Hockneys Leben - Catherine Cusset - E-Book

Hockneys Leben E-Book

Catherine Cusset

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Beschreibung

In den 1960er-Jahren fand er aus der englischen Provinz nach Los Angeles und wurde einer der berühmtesten Künstler der Gegenwart – David Hockney. Unerschöpflich kreativ und vielseitig, voller Selbstvertrauen, Freiheit, Liebe zum Leben und zu schönen Männern. Der glückliche Zufall gesellte sich dazu. Catherine Cusset erzählt den Roman eines Künstlerlebens, das Freude macht.

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CATHERINE CUSSET

HOCKNEYS LEBEN

Roman

Aus dem Französischenvon Maja Ueberle-Pfaff

INHALT

Prolog

I. Ein großer Blonder im weißen Anzug

II. Der Kummer währt drei Jahre

III. Das innere Kind

IV. Der Tod wird überschätzt

V. Weißdornblüte

Dank

Ausgewählte Literatur

Dieses Buch ist ein Roman. Alle Fakten sind wahr und belegt. Erfunden habe ich die Gefühle, die Gedanken, die Dialoge. Dabei handelt es sich streng genommen eher um Intuition und um Rückschlüsse als um Erfindung: Mein Ausgangspunkt waren die zahlreichen Aufsätze, Biografien, Interviews, Kataloge und Artikel, die über David Hockney veröffentlicht wurden. Ich habe nach dem Zusammenhang gesucht und die Puzzleteile kombiniert. Das Porträt, das ich hier zeichne, spiegelt meine eigene Sicht auf sein Leben und seine Person wider, auch wenn mich seine Person, seine Werke und seine Worte dazu inspiriert haben. Ich hoffe, dass der Künstler dies als eine Hommage verstehen wird.

Warum Hockney? Ich bin ihm nie begegnet. Es mutet eigenartig an, sich der Existenz einer lebenden Person zu bemächtigen und sie zu einem Roman zu verarbeiten. Doch in Wahrheit hat die Person sich meiner bemächtigt. Was ich über Hockney gelesen habe, hat mich begeistert. Seine Freiheit hat mich fasziniert. Ich hatte das Bedürfnis, dokumentarisches Material, das den Leser ausschließt, in eine Erzählung zu verwandeln, die den Weg des Künstlers von innen her beleuchtet, indem sie sich der existenziellen Fragen annimmt, jener Fragen also, die um Liebe, Kreativität, Leben und Tod kreisen.

I

EIN GROSSER BLONDER IM WEISSEN ANZUG

Sein Vater war überzeugter Pazifist. Ken Hockney hatte gesehen, was der Erste Weltkrieg bei seinem älteren Bruder angerichtet hatte, der nach einem Giftgasangriff als Gespenst, geradezu zerstört nach Hause zurückgekehrt war. 1939 widersetzte er sich dem neuerlichen Krieg. Er verlor seine Arbeit und das Recht auf staatliche Unterstützung, machte sich viele Feinde und wurde von Nachbarn geringschätzig behandelt. «Kinder, kümmert euch nicht darum, was die Nachbarn denken» – so lautete die wichtigste Lektion, die er an seine vier Söhne und seine Tochter weitergab.

Ken hatte kein Geld, aber an Phantasie mangelte es ihm nicht. Er holte kaputte, ausrangierte Kinderwagen von der Müllhalde und reparierte und bemalte sie, sodass sie aussahen wie neu. Nach dem Krieg wandte er dieselbe Methode auf Fahrräder an. Als kleiner Junge konnte sich David nichts Schöneres vorstellen als den Moment, in dem der Malerpinsel des Vaters auf den Rahmen eines Fahrrads traf. In Sekundenschnelle wurde das rostige Material wie durch Zauberkraft leuchtend rot. Die Welt wechselte die Farbe.

Er war stolz auf seinen Vater, den seine Mutter stirnrunzelnd einen «wahren Künstler» nannte. Erfinderisch, wie er war, konnte Ken sich elegant kleiden, ohne einen einzigen Penny auszugeben. Er beklebte seine Krägen und Krawatten mit Papier, das er mit bunten Tupfen und Streifen bemalt hatte. David bewunderte seine Pfiffigkeit. Wenn Ken die Fahrräder wiederhergerichtet hatte, setzte er eine knappe Anzeige mit der Nummer der nächsten öffentlichen Telefonzelle in die Zeitung, trug einen Sessel auf die Straße und machte es sich neben der Zelle bequem, bei Regen unter einem Schirm. Das war sein Laden. Als ihm einmal die Idee kam, das Haus müsse dringend renoviert werden, nagelte er Bretter auf die Türen und malte Sonnenuntergänge darauf. Der kleine David konnte sich daran gar nicht sattsehen.

