Libellenglut - Urs W. Käser - E-Book

Libellenglut E-Book

Urs W. Käser

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Beschreibung

Eine Feuersbrunst im Naturmuseum zerstört nicht nur die wertvolle Libellensammlung. Auch eine Mitarbeiterin muss dabei ihr Leben lassen. War es Mord? Und hat es etwa gar die falsche Person erwischt? Das Ermittlerduo Markus Aebischer und Nadja Huser durchforstet das private und berufliche Umfeld der Mitarbeitenden. Immer mehr Motive und Verdächtige tauchen auf. Spielt ein Testament die Hauptrolle? Oder hat ein korrupter Stadtrat seine Finger im Spiel? Oder war doch alles ganz anders? Und dann: Wie entwickelt sich die Liebesgeschichte zwischen Adrian und Yvonne? Bleibt er ihr treu, oder vermag die andere Frau ihn seiner Verlobten wegzunehmen?

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Handlung, Orte und Personen dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Da die Geschichte in der Schweiz spielt und man hierzulande den Buchstaben ß nicht verwendet, wird stattdessen immer die Buchstabenfolge ss gebraucht.

Inhaltsverzeichnis

Montag, 18. Juli

Dienstag, 19. Juli

Mittwoch, 20. Juli

Donnerstag, 21. Juli

Freitag, 22. Juli

Samstag, 23. Juli

Sonntag, 24. Juli

Montag, 25. Juli

Dienstag, 26. Juli

Mittwoch, 27. Juli

Donnerstag, 28. Juli

Freitag, 29. Juli

Samstag, 30. Juli

Sonntag, 31. Juli

Montag, 1. August

Dienstag, 2. August

Mittwoch, 3. August

Montag, 18. Juli

Martina Widmer ärgerte sich. Kann man denn keine fünf Minuten am Stück arbeiten, murmelte sie vor sich hin, ständig klingelt das Telefon! Ich will jetzt einfach dieses Protokoll fertig durchlesen. Vielleicht nehme ich gar nicht ab? Ach was, ich bin ja so oder so unterbrochen…

Ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden, griff sie zum Telefonhörer. „Ja, bitte? Hier Widmer, Direktion … Aha, eine Nachbarin von uns sind Sie? ... Wie heissen Sie denn? … Wie bitte? Es brennt bei uns im Haus? Unsinn! … Was, kein Scherz? Im zweiten Stock, ganz hinten?“

Hat einfach abgehängt, schimpfte Martina Widmer vor sich hin, eine Frechheit! Ist diese angebliche Nachbarin eigentlich durchgedreht, oder meint sie es ernst?

Sie eilte zum Fenster ihres Büros, öffnete es und blickte nach links. Der Schreck war brutal. Am anderen Ende des Gebäudes, im zweiten Stock, drang schwarzer Rauch durch eine geborstene Fensterscheibe. Panische Angst überflutete sie. Wie ist schon wieder die Nummer der Feuerwehr? 117 oder 118? Ach egal, es eilt! Am ganzen Körper zitternd, stellte sie die 117 ein. „Oh, die Polizei? Ich muss aber die Feuerwehr haben!“ Sie wurde gleich weiterverbunden und gab mit gepresster Stimme den Notruf durch.

Dann schmiss sie das Telefon auf den Schreibtisch und rannte aus dem Büro, den langen Flur entlang nach hinten, dann eine Treppe hoch und nochmals bis zum Ende eines Flurs, wo sich eine geschlossene Tür mit der Aufschrift Entomologie befand. Schon durch die Tür hindurch hörte sie die verzweifelten Hilferufe einer Frau. Um Himmels Willen, das ist doch Patrizias Stimme! Sie ist im Feuer drin!

Martina Widmer riss die Tür auf. Dichte schwarze Rauchschwaden nahmen ihr die Sicht und auch beinahe den Atem. „Wo bist du, Patrizia?“, schrie sie in Panik. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hose, hielt es sich vor Mund und Nase und wagte sich vorsichtig ins Zimmer hinein. Ach, dort hinten liegt sie! Schwer keuchend, drang Martina bis zur hinteren Ecke des Raumes vor, packte die am Boden kauernde Frau mit beiden Händen und zog sie, beinahe mit ihrer letzten Kraft, zum Ausgang. Im Flur angelangt, liess sie die Frau zu Boden gleiten, kehrte um und schlug die Tür zum brennenden Raum wieder zu.

Hustend und mit schmerzverzerrtem Gesicht wand sich die Verletzte am Boden hin und her. Nach einigen Sekunden stützte sie sich mühsam auf einen Ellbogen, zeigte mit der Hand auf die geschlossene Tür und stiess heraus: „Nora… Nora… Dort…“

„Was! Nora ist noch drin!“ Erneut wurde Martina Widmer von panischer Angst gepackt. Ich muss nochmals hinein! Sie zwang sich, die Tür aufzureissen, wich aber sofort wieder zurück. Der Rauch war noch dichter geworden, die Hitze unerträglich, und im Hintergrund frassen sich züngelnde Flammen prasselnd die Wände hoch. Sie schlug die Tür wieder zu. Wenn bloss die Feuerwehr endlich käme! Ich kann Nora unmöglich alleine retten! Was soll ich bloss machen?

