Hoffen und Sterben der Elfriede H. - Jürgen K. Linke - E-Book

Hoffen und Sterben der Elfriede H. E-Book

Jürgen K. Linke

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Beschreibung

Der Chefarzt erkundigt sich nach dem 'Befinden des "Pankreas-Karzinoms von Zimmer 807". "Leider Exitus, Herr Professor", antwortet der Kollege Oberarzt. So endet das Leben der Elfriede H. in der Anonymität der großen Klinik. Ein Leben, das so erfüllt war von Sehnsucht, Hoffnung und immer wieder Enttäuschung. Die Sonate facile hatte die Lehrerin, die jetzt im Ruhestand lebte, das ganze Leben begleitet. Nie hatte sie es geschafft, das Musikstück zu ihrer Zufriedenheit zu spielen. Da geschah eines Nachts etwas Seltsames, Erregendes ... Welches Glück, welche Seligkeit erfüllt Paul, als er von Paula, seiner Mitschülerin in der Gesamtschule, eine Einladung zum Geburtstag erhält. Nun wird er wohl Mut finden, der bewunderten Paula seine Liebe zu gestehen. Aber das Fest wird in einer Katastrophe enden. Das Bild, das der Junge an die Wandtafel gezeichnet hatte, ließ beachtliches Talent erkennen. Keine Frage. Es war ein weiblicher Akt. Das Gesicht wies - für jeden erkennbar - die Gesichtszüge der Lehrerin auf. Die Pädagogin reagiert professionell und intelligent - und kann doch nicht verhindern, dass die Sache ein schlimmes Ende nimmt. Herr M. macht sich an einem Tag des zu Ende gehenden Sommers auf den Weg auf eine alte Bahntrasse. Schon damals, als er mit dem großen Bruder hier entlang gewandert ist, sind keine Züge mehr gefahren. Hier hätte der Bruder seine letzte Ruhe finden sollen, und nicht weit weg in der Fremde ...

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Inhalt

Hoffen und Sterben der Elfriede H.

Sonate facile - ein modernes Märchen

Schwieriger Sommer – Oder: die zweite Legende von Paul und Paula

Das Bild, gelb-orange

Empfindsame Wanderung über eine alte Bahntrasse am Ende des Sommers

Hoffen und Sterben der Elfriede H.

Der Gang des Schamanen hatte etwas Tänzelndes. Dieser Eindruck, den er dem Beobachter vermittelte, war gleichermaßen Anlass zu Spott und Bewunderung in der ganzen Klinik, die zu den größten in der Republik gehörte. Als Chefarzt und Professor hatte er es wahrlich nicht nötig, jugendlicher zu erscheinen, als er wirklich war. Status und seine gemessen am Alter durchaus ansehnliche Erscheinung machten ihn zum Gegenstand heimlicher Wünsche in der Schwesternschaft und zum Ziel bewundernder, zum Teil auch neidischer Seitenblicke der Kollegen. Wer seine Position erreicht hatte, der hatte es geschafft. Der war ganz oben und brauchte sich nicht mehr um soziale Rangplätze zu schlagen.

Auf dem Weg zum Chefarztzimmer kam ihm der diensthabende Arzt, müde vom Nachtdienst, entgegen. Als die beiden nach einem kurzen Gruß fast schon aneinander vorbei waren, wandte sich der Schamane an den Assistenzarzt:

Einen Augenblick, Herr Kollege. Wie geht es dem Pankreas-Karzinom in Zimmer 807? Eine neue Entwicklung? Temporäre Besserung?

Leider Exitus, Herr Professor. Heute früh, gegen vier Uhr. Es war abzusehen.

Bedauerlich, sehr bedauerlich, Herr Kollege. Wir werden dann in der Besprechung heute Nachmittag noch darüber reden.

