Höhenangst - Henry Sutton - E-Book

Höhenangst E-Book

Henry Sutton

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Beschreibung

Auch wenn es Jahre her ist, dass Ben Martin auf Skiern stand, freut sich der Hotelinspektor der renommierten Hideaway Group auf seinen neuen Einsatz. Im Hotel G, dem exklusivsten Skiresort der Alpen, muss Martin nicht nur die Zimmer und den Roomservice genauestens unter die Lupe nehmen, sondern auch die weitläufigen Anlagen. Gleich als Erstes am Morgen will er die frisch präparierten Pisten testen, noch während hinter den Gipfeln langsam die Sonne aufgeht. Die Seilbahn soll ihn auf 3150 Meter bringen, zu den drei Skigebieten in drei Ländern. Das Panoramarestaurant an der Bergstation verspricht eine spektakuläre Sicht auf den Montblanc. Doch was Martin in der Gondel der hoteleigenen Seilbahn erwartet, wirft all seine Pläne über den Haufen: ein Mann, in sich zusammengesunken, tot. Niemand schert sich um den mysteriösen Todesfall, sodass Martin nichts anderes übrig bleibt, als selbst Nachforschungen anzustellen und den Angestellten noch genauer auf die Finger zu schauen. Als ein Schneesturm das Luxusresort von der Außenwelt abschneidet, erfährt der Hotelinspektor: Der Mann in der Seilbahn ist nicht der einzige Tote.

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Henry Sutton

Höhenangst

Der Hotelinspektor in den Alpen

Roman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski

Kampa

Montag, 20:45 Uhr

»Merci«, sagte Ben, als er aus dem alten VW Passat Variant kletterte. Er war schon mal bequemer Taxi gefahren. Der Fahrer hatte es eindeutig eilig. Die Straßenbeschaffenheit nahm zusehends beängstigendere Züge an, je höher Schnee lag und weiter das Tageslicht schwand. Ben hatte versucht, ein paar dienstliche E-Mails abzuarbeiten, aber beim Blick hinten im Wagen auf seinen Bildschirm, während das Auto eine weitere vereiste Haarnadelkurve nahm, wurde ihm schlecht.

Er hatte seine Tochter Natalie zu Hause in London anzurufen versucht, aber nicht mehr zuwege gebracht, als »Hi, wie läufts?« zu sagen und ihre langsame, leise, verstörende Antwort zu vernehmen: »Tja, okay, schätze ich. Bei Mom nicht.« Dann riss die Verbindung ab, und nach neuerlichem Wählen schaltete sich sofort die Mailbox ein. Natalies Mum – seine Ex-Frau Alex – war für gewöhnlich wohlauf, gut gelaunt und hatte alles voll im Griff. Was war los? War sie krank?

Unterwegs zum Hoteleingang spürte Ben, und das nicht zum ersten Mal, den Abstand zwischen seinem früheren Leben und seinen gegenwärtigen Verhältnissen.

Das Hotel, funkelnd wie ein lasergeschliffener Edelstein mitten in den Hochalpen, mitten im Winter und erstaunlicherweise ganz für sich – es mochte für manche ein unschätzbar wertvoller Rückzugsort sein. Für Ben war es Arbeit, weshalb er sich ein abgeranztes altes Taxi den ganzen Weg von Martigny hoch hatte antun müssen anstelle, sagen wir, eines modernen SUVs oder auch Hubschraubers. Denn sein Arbeitgeber, die Hideaway-Hotelgruppe, mochte wohl in der Luxushotelsparte angesiedelt sein, war jedoch hinsichtlich Reisespesen seiner Angestellten für Knauserei be- rüchtigt.

Er fror bereits, als er seine Tasche durch die gewaltigen gläsernen Eingangstüren zog, die leiser als ein Flüstern aufgeglitten waren. Zusätzlich sorgte für Verdruss, dass der Fahrer ihm nicht mit seinem Gepäck behilflich gewesen war und ihn gut fünfzig Meter vor dem Eingang abgesetzt hatte. Mit einem Mal hatte er von Glatteis zu murmeln begonnen und befürchtet, nicht mehr wenden zu können, was einfach lächerlich war angesichts seiner nächtlichen Rallyefahrt soeben den Berg hoch. Überdies war Ben beim Betreten der Empfangshalle überrascht und gelinde gesagt fast schon bestürzt, keinen Türsteher vorzufinden oder sonst ein Belegschaftsmitglied, das sich beeilte, ihn zu begrüßen. Als ob sich das Hotel bereits bettfertig gemacht hätte.

Fast zwei Stunden verspätet, da er einen Anschlusszug ausgerechnet in Genf verpasst hatte, hoffte Ben inständig, dass das Restaurant noch offen war. Er wollte sich an einen Tisch setzen und eine ordentliche Mahlzeit zu sich nehmen, wie es zu seinen Dienstpflichten gehörte, statt kurzerhand den Zimmerservice testen zu müssen.

Immerhin war die Halle warm, und es stand niemand Schlange vorm Empfangstresen. Wer sonst sollte auch um diese Zeit ein- oder auschecken, außer vielleicht ein Hotelinspektor beim Versuch, jemanden kalt zu erwischen? Natürlich wusste niemand, wer er war oder warum er hier war. Ben hatte sich inzwischen in die Rolle reingefuchst, als Hochvermögender die Welt zu bereisen oder zumindest als solcher in Luxushotels abzusteigen, wobei der Reiseteil immer noch sehr zum Spartarif erfolgte. Doch eingedenk Natalies knapper Bemerkung neulich war er sich ungewiss, ob die Luxuskomponenten noch so ansprechend waren wie früher einmal.

Exotische Örtlichkeiten verloren immer mehr an Kontur, ebenso wie Luxuselemente. Entfernung war das größte Problem, Entfernung von den Liebsten, Entfernung von zu Hause und einem festen Arbeitsplatz, Entfernung zu routinierten Abläufen. Im Grunde Entfernung von Realität.