Endlich! Eine Sirene erklang, und Martina fiel ein Stein vom Herzen. Draussen hörte man ein Quietschen, dann lautes Rufen, metallisches Geklapper, nochmals eine Sirene, wieder Rufe, und jetzt platschte der erste Wasserstrahl gegen die Hausmauer. Im selben Moment stürmten drei Feuerwehrleute, in Schutzanzügen und mit Handlöschgeräten versehen, an ihr vorbei und rissen die Tür zum brennenden Raum auf. Martina versuchte, die immer noch am Boden liegende Patrizia ein Stück weit den Flur entlang zu ziehen, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, musste aber nach kaum zwei Metern entkräftet aufgeben.

Gottlob! Zwei Rettungssanitäter mit Erste-Hilfe-Koffern rannten jetzt herbei und gingen neben Patrizia auf die Knie. Sie prüften kurz ihren Zustand, drückten ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, steckten eine Infusion in ihre Armbeuge und versorgten ihre Brandwunden provisorisch. Dann legten sie die Frau auf eine Bahre und brachten sie hinunter zum Rettungswagen.

Martina hatte nur stumm zugesehen. Ihr Herz klopfte wie mit Hammerschlägen gegen ihre Brust, ihr Atem ging stossweise und keuchend. Wird Patrizia überleben? Werden sie Nora retten können? Was war überhaupt passiert? Ihre Gedanken kreisten wie wild im Kopf herum…

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und im schwarzen Rauchvorhang erschienen die drei Feuerwehrleute. Sie zogen eine Frau in den Flur hinaus und liessen sie zu Boden gleiten. Einer der Männer kniete neben sie und prüfte Puls und Atem.

„Nora!“, schrie Martina auf, stürzte zu ihr, ging auf die Knie und packte ihre Hand. „Nora! So sag doch was! Bitte!“ Schluchzend sank sie auf die regungslose Frau nieder.

Der Feuerwehrmann zog sie sanft am Arm weg. „Bitte kommen Sie, es hat keinen Sinn, die Frau ist tot…“

Martina Widmer, Direktorin des Naturmuseums in Bern, fühlte sich vollkommen erschöpft. Den ganzen Tag hindurch hatte der hektische Betrieb nicht nachgelassen. Kaum war die Feuerwehr abgezogen, waren die Leute vom Spurensicherungsdienst der Polizei eingetroffen und hatten die Umgebung der Brandstelle während drei Stunden minutiös abgesucht. Noch vor Mittag war ein Inspektor der Gebäudeversicherung aufgekreuzt und hatte den materiellen Schaden eingeschätzt. Um fünfzehn Uhr war dann ein Kommissar namens Markus Aebischer von der Stadtpolizei vorbeigekommen, hatte sich ein erstes Bild der Situation gemacht und die Angestellten kurz befragt.

Jetzt war es sechzehn Uhr, und die Mitarbeitenden des Naturmuseums hatten sich im Seminarraum versammelt. Martina Widmer war blass im Gesicht, ihre halblangen, braunen Haare wirkten stumpf, ihre dunklen Augen blickten unruhig hin und her, ihre Wangen zeigten tiefe Falten. Das Sprechen bereitete ihr offensichtlich Mühe, die Sätze lösten sich nur langsam und zögernd aus ihrem Mund.

„Meine lieben Leute, heute hat ein grausames Schicksal in unserem Haus gewütet. Ein Feuer, dessen Ursache noch ganz im Dunkeln liegt. Unsere liebe Mitarbeiterin Nora Egger konnte leider nur noch tot aus der Flammenhölle geborgen werden.“

Martina kämpfte mit den Tränen, und ihr Hals schnürte sich zu. Sie griff sich ein Taschentuch, drückte es auf ihre Augen, schnäuzte dann hinein und musste sich mehrmals räuspern, bevor sie weitersprechen konnte.

„Unser einziger Lichtblick ist, dass Patrizia Wanner, die ebenfalls im brennenden Raum war, nur leichtere Verbrennungen erlitten hat und bestimmt in einigen Tagen wieder unter uns sein wird. Leider sind auch die materiellen Schäden gross. Die Feuersbrunst hat mehrere Räume massiv geschädigt und auch einen beträchtlichen Teil unserer wertvollen Libellensammlung zerstört. Ich bitte euch, der Polizei weiterhin jede gewünschte Auskunft zu geben, damit die Ursache des Unglücks so bald wie möglich ans Licht kommt. Unsere Arbeitsplätze bleiben jetzt für etwa zwei oder drei Tage gesperrt, bis die Spurensicherung abgeschlossen ist. Ich überlasse es euch, wie ihr diese Zeit gestalten wollt. Ihr könnt zuhause arbeiten oder frei nehmen, ganz wie es für euch eben stimmt. Für die Öffentlichkeit wird das Museum sicher einige Wochen lang geschlossen bleiben.“

Erneut kämpfte Martina mit den Tränen. „Sind noch Fragen dazu?“

Jakob Auers linker Arm schnellte in die Höhe.

„Jakob? Bitte!“

„Ehm… Ist das sss…sicher, dass ich zzz… zuhause… bbb…bleiben ddd…darf?“

Jakob war körperlich und geistig leicht behindert. Eigentlich konnte er beinahe normal sprechen, aber sobald er ein wenig nervös war, geriet er fürchterlich ins Stottern. Und die meiste Zeit sprach er überhaupt nicht. Er war oft völlig in sich gekehrt, und trotzdem erledigte er alle Aufträge, die man ihm gab, rasch und zuverlässig. Jakob verrichtete im Museum allerlei Hilfsarbeiten, Botengänge, Kopien machen, Kaffee nachfüllen oder Kisten schleppen. Er war ein lieber und anhänglicher Kerl, alle mochten ihn sehr.