David erinnerte sich später vage an die Flugzeuge, die über ihre Köpfe hinwegflogen, und an den Tag, an dem er mit seinen beiden Brüdern, seiner älteren Schwester und seiner im neunten Monat schwangeren Mutter evakuiert wurde. Keine Erinnerung aber besaß er an das Entsetzen seines großen Bruders, der während der Bombenangriffe die Hand der Mutter vor Angst fast zerquetschte – «Bitte, Mama, bete für uns» –, oder an die Bombe, die mehrere Häuser in ihrer Straße in Trümmer legte und die Fenster aller übrigen, außer ihrem, zerbersten ließ. Seine Kindheit bestand aus Spielen im Freien mit seinen Geschwistern, Streifzügen durch den Wald, Fahrradausflügen auf den Landstraßen der Umgebung, ruhigen Stunden in der Sonntagsschule, in denen die Kinder auf die ausgeteilten Papierbögen das zeichneten, was sie an jenem Tag in der Messe gehört hatten: Jesus, der über das Wasser wandelte, Jesus, der von den Toten auferstand. Bei Pfadfinderlagern führte er das Logbuch, in dem er die Aktivitäten in Form von Bildern festhielt. Samstags nahm der Vater die Kinder ins Kino mit, wo sie sich Superman, Charlie Chaplin oder Laurel und Hardy ansahen. Er kaufte Plätze für Sixpence, die billigsten, in den ersten drei Reihen, und manchmal hatte David, weil die Leinwand so nah war, das Gefühl, als tauchte er in die Welt des Films ein. An Weihnachten ging die Familie in das Alhambra und sah sich eine Panto an, eine unterhaltsame Mischung aus Komödie, Märchen und Musical, bei der sie sich vor Lachen ausschütteten. Sonntags durften David und seine Geschwister ihre Freunde zum Tee einladen, den ihre Mutter zubereitete. Ein appetitlicher Duft nach frisch gebackenem Kuchen durchzog das Haus, der Tisch bog sich unter Scones, Mini-Sandwiches und Marmelade, durch die Küche schallte das Gelächter der Kinder, die sich so oft nachnehmen durften, wie sie wollten, vier, fünf oder sechs Mal.

David wusste nicht einmal, dass die Familie arm war. Sein größtes Vergnügen war ohnehin gratis: Er nahm den kostenlosen Doppeldecker, stieg die Stufen in die obere Etage hinauf und versuchte, einen Platz ganz vorne zu ergattern, mal neben einem Mann, der ihm seinen Zigarettenrauch ins Gesicht blies, mal neben einer alten Dame, die er mit höflichen Entschuldigungen dazu nötigte, ihre Einkaufstasche auf den Boden zu stellen. Durch die breite Fensterscheibe blickte er auf die Straße hinab oder ließ die Landschaft in der Ferne an sich vorüberziehen. Dasselbe Vergnügen empfand er als Heranwachsender, wenn er sein Fahrrad von dem Bauernhof, auf dem er zwei Sommer lang aushalf, bis zum Gipfel des Garrowby Hill schob. Von dort oben konnte er die ganze Tiefebene um York überblicken, ein Panorama von 160 Grad, ohne jedes Hindernis. Was gab es Schöneres?

Ihm mangelte es an nichts, außer an Papier. Für einen Jungen, der so gern zeichnete, stellte die Papierknappheit der Nachkriegszeit ein echtes Problem dar. David zeichnete auf alles, was er in die Finger bekam: die Ränder von Schulbüchern und Schulheften, Zeitungen, Comics. Manchmal rief einer seiner Brüder wütend: «Jetzt hast du die Sprechblasen aber genug vollgeschmiert. Man kann sie ja kaum noch lesen!» Konnte man vom Zeichnen leben? Ja, wenn man ein Künstler war. Was war ein Künstler? Jemand, der Weihnachtskarten entwarf oder Filmplakate. Es gab vierzig Kinos in ihrer Stadt und überall hingen Plakate. Auf einem war ein Mann abgebildet, der sich über eine Frau beugte, im Hintergrund glühte ein Sonnenuntergang. David studierte es eingehend. So etwas konnte er auch, sogar noch besser. Und am Abend oder sonntags nach der Kirche würde er zeichnen können, wonach ihm der Sinn stand, ganz für sich allein. Wenn dann die Rechnungen bezahlt waren und etwas Kleingeld übrig blieb, würde er sich Papier kaufen können. Es wäre ein gutes Leben.

