Homer. 100 Seiten - Melanie Möller - E-Book
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Homer. 100 Seiten E-Book

Melanie Möller

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Beschreibung

»Homer ist im besten Sinne des Wortes divers. Er war schon so vieles im Laufe der Literaturgeschichte – Grieche, Syrer, Blinder, Eunuch, eine Gruppe von Menschen gar. Auf die erzählerische Wucht seiner beiden Epen hat das keinerlei Einfluss.«Hat es Homer gegeben? Sind die berühmten Epen Ilias und Odyssee nur Niederschriften von oft Gehörtem – oder seine eigenen Dichtungen? Melanie Möller begibt sich auf Spurensuche. Sie beleuchtet die Lebenswelt des Dichters, führt in seine Werke ein und fördert so manches Überraschende zutage. Der Leser begegnet Achill, Helena und Odysseus, heftet sich an die Fersen der Rhapsoden, schaut Forschern über die Schulter – und kommt dem wohl berühmtesten Dichter der Antike ein großes Stück näher.

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Seitenzahl: 118

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Melanie Möller

Homer. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung Philipp Reclam jun. Verlag GmbH nach einem Konzept von zero-media.net

Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961980-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020590-7

www.reclam.de

Inhalt

Abbildung

Annäherung: Der erzählte »Homer«

Dichtung auf Reisen: Das Leben der Rhapsoden

Der blinde Sänger aus Chios

Wer war er, und wenn ja, wie viele?

Erster Dichter des Abendlands oder Eunuch aus dem Orient?

Homer als Erzähler

Zorn im Zelt: Die Ilias

Nach Ankunft Mord: Die Odyssee

Ein bisschen Pathos zum Schluss: Homer heute

Lektüretipps

Bildnachweis

Zur Autorin

Über dieses Buch

Leseprobe aus Antike. 100 Seiten

Annäherung: Der erzählte »Homer«

Es gibt wohl keinen Autor, über den mehr spekuliert worden ist als über Homer. Jedenfalls keinen, dessen Werke von vergleichbarem Einfluss sind wie die Ilias und die Odyssee. »Wer auch immer Homers Person zu fassen suchte, hat schließlich doch nur einen zerrinnenden Schatten umarmt«, so lautete 1935 der ernüchternde Befund des Philologen Erich Bethe. Einen Schatten – oder gleich mehrere: Zahllose Forscher streiten bis heute darüber, ob wir es mit einem Einzeldichter (so die Position der sogenannten »Unitarier«) oder einem Kollektiv, einem ganzen Heer von Schatten (so die »Analytiker«), zu tun haben, wobei die Feldforschung zur Oral Poetry im 20. Jahrhundert den großen Einfluss mündlicher Erzähltraditionen auf die beiden Homer zugeschriebenen Epen zutage gefördert und damit die Frage nach dem Autor weiter ins Ungefähre gerückt hat. Angeregt von Friedrich August Wolf, dem Begründer der Philologie als moderner Disziplin, hatte bereits Friedrich Nietzsche 1869 den Namen »Homer« als »aesthetisches Urteil« eingestuft; andere wie der britische Gräzist Martin L. West empfahlen, den Dichter nur mit dem Buchstaben »P« zu benennen (für »the Poet of the Iliad«).

»Hat er denn überhaupt gelebt?« – So bündelte Joachim Latacz 2008 die skeptischen Fragen nach Homers Existenz.

Die Autorin dieses Büchleins hegt wider bessere Überzeugung eine große Sympathie für die vor allem im deutschen Sprachraum verbreitete Tendenz, Homers historische Existenz für wahrscheinlich zu halten. Um seine ethnische Herkunft wird genauso gerungen wie um seine namentliche Identität: Nicht erst seit den Thesen des Dichters Raul Schrott wird am Beispiel Homers auch darüber gestritten, ob der ›Beginn‹ der europäischen Literatur in den Westen oder in den Osten gehöre: Ist Homer »Vater des Abendlands« oder »Eunuch aus dem Orient«? Die Frage ist längst zum Politikum geworden. Homer jedoch ist heterogen, ist divers im eigentlichen Sinne des Wortes. Er ist Projektionsfläche und Sehnsuchtsgestalt, er beflügelt Visionen, Phantasien, Träume, und das keineswegs erst seit der großen »Homeromanie« des 18. Jahrhunderts (zumal in Deutschland); in der Antike selbst hat man schon früh (etwa ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.) über den großen Meister zu spekulieren begonnen – waren biographische Entwürfe, die mit unterhaltsamen Anekdoten geschmückt waren, doch sehr beliebt.

