Rothschild - Roman Sandgruber - E-Book

Rothschild E-Book

Roman Sandgruber

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Beschreibung

Die Nachkommen von Mayer Amschel Rothschild erobern die europäische Finanzwelt: Salomon Rothschild steigt im Vormärz zum führenden Bankier Österreichs auf, Sohn Anselm Salomon gründet die Creditanstalt, Enkel Albert ist der reichste Mann Europas. Die Rothschilds werden zu Freiherren und Baronen, finanzieren Staaten, Kriege, Fabriken und den Eisenbahnbau, sind Mäzene und Sammler. Das »Welthaus Rothschild« besitzt bis 1914 die größte Bank der Welt. Gestützt auf umfangreiche Recherchen im Londoner Rothschild-Archiv zeichnet Roman Sandgruber ein meisterhaftes Bild vom Aufstieg der Familie und dem Schicksal ihres österreichischen Zweigs. Er schildert Geschäfte und Transaktionen, Skandale und Dramen und lässt die einzigartige Erfolgsgeschichte dieser jüdisch-großbürgerlichen Familie wieder lebendig werden.

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Symbol des Erfolgs, Leitbild und Wappenschild:

Die fünf Pfeile stehen für die fünf Brüder Rothschild –

Amschel, Salomon, Nathan, Carl (Kalman) und James (Jakob).

Roman Sandgruber

ROTHSCHILD

Glanz und Untergang des Wiener Welthauses

INHALT

Cover

Titel

Vorwort

REICH WIE ROTHSCHILD …

Die ERSTE Generation

MAYER AMSCHEL –DER MILLIONÄR, DER AUS DEM GHETTO KAM

Die Slumstadt

An der Schwelle der Globalisierung

Mit einem Schlag Millionäre

Der Weg zum Welthaus

Concordia, Integritas, Industria, Fraternitas

Die ZWEITE Generation

SALOMON –DER BANKIER DER HEILIGEN ALLIANZ

Der Kongress tanzt

Rothschild geht nach Wien

Stammvater Salomon

Der Kutscher und sein Stallknecht

Große Anleihen und kleine Vorteile

Gebt ihnen eine Eisenbahn!

Kohle und Eisen

Dampfschiffe und andere Geschäfte

Ein Garten für Rothschild

Der neureiche Kapitalist

Betty – eine Göttin in Paris

Millionäre und Bankrotteure

Revolution!

Salomons letzte Jahre

Die DRITTE Generation

ANSELM –DER KÖNIG DER GRÜNDERZEIT

Ein Sparmeister und Unternehmer

Neue Zeiten – neue Geschäfte

Die größte Bank des Landes: Die Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe

Wer die Eisenbahn beherrscht, beherrscht das Land

Zwischen Solferino und Königgrätz

„Die Ringstraße ist mir viel zu teuer“

Die Entstehung einer Kunstsammlung

Das Begräbnis eines armen Juden

Die VIERTE Generation

ALBERT ROTHSCHILD –DER REICHSTE MANN EUROPAS

Eine Dynastie entsteht

Ferdinand – ein Österreicher in England

Ferdinand und Evelina – das jähe Ende einer großen Liebe

Ein Loireschloss in Buckinghamshire

Ferdinands Sammlungen

Nathaniel – der reichste Junggeselle

Bauen, um zu leben

Ein Männerhaushalt

Der größte Wohltäter Österreichs

Affären, die keine waren

Albert – ein Mann fürs Geschäft

Seine Majestät Rothschild

Im Kampf mit Bontoux

Rothschilds Gold

Der Bankier im Hintergrund

Rothschild und Wittgenstein

Im Visier der Populisten

Georg von Schönerer und die Deutschnationalen

Karl Lueger und die Christlichsozialen

Victor Adler und die Sozialdemokraten

Theodor Herzl und die Zionisten

Das Rothschild-Viertel Niederösterreichs

Die Antisemiten im Rothschild-Reich

Anselms unglückliche glückliche Töchter

Bettina – ein Stern vom Himmel

Rothschild am Kaiserhof

Rothschildhobbys

Bergliebe

Eiszauber

Tennisbegeisterung und Fußballfieber

Fahrradliebschaften

Pferdeliebhabereien

Mobilitätsrausch

Jagdlust

Sternensehnsucht

Fotoamateure

Schachleidenschaft

Buchraritäten statt Bücher

Weinschätze

Küchengeheimnisse

Die Musik des Geldes

Der Goût Rothschild

Das traurigste Palais von Wien

Spenden und Steuern

Das Begräbnis des reichsten Europäers

Die FÜNFTE Generation

LOUIS ROTHSCHILD –DER GESTÜRZTE KAPITALIST

Aus einem Irrenhaus

Der Tod eines Maturanten

Die stillste Rothschild

Der Freizeitkapitalist

Die gute alte Zeit

Das Welthaus im Weltkrieg

Das Welthaus im Kleinstaat

In den Wirren der Hyperinflation

African Safari

Krise der Banken – Krise der Politik

Das Unglück Boden-Credit-Anstalt

Der große Krach

Rothschild, der Esel

Dubiose Geldflüsse

Die Krise in Witkowitz

Auch Rothschild muss sich einschränken

Zwischen Madonnen und Primadonnen

Pretty Kitty

Kalte Tage in Enzesfeld

Die Zerstörung

In den Händen der Gestapo

Die „wirkliche“ Realität der Schachnovelle

Der große Raubzug

Eichmann im Rothschild-Palais

In die Emigration

Eine Rückstellung ohne Gutmachung

„Little Mitteleuropa“

Die Auslöschung

ANHANG

Anmerkungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

Ein verdoppeltes, gespiegeltes R als Monogramm erlaubt zwei Lesarten: „Rothschild“ und „Rothschild (Judeorum) Rex“.

REICH WIE ROTHSCHILD …

„Reich wie Rothschild“ ist immer noch ein geflügeltes Wort. Kein Familienverband zuvor und auch nie seither hat einen derart hohen Anteil am jeweiligen Welteinkommen und Weltvermögen erreichen können wie die fünf Rothschild-Linien im 19. Jahrhundert, nicht die Medici oder die Fugger im 16. Jahrhundert, nicht die indischen Moguln und Maharadschas oder eine der europäischen Herrscherdynastien und auch nicht das saudische Königshaus oder irgendeiner der Superreichen, die in jüngerer Zeit an die Spitze der weltweiten Einkommens- und Vermögenspyramide gelangt sind. Man war das Welthaus und ließ sich gerne so nennen.

Die österreichische Linie dieser Familie nimmt eine besondere Stellung ein: Es ist die Geschichte eines märchenhaften Aufstiegs aus dem jüdischen Ghetto der Stadt Frankfurt zum größten Bankhaus der Habsburgermonarchie und die eines tragischen Niedergangs in den wirtschaftlichen Wirren der Zwischenkriegszeit und in der Beraubung durch die Nationalsozialisten. Ihre Geschichte lässt sich wie Thomas Manns Buddenbrooks-Roman erzählen oder als Bestätigung für die alte Lebensweisheit und wirtschaftshistorische Lehrbuchthese heranziehen: Der Großvater beginnt’s, der Vater gewinnt’s, der Sohn verdient’s, der Enkel genießt’s, der Urenkel verliert’s.

Von dem 1744 im jüdischen Ghetto der Stadt Frankfurt unter ärmlichsten Verhältnissen geborenen Mayer Amschel bis zum letzten Chef des Wiener Hauses Louis Nathaniel, der 1955 auf der Karibikinsel Jamaika ertrunken ist, sind es fünf Generationen. Der märchenhafte Aufstieg begann in den Kriegen der Napoleonischen Zeit. Nach dem Wiener Kongress gab es bald kein großes Finanzgeschäft mehr, das ohne die Rothschilds abgewickelt werden konnte. Der Abstand zu den nächsthöchsten Einkommen und Vermögen machte fast eine Zehnerstelle aus. 150 Jahre lang, von den Napoleonischen Kriegen bis zum Terror des Nationalsozialismus war sie wie keine andere Familie des Landes, nimmt man die Habsburger einmal aus, in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Umwälzungen verwickelt: vom Wiener Kongress über die Revolution des Jahres 1848 bis zu den großen Bankenkrisen der Zwischenkriegszeit und dem Raub- und Vernichtungszug der Nationalsozialisten. Als Albert Rothschild aus der vierten Generation im Jahr 1911 in Wien verstarb, galt er als reichster Mann Europas. Seine insgesamt sechs Kinder, lässt man die als Säugling verstorbene Charlotte Esther einmal beiseite, vermochten den Tragödien des 20. Jahrhunderts nicht standzuhalten: Die Familie verlor fast alles und ist in männlicher Linie ausgestorben.

Trotzdem ist es eine österreichische Besonderheit, dass von dieser Familie und ihren Bauten, Stiftungen und Sammlungen nicht nur fast nichts übriggeblieben ist, sondern dass sie auch in der Geschichtsschreibung bislang weitgehend verdrängt worden ist. Niall Fergusons großartige zweibändige Geschichte des Gesamthauses hat ihren Schwerpunkt naturgemäß auf England und Frankreich gelagert. Caesar Conte Cortis Geschichte der Rothschilds ist fast 100 Jahre alt und behandelt nur den Zeitraum bis in die 1860er-Jahre. Das Archiv der Wiener Rothschilds konnte er damals nicht benutzen. Auch die sonstige, sehr umfangreiche Rothschild-Literatur behandelt die österreichische Linie nur am Rand.

Einen roten Faden durch das Familiendickicht der Rothschilds zu finden, ist eine schwierige Sache, wobei es einem die österreichischen Rothschilds einerseits schwerer und andererseits leichter machen als ihre englischen und französischen Verwandten. Schwerer, weil es an Quellen fehlt: In Österreich sind die Quellen auf viele Archive zerstreut, sodass die Forschung häufig zu einer Suche im Heuhaufen wird. Das Familienarchiv der österreichischen Rothschilds ist nach langer Irrfahrt im hervorragend betreuten Londoner Rothschild-Archiv gelandet. Aber es hat auf seinen vielen Stationen von Wien über Berlin und Moskau nach London schwere Verluste erfahren und ist mehrfach skartiert und selektiert worden. Bestimmte Akten fehlen, zu Louis praktisch alle. Der Gesamtbestand des Londoner Rothschild-Archivs aber ist riesig und beherbergt auch für Österreich viele ungehobene Schätze. Doch für die älteren Bestände ist die Benutzung der in Judendeutsch (Frankfurter Dialekt in hebräischer Schrift) verfassten Texte schwierig.