Das war alles, was dem Chefarzt zum Pankreas- Karzinom in Zimmer 807 einfiel. Das Pankreas- Karzinom, das war Elfriede H., deren Leben in den Morgenstunden dieses Tages, im achten Stock des Klinikneubaus, unspektakulär, undramatisch, eigentlich anonym zu Ende gegangen war. Gegen drei Uhr hatte die Nachtschwester noch nach ihr gesehen. Kein kritischer Zustand, alles wie bisher, es würde wohl noch einige Wochen so gehen mit der Moribunden. Kurz danach schlugen die Apparate Alarm. Niemand konnte mehr helfen. Nach wenigen Minuten erschien ein waagerechter Strich auf dem Monitor, der die Gehirntätigkeit anzeigte. Das war das Ende. Als das Gespräch zwischen den Ärzten stattfand, lag Elfriede schon in der Pathologie. Der Kollege von der Pathologie hatte bereits Interesse angemeldet. Ein Pankreas-Karzinom ist immer interessant. Er würde es in seinem Kolleg verwenden. So könnte Elfriedes verblichener Leib noch von didaktischem Nutzen sein, bevor er für immer der Erde zurückgegeben werden würde.

Die Nachmittagsbesprechung begann wie immer mit Verspätung. Nicht dass der Schamane zu spät gekommen wäre. Aber die Kolleginnen und Kollegen, Oberärztin, Stationsärzte, Oberschwester, schafften es selten pünktlich zu sein. Da war immer noch etwas zu tun. Ein Gespräch mit Angehörigen, noch eine intravenöse Injektion, die dem Mediziner vorbehalten ist, ein Entlassungspapier zur Unterschrift. Von der Kärrnerarbeit hatte sich der Schamane erfolgreich freigeschaufelt. Er saß also immer schon da, wenn die Besprechung losging und nahm jovial die hastig gestammelten Entschuldigungen seiner Mitarbeiter entgegen, wohlwissend, dass sie begründet waren. Es kam selten vor, dass er die Mitarbeiter zurechtwies. Er war eigentlich ein guter Vorgesetzter, der Verantwortung zu delegieren wusste. Und er war sich seiner absoluten Autorität sicher, zumal man ihm im Großen und Ganzen Integrität nicht absprechen konnte.

Das Ritual der Nachmittagsbesprechung lief immer gleich ab. Der Chefarzt – wer sonst - eröffnete die Runde. Die anderen berichteten der Reihe nach. In der Regel berichtete die Oberärztin zuerst. Manchmal aber wurde die Hierarchie auf den Kopf gestellt. Dann durfte die Oberschwester beginnen. Auf diesen Ansatz interner Demokratisierung war der Schamane nicht wenig stolz. In der Tat war das von Bedeutung für das Arbeitsklima im Team. Das spürten alle, die im Raum versammelt waren, ihre Pappbecher mit Kaffee vor sich auf den blanken Tischen. Man schämte sich, einen Kaffeerand zu hinterlassen. Dezent wurden Papiertücher zum Einsatz gebracht, um den Makel unauffällig zu beseitigen.

Was saßen da für Leute, besprachen Neuzugänge in den Krankenzimmern, verzwickte Diagnosen, Personalprobleme, diskutierten über mögliche Therapien, hielten Nachschau auf Todesfälle?

Da war der Schamane, der über allem schwebte und gleichermaßen unabkömmlich war. Da waren die jungen Ärztinnen und Ärzte, denen es bisweilen schwerfiel, der Diskussion zu folgen, wenn sie ihren eigenen Part abgespult hatten und sich entspannt zurücklehnten. Zu viel ging ihnen durch den Kopf. Karriere, Familie, da gibt es so manches, was die Aufmerksamkeit auf sich zog. Man weiß, ein Exitus geht an keinem spurlos vorbei. Auch nicht der von Elfriede H. Aber ist es mehr als die Diagnose, mehr als das Krankheitsbild, das sich den Ärzten einprägt? Mehr als die direkte Todesursache, das Organversagen, das dem Leben ein Ende setzt?

