Hoffmanns Tode - Urs W. Käser - E-Book

Hoffmanns Tode E-Book

Urs W. Käser

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Beschreibung

Im Luxushotel Castor im wunderschönen Zermatt treffen sich befreundete Familien zum alljährlichen Urlaub. Die heile Welt gerät aber bald aus den Fugen, als sich kurz nacheinander zwei mysteriöse Todesfälle ereignen. Die örtliche Polizei ist überfordert. Erst als sich eine Kriminalkommissarin aus Brig einschaltet, kommt nach und nach Abgründiges zutage...

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Seitenzahl: 254

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Inhaltsverzeichnis

Dienstag, 14. August 2012

Sonntag, 12. August 2012

Dienstag, 14. August 2012

Montag, 13. August 2012

Dienstag, 14. August 2012

Mittwoch, 15. August 2012

Donnerstag, 16. August 2012

Freitag, 17. August 2012

Samstag, 18. August 2012

Sonntag, 19. August 2012

Montag, 20. August 2012

Dienstag, 21. August 2012

Mittwoch, 22. August 2012

Donnerstag, 23. August 2012

Freitag, 24. August 2012

Samstag, 25. August 2012

Dienstag, 14. August 2012

»Es ist jetzt genau acht Uhr, guten Morgen, Sie hören die neuesten Nachrichten von Radio Oberwallis, am Mikrophon sitzt Raphael Imstepf.

Wie soeben unsere Korrespondentin gemeldet hat, war die Bar des Hotels Castor in Zermatt Schauplatz dramatischer Momente. Um Mitternacht starb ein Tourist an einem vergifteten Getränk. Vor den Augen von über fünfzig Barbesuchern kippte er um, und eine befreundete Ärztin konnte nur noch seinen Tod feststellen.

Unterdessen konnte bestätigt werden, dass es sich bei dem Gift um Zyankali handelt. Die Zermatter Polizei hat mit den Ermittlungen begonnen ... «

Sonntag, 12. August 2012

Auf dem Bahnhofplatz angekommen, stellten sie das Gepäck neben sich ab und blickten, wie auf geheimen Befehl, gleichzeitig alle in dieselbe Richtung. »Es ist jedes Jahr wieder ein neues Wunder … «, schwärmte Maria Maier, und alle anderen pflichteten ihr bei.

Hinter den Häusern, an der südlichen Seite des Bahnhofplatzes, da stand es, ragte wie ein riesiger Eckzahn in den blauen Himmel. Eine Pyramide göttlicher Dimension, eine Inkarnation des Schönen schlechthin, unglaublich steil, unglaublich hoch, der frische Schnee im Gipfelbereich glitzerte im Sonnenlicht, die bereits wieder schneefreien Felsen der Ostwand schimmerten feucht, während sich die Nordwand eisstarrend im Schatten verlor. Ein beinahe magisches Wort: Das Matterhorn!

»Familie Maier zum Hotel Castor? «, fragte der Portier in dunkelblauer Uniform, der unvermittelt neben ihnen aufgetaucht war.

»Oh, wie nett, man wird immer noch abgeholt«, freute sich Max Maier, und der Portier begann, die zehn Gepäckstücke auf der Ladefläche des Elektromobils zu verstauen. Mindestens ein Dutzend weitere solche Fahrzeuge, die meisten mit Hotelschild, standen auf dem Platz.

»Schaut mal dort drüben!«, rief Tochter Monika Maier, »das Mont Cervin Palace hält weiterhin an seiner Tradition fest!«

Soeben kam eine zweispännige Pferdekutsche auf den Platz gefahren. Die Pferde wussten den richtigen Weg von selbst und reihten sich brav und exakt neben die Elektromobile ein, während der Kutscher nach Hotelgästen ausschaute. Der Kutschenwagen war auffallend gross, knallrot angestrichen und hatte auf jeder Seite drei Fenster. Oberhalb derselben prangte der Schriftzug Seiler‘s Hotel – Mont Cervin.

»Na ja, ist ja ganz hübsch nostalgisch«, meinte Sohn Martin Maier, »aber wir brauchen nicht gerade ein Fünfsternhotel. Unser gutes Castor mit seinen vier Sternen passt uns doch bestens, nicht wahr?«

Vater Max war derselben Meinung. »Absolut. Mit seinem perfekten Service würde ich ihm sogar viereinhalb Sternchen geben.«

Der Portier gab Gas, und mit seinem charakteristischen Surren des Elektromotors zwängte sich das Fahrzeug zwischen den vielen Touristen die enge Dorfstrasse hoch.

»Herzlich willkommen zu Ihrem wohlverdienten Urlaub!« Anna Aufdenblatten, Chefin der Rezeption, stand in der Eingangstüre des Hotels Castor und schüttelte den neu Angekommenen die Hand.

»Uns vier Maiers kennen Sie ja schon ewig lange«, sagte Vater Max zu ihr, »aber dieses Jahr ist auch noch Rolf Reimer mitgekommen, der Freund unserer Tochter Monika.«

»Sehr erfreut«, erwiderte Anna. In diesem Moment kam von rechts der Hoteldirektor Bruno Biner mit schnellen Schritten herbei.