»Hallo«, sagte Ben und trat auf die Frau hinter dem Tresen zu. Er hatte sie aufgeschreckt, und sie brauchte einen Moment, um sein Lächeln zu erwidern. »Ich checke ein«, hängte er an, falls sie ihn für ein randständiges Subjekt hielt, das einfach von der Straße hereinspaziert gekommen war. Als ob das hier wahrscheinlich wäre. Abgelegener hätte das Hotel gar nicht sein können. Ben schaute unwillkürlich über die Schulter und sah sich dann in der Empfangshalle um, die in eine Designerlounge überzugehen schien. Sie war angefüllt mit den üblichen ultramodernen Möbelstücken und bar menschlicher Gegenwart. Niemand saß je in diesen Nischen. Wem könnte man es verdenken?

»Ja, selbstverständlich, Sir«, sagte die Frau auf Englisch mit starkem Akzent. Ben glaubte sicher, dass sie Italienerin war. »Und Ihr Name, bitte?«

»Ben Martin«, sagte er langsam. Unter falschem Namen reiste Ben nicht mehr. Es gab einfach zu viele Rückfragen und Sicherheitsbedenken. Überdies bekräftigte Hideaway nur zu gern, dass die firmeneigenen Hotelinspektoren schwerlich Bekanntheitswert hätten, nicht einmal im Gastgewerbe selbst. Abgesehen davon gehörten so viele Hotels dem Verbund an, dass es Jahre dauern würde, ehe derselbe Inspektor ein und dasselbe Hotel ein zweites Mal aufsuchen würde. Noch so eine Ironie, an der Ben sich störte. Wie konnten so viele Hotels exklusiv sein, diskret und der Gipfel des Luxus? Und das waren nur die an Hideaway angeschlossenen Häuser. Es gab viele weitere Luxushotelgruppen, die mutmaßlich alle ihre eigenen Inspektoren hatten.

Wie weit waren Hochvermögende verbreitet? Kriege, Pandemien, Ökokatastrophen, und immer noch gab es Leute, die Geld wie Heu zum Ausgeben hatten. Was sollte nur aus der Welt werden? Was war aus der Welt geworden?

Ben wurde zügig und umstandslos eingecheckt, wenn ihm auch seine trendige mattschwarze Hideaway-Treuekarte keine Zimmeraufwertung einräumte – denn das Hotel war unversehens nahezu voll belegt. »Wir sind regelrecht überrumpelt worden«, teilte ihm die Italienerin mit.

Gewöhnlich buchten ihm seine Betreuer nur Zimmer in Hotels mit genügend Leerstand, um keines an einen Inspektor zu vergeuden, für das ein zahlender Gast zur Hand war. Obgleich der Job eines Inspektors entscheidend war, hatte ihm jedenfalls seine Chefin Emily Muller beim Einstellungsgespräch freudig verkündet. »Unsere Inspektoren sind nicht bloß unsere Augen und Ohren«, hatte sie gesagt, »sondern unsere Qualitätsgewähr. Wir erwarten von ihnen, ebenso gründlich und genau zu sein wie scharfsichtig, so kenntnisreich wie neugierig. Außerdem haben wir gern Inspektoren, die sich ins Bild fügen, weshalb mir an Ihnen liegt, Ben.«

Erst viele Monate später war sich Ben so recht im Klaren darüber geworden, wie sehr Emily Muller an ihm lag. Unterdessen war es ein mehr als gegenseitiges Empfinden geworden. Wenngleich es genauso kompliziert war wie zwingend bei diesen auf Arbeit wie Vergnügen beruhenden On-off-Beziehungen. Tatsächlich gestaltete sich Emilys Privatleben sogar noch komplizierter als seines.

Zum Glück unterrichtete die Italienerin Ben ebenso davon, dass des unverhofften Ansturms wegen – einschließlich einer Reisegruppe, die in letzter Minute eingetroffen war – das Restaurant noch einige Zeit geöffnet bleibe. Ob er gern reservieren wolle?

»Ja«, sagte er mit Blick auf seine Armbanduhr, »unbedingt. In zwanzig Minuten?« Eine rasche Dusche, frische Kleidung, ein Anruf bei Natalie und eine Auftaktbegutachtung seines Zimmers für den Abschnitt »Erste Eindrücke« im neuen Berichtsformular der Hideaway-Hotelinspektoren, und er wäre mehr als bereit für ein Glas Hausmarken-Champagner und ein Amuse-Bouche. Nun, da er endlich im Hotel war, wurde er für aufwendige Wünsche bezahlt und dafür, alles im Angebot zu probieren. Es wurde von ihm erwartet. Außerdem konnte er ein reichhaltiges Abendessen morgen auf den Pisten abarbeiten. Früher mal war er ein sehr geübter Skifahrer gewesen. Und nun ziemlich aufgekratzt davon, nach so langer Zeit wieder ein Paar Skier unterzuschnallen. Etwas nervös war er auch.

»Ausgezeichnet«, sagte sie und blickte von ihrem Bildschirm hoch. »Sie sind rundum eingebucht.«

»Oh, und für morgen muss ich ein Paar Skier und Stiefel mieten.«

»Ja, natürlich. Wir haben eine Gratisauswahl samt Service neben einer Boutique im Hotel, gleich beim Spa. Da ist allerdings für heute Abend schon geschlossen, fürchte ich. Wobei sie früh um acht öffnen, wie übrigens auch das Spa. Die Vorhersage für morgen sieht sehr gut aus nach dem vielen Schnee, den wir hatten. Müsste richtig toll werden.«

»In dem Fall«, sagte Ben begeistert, »wäre ich gern Erster am Lift, um der Warteschlange zuvorzukommen.« Er entsann sich einstiger Skiausflüge und dem Bedürfnis, jede Minute auszunutzen. Nicht zuletzt der Kosten wegen.

»Das werden Sie bestimmt«, sagte sie. »In diesem Resort geht es sehr entspannt zu. Morgens lassen sich unsere Gäste gern mal Zeit. Im Übrigen gibt es hier keine Schlangen.« Sie lächelte, als hätte Ben das wissen müssen.

Dienstag, 8:40 Uhr

Morgens als Erster am Lift sein, das war seine Absicht ge- wesen. Er schüttelte den Kopf in der frischen, eisigen Luft. Wem hatte er bloß was vormachen wollen? Er war nicht mehr jung und in Form und voller Tatendrang. Er rang nach Sauerstoff, doch es fühlte sich an, als würde seine Lunge gefrieren.