„Ja, das ist so, Jakob“, erwiderte Martina ganz sanft, „du darfst jetzt gleich nachhause gehen und brauchst morgen nicht zu kommen.“

Jakob nickte eifrig. „Oh… ddd… danke sss… sehr.“

„Also, ehm… meine Damen und Herren, es ist leider ein sehr tragischer Fall eingetreten.“

Kommissar Markus Aebischer hielt den provisorischen Bericht über den Einsatz der Feuerwehr und der Rettungssanität in die Luft. Ungern, aber durch die Umstände gezwungen, hatte er kurzfristig auf siebzehn Uhr eine Pressekonferenz angesagt. Rund ein Dutzend Presseleute, bewaffnet mit Notizblock und Mikrofon, sowie zwei Kameramänner vom Fernsehen blickten gebannt auf den Kommissar. Markus Aebischer hasste solche kurzfristigen Übungen und fühlte sich schlecht vorbereitet. Aber er musste das jetzt einfach durchstehen! Eine Verschiebung auf den nächsten Tag wäre schlecht angekommen, weil dann die Zeitungen erst übermorgen hätten berichten können.

Der Kommissar legte den Bericht auf das Pult und blickte in die Runde. „Ich muss Ihnen mitteilen, dass die Feuerwehr heute Morgen um neun Uhr zwanzig durch einen Notruf zum Naturmuseum gerufen wurde. Zwei Räume im hinteren Flügel des Gebäudes brannten bereits lichterloh, als die Feuerwehr eintraf, und der Brand hatte auch schon einige der angrenzenden Räume erfasst. Durch den vorbildlichen Einsatz der Fachleute konnte das Feuer aber bald unter Kontrolle gebracht werden, und seit Mittag besteht keine Gefahr mehr. Tragisch ist, dass beim Brand eine Person ums Leben kam und eine zweite verletzt wurde. Und auch der Sachschaden im Museum ist beträchtlich.“

Aufgeregtes Murmeln im Raum, einige Arme gingen in die Höhe, und die Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen.

„Wer ist umgekommen? Mann oder Frau? Angestellte? Warum hat die Alarmanlage nicht funktioniert? War es Brandstiftung?“

Markus Aebischer hob abwehrend die Hände. „Bitte sehr, im Augenblick kann und darf ich Ihnen noch keine weitere Auskunft erteilen. Die polizeiliche Untersuchung ist in vollem Gange, und die Persönlichkeitsrechte der Verunglückten haben Vorrang. Ich danke Ihnen.“

Uff, das wäre erledigt, dachte Markus Aebischer, hob kurz die Hand in die Runde und verliess den Raum, als wäre er auf der Flucht.

Martina Widmer nahm das klingelnde Telefon zur Hand. „Hallo, Elena.“

„Mama! Ich habe es soeben im Radio gehört. Wie schrecklich! Bist du auch wirklich nicht verletzt?“

„Nein, liebe Elena, mir ist nichts passiert. Es ist einfach ein grässlicher Alptraum, das Ganze.“

„Und wer ist beim Brand gestorben?“

„Es ist Nora Egger, unsere Insektenspezialistin. Ich denke, du kennst sie nicht.“

„Soll ich nicht schnell bei dir vorbeikommen, Mama, um dich zu unterstützen?“

„Das ist lieb von dir, Elena, aber ich bleibe heute Abend ganz gern allein mit meinen Gedanken.“

„Dann schlaf gut, Mama. Ich melde mich morgen wieder.“

„Gute Nacht, liebe Tochter.“

„Hast du es schon gehört?“ Max Fischer schleuderte seine Mappe in die Ecke des Flurs und stapfte in die Küche, wo seine Frau Barbara am Herd stand. „So ein Unglück! Nora ist tot, Patrizia liegt verletzt im Krankenhaus, dazu ein immenser Sachschaden in der Sammlung! Ich glaube, ich drehe noch durch!“

Barbara Fischer hatte ihren Mann noch nie so aufgebracht erlebt. Als Geologe, der sich im Naturmuseum professionell mit Mineralien und Steinen beschäftigte, war er sonst die Ruhe in Person. Weder die pubertierenden Kinder, noch die zeitweilig unzufriedene Ehefrau, noch die Sparmassnahmen der Regierung, noch die allgemeine Weltlage, und erst recht nicht seine ab und zu schmerzenden Hüften hatten Max Fischer jemals ernsthaft aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber heute hatte es ihn wirklich erwischt!

Barbara zog Max sanft ins Wohnzimmer und nötigte ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sie setzte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Ja, Max, das ist ein furchtbares Unglück. Warum hat man das denn nicht verhindern können?“

Max Fischer rieb sich die Augen. „Ich glaube es einfach nicht! Wie konnte so etwas passieren? Das Feuer wurde viel zu spät entdeckt! Dabei haben wir doch erst vor kurzem die neueste Generation von Rauchmeldern installiert, aber die haben offensichtlich komplett versagt!“

„Ja, das verstehe ich auch gar nicht. Jedenfalls wird das Ganze im Stadtrat noch tüchtig zu reden geben“, meinte Barbara nachdenklich. „Übermorgen ist Ratssitzung, und ich bin zur Protokollführung delegiert. Ich bin ja gespannt darauf, wie die Diskussion laufen wird. Aber lassen wir doch zuerst die Polizei arbeiten, und versuchen wir, an etwas Anderes zu denken.“

Barbara erhob sich. „Ich mache jetzt das Abendbrot fertig.“

Dienstag, 19. Juli

„Jakob, wäre es nicht an der Zeit, zu gehen?“

Jakob Auer schüttelte energisch seinen Kopf.