Der kleine David träumte.

Er war aber nicht nur ein Träumer, sondern auch ein guter Schüler. Er hatte ein Stipendium für die beste Grammar School erhalten. In der Schule war er beliebt, weil er ein Spaßvogel war und gut zeichnen konnte. Wenn seine Schulkameraden ihn baten, für ihren Club ein Plakat zu entwerfen, zierte sich David nicht lange. Seine Zeichnungen hingen an einer Tafel im Eingangsbereich der Schule, der bald für ihn zu einer Art privatem Ausstellungsraum wurde. Sie wurden oft geklaut, doch das störte ihn keineswegs. Im Unterricht zeichnete er, statt sich Notizen zu machen. Als sein Englischlehrer ihn einmal aufforderte, seine Hausaufgabe laut vorzulesen, und er antwortete, er habe keine, dafür aber «das hier» gemacht, und ihm ein aufwendig als Collage gestaltetes Selbstporträt zeigte, hielt die Klasse gespannt den Atem an, bis der Lehrer ausrief: «Aber das ist ja großartig, David!»

Eine glückliche Kindheit. Natürlich zankte er sich mit seinen Geschwistern, zerstritt sich mit seinen Freunden und wurde zu Unrecht bestraft. Doch der Groll hielt nie lange an. Bis zum vierzehnten Lebensjahr hatte er die Beschränktheit der Menschen noch nicht kennengelernt.

Er war knapp vierzehn, als der Schuldirektor seinen Eltern schrieb und ihnen empfahl, ihren Sohn auf eine Kunstschule zu schicken. David konnte zwar in den üblichen Schulfächern sehr gute Erfolge aufweisen, aber das Zeichnen war seine Passion und sein Talent, daran bestand kein Zweifel. Er war dem Schulleiter, der so viel Verständnis für ihn aufbrachte, ungeheuer dankbar, aber ebenso seinen Eltern, die ihn genug liebten, um einem Wechsel auf eine Berufsfachschule – eine weniger angesehene Einrichtung – zuzustimmen. Sie vereinbarten einen Termin mit der Bradford School of Art, David zeigte seine Zeichnungen und wurde zugelassen. Als Stipendiat musste er allerdings noch die Genehmigung des Bildungsbeauftragten der Stadt einholen. Dessen Antwort traf einen Monat später ein: «Nach eingehender Prüfung der Akte ist das Komitee zu dem Schluss gelangt, dass es im Interesse Ihres Sohnes liegt, seine Ausbildung auf einer allgemeinbildenden Schule abzuschließen, bevor er sich auf Kunst spezialisiert.»

Ein Einspruch war nicht möglich. David musste weiterhin die Grammar School besuchen, die ihm zugewiesen worden war, und zwei Jahre lang von morgens bis abends Mathematik, Englisch, Geschichte, Geografie, Französisch und Chemie pauken. Kunstunterricht fand natürlich nicht statt. David war noch nie im Leben so wütend gewesen. Für den Bürokraten, der den Brief unterzeichnet hatte, wogen zwei Jahre nicht schwerer als die zwei Sekunden, die es ihn gekostet hatte, seine Unterschrift unter den Brief zu setzen. Was gab diesem Menschen, dem er nie begegnet war, die Berechtigung, über sein Leben zu bestimmen? Er würde diesem Faschisten zeigen, wozu er fähig war! Er hörte auf zu lernen, seine Noten wurde immer schlechter, die Zahl der Verwarnungen nahm zu. Es war ihm egal. Dann würden sie ihn eben der Schule verweisen und er würde sein Stipendium verlieren. Ein schöner Schlamassel, wie seine Lehrer es ausdrückten. Umso besser! Aber es gab einen Engel, der über ihn wachte: seine Mutter, die nicht versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Sie klopfte bei einem Nachbarn an, der an der Bradford School of Art Zeichnen unterrichtete, und bat ihn, ihrem Sohn Privatunterricht zu geben, ohne Bezahlung. Der Schüler war begabt, der Lehrer willigte ein. Der abendliche Unterricht, einmal pro Woche, schuf den Raum, den David zum Atmen brauchte, und seine Noten verbesserten sich wieder.