In mancher Hinsicht machen es die österreichischen Rothschilds dem Forscher und Leser aber auch leichter als ihre englischen und französischen Verwandten und auch leichter als viele andere berühmte Dynastien, weil die Familie in männlicher Linie ausgestorben ist – man steht damit einer abgeschlossenen Geschichte gegenüber und der rote Faden geht nicht so leicht verloren. Trotzdem ist es nicht einfach, sich in den vielen Verwandtenehen und in den sich wiederholenden Vornamen zurechtzufinden und das Puzzle der fragmentarischen Quellen zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Gelingen konnte dies nur, weil von vielen Seiten Rat und Hilfe bereitgestellt wurde: sowohl in den einschlägigen Archiven und Bibliotheken als auch im Kreis der Kolleginnen und Kollegen. Besonderer Dank gilt dem Rothschild-Archiv in London, seiner Leiterin Melanie Aspey und ihrer Mitarbeiterin Frau Fiona McGarel-Groves, ebenso den Beamtinnen und Beamten in den verschiedenen Abteilungen des Wiener Staatsarchivs, im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, im Archiv der Republik und im Kriegsarchiv, ferner im Wiener Stadt- und Landesarchiv, im Niederösterreichischen Landesarchiv, im Historischen Archiv der Bank Austria, im Archiv und in der Bibliothek des Jüdischen Museums in Wien und im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Besonderer Dank gilt Frau Christa Proksch vom Archiv des Jüdischen Museums Wien für ihre Hilfe bei der Identifizierung von Fotos und Frau Karina von Tippelskirch, die mir Unterlagen aus den Dorothy Thompson Papers der Syracuse University kopiert hat, ferner Frau Karin Schneider von der Akademie der Wissenschaften für Exzerpte zum Wiener Kongress und Frau Eva Zankl vom Stadtarchiv Waidhofen an der Ybbs. Besonderer Dank gilt Georg Ransmayr für die Einsicht in seine Bosel- Dokumentation und für die aufmerksame Lektüre des gesamten Manuskripts. Dem Zukunftsfonds der Republik Österreich danke ich für die Förderung der Recherche im Londoner Rothschild-Archiv. Der Dank gilt nicht zuletzt dem Molden Verlag in der Verlagsgruppe Styria und Johannes Sachslehner, der nun schon mehrere Bücher von mir verlegerisch betreut hat, und der Johannes Kepler Universität Linz, die mir lange Zeit und auch nach meiner Emeritierung eine wissenschaftliche Heimstatt geblieben ist. Vor allem aber danke ich meiner Familie und meiner Frau Margith für die viele Unterstützung und den notwendigen Freiraum, die ein derartiges Projekt benötigen.

DIE

ERSTE

GENERATION

/

MAYER

AMSCHEL

der Millionär aus dem Ghetto

Schmale, hölzerne Fachwerkhäuser: die Frankfurter Judengasse. Foto, um 1860. Das Haus zum „grünen Schild“, das letzte Haus der Familie Rothschild im Ghetto, stand in diesem Bereich.

DIE SLUMSTADT

Das jüdische Ghetto der alten Reichsstadt Frankfurt war kein angenehmer Ort. Es konnte beengter nicht sein: Die Judengasse war dreieinhalb Meter breit, knapp 330 Meter lang, von hohen Mauern umgeben, vorn und hinten ein Tor, links und rechts dicht gereiht die schmalen hölzernen Fachwerkhäuser, 195 an der Zahl. Kein Baum, kein Grün, nicht einmal ein Grashalm. Johann Wolfgang von Goethe, der berühmteste Sohn der Stadt und nur wenig jünger als der Stammvater der Rothschilds, beschrieb sie als einen zwischen Stadtmauer und Stadtgraben eingeklemmten Zwinger.1 Mitte des 18. Jahrhunderts drängten sich hier 3.000 Personen – das Fünfzehnfache der bei der Einrichtung im Jahr 1462 vorgesehenen Zahl. Es gab vier Synagogen, ein Badhaus, eine Gemeinschaftsbäckerei. Jeden Abend und an allen Sonn- und Feiertagen wurden die Tore fest verschlossen. Auch wenn der gelbe Fleck am Kleid der Männer und der gestreifte Schleier der Frauen zu Goethes Zeit bereits abgeschafft waren, so gab es doch immer noch Kleiderordnungen und am Tor weithin sichtbar die Judensau. Der Zutritt zu Kaffeehäusern, Parks oder öffentlichen Plätzen war verboten: „Kein Jude und kein Schwein / Dürfen hier hinein.“ Nicht einmal für die Toten war Platz genug. Auf dem Friedhof des Ghettos türmten sich 5.930 Grabsteine. Die sanitären Verhältnisse waren mehr als bedenklich. Es stank. Alles war voll Gerümpel, wie es in einem Viertel mit Altwarenhändlern und Secondhandshops nicht anders zu erwarten ist. Da die Straße immer noch von offenen Abwässergräben durchzogen war, waren die Ausdünstungen abscheulich. Alles war eng, unordentlich, laut und aufgeregt: die schreienden Kinder, die feilschenden Händler, die fluchenden Arbeiter.

Eingeklemmt zwischen Stadtmauer und Stadtgraben: das jüdische Ghetto Frankfurts. Stich von Matthäus Merian dem Älteren, 1628. Das Haus zur „hinteren Pfanne“ befand sich ganz im Norden der Judengasse.

Aber der junge Goethe gewann auch positive Eindrücke von der Judenstadt: von der jüdischen Gastfreundschaft, ihrem Tätigkeits- und Gemeinschaftssinn, ihren geheiligten Festen von Pessach bis Jom Kippur und von den feierlichen Zeremonien zur Beschneidung, Hochzeit, zum Laubhüttenfest und zum Begräbnis. Der äußere Druck hatte zu einem engen inneren Zusammenhang geführt, zu einer eigentümlichen Sprache, dem Judendeutsch, das in hebräischen Lettern mit Gänsekielen von rechts nach links hingekritzelt wurde, ebenso zu einer besonderen Alltagskultur und vor allem zu engen, immer wieder erneuerten Verwandtschaftsbeziehungen und Verwandtenehen.

Keine Stadt im Deutschen Reich war antisemitischer als Frankfurt und nur wenige Städte waren reicher als Frankfurt. Frankfurt war nicht nur die Krönungsstadt der Kaiser, sondern auch die Stadt, wo das Geld zu hause war. Friedrich Schiller hatte einst, als er seine Ballade Die Teilung der Erde an Goethe übersandte, gemeint, dass sie am besten in Frankfurt gelesen werde, der Stadt, die vom Gott dieser Welt gelenkt werde, dem Geld, das allerdings im Ghetto damals noch ziemlich knapp war.

In der Frankfurter Judengasse stand das Haus mit dem roten Schild, das den Rothschilds einst den Namen gegeben hatte. Aber schon im frühen 17. Jahrhundert waren sie in das Haus zur „hinteren Pfanne“ umgezogen, ganz im Norden der Judengasse, wo nur selten ein Sonnenstrahl hinkam. In dem kaum drei Meter breiten Haus betrieben sie über drei Stockwerke verteilt auf insgesamt etwa 80 Quadratmetern einen Trödelladen, wo Mayer Amschel am 23. Februar 1744 geboren wurde, als Sohn des Amschel Moses und der Schönche Rothschild. Er hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Dass Mayer Amschel den fünf Jahre jüngeren Goethe, dessen Familie zu den Spitzen der Frankfurter Gesellschaft zählte, gekannt hat, ist recht unwahrscheinlich. Denn bereits mit elf Jahren war er auf die jüdische Schule in Fürth geschickt und ein Jahr später zum Vollwaisen geworden, weil die Eltern von den Pocken dahingerafft wurden. Wie anders wäre wohl sein Leben verlaufen, hätte er nicht die Schule abbrechen und eine Lehre im Hannoveraner Bankhaus Oppenheim annehmen müssen, sondern weiter den Talmud studiert? Als 1763 der Siebenjährige Krieg zu Ende ging und die französische Besatzung aus Frankfurt abgezogen war, kehrte Mayer Amschel in die Judengasse zurück. Da war Goethe gerade dabei, zum Studium nach Leipzig zu gehen.

AN DER SCHWELLE DER GLOBALISIERUNG

Mayer Amschels wirtschaftlicher Aufstieg begann am Anfang des „langen“ 19. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt der ersten Globalisierung, als in England die industrielle Revolution startete und die Dampfmaschine sich anschickte, die Fabriken zu verändern. Der Siebenjährige Krieg war der erste weltumspannende Krieg. Gekämpft wurde nicht mehr nur in Europa, sondern auch in den Kolonien. Es gab die neuen Kolonialwaren: die neuen Genussmittel und Drogen wie Kaffee, Tee, Schokolade, Zucker, Tabak, aber auch die neuen Treibmittel der Textilwirtschaft Baumwolle und Indigo, die nicht nur teuer und begehrt, sondern auch hoch besteuert und bisweilen sogar verboten waren, was sowohl den Fernhandel wie den Schmuggel beflügelte. Es gab viele neue Geschäftsideen. 2 Wer zugriff, konnte rasch reich werden.