Betreuer Andreas Burger setzte sich seinem Schützling gegenüber. „Hast du heute keine Lust, zur Arbeit zu gehen? Oder ist sonst etwas los?“

Jakob nickte kaum merklich. Andreas Burger war es gewohnt, dass Jakob öfters kein Wort sprach. Aber er hatte gelernt, seine Mimik und Gestik zu lesen. Und er wusste, dass Jakob ein aufmerksamer Zuhörer war und beinahe alles verstand, was gesagt wurde. Nur eine klare Antwort darauf blieb eben häufig aus. Aber sehr oft konnte Jakob seine Gedanken durch eine Zeichnung ausdrücken. Vor allem emotionale Dinge vermochte er eigentlich nur so zum Ausdruck zu bringen. Schon als er Kind war, hatten Eltern und Lehrer erstaunt festgestellt, wie gut Jakob zeichnen und malen konnte. Ein Naturtalent, hatten sie stolz von ihm gesagt. Vielleicht würde es auch heute klappen? Andreas Burger hielt ihm einen Block und einen Packen Farbstifte hin. Jakob wandte sich zunächst etwas ab, schien zu überlegen und wiegte seinen Kopf ein paarmal hin und her. Plötzlich ergriff er Block und Stifte, stand auf und ging zum Tisch hinüber. Er wollte beim Malen immer allein sein, das wussten alle.

Jakob Auers Gehirn hatte bei seiner Geburt, vor fünfundzwanzig Jahren, zu wenig Sauerstoff bekommen, deshalb blieb er körperlich und geistig leicht behindert. Seine Eltern hatten ihn zunächst zuhause betreut, und später konnte er die Sonderschule besuchen. Jakobs Eltern wollten, dass ihr Sohn als Erwachsener ein soweit wie möglich selbstständiges Leben führen könne. Nach längerem Suchen fanden sie für ihn schliesslich eine betreute Wohngruppe und eine Anstellung als Hilfskraft innerhalb der Stadtverwaltung. Acht Jahre waren seitdem vergangen, und seit fünf Jahren arbeitete Jakob im Naturmuseum und schien damit recht glücklich zu sein.

Jakob kam jetzt zurück zu Andreas und hielt ihm seine farbige Zeichnung hin. Ein lichterloh brennendes Haus! Endlich begriff Andreas! Er hatte gestern Abend den Nachrichten im Radio nur mit halbem Ohr zugehört und nicht realisiert, dass der gemeldete Brand sich an Jakobs Arbeitsort, im Naturmuseum, zugetragen hatte.

„Jetzt kapiere ich endlich, warum du heute nicht zur Arbeit gehen kannst, Jakob!“, sagte er. „Das war ja schlimm, dieser Brand. Und die Frau, die dabei ums Leben kam, hast du natürlich gut gekannt, wie traurig! Nun, dann bleibst du heute einfach zuhause und vertreibst dir die Zeit. Ich bin ja den ganzen Tag hier, wenn du mich brauchst.“

Jakob nickte einige Male heftig, erhob sich umständlich und marschierte mit langen, hölzernen Schritten in Richtung seines Zimmers.

Kommissar Markus Aebischer stieg von seinem Büro im dritten Stock zu Fuss die vier Etagen bis ins Untergeschoss hinab. Noch vor ein paar Jahren war er leichtfüssig die Treppen hinauf- und hinuntergestiegen, seit einiger Zeit machte sich aber sein rechtes Knie unangenehm bemerkbar, sobald er die Stufen zu schnell nahm oder den Fuss nicht ganz gerade aufsetzte. Vielleicht sollte ich doch mal zum Arzt gehen, dachte er. Und wenn er sich vorstellte, nachher die vier Treppen wieder hinaufzusteigen, kam ihm gleich nochmals der Arzt in den Sinn. War das eigentlich normal für einen Mann gegen Ende fünfzig, wegen der paar Stufen bereits so stark ausser Atem zu geraten und so müde Beine zu bekommen? Da sah er vor sich seine Waage, die zuhause im Bad stand, und wunderte sich schon weniger über seine Kurzatmigkeit. Rund zwanzig Kilos über dem Normalgewicht zeigte sie leider an, das erklärte wohl Vieles…

Markus Aebischer ging im Untergeschoss bis zum Ende des Flurs und gelangte zu einer Tür mit der Aufschrift Labor 3. Kaum hatte er angeklopft, erschien Lena Müllers erfrischendes Gesicht und lächelte ihn an.