Zudem pochte etwas an seinen Hinterkopf, und das waren nicht nur seine Skier. Er nahm sie fester in den Griff, strebte weiter auf die Liftstation zu und zerknirschte dabei den Schnee unter seinen unbequemen Stiefeln. Komm schon, Ben, sagte er sich, das ist doch dein Traum seit dem Tag, als du deinen Fuß in die Frankfurter Zentrale von Hideaway gesetzt hast. Wer kann schon seinen Lebensunterhalt mit Urlauben verdienen? Wer geht schon zur Arbeit ins exklusivste Skiresort der Alpen?

Er brauchte länger zur Liftstation als gedacht. Sie öffnete Viertel vor neun, und er hatte das Hotel etwa zwanzig vor neun verlassen. Dem Werbematerial zufolge sollte es nur ein dreiminütiger Fußweg sein und sah noch nicht mal nach länger aus, doch er erwies sich als tückische Mischung aus jungfräulichem Pulverschnee auf unebenem Eis. Er versuchte, sich mit den Skistöcken in seiner Linken zusätzliche Trittfestigkeit zu verschaffen, und steckte sie seitwärts in die Schneewehen. Doch sie boten wenig Halt, zu tief sanken die Stöcke ein. Die ganze vergangene Woche über hatte es heftig geschneit und für einige tragischerweise zu heftig. Doch nun war das Wetter aufgeklart und ließ perfekte Bedingungen zurück, jedenfalls für die nächsten paar Stunden.

Er verschnaufte, blinzelte und schaute sich um. Sonnenlicht fiel auf die nächstgelegenen Gipfel, die zu beiden Seiten den Gebirgspass überragten, an dem das Hotel lag. Ein strahlendes Weiß, Rosa und Blau in unterschiedlichen Tönen. Fürwahr ein himmlischer Anblick. Meine Güte, war das schön, selbst wenn es wehtat, länger hinzusehen.

Derlei Schönheit sollte nicht so wenigen Menschen vorbehalten sein, dachte er. Wäre er doch in der Lage gewesen, Natalie mitzubringen, die er beunruhigender Weise noch immer nicht hatte sprechen können. Allerdings steckte sie Mitte Januar im Schultrimester. Überdies hatte sie sich seit New York entschieden dagegen gesperrt, ihn auf einer weiteren Dienstreise zu begleiten. Das konnte er ihr nicht verübeln, während Alex ihm die Sache weiterhin übel nahm.

Seine Gedanken wanderten rasch zu Kiara Williams, der überaus freundlichen New Yorker Polizistin. Ihre Schönheit nahm es mit dem eindrücklichen Rundblick ringsum auf. Er erwog, sein Telefon zutage zu fördern und ein paar Fotos zu machen, doch das hätte erfordert, seine Skier abzulegen, Handschuhe abzustreifen, seine Tasche aufzumachen und es daraus hervorzukramen. Er hatte ganz vergessen, wie viel Zubehör das Skifahren voraussetzte, aber immerhin die Ausrüstung morgens gleich als Erstes zügig und gezielt in der hoteleigenen Boutique mit angeschlossenem Skiverleih eingesammelt.

Den Kopf gesenkt stapfte er weiter. Er konnte sehen, wie sich die kleinen Gondeln die Bergflanke zu seiner Linken hoch in Gang setzten, eine lange Kette schwebender Blasen ohne Skier oder Snowboards an den Außenwänden. Dieser Lift war nur für das Hotel gebaut worden. Jede Blase ein kleinformatiges Designstatement aus Stahl und Glas. Es brachte einen hinauf bis auf dreitausendeinhundertfünfzig Meter, von wo aus man sich auf Routen in drei verschiedene Skigebiete dreier verschiedener Länder begeben konnte – Italien, Frankreich und die Schweiz –, solange Bedingungen und Guides das zuließen.

Er war nicht der größte anerkannte Skigebietsverbund der Welt, weil er nicht als solcher vermarktet wurde und beileibe nicht allen zugänglich war. Nur jene mit genug Geld für einen Aufenthalt im Hotel G und ausreichend Skierfahrung konnten seinen Schneereichtum, seine vielfältigen Abfahrten und Loipen genießen.

Dennoch entschieden sich die meisten Hotelgäste, wie Ben schon gehört hatte, entweder für Heliskiing auf den nahe gelegenen italienischen oder Schweizer Bergketten, weil es weniger in die Beine ging, oder beließen es einfach bei den wenigen hoteleigenen Pisten – eine grüne, drei blaue, zwei lange, schwungvolle rote und eine anspruchsvolle schwarze. Mangels Guide hatte Ben bereits beschlossen, sich heute früh nicht zu weit hinauszuwagen. Im Übrigen waren allerhand Prüfpflichten im Hotel von ihm zu versehen. Schon so blieb ihm nur mehr eine weitere Nacht. Wendy Spurling, seine Einsatzbetreuerin bei Hideaway, erinnerte ihn nur zu beflissen an die neue Obergrenze von zwei Nächten für Inspektionsaufenthalte in Mitteleuropa. Natürlich reichte das nicht für ordentliches Arbeiten, zumindest solange er sämtliche Einrichtungen überprüfen sollte.

Als er endlich die Station erreichte, wurde ihm klar, was wirklich an seinen Kopf pochte oder wohl eher in seinem Kopf, mal abgesehen von einem leichten Kater. Er wollte wieder sesshaft werden. Er war sich ungewiss, ob er weiterhin die Welt bereisen sollte. Auf verquere Weise wollte er diese ganze atemberaubende Schönheit gar nicht um sich haben – zumindest nicht seinetwegen.

Er war sich nicht vollkommen sicher, ob er eine dieser aberwitzig coolen Blasen besteigen und im Nu auf eine erschreckende Höhe befördert werden wollte, nur um wieder hinuntergleiten zu müssen. Ihm war zusehends beklommen zumute. Mochte vor Jahren ein leerer Skilift früh am Morgen der Stoff gewesen sein, aus dem Träume gemacht wurden, wünschte er sich eben jetzt ein paar andere Leute um sich. Was wäre, wenn er einen Unfall hätte?

