Hoch am Wind - Hannes Nygaard - E-Book

Hoch am Wind E-Book

Hannes Nygaard

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Beschreibung

Nygaards Kultkommissare ermitteln auf hoher See. Der Husumer Kommissar Große Jäger und sein Team stehen vor einem Rätsel: Wer ist die Tote in Seglerkleidung, die im Wattenmeer gefunden wurde? In der geheimnisvollen Welt der Inseln und Halligen stoßen sie auf verdächtige Segler, streitlustige Besatzungen und verschworene Kameradschaften – und bald schon müssen die Husumer erkennen, dass auf dem Wasser ganz eigene Gesetze gelten.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: haddel/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-320-2

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,

Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Für Petra und zur Erinnerung an Werner

EINS

Altweiß. Matt. Alles schlicht. Fast steril. Kein Farbtupfer. Kein Bild, nicht einmal ein Kalender. Die hohen schmalen Türen der Einbauschränke waren geschlossen. Die Senkrechtlamellen standen offen und gaben den Blick zur Straße frei. Die gegenüberliegende Wand war komplett aus Glas. Dahinter verbarg sich der eigentliche Geschäftsraum. Jeder, der sich dort aufhielt, konnte sehen, wer am Tisch mit der schlichten Kunststoffplatte und den vier Stühlen saß.

Müller raffte die vor sich ausgebreiteten Papiere zusammen.

»Geht das in Ordnung?«, fragte er.

Robert Muchow nickte geistesabwesend. »Sicher.«

»Wann bekomme ich die Zusage?«

»In Kürze.«

»Sie wissen, dass es drängt«, sagte Müller.

»Ja.«

»Ich stehe unter Zeitdruck. Am Freitag ist bei mir Deadline.«

»Ich bemühe mich.«

»Mir wäre es lieber, wenn ich etwas Konkretes hören würde.«

»Geben Sie mir noch ein paar Tage.«

»Ich warte jetzt schon seit zwei Wochen. Was ist daran so kompliziert?«

»Ich werde es prüfen«, wich Muchow aus.

Müller legte die flache Hand auf die Unterlagen. »Ich habe Ihnen alles offengelegt.«

»Sie werden von mir hören«, erwiderte Muchow gereizt.

»Bis Donnerstag?«

Muchow stand auf. »Herrj…«, entfuhr es ihm. Erschrocken hielt er die Hand vor den Mund. »Ich tue mein Bestes«, versicherte er.

»Sie verstehen meine Situation nicht. Bei Ihnen ist alles geordnet. Ich muss mich täglich den neuen Herausforderungen stellen.«

Muchow ging zu der in die Glasfront integrierten Tür, öffnete sie und nickte Müller zu. »Bitte«, sagte er nachdrücklich. Es war ein Rauswurf.

»Ich hatte mehr erwartet«, sagte Müller und stahl sich enttäuscht mit gesenktem Kopf davon.

Muchow sah ihm hinterher, bewegte nachdenklich den Kopf und trat an den Tresen. »Ich müsste mal kurz außer Haus. Kommen Sie ein paar Minuten allein zurecht, Gesa?«

Die junge Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt lächelte. »Sicher, Robert. Wie lange sind Sie weg?«

»Zehn Minuten.«

Muchow ging zur Automatiktür, die sich vor ihm öffnete. Dann verließ er die Filiale der Uthlande-Sparkasse. Die milde Luft eines Maitages empfing ihn. Ein leichter Lufthauch wehte um seinen etwas zur Fülle neigenden Körper. Während der wenigen Schritte bis zur nächsten Ecke schenkte er der St.-Laurentius-Kirche keine Beachtung, sondern bog auf den Marktplatz ein.

Fast wäre er mit einem Mann zusammengestoßen, der einen Karton unterm Arm trug und ihm im letzten Moment auswich.

»Moin, Robert«, grüßte der Mann. »So dynamisch heute?«

»Moin, Wilken«, erwidert Muchow einsilbig. Ein paar Schritte weiter umrundete er eine Frau mit einem Kinderbuggy. »Moin, Frau, äh …«

»Moin, Herr Muchow.« Die junge Mutter sah ihm irritiert hinterher. Es begegneten ihm zwei weitere Passanten, die ihm unbekannt waren.

Müller!, dachte er. Der Mann hatte einen kleinen Betrieb mit fünf Mitarbeitern. Treppenbau. Früher war die Auftragslage besser, als Häuser noch individuell geplant wurden. Heute baute man nach System. In die Häuser wurden industrielle Fertigtreppen eingesetzt. Müller hatte die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt. Er hätte sich zur Ruhe setzen und von seinem Ersparten eine Weile gut leben können. Aber nein. Im letzten Jahr musste sich der Witzworter Handwerksmeister ein neues Segelboot leisten. Ein über zehn Meter langes Schiff mit Schlafplätzen für sechs Personen.

»Spinner«, murmelte Muchow vor sich hin und schüttelte instinktiv den Kopf. Er hatte kein Verständnis für die Segler. Was war so reizvoll daran, sich im rauen Gebiet vor Nordfrieslands Küste den Gefahren von Wind und Wetter auszusetzen? Und dafür ein Vermögen in die Boote zu investieren? Niemand mochte es zugeben, dachte er, aber es war nicht immer die sportliche Herausforderung, sondern oft die Wahrung des äußeren Scheins. So wie bei Müller. Und jetzt benötigte der Mann einen Betriebsmittelkredit. Es galt, eine Auftragslücke zu überbrücken. Erneut: Nein! Dafür wollte Robert Muchow, der Leiter der kleinen Uthlande-Filiale in Tönning, nicht einstehen.

»Hi, Robert«, rief ihm jemand zu, der aus seinem Pkw ausstieg, den er auf dem kopfsteingepflasterten Platz geparkt hatte.

Muchow hob zur Erwiderung nur leicht die Hand. Zehn Meter weiter steuerte eine Frau auf ihn zu. Mit unverkennbar dänischem Akzent fragte sie nach dem Parkscheinautomaten. Er hob stumm den Arm und zeigte halb rechts in Richtung Bootfahrt, einen früheren Kanal, der Tönning mit dem Hinterland verband und lebenswichtig war, da die morastigen Straßen oft unpassierbar waren.

Muchow passierte die Eisdiele und den Laden, in dem es außer Lebensmitteln – fast – alles zu kaufen gab. Schräg gegenüber befand sich die Zweigstelle der größeren Nord-Ostsee-Sparkasse. Er steuerte die Brücke über die Bootfahrt zum Schlossgarten an. Im Hintergrund lag das Gebäude des Nationalparkamtes. Muchow ignorierte die in der Mitte des Parks in einem Pavillon aufgestellten Schmuckelemente des ehemaligen Tönninger Schlosses und ging direkt zum unscheinbaren Nebengebäude, in dem die Polizeistation untergebracht war. Ein Schild verkündete, dass diese abhängig von der Einsatzlage nicht ständig besetzt sei, und verwies auf den Notruf oder das weit entfernte Husumer Revier. Er betätigte die Klingel und musste einen Moment warten, bis ihm geöffnet wurde. Ein stämmiger Polizist, der seine Uniformjacke abgelegt hatte, sah ihn fragend an. Dann schien er den Sparkassenleiter erkannt zu haben.

»Herr Muchow? Moin.«

»Moin, Herr … äh …« Muchow suchte nach dem Namen. Er kannte den Beamten wie viele Tönninger vom Sehen.

»Seeler«, nannte der Polizeihauptmeister seinen Namen. »Wollen Sie zu uns?«

Muchow zog die Nase hoch. Er war fast versucht zu sagen, dass er sich bei seinem Morgenspaziergang in der Tür geirrt haben könnte.

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

Der Beamte trat zur Seite. »Kommen Sie rein«, forderte er Muchow auf, führte ihn in ein Büro und bat ihn, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. Seine Uniformjacke mit den vier blauen Sternen hing über der Stuhllehne.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Sparkassenleiter knetete seine Finger.

»Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin. Meine Frau … Sie ist weg.«

»Soso«, sagte Seeler und spitzte die Lippen. »Seit wann?«

»Das … äh … weiß ich nicht so genau.«

»Seit wann vermissen Sie sie?«, half der Polizist aus.

»Seit gestern. Nein. Eigentlich seit Sonntagabend.«

»Heute ist Dienstagvormittag«, sagte Seeler mehr zu sich selbst und warf automatisch einen Blick auf den Wandkalender. »Wo ist sie denn?«

Muchow biss sich auf die Unterlippe. »Das weiß ich nicht so genau. Sie wollte zu ihrer Großtante nach Münster.«

»Haben Sie dort angerufen?«

»Das geht nicht. Tante Hilde liegt im Krankenhaus.«

»Hat Ihre Frau ein Handy? Natürlich«, schob der Polizist hinterher. »Heute hat jeder eins.«

»Ich habe versucht, sie zu erreichen. Berrit, meine Frau, vergisst manchmal, das Gerät aufzuladen. Sie denkt auch nicht immer daran, das Ladegerät mitzunehmen.«

»Liegt es bei Ihnen zu Hause?«

Muchow zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Ich habe nicht nachgesehen.«

»Ist Ihre Frau mit dem Auto unterwegs?«

»Nein. Mit dem Zug. Ihr Wagen steht bei uns vor dem Haus.«

»Wo übernachtet Ihre Frau, wenn Sie die Großtante besucht?«

»Na – bei Tante Hilde.«

Polizeihauptmeister Seeler griff sich einen Kugelschreiber und spielte damit. »Die Tante hat doch sicher Telefon.«

Muchow nickte.

»Und? Haben Sie es dort versucht?«

»Ja. Aber vergeblich.«

Seeler lehnte sich zurück. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Wenn etwas passiert ist, hätten Sie schon eine Nachricht erhalten. Ihre Frau ist nicht mit dem Auto unterwegs. Hmh.« Er legte die Stirn in Falten. »Rufen Sie doch einmal im Krankenhaus an, in dem ihre Tante liegt. Kennen Sie den Namen?«

»Berrit hat etwas gesagt. Ich habe aber nicht zugehört.«

»Warten Sie noch ab. Ihre Frau ist seit einem Tag überfällig. Das hat nichts zu sagen. Wir können noch nicht einmal eine Vermisstenanzeige aufnehmen. Dazu ist es noch zu früh. Versuchen Sie noch einmal, Ihre Frau zu erreichen.«

»Ja – wenn Sie meinen.« Muchow erhob sich.

Seeler folgte seinem Beispiel und streckte dem Sparkassenleiter die Hand entgegen.

»Sonst kommen Sie Ende der Woche noch einmal vorbei. Aber bestimmt hat sich dann alles geklärt. Ich nehme an, dass Ihre Frau dort aufgehalten wird. Wie alt ist Tante Hilde?«

»Fünfundneunzig.«

Seeler lächelte. »Sehen Sie. In dem Alter kann schnell etwas passieren, das die Anwesenheit Ihrer Frau in Münster erforderlich macht. Wenn sie wirklich ihr Handy oder das Ladegerät vergessen hat, ist sie nicht erreichbar. Und wenn sie im Krankenhaus bei der Tante ist, wird sie darüber keine Gelegenheit zum Telefonieren haben.« Der Polizist legte seine Hand vorsichtig auf Muchows Oberarm. »Scheun Dag ock«, sagte er, als er Muchow zur Tür begleitete.

ZWEI

Eine Stunde später saß Seeler dem Husumer Oberkommissar Große Jäger gegenüber. Der Polizeihauptmeister hatte Kaffee gekocht und schenkte bereits die dritte Tasse nach.

»Wir sind so weit durch«, sagte Große Jäger und schlürfte am heißen Getränk. »Gut«, sagte er anerkennend. »Macht doch einen Unterschied, ob ein Mann oder eine Frau Kaffee aufsetzt.«

»Ich bin mit meiner Wiltrud zufrieden«, erwiderte Seeler. »Auch Kaffee kochen kann sie.«

Große Jäger klopfte mit der flachen Hand auf den Aktendeckel vor sich. »So ein Blödmann. Der Warnschuss vom letzten Mal hat offensichtlich nicht gereicht. Begreift Hähnel das nicht, dass er seinen Nachbarn weder beschimpfen noch verunglimpfen darf? Jetzt hat er schon wieder eine Anzeige wegen Verleumdung am Hals. Dieser Trottel. Läuft durch die Stadt und behauptet, der Nachbar würde es mit Ziegen treiben.«

»Die Fehde zwischen den beiden ist in Tönning legendär. Das nimmt schon keiner mehr für voll.«

»Ich würde es auch ignorieren. Aber wir müssen der Anzeige nachgehen. Ich war vorhin bei Hähnel. Der hat mir glatt einen Küstennebel angeboten. Ich vermute, das war nicht sein erster heute. Der soll mit dem Saufen aufhören, habe ich ihm gesagt. Dann hat er mich angegrinst. ›Wieso? Der komische Typ im Fernsehen hat doch auch behauptet, der türkische Präsident würde Ziegen vögeln.‹ Ich habe ihm erklärt, dass solche Beleidigungen strafbar sind. Außerdem ist sein Nachbar … Da ist er mir glatt ins Wort gefallen und hat gesagt, auch Sachsen ist alles zuzutrauen.« Große Jäger schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »So ein Idiot.« Er nahm den nächsten Schluck zu sich. »Gibt’s sonst noch was?« Er hob die Kaffeetasse leicht an. »Für das Gesöff komme ich glatt ein weiteres Mal zu euch nach Tönning.«

Seeler lachte laut auf. »Den Rest erledigen wir allein.« Dann schien ihm etwas einzufallen. »Du kannst natürlich eine Frau suchen.«

Große Jäger winkte ab. »Eine reicht mir.«

»Ist keine Ärztin«, erwiderte Seeler. Das war der Fluch des platten Landes. Offenbar wusste jeder der achtzehntausend Eiderstedter von der Liaison des Oberkommissars mit der Gardinger Ärztin Heidi Krempl. »Unser Wallstreetmanager vermisst seine Frau.«

»Wallstreetmanager?« Große Jäger zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Ja, der Leiter unserer Sparkasse.«

Der Oberkommissar zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Von der da drüben?«

»Nee. Das ist die Nord-Ostsee-Sparkasse. Muchow ist Zweigstellenleiter der Uthlande-Sparkasse. Die ist hinten beim Rathaus. Gleich rechts um die Ecke.«

»Und der vermisst seine Frau?«, wollte Große Jäger wissen.

Seeler berichtete vom Besuch Muchows. »Ich habe ihn wieder nach Hause geschickt.«

»Kennst du seine Frau?«

Seeler grinste. »Mensch, ich bin glücklich verheiratet.«

»So meine ich das auch nicht.«

Der Polizeihauptmeister rieb sich die Nasenspitze. »Die ist zur kranken Tante nach Münster gefahren. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie sich bei der Gelegenheit von einem jungen Assistenzarzt privat ausführlich untersuchen lässt.«

Jetzt grinste auch Große Jäger. »Das sollen die untereinander ausmachen.« Im zweiten Versuch gelang es Große Jäger, sich zu erheben. »Danke für den Kaffee« sagte er. »Mach’s gut, Uwe.«

»Seeler – ja, Uwe – nein«, erwiderte der Schutzpolizist. »Und wenn du noch einen Kaffee möchtest … Kannst ja Muchow in seiner Spaßkasse besuchen.«

Der Oberkommissar verließ die Polizeistation durch den Hintereingang. Große Jäger stolperte auf den beiden abwärtsführenden Stufen, ruderte mit den Armen, fing sich und ging zu den für die Polizei reservierten Stellplätzen auf dem Hinterhof, der gegenüber von einer Garagenanlage mit himmelblauen Türen begrenzt wurde. Auch auf der Rückseite hatte man das zweisprachige Schild mit dem Landeswappen und der Aufschrift »Polizei – Politii« angebracht. Er stieg in den Ford Focus aus dem Dienstwagenpool und umrundete das Gebäude der Nationalparkverwaltung. Es waren nur etwas mehr als zweihundert Meter bis zum Ende des Marktplatzes. Er fand eine Parkmöglichkeit direkt vor der Stadtverwaltung und suchte die Zweigstelle der Sparkasse auf. Die junge Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt sah auf, als er den Kassenraum betrat.