Wie dem auch sei: Am Beginn der westöstlichen Literaturgeschichte steht ein Name, der die Absurdität des Vorhabens, die Verbindung von Autor und Werk individualbiographisch anzugehen, auf eine Formel bringt: HOMER.

 

Wenn der Fokus im Folgenden also nicht nur auf die Texte, sondern auch auf »den« Autor gelegt wird, dann im beständigen Wissen darum, dass dieses Gelände vermint ist. Die Gefahren hat die antike Literatur in Theorie und Praxis selbst ausbuchstabiert: Sie liegen in der Wesensverschiedenheit von Kunst und Leben begründet. Mit konkretem Blick auf Homer hat bereits der subversive Satiriker Lukian von Samosata im 2. Jahrhundert n. Chr. das Abenteuer dieser biographischen Rekonstruktion auf den Punkt gebracht: Von Homer gebe es, »seine Poesie abgerechnet«, nichts Zuverlässiges zu sagen. Daraus zieht Joachim Latacz die zutreffende Bilanz: »Sowohl die Haupt-Diskussionspunkte zur Person Homers als auch die Folgerung, die Lukian aus der Diskussion zieht, sind in den rund 2000 Jahren bis heute grundsätzlich gleichgeblieben« (Homer-Handbuch, S. 1). Unter diesen Bedingungen erfand sich die Literaturgeschichte ihren Anfang. Hinzu kommt die generische Spezifik: Helden-Epen sind keine autoreferentielle Lyrik, und so bieten uns die Homer zugeschriebenen Werke selbst für Spekulationen über sein Leben wenige Spielräume. Und doch gibt es sie, diese äußerst reizvollen Spielräume – ihre Grenzen werden in den folgenden Kapiteln ausgelotet.

In einem Satz vorweggenommen

In der Ilias geht es um den Groll des griechischen Helden Achill vor den Mauern des belagerten Troja im neunten, dem bereits vorletzten, Kriegsjahr, bis zum Tode Hektors, des Haupt-Helden der Trojaner.

 Die Odyssee schildert die zehnjährige Irrfahrt des sagenhaften Odysseus auf seiner Heimreise nach dem Sieg über Troja, die Suche seines Sohnes nach dem Vater sowie die Rückeroberung der Heimat durch beide.

Dichtung auf Reisen: Das Leben der Rhapsoden

Im alten Griechenland gab es den Typus des fahrenden Sängers. Ob Homer selbst einen solchen verkörperte, ist zwar unsicher; doch es zogen Sänger durch die Lande, die seine Dichtungen zum Besten gaben, soviel ist gewiss. Wie haben wir uns das Dasein dieser reisenden Kleinkünstler vorzustellen, und was verrät das über das literarisch-kulturelle Leben der Zeit?

Als Bezeichnung für die fahrenden bzw. wandernden Sänger kursierte neben »Rhapsoden« auch »Aoiden« oder, im Anschluss an ihren vermeinten Gegenstand, »Homeriden«. Grundsätzlich erfasst die Nomenklatur den Sänger als professionellen Rezitator, wie er für die Präsentation der griechischen Epik von ca. 1600 bis 800 v. Chr. üblich war. Der Begriff Rhapsode setzt sich zusammen aus dem griechischen Verb rhaptein (»nähen«) und dem Substantiv für »Gesang« (ode). So wäre ein »Rhapsode« denn eine Art Wiederkäuer: jemand, der »Gesänge aus schon vorhandenem Material näht«. Eine spätere kritische Implikation ist nicht auszuschließen – einem solchen Rhapsoden ließe sich der kreativere »Aoidos« gegenüberstellen. Doch zunächst war die Kreativität auch der Rhapsoden über jeden Zweifel erhaben. Denn vor der Verbreitung der Schrift um 800 v. Chr. mussten die Gesänge extemporiert, das heißt aus dem Gedächtnis wiedergegeben, improvisiert werden, was immer neue Kompositionen erforderte. Im Übergang zur Schriftkultur wurden die bewährten oralen Techniken mit den neuen schriftbasierten kombiniert: eine kreative Schnittstelle, an welcher wir unseren Homer ansiedeln dürfen.