Was für eine Art Bergwacht bot das Hotel auf? Irgendwie war ihm diese Information entgangen. Er musste es aus sowohl beruflichen wie privaten Gründen wissen. Nirgends sah er jemanden, um ihn danach zu fragen. Wenigstens fühlte er sich auf dem rutschfesten Gummibelag der Liftstation sicherer zu Fuß. Schließlich machte er doch jemanden aus, am anderen Ende der Station, jenseits der klotzigen Maschinerie und hinter dickem Glas in einem kleinen Steuerraum. Der Mann stand mit dem Rücken zum Fenster und sprach gerade in ein tragbares Funkgerät.

Da der Lift ausschließlich Hotelgästen vorbehalten war, schien es so was wie Drehkreuze und Liftpässe nicht zu geben. Nur zu Vorstößen in die anderen Skigebiete war ein entsprechender Pass erforderlich.

Ben sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt fünf vor neun. Er wartete, bis sich eine Blase verlangsamte, selbsttätig ihre Türen öffnete, herumschwenkte, ihre Türen schloss und mit einem Scheppern aus der Station hinaus beschleunigte, worauf sie über einer verschneiten Wiese und weiter zwischen schneebedeckten Kiefern emporschwebte. Der Seilbahnwärter schaute noch immer nicht in Bens Richtung.

Die unbehagliche Erinnerung an ein paar wilde Tage auf Skiern mit Doug Sager, einem alten Journalistenfreund, suchte ihn heim. Unterwegs im Sessellift hatte ihn Doug dazu gebracht, sich einen Lawinenpiepser umzuschnallen. Das war in Verbier, Dougs bevorzugtem Wintersportort. Ganz hoch droben führte ihn Doug die Rückseite des Mont Fort hinab. Doug war ziemlich unerschrocken, ein ehemaliger Kriegsreporter, der Gefechten zu oft zu nahe gekommen war. Dougs eigentliche Tragik jedoch lag darin, ein paar Jahre später tödlich auf dem Fahrrad verunglückt zu sein – angefahren von einem Auto.

Ben sah sich über die Schulter um, spürte jemandes Nähe. Doch ihm war niemand aus dem Hotel und den Weg herauf gefolgt. Was stimmte bloß nicht mit diesen Luxushotelgästen? Wussten sie nicht um den seltenen Vorzug einer Liftanlage samt Skipisten für sie ganz allein an einem so hinreißenden Morgen? Sicherlich doch, und deshalb hatten sie es nicht eilig, das Angebot zu genießen. Sie hatten den ganzen Tag Zeit dafür. Jeden Tag, falls sie das wünschten.

Eine weitere schnittige Blase kam und ging. Der Seilbahnwärter sprach immer noch in sein altertümliches Walkie-Talkie, seinen Rücken unbeirrt dem Einstiegsbereich zugekehrt. Schöner Service, das. Würde vermerkt werden.

»Okay, alter Knabe«, sagte Ben laut zu sich selbst, »jetzt mach hinne.« Er schob seine Skier in den Außenträger der nächsten Blase und enterte sie tapsig. »He, Moment mal«, sagte er lauter, als sich die Türen eilends hinter ihm schlossen, noch ehe er sich überhaupt setzen konnte. Was zum Henker? Er war hier drin nicht allein. Jemand war bereits in die Gondel gestiegen.

Aber wie, wo, wann? Keiner sonst hatte auf dem schwarzen Gummibelag gewartet.

Ben fühlte seinen Puls losrasen, sein Herz heftig klopfen. Solchen Nervenschocks war er wirklich kaum gewachsen und schwerlich auf sie eingestellt. »He, hallo?«, sprach er die zusammengesackte Gestalt auf der Sitzbank gegenüber an. Der Mann schien ohnmächtig geworden zu sein.

Er spürte den Beschleunigungsschub, als die Blase am Zugseil ankuppelte, und sie waren unterwegs, huschten über tiefen Schnee, ehe sie geschwind zwischen weißen Bäumen den steilen Berghang emporgetragen wurden.

»Hallo«, sagte Ben noch mal und beugte sich vor. Der arme Bursche war sichtlich in keiner guten Verfassung. In der Gondel war es kaum wärmer als die minus acht Grad Außentemperatur bei Bens Aufbruch vom Hotel. Immerhin trug der Mann einen dicken Skianzug aus dunkler Jacke und Skihose, eigentümlich ähnlich Bens eigener Bekleidung. Jedoch weder Helm noch Mütze. Hatte er die ganze Nacht hier drin zugebracht?

Ben blickte kurz auf und schaute zu den Fenstern hinaus. Wo waren die Skier des Mannes? Nur die von Ben steckten im Träger. Drinnen gab es auch keine Stöcke außer Bens eigenen.

Er beugte sich weiter vor und schüttelte den Mann sachte bei der Schulter. Der regte sich nicht, aber sein Körper gab nach. Wenigstens war er nicht steif gefroren. Ben schüttelte ihn neuerlich. Diesmal kippte der Kopf des Mannes schlaff nach vorn. Seine Augen waren weit geöffnet und ziemlich leblos. Ein Schnodderfaden war aus einem Nasenloch gekrochen und getrocknet. Weißer Speichel klebte ihm im Mundwinkel und war noch nicht ganz trocken.

Der Mann war eindeutig tot. Ben streifte seine Handschuhe ab, langte abermals hinüber und fühlte ihm den Puls, indem er die Finger seitlich an seinen Hals drückte, nur für den Fall. Nichts. Allerdings war er noch leidlich warm. Die ganze Nacht hatte er nicht in der Blase zugebracht, so viel stand fest. Für einen Augenblick erwog Ben einen Wiederbelebungsversuch bei dem Mann.

Etwas an dem Speichel ließ ihn stutzen, ob er nicht lieber einen Mindestabstand wahren sollte. Dennoch tastete Ben abermals nach einem Puls, erst am Hals und dazu am Handgelenk des Mannes, nachdem er den Ärmel seiner Skijacke hochgeschoben hatte. Er war weit jenseits einer Wiederbelebung. Seine blaugrünen Augen starrten ungeheuer geweitet und blind zurück auf Ben. Seine Gesichtshaut war bestürzend blass, beinahe durchscheinend.