»Hallo, meine Lieben, seid willkommen! Jetzt hätte ich ja beinahe eure Ankunft verpasst! Unser schönes Hotel Castor steht noch, wie ihr seht, und ist innen und aussen zum Wohl unserer lieben Stammgäste frisch verputzt worden. Aber jetzt kommt herein und macht es euch bequem.» Er winkte einen Bediensteten herbei. «Giuseppe, du bringst bitte das Gepäck der Herrschaften auf ihre Zimmer. Darf ich euch einen Kaffee im Wintergarten offerieren? Ich seid sicher müde von der langen Reise.«

Die grosse, alte Standuhr, die sich gegenüber der Rezeption befand, schlug soeben mit dumpfem Ton die dritte Nachmittagsstunde.

»Sehr gerne«, antwortete Max Maier, »in der Tat sind wir ziemlich geschafft.«

»Also kommt. Und, Belinda, bitte sechs Tassen Kaffee in den Wintergarten!« Belinda, seine Tochter, nickte beflissen.

Als Prunkstück des Hauses war der grosse Wintergarten vor sechs Jahren an der Westfassade angebaut worden. Er mass fast sechzig Quadratmeter und war auf drei Seiten von mächtigen Schiebefenstern begrenzt, die jetzt offen standen. Auf dem riesigen Glasdach hatte man eine automatische Markise montiert, die bei Bedarf Schatten spendete.

Ein Dutzend Tischchen mit je vier Korbstühlen lud zum Verweilen ein. In sechs grossen Kübeln standen jeweils unterschiedliche, rund drei Meter hohe, palmenähnliche Grünpflanzen und sorgten für die echte Wintergarten-Atmosphäre.

Hoteldirektor Biner holte zwei zusätzliche Stühle, so dass alle sechs bequem an einem Tisch Platz nehmen konnten. Dann sagte er, beinahe feierlich:

»Nun, das freut mich sehr, dass es wieder geklappt hat. Wenn ich richtig gerechnet habe, kommen Sie jetzt den zwanzigsten Sommer nach Zermatt ins Castor, ein kleines Jubiläum. Und wie ich Ihnen ansehe, sind alle gesund und munter!«

Max Maier nickte. »Ja, Gott sei Dank geht es uns allen gut, und wir freuen uns riesig auf den Urlaub.«

Max Maier war dreiundsechzig Jahre alt, eher gross und hatte einen leichten Bauchansatz. Sein schwarzes Haupthaar war mässig gelichtet, sein Gesicht rundlich und etwas fett. Er führte in München ein erfolgreiches Geschäft im Lebensmittelhandel.

›Aber eigentlich‹, dachte Direktor Biner, ›sieht er wie ein typischer Lehrer aus‹.

Seine Frau Maria befand sich im gleichen Alter wie ihr Mann, war aber fast zwei Köpfe kleiner und dazu ziemlich schlank, hatte kurze graue Haare, trug eine Brille mit runden Gläsern und kleidete sich eher bieder. Sie gab Privatunterricht in Englisch und sah, wie Direktor Biner dachte, tatsächlich wie eine Lehrerin aus.

›Und Sohn Martin‹, überlegte Biner, ›aus dem werde ich am wenigsten klug! Hat Germanistik studiert und sogar doktoriert, aber was macht er jetzt? Angeblich Kriminalromane schreiben, aber dabei kann bis jetzt noch nicht viel herausgekommen sein. Hat er eine Anstellung? Wäre mit dem reichen Vater nicht mal nötig … Eine Freundin? Er sieht ja eigentlich nicht schlecht aus, mit seinem Schnurrbart und dem erst ganz wenig gelichteten dunklen Kopfhaar. Aber manchmal habe ich das Gefühl, er fresse etwas in sich hinein.

Tochter Monika hingegen ist ganz anders, steht mit beiden Beinen im Leben. Sie müsste jetzt knapp dreissig sein, ist gross und eher robust, mit dunklem Teint und ebensolchen langen Haaren, arbeitet als Assistenzärztin in einem Krankenhaus.

Was wohl ihr Freund Rolf Reimer von Beruf ist? Gross, schlaksig, lange, aber gepflegte Haare. Vielleicht Informatiker?‹ Direktor Biner schaute seine Gäste intensiv, aber unaufdringlich an.

»Nun wünsche ich Ihnen einen erholsamen und sonnigen Urlaub.« Maiers bedankten sich und Biner ging zurück in sein Büro.

›Eigentlich erstaunlich‹, dachte er sich, ›diese Maiers aus München und Hoffmanns aus Hamburg. Begonnen hat es damals als jährlich wiederkehrender Familienurlaub mit den schulpflichtigen Kindern, und jetzt, wo die Kinder um die dreissig sind, fahren diese immer noch mit den Eltern hierher zum Urlaub. Tolle Sache ‹

Maria Maier schaute sich im Wintergarten um. »Ob wohl die Hoffmanns schon angekommen sind?«

»Wohl kaum!«, erwiderte Sohn Martin, »von Hamburg aus fährt man ja fast doppelt so lange wie wir von München aus.«

Maria stutzte. »Aber das sind ja …!«, rief sie und wandte sich dem Tisch an der linken Ecke zu.

