverhältnismäßig hoch ausnahmen und die in Naturalien zugeteilt in dieser Hunger-und Inflationszeit Goldes wert waren. Maria Anna zog zu ihrem seit 1821 verwitweten Vater: Das war ein zwar sicheres, aber doch recht freudloses Dasein: ihm den Haushalt führen, kochen, waschen, spinnen, weben, taglöhnern, ohne Möglichkeit, dem zu entkommen oder gar in die große Stadt zu gehen. Vielleicht ein bisschen tanzen, sich verlieben, träumen. Aber die industrielle Fabrikware drückte die Erlöse aus der Heimarbeit immer mehr. Dass sie den Vater jemals verlassen hätte, um nach Wien oder gar Graz in ein Dienstverhältnis zu gehen, und gar zu einer jüdischen Familie, von denen es damals in Österreich nur sehr wenige gab, ist ganz unwahrscheinlich.
Der Wohlstand, den die Historikerin Maria Sigmund aus einigen inflationär überhöhten Einkommens- und Vermögensangaben aus der napoleonischen Zeit und aus einigen bemalten Möbelstücken und Gegenständen aus dem angeblichen Besitz von Maria Anna Schicklgruber – ein bemalter Schrank, ein Butterfass, ein Spinnrocken, Feuerböcke, mehrere Rechen und ein Ochsenjoch – im Horner Höbarth-Museum herauslesen wollte, ist ohnehin ein Betrug, dem die Sammler der NS-Zeit, die im »Ahnengau« des »Führers« eine Gedenkstätte mit Hitler-Reliquien aufbauen wollten, aufgesessen waren. Diese schönen Möbel stammten in Wirklichkeit nicht von Maria Anna und ihrer Familie, sondern waren ihr nur mit einem gefälschten Herkunftszeugnis zugeordnet worden.38 Ob die 74,25 fl, die Maria Anna 1821 von ihrer Mutter geerbt hatte und die bis 1838 bei der örtlichen Waisenkasse auf 165 fl angewachsen waren, ein großes Vermögen oder ein nahezu wertloser Posten waren, hängt davon ab, ob man in Konventionsmünze, der damaligen Silberwährung, oder in Wiener Währung, dem Papiergeld, rechnete, was viel wahrscheinlicher ist. Angegeben ist das in den Quellen leider nicht: In Konventionsmünze wären es heute ca. 3.656 Euro, in Wiener Währung nur ca. 1.462 Euro.39
Als Maria Anna 1836 im Alter von 40 Jahren schwanger wurde und 1837 die Entbindung heranrückte, übersiedelte sie kurzzeitig zu ihrer jüngeren Schwester, die den etwas wohlhabenderen Bauern Johann Trummelschlager geheiratet hatte. Dort, in Strones Nr. 13, erblickte Alois Schicklgruber am 7. Juli 1837 das Licht der Welt. Schwester und Schwager fungierten als Taufpaten. Die Rubrik für den Kindesvater blieb im Taufbuch leer.40 Nach der Entbindung lebte Maria Anna mit dem Kind wieder bei ihrem eigenen Vater im Ausnehmerhaus. 1842 heiratete sie den 50-jährigen, verwitweten (und nicht »ledigen«, wie er vor dem Pfarrer für die Trauungsmatriken fälschlicherweise angegeben hatte) Müllergesellen Johann Georg Hiedler, der bis dahin auf verschiedenen Mühlen des Waldviertels gearbeitet hatte.41 Normalerweise wäre in so einer Situation das uneheliche Kind der Braut, wenn es vom Bräutigam gestammt hätte, legitimiert und für ehelich erklärt worden. Warum es in diesem Falle unterblieb, gab und gibt immer noch Anlass zu Spekulationen. Dass Johann Georg der Vater war, ist jedenfalls wahrscheinlicher als die Vaterschaft seines damals bereits verheirateten, jüngeren Bruders Johann Nepomuk, der den jungen Alois später als Ziehkind aufnahm. Der Ort Spital, wo dieser den elterlichen Hof führte, lag zwar mit etwa 20 km Entfernung näher bei Strones als das 30 km entfernte Dorf Thürnthal, wo Georg vor 1840 gearbeitet hatte. Aber für den gerade erst jung verheirateten Johann Nepomuk wäre es, was von allen Historikern, die sich für ihn als Alois Vater entschieden haben, übersehen wird, angesichts von drei eigenen Kleinkindern ein nur schwer erklärbarer ehelicher Seitensprung und Ehebruch gewesen, für den verwitweten Johann Georg hingegen nur eine damals weitverbreitete voreheliche Beziehung.