Armer Kerl, dachte Ben und setzte sich zurück auf seine Bank. Welch wunderschöner Tag zum Sterben. Er hoffte, unterstellte, dass der Mann etwas davon gesehen hatte, ehe er seinem Schicksal erlegen war. Mit Blick nach draußen malte sich Ben aus, wie die Seele des Mannes zu den höchsten Gipfeln emporwehte und dort nun in strahlendem Sonnenschein schwelgte. Was in aller Welt gab Ben diesen Gedanken ein? Für Wehmut war jetzt keine Zeit.

Der Mann trug keine Handschuhe. Neben dem fehlenden Helm gab es auch keine Spur von einer Ski- oder Sonnenbrille. Hingegen trug er Skistiefel, Skihose und Skijacke ganz ähnlich seinen eigenen Sachen. Tatsächlich war es dieselbe Marke, erkannte Ben bei genauerem Hinsehen. Womit es sich bei der Skibekleidung um neue, aber auch billige handelte. Eigenartig billig für einen Gast im Hotel G.

Seine Sachen hatte Ben in Wahnsinnseile bei Decathlon in Frankfurt gekauft, nachdem die Reise abgesegnet worden war. Er hatte keinen Schimmer, wo seine alte Ausrüstung geblieben war, und sein getreuer englischer Ausstatter Old Town stellte mitnichten irgendetwas auch nur entfernt Pistentaugliches her. Auch so war eine Rechnung über vierhundert Euro aufgelaufen, die er unter Spesen zu verbuchen hoffte. Bemerkenswerterweise hatten seine Handschuhe mit hundertachtzig Euro mehr gekostet als seine Jacke.

Wenn sich Ben einer Sache am Skifahren erinnert und sie gehasst hatte, waren es die kalten Hände, besonders frühmorgens. Zumal er sehr wohl wusste, was die Jahre als Hideaway-Inspektor seinem Kreislauf angetan hatten. Ja, er hatte einen kompletten Check-up nötig, sogar seine geliebte Ex-Gattin hatte ihn zu einem gedrängt. »Mach es Natalie zuliebe«, hatte ihm Alex erst neulich gesagt. »Sie ist zu jung, um ihren Dad zu verlieren. Selbst wenn ihr Dad die Gewohnheit hat, sie in einer der größten und fürchterlichsten Städte der Welt zu verlieren.«

»New York ist nicht fürchterlich«, hatte Ben erwidert. Nie würde Alex ihn vergessen lassen, was in New York passiert war. Dennoch machte ihm New York wirklich keine Angst, verglichen mit einer Skiabfahrt mit Doug Sager auf der Rückseite des Mont Fort. Oder damit, in einer kleinen, schnittigen Designergondel mit einer Leiche festzusitzen.

Die Blase war zum Halten gekommen. Ben fühlte sie leicht schaukeln. Beim Blick nach unten sah er die verschneiten Baumwipfel sachte wackeln. Er wusste sehr wohl, dass die Windverhältnisse auf dem Gipfel eines Berges ganz andere sein konnten.

Bens Sicht nach vorn über die Leiche hinweg ging auf nicht mehr als eine lange Kette Gondeln in vollkommen gerader Linie, die einen aberwitzig steilen Berghang hoch ins Nichts führte. Es gab einen Felsvorsprung in etwa fünfhundert Metern Entfernung, hinter dem die Seilbahn verschwand. Ben hoffte, die Station bald danach vorzufinden, sofern sich der Lift wieder in Bewegung setzte. Diese Dinger blieben dauernd stehen und liefen wieder an, erinnerte er sich. Es mochte nur ein kurzer Halt sein.

Trotzdem wäre er gern sicher gewesen, dass sie nicht mehr weit fahren müssten. Ein Privatlift würde doch bestimmt nicht ewig lang sein.

Ben hatte keine Karte dabei. Ihm war zugeredet worden, die App des Hotels herunterzuladen, die nicht nur die umliegende Gegend abdeckte, sondern anscheinend ein gutes Stück der Schweiz und dazu auch noch Teile von Frankreich und Italien. Er zog sein iPhone aus einer Brusttasche, um hoffentlich seinen genauen Standort bestimmen zu können. Als Erstes aber würde er die Behörden anrufen, Direktion und Security des Hotels und jegliche sonstige Hilfe, derer er habhaft werden konnte.

Wieder tippte er auf den Bildschirm. Offenbar gab es kein Signal. Er schaltete sein Telefon aus und ein. Noch immer kein Signal, nicht mal ein einzelner Balken, geschweige denn irgendein Hinweis auf 5G, wobei es weniger auch getan hätte. Nicht einmal die App des Hotel G konnte er öffnen. Hatte er sie nicht richtig runtergeladen? Oder konnte vielleicht ihr Geo-Locator seine Arbeit nicht verrichten und hatte irgendwie die App gesperrt? Ben dachte daran zurück, wie der Seilbahnwärter in ein Funkgerät sprach. Gab es selbst da unten keinen Handyempfang? Welchen Sinn hatte eine maßgeschneiderte Resort-App, wenn es am Berg kaum Empfang gab und keine Möglichkeit zu erfahren, wo man war?

Ben betrachtete erneut die Leiche und deren Gesicht. Der Mann musste Ende vierzig, Anfang fünfzig gewesen sein – in Bens Alter. Sein grau meliert dunkelbraunes Haar trug er etwas länger. Für Ben war nicht zu erkennen, wie groß der Mann war, doch auch dessen Wuchs wirkte seinem einigermaßen ähnlich. Ben fröstelte; er würde sich hüten, einen Tatort zu verändern, wenn er sich auch nicht sicher war, ob es denn ein Tatort war.

Zu viel blieb ungereimt. Es gab keine Handschuhe bei dem Ärmsten, weit und breit weder Helm noch Skier. Und dann waren da der Schnodder und Speichel. Doch nichts deutete auf einen Kampf in der Blase hin. Der Mann hatte nirgends blaue Flecken. Was hatte er hier gemacht, nur zur Hälfte pistenfertig?

»Mach schon«, sagte Ben laut zu sich und der Leiche, »wann kommt dieser verdammte Lift endlich in Gang?« Er war sich alles andere als sicher, wie viel länger er hier drin mit einem Leichnam festsitzen wollte. Noch einmal sah er auf seinem iPhone nach, ob sich wundersamerweise ein Signal eingestellt hatte. Hatte es nicht.