Amschel stieg vorerst in dem von ihm geerbten Viertelteil des Hauses in der Hinterpfann in das Altwaren- und Hausiergeschäft der Familie ein. Doch mit dem alten Trödelzeug, mit dem sich seine Brüder Moses und Kalman abgaben, war nicht viel zu verdienen. Aber womit sollte Mayer Amschel bessere Geschäfte machen, wo doch so viele Wirtschaftsbereiche den Juden verboten waren? Gebrauchtwaren waren ein beliebtes Metier, Kolonialwaren eine Perspektive, noble Altwaren und antike Münzen eine kluge Nische. Der erste bekannte Geschäftsabschluss Mayer Amschels war eine Lieferung alter Münzen und Medaillen an den hessischen Erbprinzen Wilhelm, der seit 1764 in Hanau residierte und damit reich geworden war, dass er seine Untertanen als Soldaten nach England verkaufte. 38 Gulden und 30 Kreuzer machte die erste bekannte Rechnung Amschels aus dem Jahr 1765 aus, die er für ein Münzgeschäft mit dem Erbprinzen ausstellte. Das Sammeln von Münzen hatte sich im 18. Jahrhundert nicht nur im hohen Adel, sondern auch im gehobenen Bürgertum und in den Bildungseliten zu einer weitverbreiteten Mode entwickelt, mit der mehr zu verdienen war als mit Altwaren und Hausiergut. Das Geschäft ging so gut, dass er sich 1769 bereits mit dem Titel eines Hessisch-Hanauischen Hoffaktors schmücken und ab 1770 eigene Münzkataloge in Druck geben konnte.

Aber zunehmend wurde der Münzhandel das Mittel zum Zweck für viel größere Geschäfte: für Importe englischer Textilien, neuer Genussmittel und vielerlei Kolonialwaren. Noch viel mehr Geld brachten die Wechselgeschäfte, in die Amschel bereits in den 1770er-Jahren eingestiegen war. Diese waren vor allem für die Transferierung der landgräflichen Gelder aus dem Soldatenverkauf nach England wichtig. Und der Beginn der Kriege gegen das revolutionäre Frankreich stellte neue Aufgaben. Die Truppen des Kaisers und der Koalition gegen Frankreich mussten mit Proviant und Sold versorgt werden. 1799 erwirkte Mayer Amschel für sich und die beiden Söhne Amschel Mayer und Salomon Mayer den Titel eines kaiserlichen Hoffaktors. Auch die Titel eines kgl. Preußischen und kgl. Dänischen geheimen Kommerzienrates und eines kurfürstlich Hessischen Geheimrats kamen hinzu und brachten nicht nur Ansehen, sondern auch geschäftliche Vorteile. 1783 erhielt er einen Pass, der ihm das Passieren der Tore des Ghettos auch bei Nacht und an Sonn- und Feiertagen erlaubte: eine wichtige Erleichterung für die Geschäftsführung.

Gutle Schnapper brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe mit Mayer Amschel Rothschild ein und gebar ihm 19 Kinder, von denen zehn überlebten. Porträt von Moritz Daniel Oppenheim, 1836.

Im Jahr 1770, im Alter von 26 Jahren, hatte Mayer Amschel seine wohl wichtigste geschäftliche Entscheidung getroffen: Er heiratete Gutle Schnapper, die Tochter eines wohlhabenden Geldwechslers aus dem Ghetto. Sie brachte eine ansehnliche Mitgift von 2.400 Gulden in die Ehe ein, was ungefähr dem Jahreseinkommen der Familie Goethe entsprach. Was aber viel wichtiger war: Sie gebar ihm neunzehn Kinder. Zehn überlebten, fünf Töchter und fünf Söhne. Das war der eigentliche Beginn der rothschildschen Erfolgsgeschichte. Gutle war tatsächlich eine wirklich bemerkenswerte Frau, nicht nur wegen der vielen Kinder und durch das hohe Alter, das sie erreichte, sondern auch durch den in vielen Anekdoten gerühmten Mutterwitz, mit dem sie ihr Leben bewältigte. Dass sie erst 1849 im Alter von 96 Jahren verstarb, machte Frankfurt noch lange zu einem Fixpunkt für alle Rothschilds und sicherte den Zusammenhalt der Großfamilie. Ihr Haus in der Judengasse hatte sie trotz des inzwischen erlangten Reichtums bis zu ihrem Tod nie verlassen.

Mayer Amschels zu versteuerndes Jahreseinkommen zwischen 1771 und 1779 war mit durchschnittlich 3.835 Gulden bereits um 50 Prozent höher als jenes der Familie Goethe und zweimal so hoch wie das eines Schultheißen, des höchsten Beamten der Stadt. Sein Vermögen wurde 1784 auf rund 150.000 Gulden geschätzt. Sein Geschäftskapital bezifferte er in der ersten erhaltenen Bilanz von 1797 bei Aktiva von 843.485 Gulden und Passiva von 734.981 Gulden auf netto 60.617 Gulden, sein privates Vermögen war „gottlob“ auf 471.221 Gulden angewachsen.3 Seinen Töchtern konnte er schon Aussteuern zwischen 5.000 und 10.000 Gulden geben, seinem ältesten Sohn Amschel ein Hochzeitsgeschenk von 30.000 Gulden.

Im Jahr 1786 war Mayer Amschel bereits so reich, dass er seinen Anteil an der „Hinterpfann“ verkaufen und das Haus „zum grünen Schild“ erwerben konnte, mit 11.000 Gulden eine der teuersten Immobilien in der Judengasse. Um die gleiche Summe hätte man in der Christenstadt, wo die Grundstückspreise viel niedriger waren, ein ganzes Palais kaufen können. Doch im Haus „Zum grünen Schild“ war der Platz auch nicht viel weniger beengt als in der Hinterpfann. Erstens war es nur ein halbes Haus. Die andere Hälfte hieß „Zum Schiff“. Und es stand immer noch in der diskriminierten Judengasse. Das neue Haus, gut fünf Meter breit und dreizehn Meter tief, hatte drei Fensterachsen, einen Keller und drei Stockwerke: im Erdgeschoß die Küche, eigentlich nur ein kleiner Durchgang von anderthalb mal vier Metern mit einer Wasserpumpe vom hauseigenen Brunnen als besonderem Luxus, auf dem Herd Platz für einen einzigen Topf, im ersten Stock das Wohnzimmer mit kleiner Terrasse und dem knapp zehn Quadratmeter großen Kontor, dessen Herzstück eine schwarze Truhe mit einem Hängeschloss war, einem sogenannten verkehrten Schloss, dessen Öffnung einen besonderen Trick erforderte. Und hätte man den geknackt, gab es in der Wand noch ein extra Geheimfach, das man erst finden musste. Eine enge Holztreppe, unter die zusätzliche Kästen eingebaut waren, führte in das obere Stockwerk und in das kleine grüne Zimmer, von dessen Fenster sich über einen sogenannten Spion das Geschehen auf der Straße völlig unbemerkt beobachten ließ. Auf dem Tisch unter einem Glassturz lag Gutles abgewetzter Brautkranz. Im Dachgeschoß lag die winzige Schlafkammer. Alles war schmal und der Raum bis zum Äußersten ausgenutzt. Ganz oben gab es ein kaum drei Quadratmeter messendes Dachgärtchen für das Laubhüttenfest. Wo konnten die vielen Kinder untergebracht werden, fragt sich nicht nur der heutige Leser. Aber für die Standards der Judengasse war es ein großes, ja sogar luxuriöses Haus, das nicht mehr im schattigen Nordwinkel, sondern im sonnigen Zentrum der Judengasse lag.

Das wirkliche Kapital der Familie waren die fünf Söhne: Amschel, Salomon, Nathan, Carl (Kalman) und James (Jakob), die zur Grundlage des Erfolgs wurden. Der Erste, der aufbrach, war Nathan, der Drittälteste, ein Sandwichkind, würde man heute sagen. Er ging nach Manchester, mitten ins Herz der englischen Baumwollindustrie, wo die revolutionären Spinnmaschinen und mechanischen Webstühle erfunden worden waren, die ersten Dampfmaschinen arbeiteten und das Fabrikszeitalter begonnen hatte. Niemand hätte ihm 1798 wohl viele Chancen eingeräumt, ohne ein Wort Englisch und ohne jegliche internationale Erfahrung. Doch Nathan überzeugte alle, obwohl sein Vater immer wieder seine eher schlampige Buchführung und riskante Geschäftsgebarung zu kritisieren Anlass fand: Sochrim (Kaufleute), die solche Unordnung haben, werden alle mapole (bankrott) machen, warnte er. Noch lange war Nathans Englisch so schlecht, dass man nicht verstand, was er meinte. Auch sein Deutsch war nicht wirklich lesbar: „Lieber Nathan, du derfst über dein Vater nit brojges (böse) sein. In der Feder schreiben kannst du leider nit viel. Nehme dir ein Schreiber …“, riet ihm sein Vater.4

Das Haus „Zum grünen Schild“, Judengasse 148, ab 1786 Sitz der Familie Rothschild, lag im sonnigen Zentrum des Ghettos. Aber nur die linke Haushälfte gehörte den Rothschilds.

Die Katastrophe von 1796: Der französische General Jean-Baptiste Kléber lässt Frankfurt beschießen, die Judenstadt gerät in Brand.

Doch der Erfolg glich alles aus. Nathan machte mit den Baumwollwaren, die er auf den Kontinent exportierte und mit jenen Geldern bezahlte, die der Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel für den Verkauf oder die Vermietung seiner zwangsrekrutierten Soldaten an England kassierte, ein doppeltes Geschäft. Bald konnte er ein Haus im elegantesten Teil Manchesters erwerben und 1806 in die jüdische Oberschicht Englands einheiraten. Die Mitgift, die Hannah Barent-Cohen mitbrachte, war mehr als zehnmal so hoch wie jene, die sein Vater Amschel seinerzeit von den Schnappers erhalten hatte. 1808 übersiedelte Nathan von Manchester nach London, weil mit Napoleons Kontinentalsperre der Textil- und sonstige Warenhandel Richtung Kontinent völlig zum Erliegen gekommen war. Aber mit Schmuggel konnte man ohnehin viel mehr verdienen und im Geldgeschäft und dem riskanten Transfer von Gold in Barren und Münzen lagen die allergrößten Verdienstchancen. Die Rothschilds standen langfristig gesehen auf der richtigen Seite, auf jener der Gegner Napoleons, obwohl sie auch an Geschäften mit dem Franzosenkaiser ausgezeichnet verdient hatten.