»Moin. Ich suche Herrn Muchow.«

»Moment«, sagte sie, ging zu einer offenen Tür und informierte den Zweigstellenleiter, dass ein Besucher ihn zu sprechen wünsche. Kurz darauf tauchte Muchow auf.

»Ja, bitte?«

Große Jäger kramte seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn so, dass die junge Frau nichts erkennen konnte. »Ich hätte Sie gern privat gesprochen«, sagte er.

»Privat?«, echote Muchow. »Um was geht es denn?«

»Sie haben vor Kurzem jemandem einen Besuch abgestattet.«

»Einen Besuch abgestattet?« Für einen Moment schien Muchow ratlos zu sein, dann begriff er. »Kommen Sie bitte«, sagte er, zeigte auf den gläsernen Besprechungsraum und schloss hinter sich und Große Jäger die Tür. Er zeigte sein Erstaunen darüber, dass so kurz nach seinem Besuch bei der örtlichen Polizei die Kriminalpolizei vorstellig wurde.

»Ich war zufällig in einer anderen Sache vor Ort«, erklärte Große Jäger. »Der Kollege Seeler hat recht, dass er zum Abwarten rät. In allen anderen Fällen würde ich ihm zustimmen, da Sie aber eine Position in einem sensiblen Wirtschaftszweig innehaben, interessieren mich schon ein paar Details.« Er ließ sich von Muchow noch einmal das vortragen, was der Sparkassenleiter mit Seeler besprochen hatte.

»Sie haben versucht, Ihre Frau zu erreichen?«

Muchow bestätigte es ausdrücklich. Dann fragte Große Jäger nach dem Namen der erkrankten Tante und ließ sich deren Anschrift und Telefonnummer geben. Ein Handy, versicherte Muchow, habe Tante Hilde nicht.

»Ist Ihre Frau berufstätig?«

»Ja«, erklärte Muchow. »Sie arbeitet halbtags im Kirchenbüro von St. Laurentius.« Er zeigte aus dem Fenster. »Gleich da drüben.«

Große Jäger fragte noch nach Muchows Handynummer und verabschiedete sich. Sein Weg führte ihn über die Bootfahrt und den Marktplatz, der fast ein wenig an ein an der Spitze stumpfes Dreieck erinnerte. Dort stand die mittelalterliche Saalkirche St. Laurentius mit ihrem weithin sichtbaren Barockturm, der den Marktplatz überragte und schon aus der Entfernung die kleine Stadt an der Eidermündung ankündigte.

Hinter der Kirche lag das Pastorat mit dem Kirchenbüro in einem unscheinbaren weißen Haus, an dessen Fassade vier Rosenstöcke gepflanzt waren. Die Holz-Kassettentür war verschlossen. Er klingelte.

Eine Frau in einer Kittelschürze öffnete ihm, nachdem er zuvor durch die geschlossene Tür das Brummen eines Staubsaugers gehört hatte.

»Ich wollte eigentlich Frau Muchow sprechen«, sagte er.

»Die ist nicht da.«

»Und wer kann mir Auskunft erteilen?«

»De Paster«, erklärte die Frau kurz und bündig. »Komm’ Sie man mit dörch.«

Er folgte ihr, umrundete den Staubsauger in der Diele und stand kurz darauf dem Pastor gegenüber.

»Pastor Seifert«, stellte sich der Mann mit dem mächtigen Bauch, der dicken Hornbrille und dem schütteren Haar vor. Jeans und ein buntes Karohemd ließen ihn nicht wie einen Geistlichen aussehen.

»Große Jäger, Polizei Husum. Vorweg sei angemerkt, dass mein Besuch reine Routine ist. Ich bin zufällig in einer anderen Sache in Tönning gewesen. Frau Muchow arbeitet in Ihrem Büro?«

Der Pastor bestätigte es. »Halbtags. Ist etwas mit ihr? Sie sollte eigentlich gestern Vormittag wieder hier sein.« Eine Spur Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.

»Es gibt keinen Anlass zur Sorge«, versicherte Große Jäger.

»Ich habe heute Morgen mit dem Ehemann telefoniert. Er arbeitet gleich um die Ecke bei der Sparkasse. Robert hat gesagt, Berrit müsse sich um eine erkrankte Tante kümmern. Er wisse nicht, wann sie wiederkomme. Das ist ein Zufall, dass sie gerade jetzt ihre Tante besucht.«

»Wieso?«

»Sie hat Donnerstag und Freitag letzter Woche Urlaub genommen.«

»Kurzfristig?«

Pastor Seifert schüttelte den Kopf. »Nein. Das haben wir schon vor ein paar Wochen besprochen. Das war langfristig geplant.«

»Hat sich Frau Muchow bei Ihnen gemeldet und Bescheid gesagt, dass sie nicht zeitig zurückkommt?«

Noch einmal schüttelte Seifert den Kopf. »Das macht mich stutzig. Berrit ist die Zuverlässigkeit in Person. Das ist noch nie vorgekommen. Deshalb habe ich auch beim Ehemann nachgefragt. Aber der hat mich beruhigt und gesagt, alles sei in Ordnung.«

Große Jäger bedankte sich beim Pastor und fuhr nach Husum zurück.

Merkwürdig, dachte er unterwegs. Muchows Aussage ihm und dem Polizisten Seeler gegenüber klang anders. Warum hatte sich Berrit Muchow nicht bei ihrem Mann und im Kirchenbüro gemeldet?

Im Flur des Polizeigebäudes in der Poggenburgstraße traf er Hundt. Der Hauptkommissar strafte ihn mit Missachtung, drehte sich aber im Vorbeigehen um, als Große Jäger zur Begrüßung bellte. Große Jäger riss die Bürotür mit Schwung auf, sah Cornilsen an und hob lässig die Hand, dann deutete er eine leichte Verbeugung in Richtung des leeren Schreibtisches im Hintergrund an und meinte: »Moin, Christoph. Hier sind nur Trottel unterwegs. Zu deiner Zeit durften tollwütige Hunde nicht frei herumlaufen.«

»He, he«, beschwerte sich Cornilsen. »Was soll das heißen: Hier laufen nur Trottel herum?«

»Denk nach, Hosenmatz«, erwiderte Große Jäger. »Du sitzt doch, oder?«

Cornilsen zeigte sich zufrieden und wollte wissen, wie die Tönninger Mission des Oberkommissars verlaufen sei.

Große Jäger berichtete und erzählte auch von der vermissten Frau Muchow. Cornilsen hatte den Widerspruch ebenfalls bemerkt.

»Das ist trotzdem kein Fall für uns«, sagte er. »Es liegt nicht einmal eine Vermisstenanzeige vor.«

»Der Sparkassenheini ist einfach nur zu doof«, meinte Große Jäger. »Ein Telefonat, und die Sache ist erledigt.«

»Dann gut Schnack«, erwiderte Cornilsen und widmete sich wieder der Arbeit am Computer.

Große Jäger griff zum Telefon und wählte die Rufnummer der Tante an. Er ließ es ewig klingeln.

»Kein Wunder, dass Muchow seine Frau nicht erreicht«, meinte er und wollte auflegen, als es im Hörer knackte, dann polterte. Es war das Atmen eines Menschen zu vernehmen, dann meldete sich die brüchige Stimme einer alten Frau.

»Ja?«

»Frau von Rietberg?«, wollte Große Jäger wissen.

»Wer ist da?«

»Polizei Husum.«

Einen kurzen Augenblick war es still in der Leitung.