»Ja genau«, tönte es lachend von dort zurück, »wir sind es tatsächlich!«

»Kommt mal her«, rief Maria, »unsere Freunde aus Basel sind auch da!«

Barbara und Benno Braun erhoben sich, gingen Maiers entgegen und umarmten sie nacheinander. »Oh, Familienzuwachs?«, scherzte Benno.

Maria erwiderte lächelnd: »Ja, sozusagen … äh … unser vielleicht zukünftiger Schwiegersohn, Rolf Reimer. Und wie geht es euch? Gut schaut ihr aus!«

»Kein Wunder«, sagte Barbara Braun, »nach einer Woche Zermatt fühlt man sich schon wie neugeboren.«

Ihr Mann Benno nickte eifrig dazu. »So ist es! Wie nennt man uns Alte heute in Neudeutsch: Jungsenioren?«

Alle lachten. Barbara und Benno Braun verbrachten seit sechsundzwanzig Jahren jeden Sommer mindestens drei Wochen im Castor. Benno hatte bis vor sieben Jahren eine gutgehende Apotheke in der Basler Innenstadt geführt. Jetzt war er zweiundsiebzig, wirkte aber deutlich jünger. Der schmale Haarkranz um die Glatze herum war immer noch beinahe schwarz, sein Gesicht mit der markanten Hakennase braungebrannt. Dunkelbraune Augen blickten unter den ziemlich buschigen Brauen klug und interessiert umher, sein schlanker, langer Körper wirkte drahtig und voller Energie.

Seine Ehefrau Barbara war fünf Jahre jünger als er und ebenfalls noch voller Elan und Lebensfreude. Obwohl mittelgross, wirkte sie neben Benno eher klein. Ihre diskret blond gefärbten Haare fielen ihr nicht ganz bis zu den Schultern, den Blickfang in ihrem Gesicht bildeten eindeutig die leuchtend blauen Augen. Nase, Mund und Kinn waren wohlproportioniert und hübsch. Da die Brauns keine Kinder bekommen hatten, war Barbara immer vollzeitig als Grundstufenlehrerin tätig gewesen.

›Oh, das muss früher einmal eine bildhübsche Schönheit gewesen sein‹, dachte Rolf Reimer und betrachtete Barbara ziemlich lange.

»Ja, wer ist denn da noch mitgekommen?« Monika Maier schlenderte zum Tisch von Brauns und beugte sich hinunter. »Blacky, kennst du mich noch?«

Eine schwarz-weisse Hundeschnauze wurde sichtbar und schnupperte vorsichtig um Monikas Hand herum. Jetzt war der Groschen gefallen! Blacky erhob sich, wedelte heftig mit dem Schwanz und liess sich von Monika am Ohr kraulen.

Nun hatte der Hund auch die anderen Familienmitglieder bemerkt und näherte sich ihnen, immer noch streng wedelnd. Um Rolf Reimer machte er zunächst einen Bogen, und erst als Monika Rolfs Hand nahm und sich Blacky langsam näherte, wurde auch Rolf als Rudelmitglied akzeptiert.

»Verzeihung … ich kenne mich mit Hunden überhaupt nicht aus! Welche Rasse ist das?«, fragte Rolf.

»Ein Appenzeller Sennenhund-Rüde«, erwiderte Benno Braun, »er ist nun seit zehn Jahren bei uns und mittlerweile etwas altersschwach. Aber unsere kleinen, äh, Jungsenioren-Wanderungen macht er noch brav mit.«

Gelächter. Seine Frau Barbara umfasste mit beiden Händen zärtlich den Kopf des Hundes. »Unser braver Blacky hat schon so manches mitgemacht. Ja, ich weiss, bald ist‘s Zeit zum Fressen. Wisst ihr, während des Abendessens muss er dann im Zimmer bleiben, sonst haben wir und die Kellner keine Ruhe!«

»Also dann, bis später!«, verabschiedete sich Maria Maier und kehrte wieder zu ihrem Tisch zurück.

Martin Maier rührte Zucker in seinen zweiten Kaffee und fragte: »Welche Zimmer haben wir eigentlich bekommen, Papa? Dieselben wie letztes Jahr?«

»Selbstverständlich, mein Sohn! Dieselben – und die besten! Als Uralt-Stammgast kann ich das bequem steuern. Du beziehst das Westzimmer mit den Wänden in Blau, Monika und Rolf erhalten das Südzimmer in Lachsrosa, und wir beide logieren nebendran im Blassgelben. Natürlich haben alle ihren eigenen Balkon. Rolf wird staunen über den Luxus in unserer Residenz.«

Rolf blickte auf und nickte. »Allerdings, schon die Eingangshalle und der Wintergarten liegen meilenhoch über dem Niveau, das ich mir gewohnt bin. Ich trau mich fast nicht, in unser Zimmer zu gehen.«

»Jetzt übertreib mal nicht!«, meinte Monika und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. ›Eigentlich‹, dachte sie, ›sieht Rolf immer noch wie ein Student aus: Lang und schlaksig, mit Lausbubengesicht, die schulterlangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Dabei ist er einunddreissig, hat seinen Doktor in Physik und forscht jetzt an irgendwelchen unverständlichen Formeln herum. Ach, wie sehr liebe ich ihn so, wie er ist! Aber es stimmt schon, so bescheiden, wie er aufgewachsen ist, hat er bisher allerhöchstens ein Dreisternhotel von innen gesehen. Ich mit meinem doch ziemlich reichen Papa hingegen … ‹