„Hallo, Markus! Du brauchst nicht zu fragen, ob du störst, komm einfach herein. Ich kann mir ja denken, was dich interessiert.“

Aebischer trat ein und schaute sich um. War das hier unten doch eine andere Welt! Der Raum, der nur durch einen seitlichen Lichtschacht ein wenig Tageslicht bekam, war eine Art Kombination von Chemie- und Physiklabor, vollgestellt mit kleineren und grösseren Apparaturen, deren Funktionsweise Aebischer sowieso nie begreifen würde. Umso mehr bewunderte er es, dass eine Frau wie Lena Müller hier arbeiten konnte. Eine junge, attraktive, modisch gekleidete und fast immer gutgelaunte Frau, hier unten vergraben in diesem Bunker? Immerhin, kam es jetzt Markus in den Sinn, arbeitet sie nur zu achtzig Prozent. Da hat sie wenigstens noch drei Tage pro Woche frei, um draussen Sonnenlicht zu tanken. Wie wohl ihr Privatleben aussah? Er hatte nicht die geringste Ahnung…

„He, Kollege Aebischer! Was ist los?“

Verwirrt tauchte Markus aus seinen Gedanken auf. „Entschuldige, Lena, ich war wohl kurz woanders…“

„Das habe ich allerdings gemerkt!“ Lena lachte ihn an und wies dann mit der Hand auf einen kleinen runden Tisch in der Ecke des Raumes hin. „Setz dich, Markus, dann informiere ich dich gerne über die Spuren vom gestrigen Brand im Naturmuseum. Wir wissen da schon Einiges“, sagte sie selbstsicher.

Fast das ganze Tischchen war mit Papierstössen belegt, und Aebischer schaffte es gerade noch, seinen A4-Block daneben zu zwängen. Lena brachte ihr Laborjournal und einige bedruckte Papiere mit.

„Also, ich mache es kurz und lasse die Bombe gleich los“, sagte sie. „Es war eindeutig Brandstiftung.“

Markus blickte erstaunt auf. „Oh! Das kommt überraschend! Und woraus schliesst du das?“

Lena lachte. „Sehr einfach. Im Ausstellungsraum, in dem der Brand ausbrach, war am Fenster, hinter dem dicken Vorhang, ein Zeitzünder und leicht brennbares Material versteckt.“

„Was, ein Zeitzünder! Das ist ja wie im Krimi!“

„Aber, aber, Herr Kommissar, wir sind doch nicht im Fernsehen!“, frotzelte Lena. „Natürlich haben wir die verkohlten Reste des Zeitzünders genau untersucht. Ein handelsübliches Modell, ohne weitere Spuren. Und der Zunder bestand aus simplen, mit Wachs imprägnierten Holzspänen. Das Ganze kommt mir irgendwie ziemlich amateurhaft vor.“

„Interessant, amateurhaft…“ murmelte Aebischer und betrachtete fasziniert Lenas wunderschöne, wasserblaue Augen, ihre langen, schwarzgefärbten Wimpern, die lilafarbenen Lidstriche. Einfach unglaublich schön, dieses Gesicht…

Dann riss er sich zusammen. „Gab es noch weitere Spuren auf der Brandstätte, Lena?“

„Nun, das Feuer hat nicht überall gleich intensiv gewütet. Deshalb konnten wir noch zahlreiche Fingerabdrücke und Hautschuppen bergen. Aber ziemlich sicher wird uns das nichts nützen. Da der Raum, in dem das Feuer ausbrach, ja öffentlich zugänglich ist, dürften die Spuren von Hunderten verschiedener Personen stammen. Ein höchst interessantes Detail gibt es aber noch. Der an der Decke montierte Rauchmelder war nämlich inaktiviert worden.“

Markus hob seine Augenbrauen „Oh la la! Kein Wunder, ist der Brand so spät bemerkt worden! Ist denn das so einfach zu machen?“

Lena hob ihren rechten Daumen. „Ja, bei diesem Modell muss man nur den kleinen Schalter drehen, und schon ist das Gerät inaktiv."

Aebischer schüttelte den Kopf. "Aber das ist doch eine höchst fahrlässige Konstruktion… Offensichtlich wollte der Täter, dass der Brand so lange wie möglich unbemerkt bliebe. Aber warum das? Wohl kaum, um sich selber davonzumachen. Sonst hätte er doch keinen Zeitzünder gebraucht…“

Lena stupste Markus leicht in den Oberarm. „Nun, diese Frage zu beantworten, ist nicht mehr mein Job. Damit darfst du dich jetzt herumschlagen.“

„Klar“, stimmte Markus zu. „Jedenfalls herzlichen Dank für deine schnelle und zuverlässige Arbeit, Lena.“

Wie er erwartet hatte, schleppte sich Markus Aebischer mühsam und mit schmerzendem Knie die vier Treppen wieder hoch. Aber er biss sich durch, weil er der Meinung war, ein wenig Training müsse wohl schon sein. Trotzdem fühlte er sich bestens gelaunt. Diese Lena Müller ist schlicht ein Phänomen, sagte er sich. Fachlich einfach perfekt, und dabei immer freundlich und hilfsbereit, eine wahre Goldgrube für die Stadtpolizei. Eine bessere Zusammenarbeit kann man sich einfach nicht vorstellen. Wenn sie nur nicht etwa von einer anderen Kripostelle abgeworben wird! Unsere Stadt ist leider nicht reich und kann keine Spitzenlöhne zahlen, da wäre ein anderes Angebot natürlich verlockend für sie. Aber ich hoffe wirklich, sie bleibt uns treu. Natürlich auch, weil sie mit Abstand die schönste Frau im Polizeidepartement ist…