»Wollen Sie einen Trick anwenden?«, fragte die alte Dame entschlossen. »Das verfängt bei mir nicht. Ich lege jetzt auf und rufe die Polizei an.«

»Ich bin von der Polizei«, versicherte Große Jäger.

»Ich weiß, dass mit solchen Tricks gearbeitet wird«, sagte Frau von Rietberg. »Nicht mit mir. Wenn ein Verwandter anruft, erkenne ich den. Da fragt auch keiner nach Geld. Ich bin zwar alt, aber deshalb nicht blöde.«

»Das finde ich prima«, sagte Große Jäger. »Solche aufgeweckten Senioren wünschen wir uns von der Polizei. Es geht um Ihre Nichte Berrit aus Tönning.«

»Also doch«, fuhr die alte Dame dazwischen. »Die ist in finanziellen Schwierigkeiten, was? Nicht mit mir, junger Mann.«

»Nein. Ich möchte nur wissen, ob Berrit bei Ihnen in Münster ist.«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Sie wollte Sie besuchen und hat ihren Urlaub verlängert, weil Sie ins Krankenhaus mussten.«

»Ich? Ins Krankenhaus? Hören Sie! Mit fünfundneunzig geht man nicht ins Krankenhaus.« Es klang empört.

»Sie waren also in den letzten Tagen nicht krank?«

»Ich erfreue mich bester Gesundheit. Körperlich und geistig. Also lassen Sie solche Scherze. Auf Wiedersehen.« Dann hatte sie aufgelegt.

»Kein Rendezvous?«, fragte Cornilsen über die Schreibtische hinweg.

»Nein«, sage Große Jäger. »Mannomann. Die hat Haare auf den Zähnen. Toll. Und das in dem Alter.« Dann wählte er noch einmal die Münsteraner Telefonnummer an.

»Legen Sie bitte nicht auf. Ich bin wirklich von der Polizei«, versuchte er Frau von Rietberg zu erklären. »Ihre Nichte Berrit hat Sie also nicht in Münster besucht. Wann haben Sie mit ihr telefoniert?«

»Wie immer – am Donnerstag. Nein. Stimmt nicht. Ich habe mich gewundert. In der letzten Woche hat sie einen Tag früher angerufen. Am Mittwoch. Ich weiß das genau. An diesem Tag treffen wir uns immer zum Kaffee in den Arkaden.«

»Wer ist ›wir‹?«, unterbrach Große Jäger die alte Dame.

»Weshalb wollen Sie das wissen?« Ein misstrauischer Unterton schwang in Hilde von Rietbergs Stimme mit.

»Ich wollte nur wissen, ob Sie sich mit Ihrer Nichte getroffen haben.«

»Mit meinen Freundinnen. Die sind aber alle jünger als ich. Erst knapp über neunzig. Mir kam es merkwürdig vor, dass Berrit schon am Mittwoch anrief.«

»Hat sie gesagt, weshalb?«

»Das wollte sie mir nicht verraten. Sie ist ausgewichen.«

»Hat Ihr Neffe Sie danach angerufen?«

»Sie meinen Robert Muchow? Der ist nicht mein Neffe, sondern der Ehemann meiner Nichte«, belehrte sie den Oberkommissar. »Robert hat nicht angerufen. Das macht er nie.« Dann wollte sie unbedingt wissen, weshalb sich die Polizei »von da oben« für Berrit interessiert. »Suchen Sie die etwa?«

»Wir versuchen nur, ihren Aufenthaltsort herauszufinden«, versicherte Große Jäger und wünschte Hilde von Rietberg alles Gute. »Ich finde es toll, wie wachsam und misstrauisch Sie sind«, sagte er zum Abschied.

Cornilsen war dem Telefonat neugierig gefolgt. »Das klingt widersprüchlich«, stellte er fest. »Aber was kümmert uns das? Wenn die Frau nur mal für ein Wochenende allein auf Achse sein wollte, hat sie ihrem Alten vorgegaukelt, die kranke Tante zu besuchen. Da er dort nie zurückruft, war das eine gute Ausrede.«

»Das mag sein«, erwiderte Große Jäger. »Und es wäre unauffällig geblieben, wenn sie rechtzeitig wieder zurückgekommen wäre. Der Pastor hat sie als zuverlässig beschrieben. Selbst wenn sie ihren Ausflug – aus welchem Grund auch immer – überziehen wollte, hätte es nur zweier kurzer Anrufe bedurft. Beim Ehemann und beim Pastor.«

»Hmh«, überlegte Cornilsen laut. »Als Ehemann hätte ich es zunächst auf dem Handy der Frau und dann bei der Tante versucht. Ich hätte nachgesehen, ob sie das Handy zu Hause vergessen hat. Ich hätte auch nachgesehen, ob sie das Ladegerät nicht mitgenommen hat. Aber Tante Hilde hat ja auch ein funktionierendes Telefon, das Berrit Muchow hätte nutzen können. Es klingt schon ein wenig merkwürdig.«

»Von beiden Seiten«, stimmte Große Jäger zu. »Auch vonseiten des Ehemanns, der sich besorgt zeigt, ohne eigene Anstrengungen zu unternehmen.«

Cornilsen lachte und malte mit beiden Händen großflächig in der Luft herum. »Die Schlagzeile in der ›Husumer‹: Eiderstedter Bankmanager verbuddelt Ehefrau im Schlick der Eider. Ganz Nordfriesland ist entsetzt.«

»Schöne Überschrift. Vielleicht könnte man noch ergänzen: Ganz Nordfriesland und Norderdithmarschen.«

Cornilsen schüttelte heftig den Kopf. »Nee. Die Ditschis interessiert das nicht.«

»Und diese Überschrift ist zu lang«, kritisierte Große Jäger. »Solche Schlagzeilen erscheinen nicht in der ›Husumer‹, sondern in der anderen Zeitung mit den großen Buchstaben. Da kennt man keine langen Sätze. Die Überschrift ist ja fast schon ein Artikel.« Er wedelte mit der Hand. »Und nun: Los. An die Arbeit.«

DREI

Ein weiter Himmel spannte sich über das Wattenmeer. Am Himmel hingen Federwolken. Uwe Feddersen wusste, dass sie manchmal eine Warmfront mit Regen ankündigten. Er war mit der Natur verwachsen, verstand es, die Zeichen zu lesen. In vielen Dingen war er eins mit ihr. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, in einer der schönsten Regionen Deutschland – Deutschlands? Der Welt! – leben zu dürfen. Und zu arbeiten.

Sein Blick glitt versonnen über das schimmernde Wasser des Wattenmeeres. In den sich leicht kräuselnden Wellen reflektierte die Sonne. Er kniff die Augen zusammen, drehte sich nach rechts und sah über die Schulter zum Himmel empor. Wie hoch mochten die Zirruswolken sein? Er schätzte sie heute auf ungefähr zehn Kilometer Höhe, da einige Kondensstreifen sie durchpflügten. Es sah aus, als würden sie die Federwolken in die Breite ziehen. Die Menschen da oben in der beengten Kabine – wohin wollten sie? Geschäftstermine wahrnehmen? In den Urlaub fliegen? Er hatte alles hier vor Ort.

Wozu nach Amerika reisen, den Grand Canyon besuchen? Oder das Great Barrier Reef in Australien? Bestimmt waren es großartige Monumente der Natur. Zu Recht gehörten sie zum Weltnaturerbe der UNESCO. Na und? Er war ebenfalls in einem Weltnaturerbe. Mittendrin im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Noch besser. Er arbeitete für den LKN, den Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein.

Uwe Feddersen lächelte in sich hinein. In Amerika würde man ihn und seine Kollegen womöglich Ranger nennen. Hier hieß seine Tätigkeit Wasserbauer, auch wenn er als Matrose unterwegs war.

»All’ns klor?«, riss ihn die Stimme des Schiffsführers aus seinen Gedanken.