Maria Maier hatte ihren Kaffee ausgetrunken und erhob sich. »So, ich gehe jetzt in unser blassgelbes Zimmer hinauf, packe aus und lege mich vor dem Abendessen noch etwas hin.«

Zwei Stunden später hatten sie im Speisesaal Platz genommen. »Guten Abend, die Herrschaften Maier! Küss‘ die Hand, gnädige Frau. Freue mich, dass Sie einmal mehr bei uns zu Gast sind! Gut gereist, Zimmer in Ordnung, Appetit auf unser Abendmenu?«

Zeno Zurbriggen, seit vielen Jahren Chef de Service im Castor, schüttelte allen die Hand. Er hatte buchstäblich immer die Übersicht im Speisesaal, war er doch fast zwei Meter gross. Als einfacher Bauernbub im Nachbartal aufgewachsen, hatte er sich mit Fleiss, Freundlichkeit, unbeirrter Beharrlichkeit und tadellosem Auftreten nach und nach hochgearbeitet. Er musste weit jenseits der Vierzig sein, gab aber in seinem schwarzen Anzug mit weissem Hemd und schwarzer Fliege immer noch eine jugendliche Erscheinung ab.

»Alles bestens, wie immer«, antwortete Vater Max Maier, »wir freuen uns sehr auf unseren Urlaub – und speziell auf Ihren tollen Service. Ach, wissen Sie übrigens, ob die Hoffmanns noch heute eintreffen werden?«

»Da muss ich beim Chef nachfragen. Geniesst einstweilen schon mal unsere leckere Vorspeise.« Zeno gab einem der Kellner einen Wink und entfernte sich.

»Unglaublich, was da alles auf den Tisch kommt!«, meinte Rolf Reimer, als er seinen Teller erhielt. »Vier Sorten Fischfilet, Muscheln, ein Häufchen Kaviar, Meerrettichschaum, diverses Grünzeug und dazu knuspriges Toastbrot – und das alles nennt sich erst Vorspeise!«

Seine Freundin Monika flüsterte ihm ins Ohr: »Pass auf, ich weiss schon, was Papa jetzt gleich sagen wird … «

Max Maier räusperte sich, schluckte ein erstes Stück Fisch hinunter und meinte: »Auf jeden Fall essen wir heute mit diesem Fisch genügend von den gesunden Omega-3-Fettsäuren, haha!«

Monika konnte sich nicht halten und prustete los. »Was habe ich gesagt …?« Ihr Vater blickte sie nur verständnislos an.

Plötzlich verstummte Monika, da sie bemerkte, dass Direktorin Brigitte Biner auf ihren Tisch zusteuerte.

›Eigentlich interessant‹, ging ihr durch den Kopf, ›dieses Direktorenpaar. Von weitem wirken sie total unscheinbar und bieder. Beide ziemlich klein, wohl gut fünfzigjährig, weder dünn noch dick, immer langweilig gekleidet, er mit Bürstenhaarschnitt und Brille, sie mit kurzen grauen Haaren. Aber von nahem … da haben sie’s drauf! Bei der Leitung eines grossen Hotels kann ihnen wohl kaum jemand das Wasser reichen. Freundlich, aber bestimmt, wird das Personal geführt, und immer klappt alles wie am Schnürchen.‹

»Guten Abend, Frau Direktorin!«, rief Max Maier als Erster.

»Ach was, Direktorin … ich heisse immer noch Frau Biner! Auch in meinem Namen seid herzlich willkommen in unserer schönen Bergwelt! Von den Hoffmanns habe ich soeben eine Nachricht erhalten. Sie hatten bedauerlicherweise bei Karlsruhe eine Panne und werden erst gegen Mitternacht hier eintreffen.

Hat übrigens die Vorspeise geschmeckt? Ja? Dann lassen wir jetzt Zeno die Regie führen für die weiteren Gänge … «

Nach einer Boullion wurde als Hauptgang ein Entrecote mit Pommes frites und gemischtem Gemüse serviert. »Toll«, kommentierte Maria, »den ganzen Tag im Auto sitzen und dann so ein üppiges Essen, das kann ja heiter werden!«

Martin steckte sich genüsslich ein Stück des zarten Fleisches in den Mund und meinte pragmatisch: »Sieh‘ es doch von der anderen Seite her an, Mama. Wir geniessen jetzt unser Essen und haben danach den ganzen Urlaub Zeit, die Kalorien auf dem Tennisplatz wieder abzuarbeiten.«

»Sehr gute Idee«, lachte Max und klopfte seinem Sohn auf die Schulter.

…Darauf beugte sich Rolf zu Monika hin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte stumm, worauf Rolf das Wort ergriff.