Eine Person war im Raum, für die Elfriede H. nicht nur das Karzinom von Zimmer 807 gewesen war. Sie hatte von der Tochter, mit der sie die schwere Krankheit der Mutter besprochen hatte, Einiges erfahren. Über die letzten Jahre, die die Frau in Einsamkeit verbracht hatte, nachdem ihr Mann – die Kinder waren längst groß und aus dem Hause - sie verlassen hatte. Das Übliche. Er, dem Ruhestand schon nahe, wendet sich einer jüngeren, nicht unattraktiven Frau zu. Wohlwissend, was er seiner Frau antun würde, und dennoch nicht in der Lage und willens, einen anderen Weg zu gehen. So saß Elfriede über Jahre in ihrem Haus, das nicht unkomfortabel war. Materielle Not litt Elfriede wahrlich nicht. Aber die Einsamkeit und die Sehnsucht nagten an ihrem Leben, das dahinfloss, nur ab und an erhellt durch Phasen eines euphorischen Hoffens: ja, es würde alles gut werden. Ihr Mann würde sich eines Besseren besinnen. Dann würde es wieder solche Weihnachten geben wie früher, als die Familie zusammen war und die Kinder klein waren und die Geschenke unter dem Baum sie selig machten. Aber diese Zeit kam nicht. Und jede Phase des Hoffens, wenn sie vergangen war, verdunkelte mehr das Leben der Elfriede H. Es waren wohl auch nicht nur die Gene, die die Krankheit zum Tode hervorbrachten. Man darf annehmen, dass die schweren Jahre ihre Spur hinterlassen hatten. Diese Tragik wird wohl auch die Oberärztin erkannt haben, zumal Situationen dieser oder ähnlicher Art vielfach zu beobachten sind. Wahrlich nicht immer werden Menschen auf steinigem Lebensweg durch ein hohes Alter entschädigt. Auch Elfriede H. nicht. Aber das Hoffen hört nie auf. Kurz vor dem Exitus nennen die Ärzte das prämortale Euphorie.

Die Oberärztin war gefürchtet. Jedenfalls bei den jungen Ärzten in der Ausbildung und bei Studierenden. Denen ließ sie nichts durchgehen. Aber sie hatte Humor und durchaus Sinn für Selbstironie. Sie nannte sich selbst den Unteroffizier vom Dienst. Das war nicht falsch. Sie hielt dem Schamanen den Rücken frei von mancherlei Konflikten und war im Grunde genommen der gute Geist der Abteilung. Das wussten alle. Wenn der Chef in Urlaub war, war das kein Grund zur Beunruhigung. Wenn die Oberärztin fehlte, dann fehlte wirklich jemand. Das spürte jeder, auch die jungen Leute, die sie mit strenger Hand zur Pflichterfüllung und zur Verantwortung gegenüber dem Patienten erzog. Auch die, die sie fürchteten, und gerade die lernten an ihr, was ärztliches Ethos bedeutet. Niemand versagte ihr Achtung und Respekt. Vermutlich war es gerade ihre Schroffheit, die ihr Glaubwürdigkeit verlieh. Da war keine Spur falscher Freundlichkeit. Dafür kantige Gradlinigkeit, auf die man sich verlassen konnte. Manche wunderten sich, dass sie jeden – mit Ausnahme des Schamanen - duzte. Vom Aushilfsgärtner angefangen bis hoch zu ihren medizinischen Kollegen. Jeden sprach sie mit „Kollege“ und „Kollegin“ an; wohlgemerkt nicht „Herr“ Kollege, sondern einfach nur „Kollege“. Das war sie so gewohnt aus der gewerkschaftlichen Arbeit. Sie war ihrer Gewerkschaft, erst ÖTV, dann Verdi, immer treu geblieben. Soweit bekannt war, war sie die Einzige in den Reihen der Ärzte, die nicht einer Standesvertretung, sondern einer handfesten und bodenständigen Gewerkschaft angehörte. Daraus machte sie keinen Hehl; im Gegenteil: sie war stolz darauf.