Uwe Feddersen hob müde die Hand und fingerte eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus der Brustasche seiner Latzhose. Die vier Mann der Besatzung hatten eine Ladung Steine zum Anleger Rixwarf auf der Hallig Langeneß transportiert. Die heftigen Frühjahrsstürme hatten einen Teil der Uferbefestigung weggerissen, die das einzige Haus auf der Rixwarf und den Fähranleger schützen sollte. Die Kollegen würden es in mühevoller Knochenarbeit wieder richten. Für ihn war heute Feierabend. Fast. Der Schubschlepper »Odin« war mit dem Ponton »Gröde« zurück auf dem Weg zum Umschlagplatz Holmer Siel, dem »Heimathafen« des Schiffes. Dort, auf Nordstrand, hatte der Landesbetrieb seinen Stützpunkt errichtet und lagerte die unterschiedlichsten Arten von Steinen, die zum Küstenschutz verbaut wurden. Der Schiffsführer musste das Fahrzeug noch durch die Süderaue an den Halligen Gröde und Hamburger Hallig vorbeinavigieren und dann hinter Nordstrandischmoor in das Fahrwasser Holmer Fähre abbiegen, das sie zum Liegeplatz führen würde. Das Wattenmeer galt mit seinen Untiefen und Sänden als schwierig. Haucke, der Schiffsführer, kannte sich hier aus und steuerte die »Odin« in weitem Bogen durch die enge Fahrrinne.

Feddersen stellte ein Bein auf die untere Strebe der Reling, stützte sich oben ab und stierte ins Wasser. Die Flut hatte eingesetzt, und das Wasser strömte mit der »Odin« ins Wattenmeer hinein. Neben Haucke standen der Steuermann Jochen und Heini auf der Brücke. Der Maschinist hielt einen Kaffeebecher in der Hand und prostete Feddersen zu, als dieser kurz dorthin aufsah.

»So ’n Job as du wüll ick ock heb’n«, rief ihm Heini zu.

Feddersen hob den Arm und streckte den Mittelfinger in die Höhe. »Du mi ock«, knurrte er.

Dann blickte er wieder ins Wasser. Es sah aus wie zerknittertes Schokoladenpapier, auf das jemand eine Lampe gerichtet hatte. Plötzlich stutzte er. In der Bugwelle, die von der geschobenen Steinschute vor dem Schlepper ausging, wogte ein Paket auf und ab und wurde zur Seite gedrückt. Für einen kurzen Moment verharrte es auf einem Wellenkamm, um dann ins nächste Wellental abzutauchen, kurz aus seinem Blickfeld zu verschwinden und sich dann auf die nächste Welle aufzuschwingen.

»Hest dat seh’n?«, brüllte Feddersen zur Brücke und streckte den Arm aus. »Dat söht wie ’n Leich ut.«

Heini lachte lauthals, dass sein mächtiger Bauch, der die Latzhose spannte, vibrierte. »Mensch, Uwe, hast ’nen Joint im Hals?«

»Nee«, mischte sich Haucke ein. »Ick heff dat ok seh’n.« Sein Steuermann bestätigte es.

Ein Ruck ging durch den Schleppverband, als der Schiffsführer auf volle Fahrt rückwärts umschaltete. Heini war trotz seiner Körperfülle behände aus dem Steuerhaus herausgesprungen und Feddersen gefolgt, der zum Heck des Schleppers gelaufen war. Dabei riss er eine lange Stange los, die an der Reling hing und an deren Ende ein Haken befestigt war. Der Bootshaken.

»Tatsächlich«, bestätigte Heini, als er neben Feddersen auftauchte und ebenfalls das auf und ab schaukelnde Paket entdeckt hatte. »Könnte sein. Sieht aus wie ein Mensch.« Dann lachte er. »Oder ist es ein Stück vom Wal, der uns damals vom Haken gehüpft ist, als eine ganze Reihe von denen vor unserer Küste und an unseren Stränden verendet sind?« Er legte die Hände an die Stirn, um die Blendung durch die Sonne zu mindern. Dann schlug er Feddersen unvermittelt auf das Schulterblatt. »Mensch, Uwe. Dat kann nich sein. Ick glöv dat nich. Sieht nich wie Neptun oder ’ne Meerjungfru ut.«

Haucke hatte sich aus dem Steuerhaus gebeugt und hielt ein Fernglas vor die Augen. »Seid ihr sicher? Ich seh nix.«

»Uwe is zwar ’nen Blindfisch«, antwortete Heini. »Aber hier hat er recht.«

Die »Odin« war noch ein ganzes Stück weitergefahren, obwohl die beiden Schrauben der Verstellpropelleranlage volle Kraft rückwärtsliefen. Ein Schiff hatte einen anderen Bremsweg als ein Auto. Noch immer vibrierte das Wasserfahrzeug. Auf Laien wirkte es oft so, als würde es den Kahn zerreißen. Schließlich hatte der Schlepper seine Fahrt verloren.

»Ich geh auf langsame Fahrt zurück«, kündigte Haucke an. »Passt auf, dass uns der Fund nicht in die Schraube kommt. Sonst haben wir Hackfleisch.«

Der Maschinist und Feddersen hatten am Heck Position bezogen. Es war nicht einfach, im Auf und Ab der Wellen etwas zu erkennen. Das machte es auch so schwierig, auf hoher See Menschen wiederzufinden, die über Bord gegangen waren. Heute war das Wasser ruhig. Es herrschte nur mäßiger Wellengang. Trotzdem war kaum etwas zu sehen, auch wenn nur wenige weiße Kämme auf den Wellen ritten. Haucke ließ die »Odin« so langsam laufen, dass nur mäßig Gischt entstand.

Heini sah kurz zum Steuerhaus hinüber. »Wie macht der das bloß?«, fragte er leise. »Ich glaube, der geht mit dem Kahn zärtlicher um als mit seiner Frau.«

»Er ist ja auch öfter und länger auf der ›Odin‹ als auf seiner Ollen«, erwiderte Feddersen. »Da«, rief er, als er glaubte, etwas entdeckt zu haben.

»Wo?«, wollte Heini wissen, als er es auch sah. »’nen Schlag nach Steuerbord«, rief er Haucke zu. »Und dann stopp.«

Die beiden lehnten sich über die Reling und versuchten, das Bündel mit ihren Bootshaken vom Schiff fernzuhalten und an die seitliche Bordwand zu bugsieren. Es war ein hartes Stück Arbeit.

Dann hinterfasste Feddersen mit dem Bootshaken das Bündel. »Mist«, fluchte er, als es abzurutschen drohte.

Aber Heini war ihm zu Hilfe geeilt und stach mit seinem »Enterhaken« ebenfalls zu. Jetzt hatten sie es fixiert. Fast wäre Feddersen die Stange entglitten, als er sah, dass es sich bei ihrem Fund tatsächlich um einen Menschen handelte.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte er entsetzt.

Heini wollte antworten. Aber dem Maschinisten versagte die Stimme.

»Und? Was ist?«, wollte Haucke von der Brücke aus wissen.

»’ne Leiche«, brachte Feddersen schließlich hervor. »Und nun?«

»Holt sie an Deck«, wies Haucke die beiden an.

Heini schüttelte sich. »Mach du doch«, sagte er mechanisch.

»Los«, sagte Feddersen.

Sie wussten beide, dass Haucke das Ruder nicht verlassen konnte. Das Wasser war so schwierig zu befahren, dass sie beim kleinsten Fehler auf einer Sandbank oder Untiefe auflaufen könnten.

Sie zogen am Bootshaken, griffen nach und versuchten, das Bündel hochzuhieven. Es hatte sich voll Wasser gesogen und war entsprechend schwer.

»Gleichmäßig«, wies Feddersen an, als Heini etwas hinterherhing und ihnen das Bündel wieder ins Wasser zu gleiten drohte.

Schließlich hatten sie es geschafft. Feddersen spürte, wie ihm die Knie nachzugeben drohten. Er warf Heini einen kurzen Blick zu. Sein Kollege war leichenblass geworden.

»Mein Gott«, stöhnte der Maschinist. »Das sieht ja aus wie … wie …« Und es roch unerträglich.

Feddersen beugte sich über die Reling und würgte. Es blieb beim Versuch, während Heini sich abgewandt hatte.