»Liebe Maria, lieber Max, es ist mir ein grosses Anliegen, euch einmal von ganzem Herzen zu danken. Noch ist kein Jahr vergangen, seit ich Monika kennenlernen durfte, und schon jetzt fühle ich mich wunderbar aufgehoben im Kreise der Familie Maier und darf heuer sogar beim traditionellen Sommerurlaub in Zermatt dabei sein. Vielen Dank für alles!«

Maria war ganz gerührt von Rolfs Worten und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Max drückte ihm kräftig die Hand und sagte: »Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie schön es ist, willkommen zu sein. Maria, darf ich es erzählen?« Maria nickte, und Max fuhr fort:

»Aufgewachsen bin ich damals in einem winzigen Dorf in Oberbayern. Wir waren sieben Kinder, und in den fünfziger Jahren lebte man noch sehr bescheiden. Auf Empfehlung des Lehrers durfte ich, als einziger im Dorf, das Gymnasium im nächsten Städtchen besuchen. Ich lernte gerne und brachte immer anständige Noten nach Hause. Deshalb bot man mir ein Stipendium für die Universität an. Natürlich wählte ich München für mein Studium der Betriebswirtschaft.

Was man sich heutzutage nicht mehr vorstellen kann: Da reiste ich, als Neunzehnjähriger, zum ersten Mal im Leben in eine grosse Stadt! Das Stipendium fiel damals natürlich bescheiden aus, und die wenigen billigen Studentenhäuser, die es gab, waren voll belegt. So suchte ich mir ein Zimmer bei einer ›Schlummermutter‹.

Am ersten Ort gefiel es mir nicht besonders, ich fühlte mich im ersten Semester auch ziemlich verlassen in der grossen Stadt. Aber bei der zweiten Zimmersuche zog ich tatsächlich das grosse Los!«

Maria lächelte und schickte ihrem Mann einen Handkuss.

»Frau Strauss war die beste Schlummermutter, die man sich vorstellen kann. Sie war Witwe, und drei ihrer vier Kinder wohnten noch bei ihr zuhause. Buchstäblich vom allerersten Tag an kam ich mir bei Straussens als Familienmitglied vor, ich gehörte einfach dazu und fühlte mich aufgehoben. Den Rest der Geschichte kann man sich jetzt selbst zusammenreimen … «

»Klar«, bestätigte Rolf, »offen ist aber noch, welches dieser Kinder die Maria ist.«

»Genau. Maria, die ältere Tochter, war damals zwanzig, wie ich, und hatte ein Studium in Geschichte, Englisch und Philosophie begonnen. Zu Beginn mochten wir uns gar nicht so besonders. Ständig neckten wir einander mit unseren Studienfächern, manchmal sogar ziemlich bösartig. Nicht, Maria?

Für mich war Wirtschaft das einzig vernünftige Fach, ich wollte schliesslich bald eine Firma aufziehen und beruflich weiterkommen. Geschichte, Englisch und dann erst noch Philosophie? Da konnte man im besten Fall Lehrerin werden … Maria sah das selbstverständlich genau umgekehrt! Jedenfalls, das Sprichwort Was sich neckt, das liebt sich erwies sich erst nach mehreren Jahren als gültig. Aber von da an hat’s gehalten!«

»Eine schöne Geschichte, die könnte ich tausend Mal hören, Papa«, meinte Monika schwärmerisch.

Dienstag, 14. August 2012

»Es ist zwanzig Uhr, Sie hören die Kurznachrichten von Radio Oberwallis, am Mikrophon Raphael Imstepf. Zum zweiten Mal am heutigen Tag erreicht uns aus dem Hotel Castor in Zermatt eine schlechte Nachricht.

Am frühen Abend wurde eine Touristin tot in ihrem Zimmer aufgefunden. Wie ein im Hotel anwesender Arzt bestätigt, gibt es zurzeit keine plausible Erklärung für diesen Todesfall.

Auch zum Vergiftungsfall von letzter Nacht liegen keine neuen Erkenntnisse vor. Die Ermittlungen der Zermatter Polizei gehen weiter … «

Montag, 13. August 2012

Punkt sieben Uhr kam Martin Maier herunter. Der Speisesaal war noch vollkommen leer, aber das grosse Frühstücksbuffet stand schon bereit. Martin bediente sich ausgiebig und setzte sich dann an einen Sechsertisch. Notizbuch und Bleistift legte er griffbereit neben seinen Teller. Frühmorgens allein am Tisch, kamen ihm oft die besten Ideen, und die wollte er sich sofort notieren können. Langsam trank er die erste Tasse Kaffee und geriet dabei wie üblich ins Grübeln. Bilder aus der Vergangenheit tauchten auf. Die Studienzeit in München.

›Ja, damals habe ich noch geglaubt, das Leben sei einfach! Bequem im Hotel Mama eingenistet, jeden Tag ein paar Vorlesungen Germanistik an der Uni, ab und zu eine Seminararbeit schreiben oder ein Referat halten. Abends Literaturstudium zuhause, samstags mit Kollegen im Ausgang, rasch wechselnde Freundinnen; eben das Leben im Jetzt, ohne grossartig Gedanken daran zu verschwenden, wie es später einmal werden soll.

Dann der grosse Sprung nach Hamburg, zum Doktorat bei Professor Klein. Auch dort winkte mir eigentlich ein sorgloses Leben. Eigene Wohnung, neuer Freundeskreis und vor allem die legendären Partys bei den Hoffmanns zuhause – da ging jedes Mal die Post ab!