Wer war dieser Mann, und wie war er gestorben? Hatte er irgendeinen Ausweis bei sich? Gewiss musste es sich um einen Hotelgast handeln.

War er wie Ben auf die erste Fahrt des Tages aus gewesen? Wann genau fing der Lift an zu laufen? Mutmaßlich eine Weile vor der ausgewiesenen Öffnungszeit. Erst musste festgestellt werden, ob die Anlage ordnungsgemäß arbeitete. Könnte sich dieser Mann verfrüht eingeschlichen haben, während der Seilbahnwärter abgelenkt war und ihm den Rücken kehrte?

Wo aber waren seine Skier? Könnte er sich mit jemandem getroffen haben? Hatte er eine Begleitung unten im Hotel? Die Lage, die Bauten, das ganze gemütliche Chalet im Inneren jener hypermodernen Schale des Hotel G waren beinahe zu romantisch, wenn auch als architektonische Botschaft etwas verquast. Es war kein Ort, um ihn allein aufzusuchen. Vielleicht war das der Grund, warum Ben Verdruss geschoben hatte. Es brauchte eine Liebschaft, um die Kaminfeuer voll auszukosten, die Tierfelle unter den Füßen und Whirlpools unter den Sternen, die harten, glänzenden Kanten und übertriebene Exklusivität, die dermaßen kalte und frische Alpenluft, dass es dem Herzen einen Stich versetzte.

Ungeachtet dessen war Ben gestern beim Abendessen eine kleine Tagung oder geschäftliche Sitzung gewahr geworden. Eine Anzahl ernst aussehender Leute, die schicke Großstadtkleidung trugen. Er bezweifelte, dass sie alle mit Partner dort waren, oder zumindest nicht mit ihren üblichen Gefährten.

Bens streifte seine eigenen Handschuhe wieder über, beugte sich vor und fing an, die Jacke des Mannes abzuklopfen, das Äußere der Brust- und Seitentaschen, die er erreichen konnte, ohne die Leiche merklich zu bewegen. Doch waren seine Handschuhe so dick und die Skibekleidung des Mannes nicht minder, dass Ben Mühe hatte, irgendetwas wie eine Brieftasche oder ein Handy zu ertasten.

Als Ben seine Handschuhe ablegte und eine gründlichere Suche in Betracht zog, machte die Gondel einen Ruck nach vorn, und er fand sich nahezu auf dem Schoß des Mannes wieder. Er fluchte.

Während er seine Fassung wiedergewann und die Blase geschmeidig den Berg erklomm, zückte er erneut sein Telefon und tippte wild darauf ein. Es gab noch immer kein Signal, aber ihm kam eine andere Idee. Er begann, den Mann zu fotografieren, sein Gesicht, seine Lage, alles aus verschiedenen Blickwinkeln. Außerdem machte er eine Reihe Fotos und ein Video vom Inneren der Gondel, da er weniger Augenfälliges unschwer übersehen haben könnte.

Als er sich im Klaren darüber wurde, dass er den Mann waagerecht hinlegen müsste, um ihn gründlich zu durchsuchen, nahm Ben mit der Aussicht vorlieb. Immer noch stiegen sie zwischen den Bäumen an, strebten dem Kamm entgegen. Er konnte keinerlei Pisten oder Skifahrer ausmachen, überhaupt niemanden. Hingegen hatte er hinter sich einen wunderbaren Ausblick auf das Hotel unten im Tal. Es war mit seinen Anbauten und Erweiterungen größer als gedacht. Noch im Schatten wirkten die scharfen, asymmetrischen und schneebedeckten Dachkanten beinahe industriell.

Irgendwo innerhalb des Komplexes befand sich ein Altbau, ein Sommerhof, der weitgehend erhalten geblieben war und nun die sogenannte Library Bar und halbe Empfangshalle beherbergte. Der altertümliche, rustikale Kern des Hotels war gänzlich von harten, modernen Kanten, Winkeln und umfassenden Ausbauten überformt worden. Sorgfältig in Glas, Stahl und glatt poliertem Beton konserviert, war das alte Kiefernholz nun auf ewig den Elementen entzogen. Das Ganze übte eine gewisse Wirkung aus, insoweit Ben es im Einzelnen bereits erforscht hatte.

Das Hotel schloss eine Anzahl kleiner, frei stehender Chalets ein, wie Ben sehen konnte. Dann gab es verschiedene Terrassen und einen schimmernden Winterpool, der aus einem Gebäude hervorragte und fröhlich vor sich hin dampfte. Es existiere auch eine Tiefgarage, hatte er gehört. Ein paar große dunkle Autos standen jedoch nahe dem Hoteleingang aufgereiht. Weiter entfernt konnte er den Hubschrauberlandeplatz sehen, ausgewiesen durch eine leuchtend orangefarbene Flagge und ein auf den Schnee gemaltes blaues Kreuz.

Eben da fühlte Ben einen weiteren heftigen Ruck, sah Schnee und Fels nur ein paar Meter unter sich. Die Blase hüpfte buchstäblich, ehe sie zügig über einen Abfahrtshang voll glitzerndem Schnee voranschwebte.

Rechter Hand konnte er eine Piste zwischen sparsam gesetzten roten Stangen sehen. Frisch präpariert, funkelte ihr schnurgerades Cordmuster einladend. Dafür also zahlten die Reichen, musste Ben unweigerlich denken. Perfekte Bedingungen für sie allein. Nur dass es ein wirklich fauler Verein war. Noch zog niemand frische Spuren durch den Schnee.

Wenn der Mann ermordet worden war, wo war dann sein oder waren seine Mörder jetzt? Ben konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne Skier und weitere wesentliche Ausrüstung in die Blase geraten und anders als durch falsches Spiel einfach verblichen sein könnte.

Wie sie am rechten Rand des Horizonts über den Hang kamen, nahm Ben zwei Gestalten auf Skiern wahr. Sie vollführten elegante Parallelschwünge und warfen dabei hauchfeine Pulverwolken auf. Einer der Skifahrer vollbrachte diese Kunststückchen, obwohl er anscheinend ein dickes Bündel Stöcke oder Pistenmarkierungen schulterte. Als sie sich näherten, sah Ben gleichartige silbergraue Skianzüge, Helme und verspiegelte Skibrillen an ihnen. Es musste sich um die hoteleigenen Pistenwärter handeln.