Am Nachmittag ging er manchmal, statt Hausaufgaben zu machen, ins Kino. Er hatte eine Methode gefunden, wie er umsonst hineinkam: Er stellte sich an den Ausgang, wartete, bis jemand die Tür öffnete, und schob sich dann rückwärts hinein, um den Eindruck zu erwecken, dass er just das Kino verließ. Als er eines Tages, vollständig absorbiert von einem amerikanischen Gangsterfilm mit Humphrey Bogart, im Dunkeln saß, bemerkte er zunächst gar nicht, dass sich ein Mann in dem fast leeren Saal neben ihn gesetzt hatte. Auf einmal griff eine Hand nach seiner und legte sie auf etwas Heißes, Hartes, Haariges. David schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte Angst, aber er wehrte sich nicht. Die Hand, die auf seiner lag, zwang diese zu einer immer schnelleren Auf- und Abbewegung, bis der Mann plötzlich aufstöhnte. Er schlich sich vor dem Ende des Films aus dem Saal. Als David mit glühenden Wangen und klebrigen Fingern ebenfalls hinausging, konnte er an nichts anderes mehr denken als an die Szene, die sich soeben abgespielt hatte. Angst war demnach nicht unvereinbar mit Genuss? Das eben war das Aufregendste gewesen, was ihm je passiert war, und er durfte seiner Mutter nichts davon erzählen. Konnte etwas, das so viel Lust bereitete, schlecht sein? Seine Mitschüler redeten ständig über Mädchen. Kein Mädchen hatte bei ihm je dieses Erschauern ausgelöst.

Er war sechzehn, als er die Grammar School abschloss. Weder seine älteren Brüder noch seine Schwester hatten eine Universität besucht. Paul, der ebenfalls viel zeichnete, hätte gerne Grafik studiert, aber er hatte sich nach der höheren Schule eine Büroarbeit suchen müssen. Es wäre deshalb ungerecht gewesen, den kleinen Bruder auf eine Kunsthochschule zu schicken. «Warum suchst du dir nicht eine Stelle in einem Betrieb für Werbegrafik in Leeds?», schlug die Mutter vor. David stellte eine Mappe mit Zeichnungen zusammen, schwang sich auf sein Rad und zog los, um sich bei potenziellen Arbeitgebern vorzustellen. Nicht ungern berichtete er anschließend zu Hause von deren Reaktion: «Man muss sich erst einmal die Grundlagen aneignen, mein Junge.» Als eine Firma ihm zur Ausbildung ein unbezahltes Praktikum anbot, mit der Aussicht auf eine anschließende Festanstellung, bat sich David Bedenkzeit aus. Er hütete sich, seiner Mutter davon zu erzählen.

Am Ende lenkte sie ein. Sie schrieb für ihn an das Bildungsreferat der Stadt Bradford, das ihm ein Stipendium in Höhe von 35 Pfund zuerkannte. Das war wenig, aber sein Bruder verdiente kaum das Doppelte für eine sterbenslangweilige Bürotätigkeit. David arbeitete den Sommer über auf einer Farm, wo er Maiskolben bündelte und stapelte, und betrat im September sonnengebräunt die Bradford School of Art. Vorher hatte sein Vater ihn in einem Secondhandladen neu ausstaffiert. Mit seinem langen roten Schal, dem gestreiften Anzug mit den zu kurzen Hosenbeinen und dem runden Hut auf dem schwarzen Haar sah er aus wie ein russischer Bauer; seine Kommilitonen gaben ihm denn auch den Spitznamen Boris.

Sie mochten ihn nennen, wie sie wollten, und sich über ihn lustig machen: Er lachte gutmütig mit. Ihn brachte so schnell nichts in Rage. Nach zwei Jahren Wartezeit stand es ihm endlich frei, von morgens bis abends seiner Leidenschaft zu frönen, dem Malen und dem Zeichnen. Als der Leiter der Art School ihn aufforderte, sich für eines von beiden zu entscheiden, antwortete er ohne Zögern: «Ich will Künstler werden.» – «Sind Sie Privatier?», lautete die erstaunte Rückfrage des Direktors. David, der dieses Wort nicht kannte, blieb stumm. «Dann werden Sie Grafik studieren», entschied der Mann, der ihm damit einen Gefallen zu tun glaubte, denn es handelte sich um den kommerziell orientierten Zweig der Schule und damit die Garantie, dass der Absolvent später seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Nach zwei Wochen beantragte David, wechseln zu dürfen. «Dann müssen Sie eine Ausbildung zum Lehramt machen», hieß es. Er war einverstanden. Alles, was sie wollten, wenn sie ihn nur malen ließen.