Mit jeder Treppenstufe geriet Aebischer stärker ins Schnaufen, aber ebenso ins Träumen. Sein vergangenes Liebesleben zog wie eine Karawane an ihm vorbei. Hoch und Tiefs hatten sich stetig abgewechselt, fast wie beim Wetter, aber immerhin in etwas weniger schneller Folge. Seltsamerweise war seine erste richtige Beziehung gleichzeitig seine längste gewesen. Fast elf Jahre war er mit Monica zusammen gewesen, und obwohl nach sieben Jahren die gemeinsame Tochter Vera dazugekommen war, hatten sie nie ernsthaft ans Heiraten gedacht. Und auch mit einer Heirat hätte die Beziehung nicht länger gehalten, das stand für Markus fest. Er musste lächeln, wenn er jetzt an seine Tochter Vera dachte. Siebenundzwanzig war sie jetzt, eine elegante und ehrgeizige junge Dame, die vorigen Sommer ihre erste Stelle als Juristin beim Kanton angetreten hatte. Er traf sie nicht oft, aber jedes Mal, wenn er sie ansah, tauchte auch Monica vor ihm auf, so wie sie in Veras Alter gewesen war. Dieselben Augen, dieselbe Nase, derselbe Mund, dieselben Ohren, und nur das etwas kantige Kinn und die dunklen Haare hatte Vera von ihrem Vater geerbt. Und immer, wenn er sie sah, traf ihn ein Stich mitten ins Herz, übermannte ihn wieder eine leise Sehnsucht nach der schönen Zeit mit Monica…

Nach der im Grossen und Ganzen einvernehmlichen Trennung von Monica hatte für Markus eine Reihe von emotional unruhigen Jahren begonnen. Je disziplinierter er sich im Polizeiberuf aufwärts kämpfte, desto chaotischer wurde sein Privatleben. Frauenbekanntschaften wechselten sich im Dreimonatsrhythmus ab, und für seine Tochter, die bei Monica lebte, brachte er, immer mit schlechtem Gewissen, viel zu wenig Zeit auf.

Erst sein vierzigster Geburtstag brachte wieder ruhigere Wellen in sein Leben. Er hatte eine kleine Party organisiert, Monica hatte zwei ihrer engsten Freundinnen mitgebracht, und noch am selben Abend hatte es zwischen Markus und Daniela mächtig gefunkt. Das Feuer loderte weiter, und fünf Monate später waren sie verheiratet. Daniela, eine grosse, schöne Frau, arbeitete in einer verantwortungsvollen Kaderstelle bei einer Versicherung und hatte ihren Kinderwunsch längst begraben, was Markus nur recht gewesen war. Daniela, nach wie vor eine gute Freundin von Monica, hatte die kleine Vera ins Herz geschlossen und erreichte es, dass Vera jedes zweite Wochenende bei Markus und ihr zu Besuch war. Markus war dankbar dafür und schaffte es, nach und nach zu Vera eine tragfähige Beziehung als Vater aufzubauen. Nun, das Glück hielt nicht wirklich lange. Nach sechs Jahren hatten sich die Eheleute so weit auseinandergelebt, dass die Scheidung für beide der einzig logische Schritt war.

Danach fiel Markus wieder in ein ziemlich tiefes Loch. Die Beförderung zum Hauptkommissar schmeichelte ihm zwar, aber privat wusste er kaum mehr, wo er hingehörte. Erneut folgte eine Phase mit rasch wechselnden Freundinnen, manchmal Zufallsbekanntschaften, aber auch Kontakten aus Internet-Portalen. Aber nie ergab sich eine Beziehung von längerer Dauer…

Markus Aebischer hatte sein Büro beinahe erreicht. Was für dumme Gedanken das doch sind, sagte er sich und blickte den Flur entlang. Sein innerer Blick wanderte zurück zum Brandfall im Naturmuseum. Wen sollte er mit den weiteren Ermittlungen betrauen? Für ihn selber war der Fall eine Schuhnummer zu klein, er musste Prioritäten setzen. Er ging in Gedanken sein Team durch und rief sich die aktuellen Ermittlungen in Erinnerung. Plötzlich wusste er es: Das war doch die perfekte Herausforderung für Nadja Huser! Nur: Würde sie es schaffen? Ja, sagte er sich, ich muss sie ein wenig herausfordern, ihren Ehrgeiz wecken. Jetzt, mitten in ihrer Weiterbildung, ist dieser Fall doch ein ideales Übungsfeld für sie. Sie wird es sich zunächst nicht zutrauen, aber ihr mangelndes Selbstbewusstsein kann nur durch konkrete Erfolge wachsen. Ja, ich werde Nadja den Fall übergeben!

Entschlossen betrat Aebischer sein geräumiges Büro.

Das Museum ist wegen eines Brandes bis auf Weiteres geschlossen, stand auf dem improvisierten, mit schwarzem Filzstift beschriebenen Kartonschild an der Eingangstür. Kopfschüttelnd drehten sich Berta und Franz Huser um und gingen die vier Treppenstufen langsam wieder hinunter.

„Natürlich“, sagte Franz plötzlich, „ich hätte es doch wissen müssen. Die Nachricht vom Brand im Naturmuseum stand doch heute in der Zeitung! Es habe sogar ein Todesopfer gegeben, hat es geheissen. Wie schrecklich!“

„Du Dummerchen“, meinte Berta vorwurfsvoll, „warum hast du mir denn nichts davon erzählt? Dann hätten wir uns den Weg hierher wirklich sparen können!“

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“, konterte Franz, „du könntest ja selber mal Zeitung lesen…“

„Aha! Und wer macht dann das Frühstück für dich?“, erwiderte Berta zornig, „und wer den Abwasch? Du meinst wohl, ich könne von morgens bis abends im Lehnstuhl sitzen und lesen? Und das bisschen Haushalt macht sich von alleine?“

Franz machte eine bekümmerte Miene. „Entschuldige, so habe ich es doch nicht gemeint. Ich dachte mir nur, statt den halben Vormittag im Café mit deinen Freundinnen zu tratschen, könntest du doch auch mal in die Zeitung sehen…“

„Du Frechdachs!“ Bertas Stimme war richtig laut geworden. „Tratschen nennst du das! Eine Beleidigung! Das lasse ich mir nicht gefallen. Wir sind ab sofort geschiedene Leute!“

„Na gut, wenn du meinst…“ Franz schüttelte seinen Kopf, wandte sich ab und marschierte mit langen Schritten davon.