In vielen Gegenden Ober- und Niederösterreichs herrschte damals das Jüngstenerbrecht. Der jüngste Sohn erbte den Hof, die anderen Söhne und Töchter mussten sich anderswo ein Auskommen suchen und wurden bestenfalls mit einem kleinen Heiratsgut abgefertigt. Johann Georg Hiedler teilte dieses Schicksal der Ausgesteuerten. Er hatte das unstete Wanderleben, sein Bruder Johann Nepomuk den schönen Hof. Die unterschiedliche Schreibung der Familiennamen der beiden Brüder, Hiedler und Hüttler, sagt nichts aus, sorgte aber später im Fall Hitler für Verwirrung. Das damalige Heiratsalter war extrem hoch. Ein Leben als Dienstmagd und uneheliche Mutter war das Schicksal vieler Töchter, das Leben als Taglöhner oder Handwerksburschen das der weichenden Söhne. So ein Leben war nicht nur eine enorme psychische Belastung, sondern auch eine finanzielle Benachteiligung.42 Für eine Familiengründung war eigentlich kein oder erst sehr spät ein Platz.
Im Ausnehmerhaus des Vaters bzw. Schwiegervaters fand das jung verheiratete Ehepaar Hiedler zwar weiter Unterkunft, was ihm auch eine grundherrschaftliche Eheerlaubnis ermöglichte. Aber als Existenzgrundlage reichte das nicht aus. Man brauchte einen Erwerb. Als der alte Großvater Johann Schicklgruber 1844 wegen der immer härter werdenden Wirtschaftskrise das Ausnehmerhaus aufgeben musste, zog die kleine Familie mit dem Großvater nach Kleinmotten, wo sie bei einem Verwandten zur Miete wohnten und wo auch Alois Hitler die ersten Volksschuljahre absolvierte.43
Die 1840er Jahre waren überall schwierige Jahre. Im Waldviertel spürte man vor allem die Ernteausfälle durch die Kartoffelfäule und die Arbeitslosigkeit in der Textilwirtschaft. In dieser von Heimarbeit geprägten Landschaft stieg das Elend sprunghaft an. Armut und Kinderarbeit waren überall die Norm, in den Fabriken, in der Hausindustrie und in der Landwirtschaft. So ist es gut möglich, dass die Familie, die vorher ein bescheidenes Auskommen gefunden hatte, völlig abrutschte, wenn es auch nur bildlich zu verstehen sein dürfte, dass Maria Anna und das Kind tatsächlich »in einem Sautrog« schlafen mussten.44
Als 1847, in diesem schlechtesten aller Jahre kurz vor der Revolution, die Mutter an »Auszehrung infolge Brustwassersucht« und kurz darauf auch der Großvater starben, waren Johann Georg und der junge Alois mit einem Mal ganz auf sich allein gestellt. Ob Johann Georg zu dem Zeitpunkt überhaupt noch im gemeinsamen Haushalt gelebt hatte, weiß man nicht.45 Auf jeden Fall musste der Witwer sich spätestens jetzt um einen Erwerb und für das Kind um eine Unterkunft und Versorgung umsehen. Es war naheliegend, es auf den Bauernhof des jüngeren Bruders Johann Nepomuk zu geben, der dort genügend Platz hatte und eine zusätzliche Arbeitskraft gut brauchen konnte, auch wenn diese nur ein zehnjähriges Kind war.46
Mit der Unterbringung bei einem Verwandten waren die Überlebenschancen und Startbedingungen für den jungen Alois wahrscheinlich besser als für viele andere uneheliche Kinder, die zu ganz fremden Leuten verschickt und in Kost gegeben wurden.47 Ob Johann Nepomuk den heranwachsenden Alois Schicklgruber als Neffen oder gar leiblichen Sohn betrachtete oder nur als bloßes Ziehkind, das er von der Ehefrau seines Bruders übernommen hatte, ist nicht bekannt. Während der Woche wurde hart gearbeitet, an den Sonntagen ging man zur Kirche und in die Sonntagsschule. Dass das eine sonnige Kindheit gewesen sei, wie manche Hitler-Biografen meinen, verkennt die Härte der damaligen bäuerlichen Welt.48
Die neue Ziehmutter, Johann Nepomuks Ehefrau Eva Maria, geb. Decker, war um vierzehn Jahre älter als ihr Gatte. Ihre drei Töchter Johanna, Walburga und Josefa, mit denen Alois Schicklgruber nun in einem gemeinsamen Haushalt lebte, waren etwas älter als er. Die älteste, Johanna, heiratete 1848 den Besitzer des benachbarten Bauernhauses Spital Nummer 37 namens Johann Pölzl, den Vater von Alois Schicklgrubers späterer dritter Ehefrau und Adolf Hitlers Mutter Klara Pölzl. Walburga heiratete 1853 den Bauernsohn Josef Romeder aus dem Nachbardorf Ober-Windhag, der dazu ausersehen war, Johann Nepomuk Hüttlers Bauernhaus in Spital Nummer 36 zu übernehmen. Johann Nepomuk wurde dafür ein Ausgedinge mit Haus, Grundstücken und Naturalleistungen zugestanden, das ihm ein gesichertes Auskommen im Alter ermöglichen sollte. Die dritte Schwester, Josefa, heiratete Leopold Sailer in Spital Nummer 24, starb aber bald nach ihrer Heirat bereits im Jahr 1858.