Fest steht außerdem, dass Musik das Leben im alten Griechenland wesentlich bestimmte; auch die Wortkunst ist ohne sie nicht denkbar und war in der Regel an einen konkreten musikalisch untermalten Aufführungsrahmen gebunden. Gesang und Rezitation standen in hohem Ansehen, wie Homer selbst verbürgt (Odyssee 13, 28: »auch sang vor ihnen der göttliche Sänger, unter den Völkern geehrt, Demodokos«; vgl. Odyssee 17, 385). Kein Wunder, dass es sich sogar der als grausam gezeichnete Achill im 9. Buch der Ilias (Verse 186–189) nicht nehmen lässt, der Leier sanfte, nachgerade melancholische Töne über den »Ruhm der Männer« (klea andron) zu entlocken. Erste Aoiden gab es womöglich in den frühmykenischen Burgen. Ihre Wanderung und damit die Erweiterung ihres Wirkkreises dürfte etwa 1100 v. Chr. eingesetzt haben, also rund hundert Jahre nach dem vermuteten historischen Datum der Ereignisse um Troja (wenn man die wissenschaftliche Rekonstruktion der mythischen Welt so weit treiben möchte).

Unter dem Namen »Homeriden« reüssierte eine Gruppe von Rhapsoden (Pindar, Nemeische Oden 2, 1), die sich als biologisch erste Generation nach Homer und als eine Art Nachlassverwalterschaft betrachtete und vor allem auf der Insel Chios (dem möglichen Geburtsort Homers) verbreitet war. Als populärster unter ihnen galt Kynaithos, von dem es heißt, er habe den Texten auch eigene Verse untergejubelt: eine Tätigkeit, die unter dem Namen »Interpolation« firmiert. Daneben etablierte sich der Titel für die diversen Homer-Vereine, in denen sich weniger Rhapsoden als vielmehr Anhänger versammelten, die bis in hellenistische Zeiten nachweisbar sind. Möglicherweise gab es sogar eine Art Sänger-Gilde. Ob auch Schulen mit einem spezifischen, auf mehrere Jahre ausgerichteten Ausbildungsangebot existierten, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls bedurften die Sänger beachtlicher Qualifikationen, fachlicher wie sozialer Art: Die in Homers Epen gebotenen Beispiele des Demodokos (im 8. Buch der Odyssee) und des Phemios (im 1. und 22. Buch der Odyssee) zeigen Meister ihrer Zunft, die den generationenübergreifenden Stoff so gut beherrschten, dass sie gleichsam »auf Zuruf« loslegen konnten. Auch mit den gesellschaftlichen Hintergründen und Erwartungen ihres Publikums bzw. ihrer (meist adligen) Auftraggeber waren sie vertraut. Vor allem aber mussten sie musikalisch sein. Gestützt auf die Vermutung, dass Homer selbst Sänger, Dichter und »Instrumentalist« in Personalunion war, wird man davon ausgehen dürfen, dass mindestens zwei der Voraussetzungen von einem fahrenden Sänger zu erfüllen waren.

Zu den Instrumenten gehörte ein hohles Gerät namens »Phorminx«, eine Art Leier, eine Ahnin der späteren Lyra oder Kithara mit Halteband, die auch zum Tanz aufspielte. Sie erzeugte einen »klaren« bzw. etwas ambivalent als ligys (»hell«, aber auch »schrill«) bezeichneten Klang und war sowohl mit einem Joch als auch mit Darmsaiten ausgestattet; darüber hinaus bestand sie aus einem hölzernen bauchigen Schallkörper und einem kreisförmigen Seitenhalter sowie aus zwei Armen mit einem verbindenden Querbalken. Über diese waren wohl zunächst vier, später aber auch sieben Saiten gespannt. Eine gewisse Plausibilität hat die Vermutung erlangt, dass sie im Durchschnitt über sieben Saiten verfügte und in Sitzhaltung gespielt wurde, jedoch wohl noch nicht mit einem Plektron, welches zumindest Homer nicht erwähnt, sondern mit den bloßen Fingern.