Ben kam halb hoch und winkte hektisch, ehe er gegen die Scheibe schlug und alles sonst versuchte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie liefen geradezu unter den Seilen durch, ohne nach oben zu blicken, und waren bald außer Sicht. Beim Hinsetzen machte Ben linker Hand die Liftstation aus. Er hatte reichlich Zeit, abermals sein Handy zu überprüfen, doch Empfang hatte er noch immer nicht.

Während sich die Station näherte, zog die Wirklichkeit herauf. Ben wusste, dass ihm nicht viel Zeit bliebe, den Seilbahnwärter zu alarmieren und das Ding zum Halten zu bringen. Er hatte keine Absicht, noch eine runde Viertelstunde mit der Leiche in der Blase zu verbringen, während sie den Berg hinunter unterwegs wäre.

»Okay, mein Freund«, sagte Ben, als die Gondel schließlich in die Station einschwenkte und kräftig abbremste, »ich werde rausfinden, was dir zugestoßen ist. Mindestens das kann ich tun. Das hätte auch ich gewesen sein können«, hängte er an, als die Türen sich selbsttätig öffneten und er hinausturnte, ohne dabei seine Skistöcke zu vergessen.

Er hätte es wirklich gewesen sein können, dachte Ben angesichts der äußerlichen Ähnlichkeit der Leiche und der Tatsache, dass beide die gleiche Skibekleidung trugen. Einmal mehr bedrückten ihn jäh Einsamkeit und Sterblichkeit, und wieder rang Ben nach Luft. Alleine sterben?

»He«, keuchte er laut aus und sah sich nach einem Seilbahnwärter um. »Hilfe. Lift anhalten, Lift anhalten!« Es gab eine verglaste Führerkabine auf der gegenüberliegenden Seite der Station, doch sie war leer. Schließlich entdeckte Ben einen Mann neben dem Ausgang. Er hielt eine Schneeschaufel in den Händen und schien überrascht, Ben zu sehen. »He«, rief Ben ihm zu. »Sie müssen den Lift anhalten.« Der Mann wirkte verdutzt und begriffsstutzig. Dann begann er, mit dem rechten Arm zu winken, und zeigte hinter Ben.

Ben sah über seine Schulter nach der Gondel, die sich langsam durch die Station und darüber hinaus bewegte. Mein Gott, ging ihm auf, sie verkuppelte sich mit einem weiteren Satz riesiger Zahnräder und Drahtseile, die sie noch höher den Berg hinauftragen würde, statt zu wenden und wieder hinunter zur Talstation zu befördern. Dies war ein Zwischenhalt und nicht die Endstation. »Anhalten«, rief Ben. »Arrête le téléski.«

Der Seilbahnwärter ließ seine Schaufel fallen, hastete an Ben vorbei und zerrte Bens Skier aus der Außenhalterung, derweil die Türen der Gondel schon geschlossen waren. Sogleich schnellte die Gondel zum anderen Ende der Station hinaus. Mit breitem Lächeln hielt der Seilbahnwärter Ben seine Skier entgegen.

»Da drin liegt ein Toter«, sagte Ben mit ausgestrecktem Finger. »Mort. Homme mort.« Der Mann, der keinen Tag jünger als siebzig sein konnte, lächelte dämlich weiter. Auch er trug eine silbergraue Skijacke und Hose, die viel zu modisch für ihn aussahen. Ben nahm ihm seine Skier ab und fragte den Mann darauf auf Französisch, Italienisch und Englisch, welche Sprache er spreche.

Der Alte schüttelte fortwährend den Kopf, ehe er nickte. »Französisch vor allem. Etwas Englisch kann ich auch.« Er hatte offensichtlich weder verstanden, was Ben gerufen hatte, noch durch die Fenster der Blase den zusammengesunkenen Körper gesehen. Oder musste gedacht haben, falls er doch eine menschliche Gestalt wahrgenommen hatte, dass der Betreffende am folgenden Endhalt aussteigen würde. Bloß ohne Skier? Nun, tja, vielleicht, hatte das Hotel nicht ein Restaurant ganz oben auf dem Berg?

Seufzend ging Ben hinüber zum Ausgang, lehnte seine Skier an die Wand und angelte sein iPhone hervor. Endlich hatte er Empfang, zwei Balken stark. Er rief das Hotel an.

»Bonjour, Hotel G«, erklang eine geschäftige weibliche Stimme.

»Hallo«, sagte Ben. »Ich bin Gast bei Ihnen, Ben Martin. Gegenwärtig befinde ich mich an der Liftstation, der ersten den Berg hoch.«

»Ja?«

Der Wind hatte heftig an Stärke zugenommen, kam um den Eingang zur Liftstation gepeitscht und toste ihm in den Ohren. Außerdem hatte Ben seine Handschuhe ausziehen müssen, um das Hotel anzuwählen, und seine Hände waren bereits steif gefroren. »Können Sie mich mit dem Duty Manager oder Sicherheitschef verbinden? Es gibt ein Problem.«

»Das tut mir leid zu hören.« Ihr Englisch war makellos und amerikanisch eingefärbt. Wahrscheinlich hatte sie in den USA studiert oder sich ausbilden lassen. »Bitte warten Sie, Sir, und ich sehe, was ich tun kann.«

Ben sah sich nach dem Inneren der Station um. Der Seilbahnwärter schien sich in seine Aufsichtskabine zurückgezogen zu haben. Gondeln kamen und gingen: zwei auf dem Weg nach oben beförderten Skier und ein Paar Snowboards in den Außenhalterungen. Offenbar waren nicht alle Hotelgäste gar so faul und selbstgefällig, wie Ben gedacht hatte.

Er sah zu, wie die silbergrauen Gondeln in die Station einliefen, abbremsten und ihre Türen öffneten, ohne dass jemand ausstieg. Zahlreiche Männer und Frauen in Hochstimmung und schicker Wintersportbekleidung strebten offenbar der Endstation entgegen.

»Hallo?«, sagte Ben in sein Telefon. Viel länger würde er den Apparat mit bloßen Händen nicht halten können. Außerdem hatte er keine Ahnung, was der Seilbahnwärter an der Endstation bemerken und deswegen unternehmen würde. Ob die Leiche auch dort übersehen werden könnte? Dass die Gondel keine Skier in der Halterung stecken hatte, mochte dafür sprechen.