Es ist einiges merkwürdig an Alois Schicklgrubers unehelicher Herkunft. Denn der größere Teil der unehelichen Kinder in vorindustriellen und agrarischen Zeiten stammte von Eltern, die keine Chance auf eine Hausstandsgründung finden konnten: von ländlichen Dienstboten in hausrechtlicher Abhängigkeit und von Gesellen und Lohnarbeitern im städtischen Gewerbe, die Lebenspartnerschaften eingingen, ohne die Möglichkeit zu haben, diese legalisieren zu lassen. Der kleinere Teil der unehelichen Kinder stammte aus Beziehungen zwischen vermögenden und mächtigen Dienstgebern und abhängigen Mägden oder zwischen reichen, nach Erfahrung suchenden Söhnen und armen Mädchen. Maria Anna, Adolf Hitlers Großmutter, stand nach allem, was wir wissen, nicht in hausrechtlicher Abhängigkeit, sondern lebte bei ihrem Vater und führte ihm den Haushalt. Sie hätte in diesem Häuschen, zwar auf sehr beschränktem Raum, auch schon 1837 die Gelegenheit für eine Ehebewilligung und Hausstandsgründung gehabt. Das tat sie auch mehrere Jahre nach der Entbindung, als sie den vermutlichen Vater ihres Kindes heiratete, ohne allerdings das Kind legitimieren zu lassen. Das nährte Spekulationen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Unehelichenquote in Österreich den historischen Höchstwert. Das war Ausdruck einer tiefen Krise. Für die Mütter bedeutete ein uneheliches Kind eine massive soziale und wirtschaftliche Schlechterstellung, für die Kinder eine große Erschwernis für den Start ins Leben mit subjektiv empfundenen Kränkungen und objektiv verringerten Zukunftschancen. Ein schönes Leben war das sicher nicht. Kinderarbeit, schlechte Ernährung, Prügelstrafen und das Stigma des »ledigen Bankerts« prägten solch ein Leben. Nur wenigen gelang der Ausbruch aus dieser fremdbestimmten Spirale der Ausbeutung.
Feierliche Enthüllung einer Gedenktafel in Strones: Nach dem »Anschluss« erinnerten sich die Nationalsozialisten auch an das Geburtshaus von Alois Hitler im Waldviertel.
Die erste Ehe Alois Hitlers endete 1880 mit einer Trennung von »Tisch und Bett«. 1949 bestätigte der Pfarrer von Theresienfeld die Taufe von Anna Glassl am 27. März 1823.
Vielleicht hatte es Alois Schicklgruber/Hitler mit seinen Bezugspersonen gar nicht so schlecht erwischt: Mit fünf Jahren hatte er einen Stiefvater, der vielleicht auch sein wirklicher Vater war, auch wenn dieser ihn formell nie anerkannt hatte. Nach dem frühen Tod der Mutter folgte die Verpflanzung zu Zieheltern in ein anderes Haus und eine fremde Umgebung, auch wenn es Verwandte waren. Geborgenheit war das nur schwerlich. Wie alle Ziehkinder wurde wohl auch Alois vor allem als Einkommensquelle und Arbeitskraft gesehen und möglichst früh in verschiedene Arbeitsprozesse integriert. Eine Entlohnung oder auch nur ein geringes Taschengeld waren nicht üblich: Sei froh, dass du das Essen hast!49