Das 19. Jahrhundert begann mit großen Vorzeichen. Die Französische Revolution schwappte auf Deutschland über. Die Koalitionskriege tobten. Frankfurt war umkämpft. 1796 hatten die Franzosen die Stadt besetzt und die Judenstadt in Brand geschossen. 119 Häuser brannten völlig nieder, 2.000 Menschen wurden obdachlos. Das war zwar eine Katastrophe, mit der aber zwangsläufig das Ende des Ghettos verbunden war. Die Tore mit der aufgemalten Judensau wurden abgerissen und die Juden zumindest vorläufig den anderen Bewohnern gleichgestellt. Und Amschel verpasste sich eine subtile Modernisierung in der Schreibweise seines Namens: von Meyer auf Mayer.

1806 wurde das Heilige Römische Reich von Kaiser Franz II. aufgelöst und ziemlich zeitgleich von Napoleon dem Kurfürstentum Hessen ein Ende gemacht, indem es dem neu geschaffenen Königreich Westfalen angeschlossen wurde. Weil Kurfürst Wilhelm, Rothschilds langjähriger Kunde und Förderer, ins Exil musste, zuerst nach Dänemark und dann weiter nach Prag, galt es, seine immensen Vermögen zu retten, seine Obligationen, Coupons, Münzen und Juwelen. Mayer Amschel und seine Söhne spielten dabei eine wichtige, für sie nicht ungefährliche Rolle, indem sie die vom französischen Zugriff bedrohten Gelder in England anlegten und zugleich englische Subsidien auf das Festland transferierten. Durch Rothschilds Hände rollte der Großteil jener Unterstützungszahlungen, die England seinen kontinentalen Verbündeten bereitstellte. Die französische Verwaltung schöpfte zwar Verdacht, dass Mayer Amschel und seinen Söhnen dabei eine wichtige Rolle zukam: Amschel wurde befragt, wo seine Söhne seien: Nathan in London, Carl in Kopenhagen und Amschel, der Älteste, entweder in Wien, Prag oder Regensburg, war die Antwort. Wo sie tatsächlich seien, wisse er nicht. Auch bei einer Hausdurchsuchung wurde nichts Verdächtiges gefunden. Als Salomon und Carl kurzfristig arretiert wurden, war deren Verteidigung in den Verhören so geschickt, dass ihnen nicht beizukommen war.5

Erfolgreiches Geschäftsfeld: Ab 1771 verschickte Mayer Amschel Rothschild an seine Kunden gedruckte Münzkataloge.

Mayer Amschel blieb ein Leben lang der Judengasse treu, obwohl er längst so reich geworden war, dass er überall hätte wohnen können, in einem prächtigen Palais in der Christenstadt oder in einem Haus mit Garten vor der Stadt. Doch er hatte nie mit den orthodoxen Traditionen gebrochen und verkörperte in seiner runden, ungepuderten Perücke, dem dünnen Kinnbart und der abgetragenen Kleidung immer noch den Typus des untertänigen Juden. Er war seit mehreren Jahren kaiserlicher Hofagent, mit dem Recht, Waffen tragen zu dürfen und mit der Befreiung von allen Zoll- und Mautgebühren im Reich, auch wenn das seit der Auflösung des Reichs nicht mehr viel wert war. 1808 war er schwer erkrankt. Das viele Reisen hatte ihn frühzeitig erschöpft. Aber auf sein Leben konnte er mit Befriedigung zurückblicken: Sein Geschäftsvermögen hatte bei Aktiva von 1,973.192 Gulden und Passiva von 1,458.692 Gulden einen Nettobetrag von 514.500 Gulden erreicht.6 Die Kinder arbeiteten alle in der Firma, auch die Frauen. Man handelte mit Waren aller Art, hatte Indigo im Wert von 48.929 Gulden auf Lager, dazu auch Tee, Zucker, Kaffee und englische Stoffe. Zwar hätte die von Napoleon verhängte Kontinentalsperre den Import aller Kolonialwaren unterbinden sollen. Aber nie vorher hatte dieser Handel in Frankfurt so geblüht wie während dieser Zeit und Mayer Amschel spielte dabei eine Hauptrolle. Aber in summa war er immer mehr zum Bankier geworden. Bereits 1810 hatte er einen Partnerschaftsvertrag aufsetzen lassen. Er behielt sich selber 370.000 Gulden, die beiden ältesten Söhne Amschel und Salomon erhielten je 185.000 und Carl und James je 30.000 Gulden. Doch er als Vater sollte das letzte Wort in allen Entscheidungen haben, war berechtigt, ohne Rücksprache Einstellungen und Entlassungen vorzunehmen, Geld herauszunehmen, und was das Wichtigste war, kein Familienfremder, aber auch kein Schwiegersohn sollte sich in das Geschäft einmischen können. Alle verpflichteten sich, bei Streitigkeiten kein Gericht anzurufen. Den Schwiegersöhnen und erst recht den Schwiegertöchtern stand kein Einblick in die Geschäftsbücher zu, auch nicht beim Ableben des Partners, obwohl man in der Realität auf die Mitwirkung der Töchter nicht verzichten konnte: Sein Vater habe keinen eigenen Kassier, erklärte Salomon 1809 in den Verhören: diese Geschäfte verrichte bald seine Schwester, bald die Frau seines Bruders Amschel. Diese zahlten die Gelder aus. Nur Gutle wisse von gar nichts, sie wäre das ganze Jahr zu Hause und kümmere sich um keine Geschäfte.7

Der Grabstein von Mayer Amschel Rothschild. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er aus den Trümmern des Jüdischen Friedhofs in Frankfurt geborgen.

Am 19. September 1812 starb Mayer Amschel, drei Tage nach Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, den er von morgens bis abends fastend und stehend in der Synagoge verbracht hatte. In sein Testament diktierte er das „Rothschild-Evangelium“: „Ich verordne und will daher, dass meine Töchter und Töchtermänner und deren Erben an der unter der Firma Mayer Amschel Rothschild und Söhne bestehenden Handlung keinen Antheil haben … und auch keinerlei Recht, diese Firma zu inspizieren, ihre Bücher, Geschäftspapiere oder Warenlager zu überprüfen …“8 Rothschild sollte eine auf die männlichen Nachkommen beschränkte Familiengesellschaft sein und bleiben. Seine Söhne warnte er: Jüdische Vermögen halten selten länger als zwei Generationen. „Erstens weil sie nit rechnen den Gebrauch, zweitens wegen jüdischer Dummheit.“ Und er beschwor den Zusammenhalt: „Halt mir die Geschwister beisammen, dann werd ihr die reichste Leute in Deutschland.“9 Begraben wurde er am jüdischen Friedhof ohne jede Rede und jede Feierlichkeit, aber weil Sonntag war, unter dem lauten Geläute der Glocken der Christenstadt.

MIT EINEM SCHLAG MILLIONÄRE

Was zwischen 1812, dem Tod Mayer Amschels, und dem Jahr 1815, dem Jahr des Wiener Kongresses, genau passiert ist, darüber gibt es nur Vermutungen. 1812 waren die Rothschilds gut situiert, 1815 waren sie Millionäre. Doch dieser Weg war nicht so geradlinig, wie man denken möchte. Es waren einige Zufälle und dazu das Geschick, rechtzeitig zuzugreifen. Aber mehrmals hing das Glück am seidenen Faden. Der Goldtransfer, eigentlich Goldschmuggel, von England auf den Kontinent, nach Russland, Spanien, Preußen, Mecklenburg, nicht zuletzt auch Österreich, musste völlig geheim ablaufen. Selbst die Kinder mussten schweigen. Salomons Sohn Anselm, damals elf Jahre alt, wehrte sich sogar, dass sein Lehrer einen Brief an den Vater verbessere: unmöglich könne diesem erlaubt werden, einen vertraulichen Familienbrief zu lesen.10

1813, als das Hauptquartier der Verbündeten gegen Napoleon eine Zeit lang in Frankfurt lag, bemühten sich die Rothschilds um erste Kontakte zu Metternich. Doch mit dem österreichischen Hof war nicht leicht ins Geschäft zu kommen, auch wenn sich ein kleiner Auftrag ergab: die Abwicklung der Besoldung der Offiziere. Am 28. Juli 1814 machten die Rothschilds einen neuerlichen Anlauf und übergaben ein Schreiben, in welchem sie dem Kaiser anboten, ihm die englischen Subsidien kostengünstiger als die Konkurrenz auf das Festland zu transferieren. Aber die Wiener Behörden ließen sich vorerst nicht überzeugen, auch nicht von den rothschildschen Hinweisen, wie gut man bereits mit Preußen und Russland im Geschäft sei.

Als Napoleon besiegt schien, schien auch der Stern der Rothschilds zu sinken. Am Wiener Kongress, der sich ab dem 18. September 1814 konstituierte, wollte man sie nicht dabei haben. Es war schwierig, mit den Mächten, die zum Wiener Kongress versammelt waren, ins Geschäft zu kommen. Aber als im März 1815 in der Kaiserstadt die Nachricht eintraf, Napoleon habe seinen Verbannungsort, die Insel Elba, verlassen und eine neue Armee aufgestellt, konnte man nicht mehr auf sie verzichten. Die 100 Tage seiner neuerlichen Herrschaft brachten den Krieg zurück. Napoleons Rückkehr von der Insel Elba war das große Glück der Rothschilds. Vorerst aber schien es geradezu ins Gegenteil zu laufen. Die Auswirkungen der Nachricht von der Auferstehung des Kaisers der Franzosen auf die Börse waren desaströs. Aber bald brauchten alle, auch die Österreicher, die Rothschilds, weil nur sie in der Lage waren, die Unterstützungszahlungen aus England so abzuwickeln, dass man Napoleon bei Waterloo erfolgreich gegenübertreten konnte. So wie Waterloo das Ende des Weltreichs Napoleons war, so war es der Anfang des Geldreichs der Rothschilds. Dass die Brüder über Brieftauben als Erste vom endgültigen Sieg der Verbündeten über Napoleon am 18. Juni 1815 informiert worden seien und dies zum großen Börsencoup nutzen konnten, mag Legende sein. Die Schlacht bei Waterloo ist ein zentraler Bestandteil des Rothschild-Mythos. Doch Napoleons Niederlage kam unerwartet früh, sodass die Rothschilds neuerlich ins Abseits zu geraten drohten. Weit weg davon, ungeheuer profitabel zu sein, löste der Sieg der Verbündeten eher eine Rothschild-Krise aus.11 Aber die Rothschilds standen auf der Seite der Kriegsgewinner. Sie waren mit Sicherheit die größten.12 Der Transfer der gewaltigen Summe von 30 Millionen Pfund Sterling als Subsidien von England auf den Kontinent zwischen 1812 und 1815 dürfte ihnen eine Million Pfund Provision gebracht haben. Die Abrechnung ergab, dass das Haus Rothschild im Jahr 1815 für Österreich 1,4 Millionen Pfund Sterling in 12,2 Millionen Gulden Conventionsmünze umgewechselt hatte. Und die französischen Reparationszahlungen nach der endgültigen Niederlage Napoleons boten noch bessere Gewinnchancen.13 Dass sie die für Österreich bestimmten Teile so rasch und ohne Wechselverlust eingelöst hatten, brachte ihnen 1817 den österreichischen Adel.14