Nach wenigen Sekunden hatte ihn Berta eingeholt und packte ihn am Arm. „Bist du wahnsinnig? Du kannst doch nicht einfach so davonlaufen! Franz, komm doch zur Vernunft!“

„Du hast doch soeben etwas von geschieden gesagt…“

„Aber Schatz! Nimm doch nicht alles gleich wörtlich…“

Franz druckste noch eine Weile herum und amüsierte sich köstlich dabei. Ach, wenn er seine Berta nicht hätte! Nach einer angemessenen Zeitspanne schlang er beide Arme um seine Frau und küsste sie auf den Mund.

„Ach, mein lieber Franz…“, hauchte sie leise, nahm seine Hand und zog ihn, zunächst ganz sanft, dann zunehmend energisch mit sich fort.

„Nadja, du übernimmst den Fall Naturmuseum!“

Nadja Huser fühlte sich vollkommen überrumpelt und höchst unsicher. Sie, die angehende Kriminalkommissarin, die bisher noch keinen einzigen heissen Fall selbstständig bearbeitet hatte, sollte ausgerechnet diese Brandgeschichte mit Todesfolge übernehmen?

Kommissar Markus Aebischer schmunzelte und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Nur keine Angst, Nadja, ich lasse dich nicht hängen. Aber das ist die Gelegenheit für dich, zu zeigen, wozu du fähig bist. Versuche es einfach, und wenn du es nicht schaffen solltest, halte ich dir den Rücken frei. Einverstanden?“

Nadja atmete hörbar auf. Wie habe ich bloss so einen tollen Chef verdient, dachte sie.

Markus streckte ihr die Hand hin, und sie schlug ein.

Nadja Huser hatte im letzten Herbst die zweijährige, berufsbegleitende Weiterbildung zur Kriminalkommissarin begonnen. Das bedeutete, jeden Samstag an sechs Stunden Unterricht oder an praktischen Übungen teilzunehmen und zusätzlich während der Woche noch Hausarbeiten zu schreiben. Nur jetzt, während der Schulferien, hatte sie frei.

„Jetzt wird es aber ernst“, erklärte Aebischer, setzte sich an den Tisch und nahm seine Notizen zur Hand. „Ich war heute Vormittag bei Lena Müller unten. Die Leute von der Spurenanalyse haben wieder einmal hervorragend gearbeitet. Keine Rede von einem hübschen, kleinen, zufällig ausgebrochenen Feuerchen… Hier, lies mal den vorläufigen Bericht.“

Nadja verschlang die zwei Seiten in einem Zug. „Das ist wirklich aussergewöhnlich“, sagte sie dann. „Das Feuer, das im hintersten, öffentlich zugänglichen Raum des Naturmuseums ausbrach, wurde demnach durch einen Zeitzünder ausgelöst, der zunächst eine kleine Menge gewachster Holzspäne und danach den Vorhang in Brand gesetzt hat. Und der automatische Rauchmelder in diesem Raum war von Hand deaktiviert worden! Das heisst, es war eindeutig Brandstiftung, und zwar nach einem ganz perfiden Plan! Das Feuer sollte möglichst lange unentdeckt bleiben.“

Markus nickte. „Und was stellt sich jetzt als die grosse Frage?“

Nadja wurde unsicher. „Hm… Worauf willst du bloss hinaus? Ich muss kurz nachdenken… Ach so, natürlich, die Opfer! Eine Tote und eine Verletzte. War es nur Brandstiftung, oder war es vielleicht sogar ein geplanter Anschlag auf Leib und Leben? Und wenn ja, war wirklich diese Nora Egger das beabsichtigte Opfer, oder galt der Anschlag doch jemand anderem? Etwa der verletzten Patrizia Wanner?“

Markus Aebischer nickte zufrieden. „Ausgezeichnet überlegt, Nadja. Jede Menge offener Fragen. Und nun wünsche ich dir viel Erfolg!“

Nadja blieb sitzen und druckste herum, offensichtlich lag ihr noch etwas auf der Zunge. „Ehm… Markus, darf ich noch etwas fragen? Wirst du auch Jan in dieser Ermittlung einsetzen?“

Aebischer kapierte sofort. Jan Voser war, seit er vor zwei Jahren in Aebischers Gruppe gekommen war, immer wieder Anlass zu kleinen Reibereien gewesen. Jan war etwas jünger als Nadja und hatte auch weniger Dienstjahre bei der Polizei hinter sich. Aber er war aussergewöhnlich ehrgeizig und hatte sich klare Karriereziele gesetzt. Nicht dass Jan ein schlechter Polizist gewesen wäre, aber Nadja hatte einfach mehr Erfahrung und wurde deshalb von Aebischer für die schwierigeren Aufträge eingesetzt, während sich Jan vorläufig mit einfacheren Fällen begnügen musste. Offen beklagt hatte sich Jan noch nie, aber sein Verhalten liess deutlich erkennen, dass er sich manchmal zurückgesetzt fühlte.