Sie hatte die fünfzig schon überschritten und war nur wenige Jahre jünger als Elfriede H. Die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Die gewisse Schroffheit ihrer Person spiegelte sich auch im Gesicht wider. Auch gab sie sich wenig Mühe, etwas gegen die Fältchen zu tun, die hier und dort, wenn sie dicht an den Spiegel herantrat, sichtbar wurden. Aber ihre Figur war immer noch die einer jungen Frau. In der Tat war sie nicht unattraktiv. Manchmal hatte sie den Wunsch, ihre blonden Haare, wie es heute junge Frauen tun, offen zu tragen. Das schien ihr aber nicht ihrer Tätigkeit im Krankenhaus angemessen zu sein. Deshalb trug sie ihre Haare zu einer strengen Frisur hochgesteckt. Man darf annehmen, dass so mancher männliche Kollege, egal welchen Alters, in erotischen Phantasien sich vorgestellt hat, die Frisur zu lösen und sein Gesicht in die wallenden Haare zu drücken, gleich dem Knaben, der die Mutter in aufkeimender Libido begehrt.

So war die Oberärztin. Sie hatte in der Tat etwas Mütterlich-Starkes. Ihr Gang war nicht ohne Anmut, zugleich fest und bestimmt. Nichts Tänzelndes wie beim Schamanen. Sie ließ nichts im Unbestimmten. Alles, was sie tat und sagte, hatte feste Konturen, war greifbar und verlässlich, nicht immer bequem für Kolleginnen und Kollegen, das wahrlich nicht. Aber alles war richtig, was sie tat, und das wusste jedermann in der Abteilung und in der ganzen Klinik.

Das Leben hatte sie nicht ohne Blessuren gelassen. Es gab Parallelen zum Schicksal der Elfriede H., die daran zerbrochen war, dass ihr Mann sie verlassen hatte, zu einer Zeit, als beide nicht mehr ganz jung waren. Die Ärztin hatte unmittelbar nach dem Examen geheiratet. Ein junges attraktives Ehepaar begann einen strahlenden Lebensweg. Er, auch Mediziner, hochgewachsen, scharf geschnittene Gesichtszüge, wache, helle Augen, volles braunes Haar. Ein Bild von Mann. Er bereitete seine akademische Karriere vor und nichts sprach dagegen, dass er in absehbarer Zeit an der Spitze einer bedeutenden Klinik tätig sein würde. Ein Leben lag vor den beiden, das sie bisweilen erschauern ließ angesichts einer solchen Fülle von Glück und Zukunft. Das Glück zerbrach jäh, als sie erfuhr, dass sich ihr Mann schon seit geraumer Zeit einer anderen Frau zugewandt hatte. Sie mochte nicht zu begreifen, worin die Faszination der Anderen bestand. Und das machte ihren Schmerz aus. Sie fühlte sich ins Mark getroffen, in ihrem Selbstgefühl zutiefst verletzt, hilflos und von einem Augenblick auf den anderen ohne Zukunft, von der Höhe eines wunderbaren, fast schon unverschämt privilegierten Lebens herabgestoßen in die Tiefe der Hoffnungslosigkeit. Jede Verrichtung, die früher leicht von der Hand gegangen war, zog sie wie Blei herab. Die Dinge verloren ihre Bedeutung. Vieles, woran sie Freude gehabt hatte, war auf einmal lästig und wurde beiseite geschoben. So hatte sich das Leben plötzlich und unvorhergesehen verändert. Sie klammerte sich zunächst an die Hoffnung, ihr Mann werde zurückkehren. Eine Affäre mit einer jüngeren, die bald vergessen sein würde. Aber dem war nicht so. Ihr Mann erklärte schon bald, dass er einfach nicht mehr mit ihr zusammenleben könne. Er wolle die Scheidung, um auf Dauer eine neue Beziehung einzugehen.