Es ist fast unmöglich, genau anzugeben, wie die Rothschilds zu ihren Erfolgen kamen, vielleicht auch, weil sie es selbst nicht wussten und auch nicht wussten, wo ihr Geld war.15 Im August 1814 musste Salomon, der für die Buchführung der Brüder verantwortlich war und sich sicher war, dass Geld vorhanden war, eingestehen, dass er keinerlei Ahnung hatte, wo es sich tatsächlich befinde. Im September 1815 tauchte das Problem erneut auf. Salomon schrieb an Nathan: „Indessen, lieber Nathan, musst Du doch schrecklich viel Geld dort haben, denn hier sind mir schuldig. Amschel hat nicht viel übrig. Muss doch alles dort sein und Du schreibst, Du wärst so viel schuldig. Wo ist unser Lager?“16 Ein paar Tage später formulierte er es noch drastischer. „Wir hier stinken für Armkeit. Haben kein übriges Geld. Amschel hat keine Million übrig, folglich muss unsere ganze Menge bei Dir sein mit dem, was wir schuldig sind … Rechne, wo steckt das gemeinschaftliche Geld, guter Nathan … Es wird sich einst Gott willingst bei dem Auskehren finden.“17 Nathan hingegen antwortete, Amschel sei der große reiche Mann. Salomon darauf: „Unser Bruder Amschel ist pleite. Wir sind pleite. Carl ist pleite. Es muss also einer die Gelder alle haben.“ Auch die österreichische Regierung fürchtete, die Rothschilds würden bankrott gehen.18

Die Rothschilds wussten nicht, wie gut sie standen. Es werde zu viel Kopfrechnung statt Buchführung gemacht, kritisierte Salomon. Ob sie reich waren? Der dreizehnjährige Anselm wollte es nur glauben, wenn er die vielen Millionen als riesigen Haufen sehe. Die Frage, sind wir Millionäre oder Bankrotteure, machte Amschel krank. Kein Wunder, dass man auch heute nicht weiß, wie die Rothschilds in den wenigen Jahren ihr Vermögen machten. Aber welche Lebensphilosophie hinter den Erfolgen stand, verdeutlicht uns eine Aussage Nathans vom 2. Januar 1816 in einem Brief an seine Brüder: „Ich lese nicht, ich spiele nicht mit den Karten, ich gehe nicht ins Theater, mein einziges Vergnügen ist mein Geschäft.“19 Wilhelm von Humboldt, der häufig bei Nathan zu Gast war, äußerte sich über ihn wenig schmeichelhaft: „Gestern aß Rothschild bei mir, der ein ganz roher und ganz ungebildeter Mensch ist, aber sehr viel Verstand und für das Geld wirklich Genie hat.“20 Und selbst Nathans Bruder Salomon ätzte über ihn, er sei zwar unschlagbar, wenn es um Börsenkurse gehe, könne aber, „unter uns gesagt“, nur mit Mühe seinen eigenen Namen richtig buchstabieren oder schreiben.21

DER WEG ZUM WELTHAUS

Der Erfolg der Rothschilds kam erstens aus ihrem unbedingten Willen zum Erfolg. Ein Welthaus zu werden, bedeutete Reisen. Endlose Reisen. Mühevolle Reisen. Quer durch ganz Europa. Das war anstrengend und gefährlich. Räuber waren eine Sache, Krankheiten und Unfälle eine andere. Die Rothschilds entwickelten spezielle Kutschen mit geheimen Fächern und Verstecken, weil oft viel Geld mitgeführt werden musste. Die Risken waren enorm. Man verausgabte sich bis zur totalen Erschöpfung: „Was haben wir dann mehr vor Vergnügen. Bei Jahren sind wir. Keine Jugend. Vergnügungen können wir nicht mehr mitmachen. Ist leider gut Nacht damit. Schlechte Magen haben wir, können wir auch keine Fresser sein“, beklagte Salomon dieses sein Hundeleben.22

Bildung war sicher nicht das Erfolgsgeheimnis der ersten zwei Rothschild-Generationen. Weder Mayer Amschel noch einer seiner fünf Söhne beherrschten eine der europäischen Sprachen perfekt, nicht einmal die eigene Muttersprache. James, der fast sechzig Jahre in Paris lebte, war bis zum Tode wegen seines schlechten Französischs Zielscheibe von Karikaturisten und Kabarettisten. Nathan ging ohne ein Wort Englisch nach England und war sofort erfolgreich. Keiner der Rothschild-Söhne hatte eine fundierte Schul- oder Handelsausbildung genossen. Friedrich von Gentz charakterisierte die Rothschild-Brüder im Jahr 1818 in seinen privaten Aufzeichnungen als eine „in der Tat eigene species plantarum“. Sie seien „gemeine“, das heißt dem damaligen Sprachgebrauch nach ganz gewöhnliche, „unwissende Juden, von gutem äußeren Anstand, in ihrem Handwerke bloße Naturalisten, ohne irgendeine Ahnung eines höheren Zusammenhangs der Dinge, aber mit einem bewunderungswürdigen Instinkt begabt, der sie immer das Rechte und zwischen zwei Rechten immer das Beste wählen heißt.“23 Es gebe aber unter den fünf Brüdern auch einen ganz Schwachen und einen Halbschwachen. Wen von den fünfen Gentz so einstufte, sagte er nicht. Nach objektiven Maßstäben wären es wohl Carl und Amschel gewesen. Doch das war seine private Einschätzung. In den offiziellen und bezahlten Lobreden, die Gentz später für die rothschildsche Öffentlichkeitsarbeit verfasste, klang es ganz anders. Da wurden sie alle fünf als hochgebildete Wirtschaftsbarone präsentiert.

Für Frauen hingegen war im rothschildschen Firmenkosmos kein Platz. Und auch nicht für Schwiegersöhne. In der zweiten Generation wurden die Ehepartner noch aus dem jüdischen Umfeld geholt: Jeannette wurde mit einem Worms verheiratet, Isabella mit einem Sichel, Babette und Julie mit den Beyfus und Henrietta mit den Montefiores. Nathans Frau Hannah war eine geborene Cohen aus einer der vornehmsten jüdischen Familien Englands. Amschels Gattin Eva Hanau war im Frankfurter Judentum fest verankert, Carl heiratete Adelheid Herz und Caroline, Salomons Frau, stammte aus der Familie Stern. In der dritten Generation hingegen suchte man fast nur mehr in der eigenen Verwandtschaft. Jakob, der jüngste unter den fünf Söhnen Mayer Amschels, der sich später James nannte, begann mit den Verwandtenheiraten und nahm seine Nichte Betty, die Tochter seines Bruders Salomons, zur Frau. Das war ein Wendepunkt der rothschildschen Familienstrategie, die bis dahin mit Partnern und Partnerinnen aus wohlhabenden jüdischen Familien das Netzwerk auszuweiten versuchte. Jetzt war man nicht mehr darauf angewiesen und wollte das Vermögen möglichst zusammenhalten.

Die dritte und vierte Generation brachte den Höhepunkt der rothschildschen Verwandtenheiraten. In der dritten Generation gab es in allen fünf Familienzweigen zusammen dreizehn Söhne und sechs Töchter, von denen fünf wieder Rothschilds heirateten. Nur eine, Hannah aus der englischen Linie, brach aus und wählte einen Christen. Es traf sie dafür nicht nur der ewige Bannstrahl der Familie, sondern bei dem vielen familiären Unglück, das auf sie niederging, auch die offene Schadenfreude ihrer Verwandtschaft. In der vierten Generation kamen 27 Töchter und nur zwölf Söhne über das Kindesalter hinaus. Dass es zu viele Töchter gab, mag absurd erscheinen, wurden doch Töchter in Fürstenhäusern, mit denen man sich gerne verglich, immer als Kapital gesehen, um sie in fremde Häuser, die man an sich binden wollte, zu verheiraten. Bei den Rothschilds war das anders. Hier wurden sie in der Familie gehalten, um kein Kapital nach außen fließen zu lassen und sich keine fremden Störenfriede in die Familie zu holen. Nur ein Rothschild könne eine Mitgift aufbringen, die eines Rothschilds würdig sei, war das rothschildsche Ehe-Evangelium. Von 1824 bis 1877 heirateten insgesamt 36 Angehörige der Rothschild-Familien in Frankfurt, Wien, London, Paris und Neapel, von denen sich 28 Partner und Partnerinnen aus der eigenen Verwandtschaft suchten, sieben aus anderen jüdischen Häusern und wie erwähnt nur eine, Hannah, aus einer christlichen Familie. Kein Geld kam in fremde Hände, kein Fremder mischte sich in die Geschäfte, und man brauchte als Frau nicht einmal den Namen zu ändern, wenn man heiratete.