Haucke war ins Ruderhaus verschwunden. Feddersen hörte, wie der Schiffsführer den Fund an die Zentrale durchgab. Kurz darauf beugte er sich wieder heraus.

»Die informieren den Wasserschutz.« Dann wies er seine beiden Gefährten an, den Fund so zu sichern, dass er nicht wieder über Bord rutschte.

»Ist sicher«, sagte Feddersen, auch wenn er nicht ganz überzeugt war. Er wollte nur weg. Weg vom grausigen Fund. Weg vom üblen Geruch. Weg vom Anblick, der so erschreckend war und doch immer wieder seine Augen anzog. Heini hatte sich schon entfernt.

»Die ›Sylt‹ liegt im Hörnumtief«, erklärte Haucke.

»Das sind zwanzig Meilen«, überschlug Feddersen. »’ne Stunde, dann sind sie hier.«

Es ging schneller. Ihr fieberhaftes Absuchen des Horizonts wurde belohnt. Bald tauchte die Silhouette des Polizeibootes auf, dann legte sich die »Sylt« neben den Schubverband.

Ein Beamter mit drei goldenen Balken auf dem Schulterstück und einem goldenen Riemen an der Mütze stand backbord auf dem Boot, an dessen Bordwand »Küstenschutz« stand. Auf den Aufbauten des bullig wirkenden Schiffes ragte der Mast empor, an dem Radar, Sirenen und Lichter befestigt waren. Die Aufschrift »Polizei« und das Landeswappen waren seitlich angebracht. Auf dem hinteren Schiffsteil befand sich ein Speedboot, das mit einem Kran schnell zu Wasser gelassen werden konnte.

Feddersen wusste, dass die »Sylt« in Husum beheimatet war und sechs Mann Besatzung hatte. Man begegnete sich im Wattenmeer.

Hauptkommissar Kirchner war der Bootsführer. Er tippte sich lässig an den Mützenschirm und fragte: »Na? Was habt ihr denn?«

»’ne Leiche. Sieht nicht gut aus«, rief Haucke zur »Sylt« hinüber.

»Wir kommen mal rüber«, erklärte Kirchner. Die »Sylt« legte sich längsseits, Feddersen und Heini nahmen die Tampen entgegen und befestigten sie an den Krampen auf der »Odin«. Dann enterten Kirchner und ein weiterer Beamter auf den Schubschlepper hinüber. Die Polizisten gingen zur Wasserleiche und beugten sich hinab.

»Hmh«, knurrte Kirchner. »Sieht ja übel aus. Könnte ’ne Frau sein. Schwimmt wohl ’ne Woche hier rum. Erst sinkt der Leichnam zum Boden hinab. Dann bilden sich Gasblähungen durch den Fäulnisprozess. Um diese Jahreszeit und bei diesen Temperaturen könnte das hinkommen. Nach der Casper-Regel entspricht der Fäulnisgrad im Wasser etwa dem Doppelten wie an der Luft.« Er sah die Männer der »Odin« an, die sich im Hintergrund hielten. »Die Leiche schwamm in Bauchlage?«

Feddersen musste sich freiräuspern, bis er antworten konnte. »Ja«, krächzte er.

»Wir haben eine flächenhafte Ablösung der Oberhaut und ausgedehnte Antragungen von Algen. Deshalb sieht die Tote auf den ersten Blick fast wie verbrannt aus.«

»Hör auf«, keuchte Feddersen. »Das wollen wir gar nicht wissen.«

Dem Wasserschutzpolizisten gelang ein Grinsen. »Wir nehmen sie mit nach Husum. Oder wollt ihr das übernehmen?«

»Haut bloß ab«, fluchte Feddersen und wandte sich ebenso wie seine beiden Kollegen ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Polizisten die Leiche auf ihr Schiff bargen.

»Wo habt ihr den Fund gemacht?«, wollte ein Polizeiobermeister von der Besatzung der »Sylt« wissen.

Haucke nannte ihm die Position in Grad und Minuten. Der Beamte fragte noch nach den Umständen der Sichtung. Nachdem auch das beantwortet war, löste Feddersen die Leinen und sah erleichtert der »Sylt« hinterher, die sich auf den Weg nach Husum machte. Von einem Satelliten aus sah der Kurs durchs Wattenmeer wie ein Fragezeichen aus.

Ein Fragezeichen stand auch Große Jäger ins Gesicht geschrieben. Der Oberkommissar der Husumer Kriminalpolizeistelle stand am Kai des Husumer Außenhafens und wartete auf die Ankunft des Bootes. Die Wasserschutzpolizei hatte seine Dienststelle informiert. Da er Sachbearbeiter für Todesfallangelegenheiten war, war das Gespräch zu ihm durchgestellt worden.

»Komm, Hosenmatz«, hatte er seinen Kollegen, Kommissar Mats Cornilsen, aufgefordert, der mit ihm das Büro in der Poggenburgstraße teilte. Jetzt standen die beiden Polizisten am Husumer Außenhafen vor dem Klinkergebäude des Hafenamtes, in dem auch die Wasserschutzpolizei untergebracht war. Wie an allen behördlichen Einrichtungen und vielen Ortsschildern war die Dienststelle auch auf Friesisch ausgeschildert: wǺǺderpolitii.

Cornilsen wollte Einzelheiten wissen, aber Große Jäger verfügte auch nur über die vage Information, dass man eine Leiche aus der Süderaue zwischen den Halligen Langeneß und Hooge geborgen hatte. Der Kommissar trippelte ein wenig unruhig auf und ab.

»Meine erste Wasserleiche«, sagte er gepresst. »Im Original.«

»Man gewöhnt sich daran – oder nicht«, brummte Große Jäger. »Sie sehen nicht schön aus, wenn sie eine Weile im nassen Element waren. Zum Glück ist das nicht unser Alltag.«

»Wie kommt eine Leiche ins Wattenmeer?«, fragte Cornilsen.

»Denk nach«, erwiderte Große Jäger und zog an der Zigarette. Es war die zweite, die er sich angezündet hatte.

»Ein Unfall«, meinte Cornilsen. »Jemand ist zu weit ins Watt gelaufen und wurde von der Flut überrascht.«

»Denkbar.«

»Oder jemand ist beim Segeln über Bord gegangen. Oder von einem Schiff gefallen.«

»Und?« Große Jäger zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Was, und?« Dann schien Cornilsen verstanden zu haben. Er zog sein Handy hervor und rief auf dem Husumer Polizeirevier an. Anschließend folgten die Reviere in Niebüll und auf Sylt.

»Es liegt keine passende Vermisstenmeldung einer Seglercrew vor«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Wenn jemand über Bord geht oder von einer Wanderung nicht zurückkehrt, fällt das auf. Dann geht man zur Polizei. Merkwürdig.«

Große Jäger gab ihm recht. »Da kommt sie«, sagte er kurz darauf und wies auf die Biegung. Dahinter lag das Sperrwerk, das die Stadt bei Hochwasser schützten sollte. Sonst war Husum ein Tidehafen, das heißt, der Wasserstand passte sich Ebbe und Flut an, und bei Niedrigwasser lagen die Schiffe im Binnenhafen durchaus im Schlick. Von dort waren es nur wenige Schritte bis hierher.

Fast bedächtig schob sich die »Sylt« an der Zugbrücke entlang, die den Binnen- vom Außenhafen trennte.

Große Jäger sah auf die andere Uferseite zur Rödemishallig. Dort lagen Krabbenkutter. »Da sind auch die Liegeplätze der Segler«, sagte Große Jäger.

Gegenüber türmten sich die Getreidesilos in die Höhe, die bei der Anfahrt auf Husum weit über die Marsch zu sehen waren. Ein Stück weiter lag die »Meike«, die von Husum aus Windkraftanlagen über die See transportierte.

Die »Sylt« fuhr langsam an ihnen vorbei und wendete dann, bevor sie elegant an den Kai manövrierte und anlegte. »Es gibt viele, die ihren Kleinwagen nicht halbwegs so elegant einparken können wie die Jungs ihren Kahn«, sagte Große Jäger.