Sein privater Zeichenlehrer vom Vorjahr hatte ihn vor einer Gefahr gewarnt, die den Studenten der Bradford School of Art drohte: dem Müßiggang. David arbeitete zwölf Stunden am Tag. Er wollte alles lernen: Anatomie, Perspektive, Zeichnen, Radierung, Ölmalerei. Zeichnen nach Vorlagen und nach der Natur. Die Kommentare, die die Dozenten zu seinen Arbeiten abgaben, sog er begierig auf, denn sie sahen Dinge, die er nicht bemerkt hatte, und erweiterten und vertieften damit seine eigene Wahrnehmung. Ein junger Professor namens Derek Stafford vermittelte ihm die Einsicht, dass eine Zeichnung nicht einfach eine Imitation war, sondern ein geistiger Akt. Man musste nachdenken, sich bewegen, seine Perspektive ändern, den Gegenstand aus mehreren Blickwinkeln betrachten. David war noch nie einem so intelligenten und kultivierten Menschen wie Derek begegnet. Der Professor stammte nicht aus Bradford. Er hatte sein Studium an der vielleicht weltbesten Hochschule für Kunst, dem Royal College of Art in London, wegen des Kriegs unterbrechen müssen. Er war durch Frankreich und Italien gereist und ungeheuer belesen. Er lud seine Studenten zu sich ein, bot ihnen Zigaretten an, ließ sie französischen Wein kosten und in sein Badezimmer kübeln. Er riet ihnen, nach London zu gehen, das sei unerlässlich. Mit achtzehn fuhr David zum ersten Mal im Leben in die Hauptstadt, in Begleitung von Freunden, die er beim Kunstunterricht kennengelernt hatte. Sie fuhren über Nacht per Anhalter und erreichten die Hauptstadt bei Tagesanbruch, kauften Tickets für die Circle Line, die immer im Kreis fuhr, und schliefen in der U-Bahn, bis die Museen öffneten. David sah an einem Tag mehr Kunstwerke als in allen vorausgegangenen Jahren zusammen. Er entdeckte Francis Bacon. Dubuffet. Und Picasso. An der Bradford School of Art gab es einen jungen Mann, der Picasso genannt wurde, weil er nicht zeichnen konnte. David schüttelte den Kopf: Die Leute täuschten sich, Picasso konnte sehr wohl zeichnen!

Nach zwei Jahren in Bradford besaß er die Chuzpe, der Leeds Art Gallery zwei Bilder für die zweijährliche Ausstellung von Künstlern aus Yorkshire anzubieten. Schlimmstenfalls würden sie eben abgelehnt werden. Zu seiner Überraschung wurden die Werke angenommen. Man musste also etwas wagen, man durfte nicht zu sehr darauf achten, was den Konventionen entsprach und was nicht. So kam man voran. Einen Preis legte er nicht fest, das wäre zu unverfroren gewesen, schließlich war er noch Schüler. Auf der Vernissage, bei der Sandwiches und Tee serviert wurden, überkam ihn das beglückende Gefühl, dass er sich zu Recht an diesem Ort befand. Er war erst achtzehn Jahre alt und gehörte schon dazu. Er hatte seine Eltern eingeladen, und ihr Stolz auf den Sprössling, dessen Bilder neben denen seiner Lehrer hingen, hob sein Selbstbewusstsein zusätzlich. Kurz nach ihrer Abreise kam ein Mann auf David zu und bot ihm zehn Pfund für das Porträt seines Vaters. Zehn Pfund! Mehr als ein Viertel seines Stipendiums, mit dem er drei Monate auskommen musste, für ein Bild? David klappte schon den Mund auf, um Ja zu sagen, als ihm bewusst wurde, dass die Leinwand nicht ihm gehörte. Bezahlt hatte sie sein Vater, er selbst hatte sie nur bemalt. «Einen Moment!» Er stürzte ans Telefon, um seinen Vater anzurufen, der mit großer Genugtuung vernahm, dass jemand sein Porträt kaufen wollte – trotz des schlammbraunen Farbtons, den sein Sohn gegen seinen ausdrücklichen Rat für das Gesicht verwendet hatte, mit dem Hinweis, auf der Bradford School sei das so üblich. Auch als er die zehn Pfund in der Tasche hatte, konnte David es noch nicht fassen und rief seine Mutter an: «Mama, ich habe Papa verkauft!» Mrs. Hockney prustete los. Zur Feier des Tages lud David seine Freunde am Abend ins Pub ein. Das Vergnügen kostete ihn die astronomische Summe von einem Pfund, aber es blieben immer noch neun Pfund für Farben und Leinwände.