Ich kannte die Hoffmanns ja von Zermatt her, und sie freuten sich, als ich an die Uni Hamburg wechselte. Von Beginn weg war ich regelmässiger Gast auf ihren Partys. Hilde und Horst könnten meine Eltern sein, benahmen sich aber immer so locker und ungezwungen wie wir Studenten. Welch ein Gegensatz zu meinen eigenen Eltern! Die sind ja völlig in Ordnung, aber einfach allzu bürgerlich-konservativ.

Na ja, Hoffmanns Sohn Heinz mochte ich von Anfang an überhaupt nicht, der war schon als Gymnasiast so ein eingebildeter Schnösel. Am liebsten hört der sich selbst sprechen! Dass er später Jurist wurde, passt daher genau zu ihm. Aber Tochter Hanna, das ist ein feines Mädchen, sensibel und zurückhaltend. Eigentlich merkwürdig, sie schlägt überhaupt nicht ihren Eltern nach.

Oh je, die Hoffmanns könnten ja jeden Augenblick hier zum Frühstück erscheinen! Soll ich mich jetzt darauf freuen – oder nicht? Es ist eben beides, nach dieser unglücklichen Sache ... ‹

Martins Magen krampfte sich zusammen, sein Puls beschleunigte sich. Gefühle von Wut und Ohnmacht stiegen in ihm hoch, sein Kopf wurde siedend heiss. Das war so gemein von ihr gewesen!

»He, Bruderherz, was ist los? Du sitzt ja ganz verkrampft da!« Martin hatte gar nicht bemerkt, dass Monika an den Tisch getreten war.

»Ach, entschuldige, Schwesterherz, ich war in Gedanken versunken. Habt ihr gut geschlafen?«

»Bestens, trotz der Zimmerwände in Lachsrosa … «, frotzelte Rolf, der eben hinzugekommen war. »Aha, du machst dir wohl Notizen für deinen nächsten Roman?«

Martin klappte sein Notizbuch zu. Er wollte zu einer Antwort ansetzen, wurde aber von Monika unterbrochen.

»He, schaut mal, die Hoffmanns aus Hamburg sind tatsächlich bereits im Anmarsch!« Alle drei sahen zur Tür des Speisesaals.

Ja, das waren sie! Zuvorderst Horst und Hilde, beide in Jeans, Turnschuhen und karierten Hemden. ›Immer noch eine seltsame Mischung aus Alt-Achtundsechzigern und Neureichen‹, dachte Martin, und sein Magen begann sich erneut zu verkrampfen, als er Hildes Blick erhaschte.

Hilde war vierundfünfzig, mittelgross, schlank, beweglich, hatte halblange blonde Haare und meist knallrot geschminkte Lippen. Horst war ziemlich gross, schlank und wirkte ausgesprochen sportlich. Niemand hätte ihm seine Achtundfünfzig gegeben. Seine lockigen, blonden, nur leicht angegrauten Haare trug er eher lang.

›Na, wenn das kein Schürzenjäger ist‹, dachte Rolf bei sich, ›fresse ich einen Besen … ‹

Dahinter kam Sohn Heinz Hoffmann, in weissen Hosen, offenem hellblauem Hemd und leichter beiger Sommerjacke. ›Was für ein Snob!‹, dachte Martin erneut. Mit einigen Metern Abstand betrat jetzt auch Tochter Hanna den Speisesaal und folgte den anderen in Richtung Buffet.

›Aha‹, stellte Monika Maier für sich fest, ›Hanna hat doch nicht abgenommen! Dabei wollte sie doch unbedingt ein paar Kilos loswerden. Schade … mit ihrem gleichmässigen, jugendlich hübschen Gesicht und den blonden Haaren sieht sie doch sehr attraktiv aus, da stören einzig die zu vollen Hüften und Oberschenkel.‹

Hanna Hoffmann nahm plötzlich wahr, dass die jungen Maiers bereits da waren und begann zu winken und zu rufen. Sogleich setzte ein grosses Hallo auf beiden Seiten ein. Auch die Eltern Maier betraten jetzt den Saal und begrüssten ihre langjährigen Freunde mit einer Umarmung. Spontan wurde beschlossen, nach dem Frühstück den Tag gemeinsam zu planen. Horst Hoffmann stand lässig da, die Daumen in die Taschen seiner Jeans eingehängt, und blickte in die Runde.

»Na, ihr Lieben, gut gereist? War ärgerlich, unsere Panne gestern, wir mussten in Karlsruhe vier Stunden auf das Ersatzteil warten. Aber wir haben‘s dann in Täsch doch noch auf den letzten Zug nach Zermatt geschafft.«

»Also Glück im Unglück!«, erwiderte Max Maier. »Wie du siehst, sind wir neuerdings zu fünft unterwegs. Das ist Rolf Reimer, die neueste Eroberung unserer Monika. Übrigens ist er Physiker, könnte vielleicht für deine Firma interessant sein?«

Horst verdrehte die Augen. »Bitte kein Wort von meiner Firma. Ich bin hier im Urlaub, um meine Sorgen wenigstens für drei Wochen zu verdrängen. Ich weiss schon, dass sie dadurch nicht kleiner werden. Aber wenigstens sehe ich hier in Zermatt keinen Konkursbeamten.«

Max machte ein bestürztes Gesicht. »Oh, steht es so schlimm? Das tut mir sehr leid!«

Horst Hoffmann hatte Medizin studiert, sich aber nach der Assistentenzeit vom Spitalbetrieb verabschiedet und dann nach und nach eine Firma für Medizintechnik aufgebaut. Nach über zwanzig erfolgreichen Geschäftsjahren war die Konkurrenz aber in letzter Zeit so stark geworden, dass der Umsatz stetig sank und mittlerweile sogar der Konkurs drohte.