»Monsieur?« Sie war zurück am Telefon.

»Ja?«

»Leider ist der Duty Manager gerade verhindert, gemeinsam mit dem Sicherheitspersonal.«

»Sonst gibt es niemanden? Den Hoteldirektor?« Da fiel Ben wieder ein, dass der Hoteldirektor im Krankenhaus lag, nachdem er letzte Woche von derselben Lawine erfasst worden war, die auch tragischerweise den Sicherheitschef getötet hatte. »Wohl nicht«, antwortete er für sie. »Hab davon gehört, was letzte Woche geschehen ist.«

Wendy Spurling hatte ihn ins Bild gesetzt, als er gerade schon zum Resort aufbrechen wollte. Es wurde als umso notwendiger erachtet, das Hotel zu prüfen. Solche Betriebe sollten imstande sein, mit unvorhergesehenen Umständen fertigzuwerden. Wobei das G nicht eben hervorragend abschnitt, ein fehlender Page auf Posten vergangenen Abend war da noch das Geringste. »Tut mir leid deswegen«, fügte er hinzu.

»Im Hotel findet gerade ein sehr wichtiges Meeting statt. Alle sind äußerst beschäftigt. Wir sind leider unterbesetzt.«

Sollte sie Ben so was sagen, ganz gleich, wie die Dinge bei ihnen standen?

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Können Sie die Polizei anrufen?«

»Wo genau liegt das Problem?«

»Wie weit ist die Polizei entfernt? Wie schnell kann sie hergelangen?«

»Hängt davon ab, ob wir die französischen, Schweizer oder italienischen Behörden hinzurufen. Was allerdings auch vom Sachverhalt und möglichen Ort des Geschehens abhängt. Das Resort erstreckt sich auf alle drei Länder. Gewöhnlich werden die Behörden nur in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich tätig.«

»Was gilt denn für das Hotel selbst?«, fragte Ben.

»Da gibt es eine Reihe Gebäude. Die meisten liegen in der Schweiz, einige aber auch in Italien und Frankreich. Das Hotel steht wirklich genau auf der Grenze. Allerdings treffen die Italiener, also die Carabinieri, hier gewöhnlich am raschesten ein.«

Beunruhigenderweise klang das für Ben so, als würde die Polizei häufig gerufen. Wohl war ihm bekannt, dass sich das Hotel auf mehrere Länder erstreckte, womit es in der Tat auch warb, wobei er nicht recht zu sagen wusste, ob er sämtlichen Folgerungen daraus Rechnung zollte außer den finanziellen. Nach seiner Kenntnis war das Unternehmen geschäftsseitig in der Schweiz eingetragen – wenig überraschend.

Er sah sich nach dem Inneren der Liftstation um. »Die Liftstation?«, fragte er. »In welchem Land liegt die?«

»Die Talstation in der Schweiz, glaube ich. Die ganz oben aber in Frankreich.«

Hinsichtlich einer Kriminalermittlung, wurde sich Ben bewusst, könnte sich dies sehr schnell als sehr verwickelt entpuppen. Wie er sich umblickte, fiel Ben ein kurzes Stück entfernt eine große Pistenkarte auf, die aus dem Schnee ragte. Er stapfte ungelenk hinüber, knobelte schleunig aus, wo er war, und stellte fest, dass sich die nächste Station und Endhaltestelle des Lifts gleich hinter dem Rand des Hanges befand – in nur etwa einem Drittel der Entfernung zwischen Talstation und erstem Halt. Mehr als fünf oder sechs Minuten Fahrtzeit konnten es nicht sein.

Ben wurde sich deutlich bewusst, dass die Leiche bald wieder auf dem Rückweg sein und den Zwischenhalt durchlaufen würde. Nun, sollte das der Fall sein, würde er nicht noch einmal aufspringen und sich zu dem Toten gesellen.

»Monsieur?«, sagte die Empfangsdame. »Sind Sie noch dran? Wie kann ich Ihnen am besten behilflich sein? Sind Sie verletzt, in Gefahr? Wurde etwas gestohlen?«

»Nein, nichts von alledem. Danke der Nachfrage.« Sie leistete gute Arbeit in Bezug auf das Wohlbefinden eines Gastes, wenn sie auch keine diskrete Rezeptionistin schlechthin war. »Es geht um jemand anderen.« Eben da sah er die Schar Hotelgäste am Horizont auftauchen und auf rasante, aufsehenerregende Weise ihren Weg bergab nehmen. Ehe er sich’s versah, würden sie am Fuß des Bergs eintreffen. Ehe er sich’s versah, würde die Leiche am Fuß des Bergs eintreffen.

»Ich werde mich in Kürze einfinden und das Problem persönlich schildern«, sagte er nunmehr überzeugt, hier oben nicht einfach warten zu können. Er musste es vor der Leiche zur Talstation schaffen.

Wobei es ihm schwerfiel, das Gespräch zu beenden, denn seine Finger waren vollkommen taub. Er war außerstande, sie auch nur annähernd treffsicher aufs Display zu drücken. Endlich stopfte er das Telefon in die Brusttasche seiner Skijacke und zerrte den Reißverschluss halbwegs zu. Dann streifte er seine Handschuhe über und besann sich erst jetzt darauf, dass sie handyfreundliche Fingerkuppen hatten und zum Telefonieren anbehalten werden konnten – daher ihr unerhörter Preis. »Soll bloß mal einer versuchen, mit diesen verdammten Dingern ein Telefon aus einer engen Skijackentasche zu kriegen«, rief er aus.

Immer häufiger ertappte er sich dabei, vernehmlich vor sich hin zu schimpfen. Noch so eine Alterserscheinung, schloss er resigniert. Das Anschnallen seiner Skier hingegen erwies sich als leidlich einfach. Noch ein rascher Blick auf die Pistenkarte, ein Klaps vor den Kopf, ob sein Helm fest genug saß, und los gings. Beinahe umgehend fand er sich inmitten der anderen Gäste wieder, die kreischend und jauchzend eine Schau abzogen. Zumindest die Männer. Die Frauen unter ihnen verhielten sich weit anmutiger.