Derek und London hatten seinen Horizont erweitert. Er hatte verstanden, dass man nicht in Bradford bleiben konnte, wenn man Künstler werden wollte. Er musste nach London gehen und an einer Kunsthochschule studieren, die diesen Namenn verdiente. Zwei Sommer in Folge verbrachte er damit, die Straßen von Bradford nach der Natur zu malen. Farben und Pinsel transportierte er in einem Kinderwagen, den sein Vater repariert hatte. Er bat seine Mutter, einen Teil des Hauses als Atelier nutzen zu dürfen. Sie regte sich auf, wenn er den Fußboden mit Farbe bekleckste und seine Farbtuben nicht zudrehte, sie kritisierte seine Nachlässigkeit und seinen mangelnden Respekt vor fremdem Hab und Gut, aber er wusste, dass sie ihn immer unterstützen würde. Sie war auf seiner Seite. Im Frühjahr ’57, er war keine zwanzig, war die Mappe fertig. Er schickte sie ans Londoner Royal College of Art und an eine andere Kunstschule, The Slade, um seine Chancen zu verdoppeln, denn das Royal College nahm nur einen von zehn Bewerbern an. Er wurde zu einem Gespräch eingeladen und fuhr nach London. In der Nacht davor tat er kein Auge zu, denn er wusste sehr wohl, dass er sich in vielen Bereichen nicht auskannte und dass er seinen Rivalen, die im Dunstkreis der Museen aufgewachsen waren, unterlegen war.

Er wurde angenommen.

Bevor er sein Studium beginnen konnte, musste er seinen Militärdienst ableisten. Als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, wie sein Vater, wurde er in der Krankenpflege eingesetzt, zunächst in einer Klinik in Leeds, dann in Hastings, und in den folgenden zwei Jahren kümmerte er sich von morgens bis abends um alte und kranke Menschen, rieb ihre gebrechlichen Körper mit Salbe ein und wusch die Toten. Zum Malen blieb keine Zeit, er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Abends schlief er über der Lektüre von Proust ein, von dem er nicht allzu viel begriff. Doch er würde diese anstrengende, wenig gewürdigte Arbeit nicht sein ganzes Leben lang verrichten müssen und war sich dieses Privilegs sehr bewusst. Das Royal College erwartete ihn.

Und dann konnte er endlich loslegen.

Er lebte in London, besuchte die angesehenste Kunsthochschule von ganz Großbritannien, eine der besten überhaupt. Seine neuen Mitstudenten äußerten sich im Brustton der Überzeugung zu Themen, über die er noch nie nachgedacht hatte. Als einer von ihnen lautstark tönte: «Nach Pollock kann man nicht mehr wie Monet malen!», wurde David rot, als sei von ihm selbst die Rede. Er fand heraus, dass das gegenständliche Malen der Vergangenheit angehörte, dass es antimodern war. Die französischen Maler interessierten die anderen Studenten nicht. Er hätte sich geschämt, ihnen das Porträt seines Vaters zu zeigen, das er vier Jahre zuvor mit so viel Stolz verkauft hatte; es war im Stil der Euston Road School gemalt, erinnerte an französische Künstler wie Vuillard und Bonnard. Neuerdings zählte nur noch die abstrakte Malerei aus den USA – großformatige Gemälde, die nichts darstellten und keine Titel mehr trugen, sondern Ziffern. Auch David hatte natürlich im Winter 1959 in der Tate Gallery die große Ausstellung «The New American Painting» über den amerikanischen abstrakten Expressionismus gesehen und De Kooning, Pollock, Rothko, Sam Francis und Barnett Newman entdeckt. Diese Ausstellung, wie später eine ähnliche in der Whitechapel Gallery, hatte sein Kunstverständnis erschüttert. Man malte zeitgenössisch oder gar nicht.

Was würde er als Erstes malen? Sicher nichts Gegenständliches. Er sprach ohnehin mit einem starken Yorkshire-Akzent und hatte furchtbare Angst, für einen Provinzler, einen Sonntagsmaler gehalten zu werden. Er musste auf sicherem Terrain bleiben, und das bedeutete zeichnen. Ein menschliches Skelett, das in einem der Säle hing, lieferte ihm die nötige Inspiration. Ein Skelett, das war originell. Eine große, sehr detaillierte Zeichnung würde die Qualität seiner Ausbildung im Hinblick auf Anatomie und Perspektive erkennen lassen.