Nachdem das Schiff festgemacht hatte, winkte der Bootsführer lässig herüber. »Seid ihr das Empfangskomitee?«

»Wir wollen begutachten, wie pfiffig ihr seid«, erwiderte Große Jäger und betrat die »Sylt«. »Habt ihr schon etwas herausbekommen?«

Kirchner nickte. »Klar. Die Leiche ist tot.«

»Habt ihr keine Reanimation unternommen?«

»Doch. Sicher.« Er zeigte auf einen Mann seiner Besatzung. »Claas hat es die ganze Zeit über versucht. Erst kurz vor der Hafeneinfahrt hat er gestanden, dass er gestern Abend beim Griechen war. Kein Wunder, dass es mit der Beatmung nicht geklappt hat.« Dann wurde er ernst. »Viel können wir nicht sagen. Ich schätze, die Tote …«

»Die? Eine Frau?«, unterbrach ihn Große Jäger.

»Das ist das Einzige, was wir feststellen konnten. Die Leiche trägt eine Damenarmbanduhr. Den Rest muss die Rechtsmedizin feststellen. Es könnte sein, dass es sich bei der Toten um eine Seglerin handelt. Hier.« Sie waren zur inzwischen geborgenen Leiche gegangen, und Kirchner hatte die Plane, in die sie die Tote gewickelt hatten, geöffnet. »Das sieht wie eine typische Seglerkleidung aus. Eine wetterfeste Jacke in Rot, wasserundurchlässig. Festes Schuhwerk. Geschnürt. Auch wenn es wie Turnschuhe aussieht – die Schuhe haben eine rutschfeste Sohle mit genügend Grip. Ein guter Bootsschuh ist ein Muss.«

»Aber sie trägt kein Ölzeug.«

Kirchner lachte. »Das war gestern. Heute trägt man funktionelle Segelbekleidung, die absolut wasserdicht, atmungsaktiv und bequem ist. Die Segelhosen sind an den Knien und am Gesäß verstärkt. Dieser Ring hier dient dem Einhaken von Sicherheitsleinen. Er hat zudem eine Aufhängeschlaufe.«

»Sie sind Segler?«, wollte Große Jäger wissen.

»Nein, aber wir von der …«

»Entenpolizei«, fuhr Große Jäger dazwischen.

Kirchner schenkte ihm einen bösen Blick. »Blöder Spruch. Und ausgerechnet von einem Landbullen. Wir von der Wasserschutzpolizei haben genauso wie ihr das Polizeihandwerk gelernt. Zusätzlich hat aber jeder von uns noch eine nautische Ausbildung. Während wir auch im dichten Nebel navigieren können, stochert ihr nur hilflos im Dunst herum.«

»Keine Schwimmweste?«, fragte Große Jäger.

»Die wird nicht von allen Seglern angelegt. Das verstehe ich auch nicht.«

»Und wenn sie abends über Bord gefallen ist? Im Hafen?«

Kirchner schüttelte den Kopf. »Theoretisch denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich vermute, sie ist irgendwo zwischen den Halligen und den Inseln, also Amrum oder Föhr, über Bord gegangen. Dafür könnten die Strömungsverhältnisse sprechen.«

»Eventuell draußen auf See?«

»Denkbar ist vieles. Aber vorausgesetzt, sie ist Seglerin, ist es eher unwahrscheinlich. Das Wattenmeer ist kein einfaches Segelrevier. Und wer hier unterwegs ist, sollte sich auskennen. Es gibt welche, die Helgoland ansteuern. Aber nur ganz wenige kurven mit ihren Booten vor der nordfriesischen Küste entlang. Da draußen kann es ganz schön püsterig sein. Wenn ich davon ausgehe, dass sie zwischen einer Woche und zehn Tagen im Wasser gelegen hat, dann muss es vielleicht am vorletzten Wochenende gewesen sein. So round about. Da hatten wir teilweise Windstärke sieben. Das ist nicht mehr jedermanns Sache, da draußen herumzutoben. Es kann schon einmal Böen geben, die in den Spitzen darüber hinausgehen.«

»Hmh.« Große Jäger strich sich über die Bartstoppeln, dass es ein kratzendes Geräusch gab. Auch mit Wohlwollen konnte man es nicht einen Dreitagebart nennen. Er war schlichtweg unrasiert. Das passte zu den Trauerrändern unter seinen Fingernägeln. »Und wenn die doch da draußen unterwegs waren? Bei dem Wetter wäre es doch denkbar, dass jemand über Bord geht.«

»Davon hätten wir erfahren«, wandte Kirchner ein. »Die Mitsegler hätten sich gemeldet.«

»Und wenn ein ganzes Schiff verloren geht?«

»Eine gewagte These«, sagte der Wasserschutzpolizist.

»Gibt es einen Hinweis auf die Identität?«

»Die Handtasche mit ihren persönlichen Dingen haben wir drinnen aufbewahrt.« Kirchner lachte. »Natürlich nicht! Ihr müsst ja auch irgendetwas tun. So!« Es klang entschieden. »Wir sorgen dafür, dass die Leiche nach Kiel geschafft wird.«

»Danke, Kollegen«, sagte Große Jäger zum Abschied. Dann fuhr er mit Cornilsen zur Dienststelle zurück.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er unterwegs mehr zu sich selbst. »Kaum jemand segelt allein. Und wenn, dann hätte man schon lange das leere Boot gefunden. Und niemand vermisst die Segelkameradin?«

»Und wenn sie gar nicht von einem Schiff gefallen ist, sondern wirklich beim Spaziergang auf einer Sandbank überrascht wurde?«

»Dann hätte sich jemand gemeldet.«

Im Büro setzte sich Cornilsen an seinen Rechner. Wenig später sagte er: »Wir haben wenig Vermisstenfälle. Zwei Asylbewerber sind verschwunden. Ein dementer Siebenundachtzigjähriger wird seit gestern Abend vermisst. Und ein junger Mann, einundzwanzig, den wir wegen eines Rauschgiftdelikts suchen. Bleibt noch die Frau aus Tönning.«

»Die soll angeblich in Münster bei ihrer Tante sein. Das macht einen Unterschied, ob jemand in Münster ist oder im Wattenmeer segelt. Das hätte uns ihr Mann gesagt.«

»Und wenn sie …«, begann Cornilsen.

Große Jäger schnitt ihm das Wort ab. »Hosenmatz. Du nervst.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Also los. Besuchen wir den Bankdirektor in Tönning.«

Robert Muchow stand am Tresen der Sparkassenfiliale und sah auf, als die beiden Polizisten eintraten.

»Haben Sie etwas herausgefunden?«, fragte er ohne Begrüßung.

Große Jäger zeigte auf den gläsernen Besprechungsraum, nachdem er Cornilsen vorgestellt hatte.

»Haben Sie ein Segelboot?«, fragte er, nachdem sie die Tür zum Kundenraum geschlossen hatten.

»Ein Segelboot?«, wiederholte Muchow. »Nein. Wieso fragen Sie danach?«

»Segeln Sie manchmal? Zum Beispiel als Gast auf anderen Schiffen?«

Muchow schüttelte sich. »Ich hasse Wasser, zumindest wenn ich darauf schwimmen muss. Das ewige Geschaukel.«

»Und Ihre Frau?«

»Die ist in Münster bei ihrer Tante Hilde. Das habe ich Ihnen schon erklärt.«

»Da ist sie aber nicht angekommen.«

»Herrje noch mal«, brauste Muchow auf. »Deshalb war ich bei der Polizei. Aber Sie unternehmen ja nichts. Tun Sie endlich etwas.«

»Wir sind gerade dabei«, erwiderte Große Jäger.