Kurz nach neun Uhr standen alle vier Hamburger um den Münchner Tisch herum.

»Also, Leute, was unternehmen wir heute?«, fragte Hilde Hoffmann in die Runde. »Das Wetter scheint gut zu bleiben. Ich nehme an, Max, Maria, Martin und Horst werden sich, wie es am ersten Ferientag Tradition ist, nachher auf dem Tennisplatz vergnügen?«

Alle vier nickten lebhaft.

»Und wie ich meinen Sohn Heinz kenne, wird er irgendwo allein auf Fotopirsch gehen?«

»Du kennst mich offenbar tatsächlich!«, erwiderte Heinz amüsiert, und Hilde fuhr fort: »Ich selbst würde gerne eine Wanderung in der Höhe machen. Wer kommt mit?«

»Da wäre ich gerne dabei», sagte Rolf. «Schliesslich bin ich zum ersten Mal in Zermatt und möchte die Berge kennenlernen. Was meinst du, Monika?«

»Einverstanden, und ich hoffe, Hanna kommt auch mit!«

Hanna lächelte dankbar: »Gerne!«

Hilde schlug vor, sich jetzt umzukleiden und in einer halben Stunde loszuziehen.

…Pünktlich um viertel vor zehn standen sie dann am Hotelausgang bereit. Die erste Wegstrecke führte zum Bahnhof hinunter, der gleichzeitig Abfahrtsort des knallroten Gornergrat-Bähnchens war. Diese Zahnradbahn brachte Hilde und Hanna Hoffmann, Monika Maier und Rolf Reimer innerhalb einer Viertelstunde auf die 2200 Meter hoch gelegene Riffelalp.

Als sie ausstiegen, war der Himmel nicht mehr ganz so wolkenlos wie am frühen Morgen. Über allen Gipfeln hatten sich kleine Quellwolken gebildet, aber diese bedeuteten vorläufig eher Dekoration als Bedrohung, wie Hilde Hoffmann fachmännisch feststellte.

Die Aussicht von der Riffelalp war überwältigend. Dominiert wurde sie natürlich vom Matterhorn, das sich gerade gegenüber majestätisch in den Himmel erhob. Nur sein Gipfelbereich war durch eine kleine Wolke verdeckt. Rechts vom Matterhorn folgten weitere, schnee- und eisbedeckte Viertausender. Gekonnt zählte Hilde Hoffmann die Wichtigsten auf:

»Dent Blanche, Obergabelhorn, Zinalrothorn, Weisshorn, Täschhorn.«

Rolf Reimer konnte sich kaum sattsehen. Immer wieder drückte er Monikas Hand, um seiner echten Begeisterung Ausdruck zu geben.

»So, meine Lieben, Zeit zum Aufbruch!«, verkündete Hilde jetzt und stellte sich neben dem Wanderwegweiser auf. »Seht hier, wir wandern jetzt zum Grünsee, von dort weiter zum Grindjesee und dann über den romantischen Weiler Findeln wieder hinunter nach Zermatt. Das schaffen wir locker, wir sind ja alle noch jung.«

Rolf blickte zu Hilde. ›Tatsächlich, sie sieht so jung und fit aus. Dabei ist sie vierundfünfzig und Mutter von zwei längst erwachsenen Kindern! Mit ihren engen Wanderhosen, der Bluse, welche die nicht grossen, aber festen Brüste betont, den halblangen blonden Haaren, den dunklen, ausdrucksstarken Augen, den vollen, knallrot geschminkten Lippen … ja, es könnte schon stimmen, was Monika neulich mal angedeutet hat: dass da noch andere Männer als Horst im Spiel seien…‹

Von der Riffelalp aus führt ein breiter, nur wenig ansteigender Weg entlang des nach Norden orientierten Berghangs bis zum Grünsee. Unterwegs weitet sich das Panorama gegen Osten immer mehr. Als weitere Viertausender erscheinen Rimpfischhorn und Strahlhorn, zu deren Füssen sich ein mächtiger Gletscher ins Tal ergiesst.

›Oh, wie herrlich vertraut mir das doch alles ist‹, dachte Hilde, in sich hinein lächelnd, ›wie oft sind wir mit unseren Kindern diesen Weg gegangen, haben am Grünsee gepicknickt und manchmal gebadet. Ja, meine beiden so unterschiedlichen Kinder! Der Heinz rannte immer weit voraus, ihn interessierte eigentlich nur, möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Was es unterwegs zu sehen gab, berührte ihn scheinbar gar nicht. Nur die Länge der Wanderstrecke und die Namen der Berggipfel wollte er immer wissen.