Sein Skelett erfreute sich allgemeiner Aufmerksamkeit. Es wurde als Glanzleistung bezeichnet. Die erste Hürde war überwunden, er hatte sich nicht lächerlich gemacht. Danach war ihm ein wenig wohler. Einer seiner Kommilitonen bot ihm sogar fünf Pfund für die Zeichnung, ein Amerikaner, ein Sohn aus reichem Hause und ehemaliger G.I., der mit einem großzügigen Stipendium der US-Army nach London gekommen war. Man musste schon Amerikaner sein, um für eine Schülerzeichnung fünf Pfund zu berappen! Ron war fünf Jahre älter als er, er war verheiratet und hatte ein Baby. Er wohnte in einem richtigen Haus, im Gegensatz zu David, der sich in dem dynamischen Londoner Künstlerviertel Earls Court ein winziges Zimmer mit einem anderen Studenten teilte. Ron malte langsam und scherte sich wenig um die Meinung der anderen. Seine geistige Unabhängigkeit erinnerte David an den Eigensinn seines Vaters. Sie wurden Freunde. Sie kamen beide früh in die Hochschule, früher als die anderen Studenten, und tranken einen Tee zusammen, bevor sie sich an die Arbeit machten. Sie unterhielten sich über Kunst, über Kunstgeschichte, über die Gegenwartskunst. David wusste schon länger, dass die Maler, die er in Bradford gekannt hatte – und dazu zählten auch seine Lehrer an der School of Art – keine Künstler waren. Endlich verstand er auch warum: Sie stellten sich keine Fragen zu ihrer eigenen Verortung innerhalb der Kunstgeschichte. Man konnte aber kein Künstler sein, ohne sich diese fundamentale Frage zu stellen und darauf eine Antwort zu finden. David hatte nicht mehr viel gemein mit dem naiven jungen Mann, der zufrieden stundenlange Spaziergänge unternahm, einen mit Farben und Pinseln beladenen Kinderwagen vor sich herschob und hie und da stehen blieb und einen Baum oder ein Haus malte. Gegenständliche Kunst war etwas für Plakatmaler und Leute, die Weihnachtskarten gestalteten. Er war dieser Falle um Haaresbreite entgangen, und die neue Atmosphäre, in der er schwelgte, hatte ihm die Augen geöffnet: Von nun an würde er ein Moderner sein. Ron nickte und lächelte.

David hätte glücklich sein müssen. Er hatte alles getan, um an dieser Hochschule angenommen zu werden. Als die Ergebnisse herausgekommen waren, hatte er das Gefühl gehabt, durch ein Nadelöhr geschlüpft zu sein, Zugang zum Paradies erhalten, sich endgültig vor dem Angestelltendasein gerettet zu haben, das seine Brüder, seine Schwester und seine Nachbarn in Bradford fristeten. Während seiner zwei Jahre als Krankenpfleger hatte er von seinem zukünftigen Leben geträumt und sich eine geduldige Erwartungshaltung zugelegt, weil er wusste, dass der Moment der Befreiung nahte, der ihn aus einem Jahrhundert des Schlafs erlösen würde. Nun war er endlich frei, und das lang erahnte, ersehnte, zu guter Letzt sogar greifbar gewordene Glück entglitt ihm. Zum ersten Mal im Leben machte ihm das Malen keine Freude mehr. Er verspürte eine merkwürdige Distanz zu seiner Arbeit, ihm fehlten Energie und Schwung. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vielleicht war er nur ein Hochstapler. Der Amerikaner hörte seinem 22-jährigen Freund zu, der ihm in seiner großen Ratlosigkeit seine Ängste offenbarte. Auch über anderes sprachen sie, über Politik, Literatur, Freundschaft, Liebe und über die vegetarische Ernährung, die David, wie seine Eltern, praktizierte. Durch die täglichen Gespräche mit Ron fühlte er sich zumindest weniger allein.

«Was du malen solltest», sagte Ron eines Tages, «ist das, was für dich zählt. Du musst dir keine Sorgen machen. Du bist zwangsläufig ein Gegenwartskünstler. Du bist es, weil du in deiner Zeit lebst.»