Es dauerte seine Zeit, bis der schlimmste Schmerz überwunden war. Dann aber begann ein anderer Prozess als bei Elfriede H. Bei ihr, bei der Ärztin, begann ein Prozess der Befreiung. Zögerlich erst, immer wieder unterbrochen durch Phasen tiefster Depression. Die eiserne Klammer, die die Brust umschlossen hielt, löste sich aber mehr von Mal zu Mal und sie wurde weniger eng, wenn die Trauer zurückkam. Solange, bis ein tiefes Durchatmen ihr die volle Freiheit des Entscheidens und des Handelns zurückgegeben hatte. Das mag so ein Jahr gegangen sein. Parallel zu diesem Prozess bemerkte sie, nicht ohne einen - wenn auch schwachen - Anflug von Amüsiertheit, wie das Bild ihres Mannes in ihrem Bewussten schrumpfte. War es am Anfang ihrer Trauerarbeit noch überlebensgroß und allgegenwärtig gewesen, rückte es immer mehr an den Rand ihres Denkens und Fühlens, wurde kleiner und kleiner, bis es keinen Schmerz mehr auslöste. Sie gönnte sich schließlich eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer. Sie stand an Deck, bei scharfem Wind, der ihr durch die Haare fuhr, so dass sie immer wieder die Strähnen aus dem Gesicht streichen musste. Da hatte sie plötzlich und spontan den Satz formuliert, der zum Inbegriff ihres Befreiungsaktes werden sollte. Es waren nur vier Wörter, eigentlich gar kein Satz. Mehr ein Ausruf, jedoch ausdrucksstark und treffend: „Was für ein Zwerg!“ Das war das Wort, das am Ende dieses schmerzhaften Befreiungsprozesses und am Anfang eines neuen Lebens stand. Sie brach in ein Lachen aus, das nicht enden wollte. Es war eine Lust zu leben.

Elfriede H. hatte nicht das Glück, aus einem schmerzhaften Prozess gestärkt hervorzugehen. Sie zerbrach an ihrem Schmerz. Die Entwicklung war gegenläufig zu der der Ärztin. Das Bild des geliebten Mannes schrumpfte nicht im Laufe der Zeit bis hin zur Bedeutungslosigkeit, es wurde größer und größer. Immer stärker wurde in ihr die Überzeugung, ohne ihren Mann nicht mehr leben zu können. Am Anfang gab es noch Gelegenheiten, sich zu sehen. Da war die gemeinsame Steuererklärung. Manche Sachen mussten von einer Wohnung in die andere gebracht werden. Man stritt sich über Bücher, die dem einen wie dem anderen am Herzen lagen. Aber irgendwann war alles geregelt, zumal der Mann Vieles der Frau überließ, was sich nicht in sein neues Leben einpassen wollte. Er wollte die alten Bilderalben nicht mehr. Er wollte neue Bilder machen. So wurden die Kontakte, die der Abwicklung einer langen Beziehung dienten, weniger und weniger. Jedes dieser Treffen bedeutete für Elfriede ein Fünkchen Hoffnung, für den Mann waren sie lästig und er fand schließlich Wege, sie ganz zu unterbinden.