Und wir Eltern kamen, weit hinter ihm, kaum vorwärts, weil Hanna alle fünf Meter vom Weg ausscherte, um eine Blume oder einen Schmetterling zu betrachten. Ihre Liebe zur Natur ist bestimmt hier in den Bergen erwacht. Und ständig fragte sie, wie diese Pflanze oder jene Heuschrecke denn heisse. Meist wusste ich es ja selber auch nicht. Aber Hanna wünschte sich immer mehr Bücher und begann bald darauf, sich alles selber beizubringen. Und jetzt macht sie schon ihre Doktorarbeit über Schmetterlinge!‹

»Mama, bist du noch da?« Hanna stupste sie lachend an.

»Ehm, ja, ich war in Gedanken kurz weg … Oh, wir sind ja schon am See angekommen!«

Der Grünsee, 2300 Meter hoch gelegen und knapp 200 Meter lang, lag dekorativ vor ihnen ausgebreitet, dunkelgrün und glatt die Wasseroberfläche, von keinem Hauch gekräuselt, die Schneeberge auf der anderen Talseite sanft spiegelnd. Der See lag gerade an der Waldgrenze und war, äusserst idyllisch, von einem lockeren Bestand niedriger Lärchen und Arven umgeben. Ein feiner Duft nach Baumharz lag in der Luft. Ab und zu flog krächzend ein Tannenhäher von einer Arve zur nächsten, und auf den Lärchen sangen die Meisen um die Wette.

Überwältigt vom Eindruck dieser grossartigen Landschaft, blieben die vier eine Weile am Ufer stehen, ohne dass ein Wort die majestätische Stille störte.

»Es ist ja erst viertel nach elf«, sagte Hilde schliesslich, »ich schlage vor, wir laufen weiter und nehmen unser Picknick erst am Grindjesee ein.«

Niemand opponierte, und nach einem Erinnerungsfoto mit Selbstauslöser wanderten sie weiter.

*

Horst Hoffmann war zufrieden mit sich. Die Matches gegen Max und Maria Maier hatte er locker gewonnen. Denjenigen gegen Martin Maier, 26 Jahre jünger als er, würde er verlieren, aber das war kein Minuspunkt für ihn. Horst steckte seinen Schläger in die Hülle und verkündete: »Mittagspause!«

Das kleine Restaurant des Tennisclubs Zermatt war heute nur schwach besetzt. Horst und Martin holten sich an der Selbstbedienungstheke einen Teller Spaghetti Bolognese, Max und Maria wählten Apfelkuchen mit Schlagsahne.

Nach dem Essen lehnten sich alle in den bequemen Gartenstühlen auf der Terrasse zurück.

»Ist das doch herrlich», sagte Maria Maier, «unser erster gemeinsamer Ferientag, traditionell auf dem Tennisplatz, sportlich und erholsam zugleich. Ach, ich könnte stundenlang auf diesen Sesseln dösen. Wisst ihr, Max und ich hatten ein strenges Jahr. Ich wollte eigentlich meine Stunden reduzieren, aber das war nicht zu realisieren. Die Nachfrage nach privaten Englischlektionen steigt stetig an. Und Max war ja kaum jemals zuhause … «

»Jetzt übertreib‘ mal nicht!«, erwiderte dieser. »Aber sie hat schon Recht, meine Firma hat mich stark beansprucht. Die Konkurrenz im Lebensmittelhandel ist riesig, die Margen müssen wir ständig zurückfahren und da braucht es, haha, schon einen studierten Ökonomen wie mich, um am Jahresende noch einen kleinen Gewinn zu finden.«

»Gewinn sagst du? Dieses schöne Wort kenne ich überhaupt nicht mehr!«, erwiderte Horst betrübt, »aber wie schon erwähnt, das Thema Firma ist tabu für die nächsten drei Wochen.«

Maria gähnte und schloss genüsslich ihre Augen. »Dann wechseln wir schleunigst zu etwas Angenehmerem. Mein Gedächtnis wird leider immer mehr zum Sieb. Vermutlich frage ich dich jedes Jahr wieder dasselbe, Horst. Aber wie war das noch mal, als du und Hilde euch kennenlerntet?«

Horst gähnte ebenfalls und streckte sich wohlig. »Ja, war das damals eine aufregende Zeit! Ich hatte soeben das Medizinstudium abgeschlossen und meine erste Stelle als Assistenzarzt im Wilhelmsburger Krankenhaus, in der Inneren Medizin, angetreten. Ein regelrechter Sprung ins eiskalte Wasser war das gewesen! Zwar hatten wir schon als Studenten immer wieder stundenweise im Krankenhaus Unterricht gehabt und an Fallbeispielen lernen können, aber diese Einsätze waren viel zu kurz gewesen, um sich eine Praxiserfahrung anzueignen.

Und jetzt hast du statt Lehrbüchern plötzlich lauter reale Patienten vor Augen, musst reagieren, Fragen stellen, entscheiden, mit Kollegen diskutieren. Du schiebst eine Sechzigstundenwoche mit Schichtdienst, kommst um ein Uhr morgens hundemüde nach Hause, und um acht musst du schon wieder antreten.