Erst die fünfte, letzte Generation der österreichischen Rothschilds wagte den Ausbruch aus den strengen Grenzen des Judentums: Bei Oscar führte sein Ehewunsch mit einem christlichen, noch dazu nicht reichen Mädchen in den Selbstmord, bei Georg in den Wahnsinn und bei Louis, zumindest bis ins hohe Alter, in die Ehelosigkeit. Nur Alfons und Valentine Noemi hielten sich noch an die Grenzen der jüdischen Glaubensgemeinschaft, Alfons mit Montefiori und Valentine mit Springer. Eugen wählte sich zwei nichtjüdische Glamourfrauen: zwei der größten Schönheiten der damaligen Welt. Als Louis sich als über Sechzigjähriger endlich zu einer Ehe entschloss, heiratete er in den katholischen Adel, auch wenn Hilda Auersperg ein sehr unkonventionelles Bild einer Aristokratin darstellte.

Die Rothschilds waren fleißig, sie scheuten keine Strapazen und sie waren zur rechten Zeit am rechten Ort. Rothschild-Regeln werden zuhauf kolportiert: „Ein Drittel Wertpapiere, ein Drittel Immobilien, ein Drittel Kunst und Gold … An die Börse gehen wie in ein russisches Dampfbad, schnell hinein und schnell heraus … Die letzten zehn Prozent anderen überlassen … In der Information immer ein paar Augenblicke voraus sein … Am Anfang Zucker streuen, um später die Vögel zu fangen … Immer zu früh verkaufen …“ Das sind mehr oder weniger triviale Ratschläge. Die Realität war härter. Die Rothschilds lebten von den chronischen Haushaltsdefiziten der Staaten, die schon im 19. Jahrhundert die Regel waren, als die Zinsen noch hoch und die Steuern noch niedrig waren. Gewinnträchtig, aber zugleich hoch gefährlich waren politische Umstürze, Revolutionen und Kriege. Wichtig war die Nähe zu Entscheidungsträgern und deren Protektion. Aber die wirkliche Erfolgsformel lag in der Bewegung und Beweglichkeit: ständige Reisen, Reisen, Reisen, quer durch Europa, auf holprigen Straßen, über Flüsse und Meer, und immer in Gefahr. Ständige Bewegung der Waren und ständige Bewegung des Geldes. Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt gibt es kein besseres Mittel als das Geld. Geld ist Schmiermittel und Geld ist Information. Ein Informationsvorsprung, damals mit Brieftauben und verschlüsselter Briefpost, dann mit Telegrafie und Telefon, heute mit Internet und Kryptografie, kann Geld bedeuten und viel Geld bringen. Schnell akkumulierter Reichtum kann manchmal das Resultat einer genialen Idee oder Entdeckung sein, ist manchmal auch ein Zusammenspiel von Zufällen und glücklichen Momenten, wird aber im Endeffekt nur mit konsequenter und zielstrebiger Arbeit erreicht und gesichert.

Der wichtigste Erfolgsfaktor war das die Staaten übergreifende Netzwerk der fünf Brüder, das innerhalb kürzester Zeit aufgebaut worden war. Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution war die Brüderlichkeit zu einem allgemeinen Schlagwort geworden. Studenten, Freimaurer, Demokraten, Liberale und Sozialisten beschworen sie in ihren Programmen. Der Erfolg der Rothschilds war im wortwörtlichen Sinn ein Erfolg der Brüderlichkeit, der von fünf Brüdern, deren Zusammenhalt ein Welthaus begründete. Doch Brüderlichkeit ist auch unter Brüdern nicht die Norm, sondern sie muss erarbeitet werden. Die Parabel vom Skythenfürst Skiluros, der seinen fünf Söhnen zeigt, dass ein einzelner Pfeil leicht zerbrochen werden kann, ein Bündel von fünf Pfeilen aber nahezu unzerbrechlich ist, wurde zum Leitbild und Wappenschild der Rothschilds.

Alle Bankhäuser und Wirtschaftsunternehmen haben eine Geschichte, die mehr oder weniger gut dokumentiert ist. Die Rothschilds haben mehr als das: Sie haben einen Mythos. Sie waren ein Welthaus: ein Begriff, den sie selbst gebraucht haben und der ihnen noch viel öfter zugeschrieben wurde. Es ist ein Begriff, der Familie und Welt zusammenführt, und dieses weltweite Familiennetzwerk war auch das Geheimnis ihres Erfolgs.

Dokumentiert den gesellschaftlichen Aufstieg und den Erfolg der Brüderlichkeit: das Wappenschild der Rothschilds, die 1817 in den Adels stand erhoben werden.

CONCORDIA, INTEGRITAS, INDUSTRIA, FRATERNITAS

Durch den Transfer der englischen Unterstützungsgelder waren die Rothschilds nicht nur reich geworden, sondern sie hatten sich auch um den Habsburgerstaat entsprechende Verdienste erworben, für die sie als Dank die Verleihung des deutscherbländischen Adelsstandes erwarteten. Der österreichische Finanzminister Graf Stadion legte sich dafür mächtig ins Zeug: „Ich halte es für eine Pflicht, zugunsten des Frankfurter Wechselhauses Mayer Amschel Rothschild und Söhne auf eine Auszeichnung anzutragen“, schrieb er und begründete das mit ihren Verdiensten um das schnelle und kostengünstige Einfließen der so bedeutenden englischen Subsidiengelder, und weil man dieses Haus vielleicht auch ferner noch brauchen werde. Bei sorgfältiger Abwägung aller Möglichkeiten käme nichts anderes in Betracht als die Erhebung in den Freiherrenstand.24

Die Brüder wurden aufgefordert, einen Wappenentwurf einzusenden. Sie legten, selbstbewusst wie sie waren, einen Entwurf mit vier Feldern vor, mit einem halben kaiserlichen schwarzen Adler auf gelbem Feld, einem englischen Leoparden in rotem Feld, einem hessischen Löwen im dritten Feld und im vierten einen Arm mit fünf Pfeilen in der Hand zum Zeichen der Einigkeit der fünf Brüder. Als Schildhalter wollten sie zur Rechten einen Jagdhund als Symbol der Treue, zur Linken einen Storch als Symbol der Frömmigkeit, und obenauf eine Krone, aus der sich der hessische Löwe erhebt. Solch hochtrabende Wünsche waren doch zu viel. Der Entwurf wurde vom zuständigen Staats- und Konferenzrat als zu großspurig und unangemessen abgelehnt, da Kronen, Schildhalter und Herzschilde nur dem höheren Adel vorbehalten seien und Symbole anderer Regierungen überhaupt nicht verliehen würden. Am liebsten hätten die Beamten nur eine goldene Dose mit kaiserlicher Widmung zugestehen wollen. Schließlich kam am 25. September 1816 doch ein Adelspatent zustande, aber vorerst nicht der Freiherrenstand, sondern nur ein gewöhnliches „von“, und vorerst nur für Amschel und Salomon und erst am 21. Oktober 1816 auch für Karl und James. Nur Nathan ging als englischer Staatsbürger ganz leer aus. Auch das Wappen fiel viel weniger prunkvoll aus als erwartet. Im dem am 25. März 1817 ausgestellten Diplom ist es mit einem halben Adler und nur vier statt fünf Pfeilen definiert, weil Nathan ausgeschlossen blieb oder er das einfache „von“, das ihm in England wenig nützte, als zu gering erachtet hatte. Nichtsdestotrotz hatten die Rothschilds nun die gleiche Rangerhöhung erfahren, die Goethe schon 1782 von Kaiser Joseph II. zugestanden worden war - mit einem Wappen, das sich gegenüber dem einfachen sechszackigen Stern Goethes immer noch mehr als protzig ausnahm. „Die ganze Judengasse ist geadelt“, soll ein alter Jude ob dieses Erfolgs unter Tränen ausgerufen haben.25 Die Rothschilds hatten doppelt gewonnen, sie hatten das riesige Entgelt für die Transaktionen kassiert und den gesellschaftlichen Aufstieg in den österreichischen, wenn auch vorerst niederen Adel geschafft.

Die Rothschilds waren nun in Wien und hatten ihr „von“. Aber wichtiger als diese im Ausland nicht sehr bedeutsame Silbe war für Nathan in London und James in Paris die Würde eines österreichischen Honorarkonsuls, die ihnen den diplomatischen Status und das Tragen einer bunten Uniform sicherte, eine fast unabdingliche Voraussetzung in dieser so sehr auf Status bedachten Zeit, um offiziellen Hoffesten beiwohnen zu können. Man wandte sich an Staatskanzler Metternich. Die Allerhöchste k. k. Regierung werde keine treueren, eifrigeren und unermüdlicheren Diener finden als unsere Brüder, schreibt Amschel aus Frankfurt in dem diesbezüglichen Gesuch an Metternich und Stadion. Ihre Tätigkeit werde sich für den österreichischen Handel auf allgemeine und individuelle Weise sehr nützlich zeigen.26 Am 3. März 1820 erhielt Nathan für England die gewünschte Ernennung, etwas später James in Paris.27 Ausführliche gutachterliche Stellungnahmen verschiedener Hofstellen waren vorausgegangen, weil derartige Positionen nach österreichischem Gebrauch Israeliten an sich verwehrt waren und der Kaiser das absolut als Ausnahme gesehen haben wollte. Eingeleitet wurde damit die langjährige Tradition der Rothschilds als österreichische Generalkonsuln, die in London bis zum Ersten Weltkrieg währte, in Paris bis 1911. Auch in Frankfurt wurde 1836 ein österreichisches Generalkonsulat eingerichtet und Anselm ernannt, auf den 1856 sein Schwiegersohn Wilhelm Carl folgte und ab 1901 dessen Schwiegersohn Maximilian Goldschmidt-Rothschild.28

Wer Uniformen hat, braucht Orden. Salomon sei ein „Liebhaber von Bändern und ein Baron, der nach Paris wohnen geht und sich dort schmücken kann“, meinte Nathan über ihn.29 Metternich schätzte es richtig ein: „Die Rothschilds haben neben ihren Millionen den Durst nach Ehren und Auszeichnungen.“30 Die Brüder nahmen nicht nur österreichische und deutsche Orden, sondern auch solche vom Zaren, vom Sultan und sogar vom Papst.