Aebischer räusperte sich. „Zurzeit ist Jan noch mit dem Fall Koller ausgelastet. Wenn dieser dann abgeschlossen ist, werden wir zwei uns zuerst darüber unterhalten, ob und wie Jan dich unterstützen könnte.“

„Danke, Markus!“ Nadja atmete erleichtert auf und ging beschwingt in ihr Büro zurück.

Zum ersten Mal in ihrem Leben betrat Nadja Huser das Gebäude des Naturmuseums. Ihre Eltern, Berta und Franz, gingen ja ständig hier ein und aus, aber Nadja hatte das nie im Geringsten interessiert. Präparierte Füchse, ausgestopfte Vögel, aufgespiesste Schmetterlinge und Heuschrecken, getrocknete Pflanzen, bunte Steine, was sollte sie damit anfangen? Nein, ihre Hobbies waren ganz anders gelagert. An erster Stelle stand viel Bewegung, primär aus einem inneren Bedürfnis heraus, aber ebenso, um sich für den Polizeidienst fit zu halten. Volleyball, Waldläufe, Schwimmen und Skifahren, das waren ihre Lieblingssportarten. Aber auch Bücher faszinierten sie. In den langen, dunklen Wintertagen, da sass sie gerne auf ihrem Sofa und verschlang reihenweise Kriminalromane. Möglichst wenig Action, dafür viel Psychologie und technische Analysen, das mochte sie eindeutig am liebsten bei den Krimis.

Yvonne Sager, stand auf dem Namensschild der Frau, die in der Eingangshalle des Naturmuseums hinter einer kleinen Theke am Computer sass. Nadja war heute in ihrer Polizeiuniform gekommen. Sonst war sie oft in Zivil unterwegs, aber zu Beginn einer neuen Ermittlung fühlte sie sich in der Uniform sicherer.

„Guten Tag, Frau Sager, ich bin Nadja Huser vom Kriminalkommissariat. Ich habe mich bei Direktorin Widmer telefonisch angemeldet.“

„Selbstverständlich. Büro 103 im ersten Stock. Nehmen Sie gleich hier rechts die Treppe.“

Yvonne Sagers Augen waren gerötet, offenbar hatte sie vor kurzem noch geweint. Schliesslich hatte sie gestern eine Arbeitskollegin verloren, dachte Nadja und fühlte sich sofort betroffen. Sie stieg die steinerne, von den vielen Tausend darüber gegangenen Schuhen glattpolierte Treppe hoch und folgte dem mit Direktion angeschriebenen Pfeil.

Direktorin Martina Widmer hatte die Besucherin durch die offene Bürotür kommen hören und kam sofort auf sie zu. „Willkommen, Frau Huser, in unserem momentan leider nicht mehr so schönen Haus. Ich schlage vor, dass wir uns gleich auf einen Rundgang begeben, damit Sie sich selber ein Bild von der Situation machen können. Ihr Kollege Aebischer war zwar gestern schon hier, aber ich nehme an, Sie möchten sich persönlich umschauen.“

„Oh ja, sehr gern“, antwortete die Polizistin, „leider ist es ja eine unerfreuliche Situation, die Sie jetzt bewältigen müssen.“

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte die Direktorin, während sie den Flur entlang gingen. „Nora Egger, die in den Flammen ihr Leben lassen musste, war eine langjährige, kompetente Mitarbeiterin, die wir alle sehr geschätzt haben, und sie hinterlässt auch in meinem Herzen eine schreckliche Lücke …“

Martina Widmer blieb stehen, wandte ihren Kopf ab und hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht. Als sie wieder aufblickte, waren ihre Augen feucht. „Wenigstens ist Patrizia Wanner nichts Gravierendes passiert…“

Am Ende des Flurs nahmen sie die Treppe zum zweiten Stock und gingen bis zum Ende eines weiteren kurzen Flurs. Die Direktorin öffnete eine Tür zu einem grossen Raum.

„Sehen Sie, hier sind wir im entlegensten Teil des ganzen Museumsgebäudes. Und hier ist auch, oder vielmehr war, unsere einzigartige Insektensammlung. Mehr als fünfhundert breite, flache Holzkästen, voll von sorgfältig präparierten und beschrifteten Sechsbeinern, insgesamt fast achttausend verschiedene Arten. Bei dem Brand ist leider, leider ein immenser Schaden entstanden. Viele der Kästen sind komplett zerstört, andere werden wir aufwändig reparieren müssen. Insbesondere unsere schweizweit grösste Sammlung von Libellen wurde durch das Feuer vollständig vernichtet…“ Ihre Stimme stockte. „… und das tut schon sehr weh.“

Nadja Huser sah sich um. Fast der gesamte Raum wurde von einer sogenannten Kompaktusanlage eingenommen, einem System von auf Rollen beweglichen, bis zur Decke reichenden Schränken. Mit einer solchen Anlage konnte man fast doppelt so viele Objekte in einem Raum unterbringen als mit fest montierten Schränken. Der Fensterfront entlang standen mehrere Arbeitstische voller Bücher und Mikroskope. Der gesamte Raum war mit schwarzem Russ bedeckt, und es roch immer noch intensiv nach abgestandenem Rauch und nach der feuchten Schmiere.