»Davon merke ich aber nichts.«

Der Oberkommissar stand auf. »Hat Ihre Frau Seglerkleidung?«

»Was soll sie damit, wenn wir kein Boot haben?«

»Wir hätten gern ein paar persönliche Gegenstände von Ihrer Frau. Haar- oder Zahnbürste.«

»Warum das denn?« Muchow streckte den Beamten den Zeigefinger entgegen. »Das sagen Sie doch nicht einfach so.«

»Routine«, erwiderte Große Jäger und gab keine Ruhe, bis Muchow sie zu sich nach Hause begleitete.

Muchow wohnte in einem Neubaugebiet, das am westlichen Stadtrand entstanden war. Auf dem Kreisverkehr stand das Tönninger Schloss, zumindest eine Nachbildung. Das Original hatte der dänische König bereits 1735 abreißen lassen, nachdem die Tönninger es den verfeindeten Schweden zur Verfügung gestellt hatten. Zum Wohngebiet mit den abzweigenden Nebenstraßen gab es eine einzige Zufahrt. In einer Einfahrt war ein Wohnmobil geparkt, in einem anderen Vorgarten standen Spielgeräte für kleine Kinder. Hätte man einen Sammelbegriff finden müssen, hätte man die Siedlung als »gutbürgerlich« beschrieben.

Muchow wohnte in einem der Rotklinkerhäuser mit den liebevoll angelegten und gepflegten Gärten. Ein Friesenwall grenzte das Grundstück von der ruhigen Sackgasse ab.

Hinter der Haustür fand das Biedere seine Fortsetzung. Die Doppeltür zum Wohnbereich war mit farbigen Glasscheiben ausgestattet. Die Dielenmöbel waren aus dem gleichen Holz wie die Treppe und die Türen: Eiche. Die Einrichtung stammte mit Sicherheit nicht aus einem Laden, in dem Elche bedienten. Es wirkte auf Große Jäger düster.

Im Badezimmer griff der Sparkassenmitarbeiter eine Haarbürste und eine der beiden Zahnbürsten.

»Das sind Berrits Sachen«, erklärte er und drang noch einmal darauf, zu erfahren, weshalb die Polizei danach fragte. Große Jäger verweigerte die Auskunft und ließ, nachdem sie nach Husum zurückgekehrt waren, die beiden Gegenstände per Boten nach Kiel bringen.

VIER

Es waren mittlerweile zwei Tage vergangen, an denen die Husumer Polizisten laufende Fälle aus dem Tagesgeschäft bearbeiteten, als sich die Rechtsmedizin der Kieler Christian-Albrechts-Universität meldete.

»Ich wollte wieder einmal Nordseeluft schnuppern«, erklärte der Oberarzt Dr. Diether. »Wenn auch nur durch die Telefonleitung.«

»Das ist etwas anderes als die Luft an Ihrem Binnensee«, antwortete Große Jäger.

»Meinen Sie den Kleinen Kiel?«, fragte der Arzt und spielte auf den gleichnamigen See im Herzen der Landeshauptstadt an.

»Binnensee schon, aber nicht in Kiel. Ich denke, Sie nennen diesen Teich Ostsee.«

»Was in diesen Teich fällt, stinkt aber nicht so wie das, was bei Ihnen aus dem Wasser gefischt wird. Ich weiß, die Nordsee ist eines der bedeutendsten Erdölfördergebiete der Welt. Dort gewinnt man auch in großen Mengen Erdgas. Aber warum pumpen Sie das in die Leichen? Die war so aufgebläht, dass wir sie auf dem Seziertisch festbinden mussten, damit sie nicht wie ein Luftballon an die Raumdecke schwebte.«

»Hat es ›buff‹ gemacht, als sie den Y-Schnitt angesetzt haben?«

Dr. Diether stutzte kurz. »Eh, Mann. Gut. Sie haben die richtige Art von Humor, mit der wir hier inmitten der Toten überleben. Kommen wir zur Sache, oder wollen Sie den schriftlichen Bericht abwarten?«

»Wenn Sie uns vorab ein paar Stichworte nennen könnten, wäre das hilfreich.«

»Es handelt sich um eine Frau, Mitteleuropäerin. Alter zwischen vierzig und fünfzig. Das Gewicht lässt sich beim Zustand der Leiche nicht mehr exakt feststellen. Sie war keine Miss Piggy, aber auch kein Hungerhaken. Gehen Sie davon aus, dass sie eine leichte Neigung zum Propersein hatte. Also das, was manche Männer mögen.«

»Sie haben eine merkwürdige Art der Berichterstattung«, warf Große Jäger ein.

»Wollen Sie es lieber auf Lateinisch hören? Die äußere Besichtigung ergab keine signifikanten Narben, Hautveränderungen et cetera, wenn man von zwei Dingen absieht. Das eine ist der Tierfraß. Deshalb erspare ich Ihnen auch ein Bild des Gesichts. Zum anderen komme ich noch. An Händen und Füßen hat sich die Waschhaut ausgebildet. Sie können die Haut wie einen Handschuh abziehen. Das sollten …«

»Können wir uns solche Details sparen?«, bat der Oberkommissar.

»Das ist aber wichtig«, widersprach Dr. Diether. »Ich habe einen Zahnstatus aufgenommen. By the way: Wissen Sie inzwischen, wer das Mädchen ist?«

»Nein. Haben Sie Anhaltspunkte gefunden?«

»Keine. Keine Papiere, keine Schlüssel oder Ähnliches. Sie muss verheiratet gewesen sein. Das verrät ein Ehering.«

»Mit Initialen?«

»Nein.«

»Können Sie ein Foto des Rings schicken?«

»Ich gebe Ihren Wunsch weiter an die Forensik vom LKA. Dort liegt auch der Anhänger, den sie um den Hals trug.«

»Sie sagten, es gebe noch einen zweiten Anhaltspunkt.« Große Jäger war ungeduldig.

»Gemach, gemach. Nach dem Y-Schnitt«, fuhr der Rechtsmediziner fort, und ihm war anzumerken, dass er die Beschreibung seiner Tätigkeit auskostete, »habe ich mir das Innere angesehen. Nichts Bemerkenswertes. Keine morphologisch sichtbaren Organveränderungen. Sie hätte noch viele Jahre gesund und zufrieden leben können, wenn da nicht das Ding an der Stirn gewesen wäre. Sagt Ihnen die Hutkrempenregel etwas?«

»Natürlich«, versicherte Große Jäger. »Sind die Verletzungen oberhalb einer gedachten Hutkrempe, könnten Schläge oder Gewalteinwirkungen vorliegen, also Dritteinwirkungen. Liegen sie darunter, sind sie möglicherweise durch Verletzungen entstanden. Und?« Es lag ihm auf der Zunge, den Arzt aufzufordern, flüssiger zu berichten. Unhörbar murmelte er: »Willst du Streicheleinheiten für dein Wissen?«

»Es hat einen kräftigen Schlag auf die Stirn der Toten gegeben. Davon zeugt ein doppelkonturiertes Hämatom. Das entsteht durch Verdrängung des Blutes zu beiden Seiten der länglichen Auftrefffläche. Dabei zerreißen die subkutanen Kapillaren. Sie als Laie nennen es wohl auch Doppelstriemen.«

»Sie wollen sagen, die Frau hat einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Mit einem länglichen Gegenstand. Wo denn nun?«

»Unterhalb der Hutkrempe.«

»Es könnte also ein Unfall vorliegen?«

»Das ist nicht auszuschließen.«

»Daran ist sie gestorben?«

»Nein. Sie ist ertrunken, und zwar im Salzwasser. Das dauert länger als das Ertrinken im Süßwasser. Wollen Sie wissen, weshalb?«

»Nein!«, sagte Große Jäger entschieden und laut.

»Gut. Da wäre zunächst das Emphysema aquosum, das sind stark überblähte Lungen. Die Paltauf-Flecken …«

»Danke, Dr. Diether«, unterbrach Große Jäger den Kieler. »Ich besuche Sie gern einmal in Ihren Vorlesungen. Sie haben uns weitergeholfen. Das toxikologische Untersuchungsergebnis bekommen wir noch?«

»Das bleibt Ihnen ebenso wenig erspart wie der Obduktionsbericht.«