Es war Herbst, als für Elfriede die Katastrophe hereingebrochen war. Die feuchten Blätter bildeten einen Teppich auf dem Rasen ihres Gartens. Sie nutzte die kürzer werdenden Tage, um der Blättermassen Herr zu werden. Und sie war ganz froh, dass sie etwas zu tun hatte. Es war auch gut, dass sie noch im Beruf stand. Da gab es Pflichten, denen man sich nicht entziehen konnte. Manchmal setzte nach der Arbeit eine wohltuende Entspannung ein. Das tat gut und half ein Stück weiter. Es gab Tage, an denen sie bis zur Erschöpfung arbeitete. Im Garten, im Haus aber auch in der Schule, in der sie schon lange tätig war. Sie arbeitete gern mit den Kindern, das Verhältnis zu ihren Kolleginnen und Kollegen indes war nicht ohne Spannung. Sie spürte, dass sie einer anderen Generation angehörte. Und eigentlich war sie nie so ganz in dieser Republik angekommen. Ihre besten Jahre, wie sie meinte, hatte sie in ihrer Heimat im Osten verbracht. Diese Heimat gab es schon lange nicht mehr. Zwar konnte man wieder dort hinreisen, wo sich nach dem Großen Krieg schlimme Szenen der Vertreibung und der Demütigung abgespielt hatten. Aber man war eben Tourist, gern gesehen wohl, weil man Devisen ins Land brachte. Aber nicht mehr als Bürgerin des Landes, nicht mehr als Angehöriger eine angesehenen und einflussreichen Familie. Ja, damals war man wer. Vater war Fabrikant für Drahtbügel gewesen. Die hatten ihre Bedeutung in Friedenszeiten, nicht minder in der Zeit, als der Große Diktator für den Krieg rüstete. Drahtbügel, die brauchte man in zahllosen Kleiderspinden von Soldaten, Arbeitsdienstmännern, Hitlerjungen, Jungmädelführerinnen und was an gesellschaftsprägenden Gruppierungen sonst noch so alles marschierte, Fahnen vorantrug und erhebende Lieder sang, von der schwarzbraunen Haselnuss, dem Westerwald mit dem kalten Wind und, wenn es ganz unappetitlich wurde, auch von morschen Knochen, die angeblich erzitterten, denn heute gehörte den braunen Horden Deutschland und morgen die ganze Welt. So war das damals. Vater war kein PG. Aber er profitierte vom Drahtbügelgeschäft und vergaß daher ziemlich schnell, dass man im März 33 den Sanitätsrat Lewin mit zertrümmertem Schädel aus dem Wasser gezogen hatte. Er war ein guter Arzt gewesen und hatte sicher nichts getan, was eine Gewalttat dieser Dimension auch nur ansatzweise erklärt hätte. Aber so waren die Zeiten: hart, aber einträglich. Es reichte bald für einen geräumigen DKW mit Schiebeverdeck.

Wie stolz war Elfriede, als sie zum ersten Mal mit dem Auto durch den Ort fuhr. Ein eigenes Auto zu haben, das war schon was damals. Und es war nicht der einzige Triumph, der ihr vergönnt war. Sie wurde BDM-Führerin und durfte nun ihre Mädelschaft – so sagte man damals - kommandieren. Das tat sie nicht ohne Geschick. Mit Stolz, das schon, aber alles mit Maß. Weder schikanierte sie ihre Mädchen, noch erfüllte ihre neue Aufgabe sie mit überquellender Lust an der Macht. Wohl aber genoss sie die Bedeutung und das Ansehen, die mit der Funktion verbunden waren. Und sie stieg weiter auf in der Hierarchie der braunen Herren. Sie wurde stellvertretende Lagerleiterin bei den Arbeitsmaiden, dem Gegenstück zum Reichsarbeitsdienst, der den jungen Männern vorbehalten war. Und schließlich landete ein Bild von ihr sogar in einem Propagandaband, der junge Mädchen zum Eintritt in den Dienst animieren sollte. „Arbeitsmaiden im Warthegau“, so hieß das Werk, das im ganzen Altreich, in der Ostmark und in den besetzten Gebieten Verbreitung fand. Das war der absolute Höhepunkt ihrer Karriere. Das Schicksal wollte es, dass sie just an dem Tage den druckfrischen Band auf ihrem Schreibtisch hatte, als im Nebenort ein junger Pole, ein ehemaliger Student, hingerichtet wurde, weil er mit einem der Mädchen aus dem Lager „Blutschande’“ getrieben hatte. Das wird sie nicht kalt gelassen haben, geschweige denn, sie mit Befriedigung erfüllt haben. Sie hatte in der Tat versucht, den jungen Mann vor dem Strick zu bewahren. Das gelang in dem Irrwitz der damaligen Zeit nicht. Aber immerhin! So rechte Freude an dem Buch wollte nicht aufkommen.