Aber erst die am 29. September 1822 gewährte Erhebung in den Freiherrenstand brachte allen fünf Rothschild-Brüdern und ihrer ehelichen Nachkommenschaft beiderlei Geschlechts die wirkliche Bestätigung ihres Aufstiegs, verbunden mit dem blau-gelben Wappen und der Devise „Concordia, Integritas, Industria“. Die siebenzackige Krone und der englische Löwe, die ihnen 1817 noch verweigert worden waren, waren jetzt möglich. Und aus den vier Pfeilen waren fünf geworden. Nathan ersuchte 1825 das englische Königliche Wappenamt, diesen österreichischen Titel eintragen zu dürfen. Aus welchen Gründen sein Gesuch abgelehnt wurde, ist nicht bekannt. Aber er wusste daraus eine Tugend zu machen und gab von nun an dem Mr. Rothschild gegenüber dem Baron de Rothschild den Vorzug. Erst 1838, zwei Jahre nach Nathans Tod, wurde seinem Sohn Lionel der österreichische Titel dann doch offiziell zugestanden. Die Rothschilds waren nicht nur die Juden der Könige geworden, sondern fühlten sich nun auch als die Könige der Juden.31 Auf ihre Gruft ließen sie nur das Monogramm mit dem verdoppelten, gespiegelten R schreiben: Man konnte das als schlichtes Rothschild lesen, aber auch als „Rothschild (Judeorum) Rex“. Für Christen war die Anspielung auf das INRI der Kreuzesaufschrift naheliegend und provokant zugleich – Iesus Nazareth Rex Iudeorum.

DIE

ZWEITE

GENERATION

/

SALOMON

der Bankier der

Heiligen Allianz

Ein glaubenstreuer Jude wird zur Stütze des Metternich-Regimes: Salomon Mayer Freiherr von Rothschild. Marmorstatue aus dem Vestibül des Nordbahnhofs, heute als Leihgabe des Technischen Museums im Jüdischen Museum Wien.

DER KONGRESS TANZT

Wien war nach der Niederlage Napoleons immer noch Kaiserstadt, wenn auch nicht mehr des Heiligen Römischen Reiches, sondern nunmehr des Kaisertums Österreich. 1806 hatte Kaiser Franz die deutsche Kaiserkrone niedergelegt und das römisch-deutsche Reich für aufgelöst erklärt. Doch Wien war auch im Biedermeier noch immer die wichtigste Stadt Deutschlands: genießerisch, lebenslustig und voll pulsierender Wirtschaft. Hier blühten Musik und Komödie. Die Stadt wuchs rasant. Doch in den Vororten grassierte die Armut. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich verschärften sich dramatisch. Revolution lag ständig in der Luft.

Wien war 1814/15 der Nabel der Welt. Hier tagte und tanzte der Kongress. Man tanzte den modischen Walzer, bei dem man scheinbar nicht weiterkommt. Der Kongress kam schon weiter. Eine europäische Friedensordnung sollte geschaffen werden, durchaus nicht erfolglos: Eine Heilige Allianz, mit Gott als vorgeschobenem Souverän und Gegenpol zur Idee der Volkssouveränität. Das Geld rollte. Was der Kongress kostete, weiß man nicht wirklich. Es werden astronomische Summen genannt, die der Realität nicht standhalten, auch wenn der Kaiser, einem geflügelten Wort zufolge, für alles zahlte: für die Verpflegung und Unterbringung der Souveräne und ihrer umfangreichen Entourage, für die Bälle, Theateraufführungen, Karusselle und alle sonstigen Vergnügungen. Aber er zahlte mit Geld, das er nicht hatte, weil die tanzende und feiernde Kongressgesellschaft eine falsche Realität vortäuschte.

Der Wiener Kongress tagt, eine neue europäische Friedensordnung ist das Ziel. Kupferstich von Jean Godefroy nach einem Gemälde von Jean-Baptiste Isabey.

Denn es war keine gute Zeit. Die Nachwehen von mehr als 20 Jahren nahezu ununterbrochener Kriegszüge und Schlachten lasteten schwer auf der Wirtschaft. Die Kriege hatten ungeheure Verluste an Menschenleben und materiellen Gütern verursacht. Der Viehstand war dezimiert: Pferde und Kühe fehlten. Die Ernten fielen katastrophal aus. Weitum herrschte Hunger. Auch die gerade erst begonnene Industrieproduktion brach wieder ein. Eine Klimakapriole verschärfte das allgemeine Desaster. Die Eruption des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 hatte die gesamte Erde in eine riesige Aschenwolke gehüllt, die die Sonne verdunkelte. Es folgten Jahre ohne Sommer. Der Winter 1815/16 war einer der kältesten des zweiten Jahrtausends und der Sommer 1816 total verregnet und immer wieder von Schneefällen bis in höhere Tallagen unterbrochen. Im Frühjahr 1817 erreichte die Hungersnot den Zenit. Es war die schlimmste Hungerkatastrophe des 19. Jahrhunderts, und man erlebte sie in Europa, Nordamerika und China.

Klimakrise, Kriegsfolgen und fürstliche Verschwendung überforderten die privaten und öffentlichen Haushalte. Die Finanzen Österreichs waren völlig zerrüttet. Zweimal, 1811 und 1816, geriet die Preisentwicklung völlig außer Kontrolle. Der Umtausch der zur Kriegsfinanzierung ausgegebenen Bankozettel in die sogenannten Einlösungs- und Antizipationsscheine löste das Problem nicht. Ein wertloses Papiergeld wurde durch ein noch wertloseres ersetzt. Die Defizite mündeten in eine gewaltige Hyperinflation, die viele arm machte. Die Krise schuf Existenz- und Untergangsängste. Aber Aufsteigern bot sie auch gute Chancen.

Durch die Gründung der Privilegierten Oesterreichischen Nationalbank als unabhängiges Noteninstitut am 1. Juni 1816 waren zwar eine Stabilisierung der Währung und ein Stopp der Inflation gelungen. Die mehr als 600 Millionen Gulden an umlaufendem Papiergeld sollten in Metall umgetauscht werden. Aber die neue Österreichische Nationalbank stand auf schwachen Füßen, weil den Wiener Geldhäusern, die das allein bewältigen wollten, schlussendlich die Kraft dazu fehlte.

Um nach der Gründung der Notenbank genügend Mittel zum Einziehen des Papiergelds zur Verfügung zu stellen, waren bis 1820 etwa 55 Millionen Gulden erforderlich, die die Wiener Bankhäuser und Großhändler nicht hatten. Die Rothschilds mussten also her. Es gelang ihnen zusammen mit dem Hamburger Haus Parish, diese Summe innerhalb kürzester Frist zu beschaffen, in einer Zeit, in der keiner dem anderen vertraute, am wenigsten dem Staat und seinem Papiergeld. Am 4. April 1819 hatte der Kaiser den Finanzminister zur Aufbringung der Anleihe ermächtigt – am 7. April wurden die ersten 20 Millionen bei den Häusern Rothschild und Parish bereits begeben.

Salomon hatte das Instrument der Lotterieanleihen gewählt, das an sich nicht neu war. Aber im abergläubischen, auf schnellen Reichtum und blindes Glück vertrauenden Biedermeier wurde es besonders erfolgreich. Die Lose wurden vom Publikum reißend angenommen, hatten aber den Ruf, für den Staat ein sehr teures Geschäft zu sein. Die Bedingungen für Rothschild waren mehr als günstig. „Rothschildsche Lotterielose, der Teufel hat sie erfunden und gemacht!“32 Kritische Beobachter sahen es als Machwerk des öffentlichen Leichtsinns, „von einem fremden Juden 20 Millionen zu leihen, für die man 38 zurückzahlen müsse …“33 Naturgemäß wurde die Anleihe von den Bankiers am Wiener Platz am heftigsten kritisiert. Die Ironie war, dass der Staat für seine Schulden bei den Rothschilds 5 bis 6 Prozent Zinsen zahlte, gleichzeitig dort aber 20 Millionen Francs aus der Kriegskontribution zu 3 bis 3,5 Prozent liegen ließ.34 Die zweite Tranche der Anleihe, die von Salomon vier Monate später in Umlauf gebracht wurde, wurde zu einem der lukrativsten Geschäfte seiner Zeit: Für 35 Millionen wurden inklusive Provision 78,2 Millionen an Rückzahlung fällig. Es war ein so gutes Geschäft, dass Salomon sich entschloss, auf Dauer nach Wien zu übersiedeln.

ROTHSCHILD GEHT NACH WIEN

Frankfurt hatte durch die Auflösung des alten Deutschen Reichs zugleich verloren und gewonnen. Dreimal hatte Salomons Vater Mayer Amschel noch den altehrwürdigen Prunk einer Kaiserkrönung in Frankfurt miterleben können, 1765, 1790 und 1792. Nun war Frankfurt nicht mehr die Krönungsstadt der Kaiser, war aber ab 1816 zum Sitz des Deutschen Bundes und damit zumindest formal zum politischen Zentrum Deutschlands geworden. Als Sitz des Reichstags von 1848 in der Paulskirche hätte es sogar das Zeug zur Hauptstadt eines neuen Deutschen Reiches gehabt.