Das war ein interessanter Gedanke. Man musste sich gar nicht erst anstrengen, um der Gegenwart zugerechnet zu werden, man gehörte ihr zwangsläufig an. Rons Figuren sahen in der Tat nicht so aus, als hätten Manet oder Renoir sie gemalt. Auf jeden Fall musste sich etwas ändern. Wenn David die Freude am Malen nicht wiederfand, würde er wie eine alte, vertrocknete Zitrone enden, die auf einer Küchentheke liegen geblieben war … Und eigentlich hatte er gerade Lust, Gemüse zu malen. Niemand konnte ihm vorwerfen, das sei antimodern, denn die runden Formen wirkten mustergültig abstrakt. Danach malte er die Schachtel Typhoo-Tee, aus der er jeden Morgen, wenn er in die Hochschule kam, einen Beutel herausnahm, eine Schachtel, die ihn an seine Mutter erinnerte und mit der er jeden neuen Tag begrüßte. Ihm kam die Idee, neben den Worten «Typhoo Tea» noch hier und da einen Buchstaben oder eine Zahl einzufügen, die den Betrachter zwangen, nahe an das Bild heranzutreten, wenn er sie erkennen wollte. Auf diese Weise schmuggelte er ein wenig Menschlichkeit ins Bild. Die Buchstaben und Zahlen zogen den Betrachter an, statt ihn auf Distanz zu halten wie abstrakte Gemälde.

Rons Atelier in einem der Flure des Colleges grenzte an das eines anderen Studenten, und wenn David ihn nachmittags besuchte, plauderte er auch mit dem Flurnachbarn. Adrian war schwul, der erste offen schwule Mann, den der 22-jährige David kannte. Er wusste seit Langem, dass er Männer liebte, aber von einem aktiven, erfüllten Sexualleben konnte nicht die Rede sein. Es beschränkte sich auf gelegentliche, flüchtige Begegnungen, über die er an den Orten, die er allein aufsuchte, mit niemandem sprach. Einmal zog ihn einer seiner Kommilitonen grinsend zur Seite: «Ich hab’ dich im Pub mit diesem Typen gesehen und ich weiß, was ihr gemacht habt!», und David wurde rot und schrecklich verlegen. Wie peinlich, dass ein unglücklicher Zufall den Mitstudenten in eine entfernte Bar geführt hatte, wo ihn ein Unbekannter befummelte, den er eine Stunde vorher in einem Kino am Leicester Square aufgegabelt hatte. Doch im Nachhinein geriet er über seine eigene Reaktion in Wut: Wäre er auch rot geworden, wenn ihn der Student mit einem Mädchen überrascht hätte? Und hätte dieser sich dann überhaupt zu einem Kommentar veranlasst gefühlt? Was gab dem Kerl das Recht, ihm gegenüber einen so plump vertraulichen, hämischen Ton anzuschlagen? David malte ein Bild, das er Shame nannte und auf dem keine andere Form zu erkennen war als ein erigierter Penis. Wenn er jetzt Adrian zuhörte, der ihm ohne Scheu von seinen homosexuellen Abenteuern berichtete, dachte er: «Genau so will ich leben.» Adrian empfahl ihm die Lyrik des amerikanischen Dichters Walt Whitman, den David bereits kannte, und die Gedichte des griechischen Schriftstellers Konstantinos Kavafis, von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Im Sommer nach seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag las er Whitman und Kavafis. Bücher von Whitman waren leicht aufzutreiben, die von Kavafis nicht. In der Stadtbibliothek von Bradford standen sie nicht im Regal, sie mussten aus einem Sondersaal geholt werden, der sogenannten «Hölle». Als er der Bibliothekarin die Signatur nannte, warf sie ihm einen argwöhnischen Blick zu. Dem verlorenen Sohn, der in London lebte und damit zweifellos dem Verderben anheimgefallen war, war alles zuzutrauen. Sicher würde er das Buch mit einer Hand haltend lesen, während er sich mit der anderen von der erregenden Spannung befreite, die die Lektüre auslöste. Am Ende des Sommers konnte er sich nicht entschließen, das Buch zurückzugeben. Das lag nicht nur an dem Unbehagen, das ihn bei dem Gedanken an ein neuerliches Stirnrunzeln der Bibliothekarin befiel; er konnte sich von Kavafis einfach nicht trennen. Das Buch und er gehörten zusammen.

Der Humor des griechischen Dichters hatte es ihm gleich angetan. Eines seiner Lieblingsgedichte trug den Titel Warten auf die Barbaren, und eine Zeile kehrte immer wieder: «Die Barbaren kommen heute.» Der letzte Vers offenbarte, dass die Barbaren, deren Kommen man so gefürchtet hatte, nun doch fernbleiben würden, und es hieß: «Diese Menschen waren irgendwie doch auch eine Lösung.»