Die Napoleonische Zeit hatte auch in Frankfurt das Ende des Ghettozwangs gebracht. Doch mit der Diskriminierung der Juden war es nicht so rasch vorbei. Dass es 1819 in Frankfurt, Würzburg, Bamberg, Karlsruhe und Hamburg schwere antisemitische Unruhen gab, versetzte auch die Rothschilds in Schrecken. „Hepp-Hepp!“ und „Jud verreck!“ grölten die Massen. Der Mob stürmte plündernd durch die Frankfurter Judengasse, schlug die Fenster ein, erbrach die Türen. Auch das Haus zum grünen Schild war betroffen. Sämtliche Fensterscheiben waren zertrümmert. Die Bewohner hatten sich in die rückwärtigen Räume geflüchtet. Man befürchtete einen allgemeinen Aufstand.35

So war es leicht zu verstehen, dass das Gerücht umging, die Rothschilds würden Frankfurt den Rücken kehren. „Das große, reiche Haus Rothschild“, wurde an Metternich berichtet, „soll nicht ganz abgeneigt sein, sich von hier zu entfernen, und wenn dies geschieht, dürfte es wahrscheinlich seinen fixen Aufenthalt in Paris oder in London, wo dasselbe bereits Comptoirs hat, wählen.“36 Es wäre zu überlegen, ob es nicht angemessen wäre, dieses Haus zu einer Übersiedlung nach Wien zu bewegen, rieten die Diplomaten. Der Hinweis, dass Amschel von Rothschild 150.000 Gulden verdiene und den Armen jährlich 20.000 Gulden spende, war ein gutes Argument. Die Bemerkung des österreichischen Kaisers seinem Gesandten in Frankfurt gegenüber, dass Amschel „reicher ist als ich“, war durchaus nicht nur ironisch gemeint.37 Graf Stadion befürwortete eine Ausnahme vom Wiener Judenverbot, obwohl es ihm klar war, dass es weniger um die Absicht Rothschilds zu übersiedeln ging, sondern darum, das Haus zu einer Übersiedlung nach Wien zu bewegen. Auch Innenminister Graf Saurau teilte diese Einschätzung: „Ich erlaube mir vor allem, darauf aufmerksam zu machen, dass es noch höchst ungewiss bleibt, ob das Handlungshaus Rothschild überhaupt gesonnen ist, Frankfurt zu verlassen. Noch weniger aber ist eine deutlich ausgesprochene Neigung zur Übersiedlung nach Wien zu entnehmen. Es ist vielmehr sehr zu bezweifeln, dass es einen Ort zu seinem stabilen Wohnsitz wählen sollte, wo dessen Prinzipal mit Hinsicht auf seine Religionseigenschaft mehr Beschränkungen als in irgendeinem anderen Staat unterliegen würde.“38

Die rechte Hand Salomons: sein Sekretär und Prokurist Moritz (Moriz) Goldschmidt (1803–1888).

Denn die Juden waren in Wien genauso unerwünscht wie in Frankfurt. Mit dem Patent Josephs II. von 1782 war ihnen zwar für Wien und Niederösterreich eine religiöse Duldung, aber keineswegs eine volle bürgerliche Gleichberechtigung gewährt worden. Die rechtliche Stellung von Juden in Wien und Österreich war auch nach dem Toleranzpatent keineswegs rosig: Toleranz konnten nur Juden der Oberschicht erhalten, wenn sie ein Vermögen von 60.000 Gulden und ein Großhandels- oder Fabriksprivileg vorweisen konnten. Sie waren von Grundbesitz, Advokatur und Richteramt, von Verwaltung und Lehramt, höherem Militärdienst und allen politischen Funktionen immer noch ausgeschlossen. Die nicht vorhandenen Unruhen waren also kein Anreiz, Frankfurt gegen Wien zu tauschen. Privilegien für einige wenige Oberschichtenfamilien und entwürdigende Repressionen für die Mehrzahl der Juden waren noch immer das Prinzip. In Wahrheit hatte es in Wien nur deswegen keine antisemitischen Unruhen gegeben, weil vor 1848 hier im Prinzip gar keine Juden wohnen durften.39

Das schnell wachsende Wiener Geschäft machte die dauernde Anwesenheit von Rothschild-Vertretern unabdinglich. Salomon sah sich also nach einem passenden Quartier um. Ein Haus konnte er als Jude nach den herrschenden Gesetzen nicht kaufen. Also quartierte er sich 1820 mit seinem Diener Meller und seinem Sekretär Moritz Goldschmidt im besten Gasthof der Stadt ein, im damaligen Hotel zum Römischen Kaiser in der Renngasse 1, wo sich zur Zeit des Kongresses ein intimer Kreis von Diplomaten und Staatsmännern getroffen hatte. Dort hatte auch der König von Württemberg logiert. Beethoven dirigierte immer wieder Konzerte in dem großen und für seine Akustik gerühmten Hotelsaal. Das bekannte Schuppanzigh-Quartett trat auf und der junge Franz Schubert feierte hier 1818 seine ersten Erfolge. Das Hotel war auch aus geschäftlicher Sicht eine gute Wahl, hier, im entstehenden Börsen- und Bankenviertel, in nächster Nähe zu den großen Adelshäusern in der Herrengasse und zu den Verwaltungsgebäuden am Hof und in der Wipplingerstraße. Rothschilds Platzbedarf wuchs rasch. Mit der Zeit wurde er zum einzigen Gast und mietete das ganze Hotel. Aber erst 1843 wurde es ihm erlaubt, das Gebäude zu kaufen.

Recht wohl gefühlt hat er sich in Wien wohl nicht. Seine Frau suchte ihn zu trösten: „Innigst geliebter Salomon! Ich höre immer, dass Du diese Reise nicht sehr vergnügt in Wien bist, welches mir sehr viel Verdruss macht. Ich möchte Dich sehr ein bisschen zerstreuen, und dieses gelingt mir vielleicht, wenn ich dir beigehend einen Brief von unserem lieben Anselmo zu lesen gebe.“ Dann warnte sie ihn vor den Wienern: „Mache also die dortigen Wiener werte Herren aufmerksam, dass man ihre Kommission von hier zertun könne“, also nachprüfen könne. Die Rechnungen sollten alle ihr zur Kontrolle geschickt werden, ersuchte sie, „denn ich fürchte, sonst müssen wir die Kasse plündern …“.40

STAMMVATER SALOMON

Salomon, der nun in Wien war und das Bankhaus S. M.v. Rothschild führte, war weder ein traditionsverhafteter, etwas einfältiger und ängstlicher Kaftanjude wie Amschel, der älteste der fünf Brüder, noch ein übellauniger Choleriker wie Nathan, der mittlere der Brüder, der „kein Luxus machte“, weil „sonst die Zeitungen können anfangen zu schreiben gegen mir“, oder ein Luxus liebender und kunstaffiner Gourmet wie James, der sein Haus zum Treffpunkt der Pariser Gesellschaft werden ließ, und nicht so schwerfällig und ultraorthodox wie Carl, der stets die Mesusa küsste, bevor er auf Reisen ging, sondern zeichnete sich durch einen diplomatischen und zuvorkommenden Charakter aus, der dennoch mit großer Durchsetzungskraft gepaart war. Vielleicht zu zuvorkommend einerseits und zu rücksichtslos andererseits, in seinem Hang zu jungen Mädchen und seinen unternehmerischen Intrigenspielen.41

Er hatte eine traditionelle jüdische Erziehung aus Bibel und Talmud erhalten, sprach den mit Judaismen vermischten Frankfurter Dialekt, der in hebräischen Buchstaben von rechts nach links geschrieben wurde, das sogenannte Judendeutsch, und konnte nur schlecht Hochdeutsch und noch schlechter Französisch. 1800 hatte er die 18-jährige Caroline Stern geheiratet, die aus einer ebenfalls recht erfolgreichen Frankfurter jüdischen Familie kam. Sie brachte 10.000 Taler Mitgift in die Ehe, weitere 500 Taler bei jedem Kind und die Anwartschaft auf ein Erbe halb so hoch wie das ihres Bruders.42 Salomon erhielt von seinem Vater 5.000 Taler, das halbe Haus und einen Viertelanteil am Geschäft. Bald kamen zwei Kinder, Anselm 1803 und Betty 1805. Einige Jahre lebte das Paar bei den Sterns, dann bei den Rothschilds im Grünen Schild, bis Salomon die Erlaubnis erlangte, sich außerhalb des Frankfurter Ghettos ansiedeln zu dürfen, in einem eigenen Haus in der Schäfergasse, nicht weit entfernt von der Judengasse. Anders als Salomon schrieb Caroline neben Judendeutsch auch ein wunderbares Hochdeutsch und Französisch und las auch Hebräisch.

Salomon reiste viel. Zeit war Geld. Man musste schneller sein als die anderen. Schon 1812 hatte er für die Koalition gegen Napoleon große Transaktionen aus England organisiert, in einer fünfmonatigen, sehr beschwerlichen Reise. Im Dezember 1815 zog er sogar in Erwägung, der Bar Mizwa seines einzigen Sohnes Anselm wegen eines Geschäftes fernzubleiben.43 Aber sein Sohn würde die Liebe zu ihm verlieren, wenn er an diesem wichtigsten Fest nicht teilnehme. Doch es galt, keine Zeit zu verlieren! Am 11. Juli 1817 gerieten Salomon und seine Frau Caroline bei einer Rheinüberquerung in einen so gewaltigen Sturm, dass die Überfuhr, die normal eine Stunde dauerte, drei Stunden erforderte. Salomon war von den Strapazen so geschwächt, dass er sich zu 99 Prozent für verloren hielt. Obwohl der Doktor ihn ins Bett schickte und ihm die Weiterreise verbot, wollte er wegen der Wertsachen, die er mitführte, gleich weiter, auch nachts, drei Tage und Nächte ohne Unterbrechung. Seinem Brief fügte er ein Postskriptum hinzu: „Der Doktor soll sich aufhängen!“ Und er bat in dem Brief auch noch, nichts davon in Frankfurt zu erzählen. Die Mutter würde sich zu Tode ängstigen.44

Caroline war über die häufige Abwesenheit ihres Ehemannes wenig glücklich: „Ferner begreife ich aber Deinen Brief nicht sehr gut. Denn einige Stellen darin können mich lesen machen, als wenn Du nach Paris oder vielmehr nach London reisen müsstest … In jedem Fall lieber Salomon, gehst Du ja, ohne dass ich davon unterrichtet bin, nicht nach London, nicht wahr, mein lieber Mann, Du tust es nicht.“45 Carolines Briefe waren voller Liebe: „Ich will Dir heute einen langen Brief dafür schicken, denn er gehört Dir, mein lieber Mann, mit allem Recht, da Du bei Deiner vielen Arbeit und so viel Anstrengungen noch so gütig bist, mir einen sechsseitigen Brief zu schreiben …“46 Auch Caroline reiste viel, besuchte James in seinen Pariser Gärten, von wo sie riesige Melonen nach London schickte,47 machte Ferien in Brighton und lernte als Erste der Rothschilds reiten.48

Salomon von Rothschild finanzierte seine Politik: Clemens Wenzel Fürst Metternich, der „Kutscher Europas“. Gemälde von Thomas Lawrence, um 1820/25.