Ihre Kunstfertigkeit mussten die Sänger auch in Wettbewerben unter Beweis stellen; die homerischen Epen selbst waren fester Bestandteil sogenannter Rhapsoden-Agone bzw. -Aufführungen, die vor allem bei Festen und Gelagen stattfanden oder in Spiele oder Leichenzüge integriert waren. Homer zu rezitieren war eine Institution z. B. an den Panathenaien, die alle vier Jahre zu Athen stattfanden. Neben Homers Epen gehörten etwa auch die beißenden Jamben des Archilochos von Paros (7. Jahrhundert v. Chr.) ins Arsenal der Rhapsoden. Hinzu kamen andere Götter- und Heldenlieder. So wurden diese Sänger zu bedeutenden Vermittlern des kulturellen Erbes. Ihre Beliebtheit scheint erst mit der »sokratischen Wende« in der Philosophie im späten 5. Jahrhundert v. Chr. erhebliche Einbußen erlitten zu haben, so dass Sokrates den Rhapsoden Ion aus Ephesos in Platons gleichnamigem Dialog als verblendeten Einfaltspinsel aus einer vergangenen Zeit vorführen kann, der besser beharrlich sein Epos weiter vorgetragen hätte als auf Sokrates’ seine Ahnungslosigkeit bloßstellende Fragen zu antworten (Sommer 2015, S. 80). Doch so weit sind wir noch lange nicht – noch steht die gesungene Dichtung in voller Blüte.

Eine Muse spielt auf einer Kithara; Malerei auf einem Tongefäß (sogenannte Lekythos) aus dem späten 5. Jahrhundert v. Chr.

Der blinde Sänger aus Chios

Es gab von jeher verschiedene Beweggründe, Homer zu vereinnahmen – dazu gehört neben kulturnationalen Bestrebungen auch die menschliche Sehnsucht nach einem protos heuretes, einer universalen Gründerfigur sozusagen. Auf Homer trifft das in besonderer Weise zu: Er fungiert als Fluchtpunkt so mancher auch wider besseres Wissen ausgelebten Urszenen-Phantasie. Einen literaturgeschichtlichen Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht die (nicht nur deutsche) Romantik um Johann Jakob Winckelmann und andere Griechenbegeisterte im 18. Jahrhundert dar, die in Homer ein so unverbildetes wie begnadetes Naturgenie sahen, einen vom Olymp gefallenen Meister. Doch auch in antiken Literaturarrangements thronte Homer bereits einsam an allen denkbaren schöpferischen Spitzen. Man denke vor allem an Aristoteles, der in dem eher nüchternen Vorlesungsskript, welches später als Poetik in die Annalen eingehen sollte, Homer als den »Erfinder« verschiedener Gattungen pries, nicht nur des Epos und der Tragödie, sondern auch der Komödie, indem er ihn als Verfasser einer Parodie über einen Tölpel namens »Margites« anführt, der als ein antiepischer Gegenheros konzipiert ist.

Das ist nun keineswegs unrühmlich für den Verfasser, dass er nicht nur erhabene Stoffe, sondern auch ›Schmierenkomödien‹ produziert haben könnte; vielmehr wurde es als Ausweis seiner Vielseitigkeit betrachtet. Von den Homer zugeschriebenen Texten wurden aber vor allem die beiden Epen, Ilias und Odyssee, schon früh zu universalen Lehr- und Lerngegenständen auch außerhalb der Rhapsoden-Welt. Die Popularität der Texte führte alsbald zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Leben eben jenes »Homer«. Es ist nämlich durchaus nicht so, dass »die« Antike wenig Interesse am Leben ihrer Autoren aufgebracht hätte; dieses Klischee, das unter anderem von Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert forciert wurde, hat sich jedoch hartnäckig gehalten und lebt in Teilen bis heute fort. Seit es Literatur gab, haben sich Leser auch für das Leben der Autoren interessiert. Über Homer wollte man sogleich alles Mögliche wissen oder gab etwas zu wissen vor, obwohl so vieles im Dunkeln lag – oder eben gerade deshalb. Das begann wohl schon im 6. Jahrhundert v. Chr. mit dem Dichter Theagenes aus dem süditalischen Rhegion, der der allegorischen Homer-Deutung zuneigte, erreichte eine nennenswerte – und nachweisbare – Intensität allerdings erst mit den großangelegten Recherchen in hellenistischer Zeit (also rund 300 Jahre später), wie sie z. B. auch die verlorene Schrift De poetis des Aristoteles prägten. Eifrig suchte man nach einer adäquaten Familie für Homer – und wurde u. a. im Mythos fündig, bei berühmten Sängern wie Orpheus oder Musaios.

Das biographische Material ist vor allem in den Homer-Viten versammelt, von denen sich neun erhalten haben unter den Namen Vita Herodotea, Pseudo-Plutarch-VitaI und II, Vita Romana, Vita ScorialensisI und II, Vita Procli; hinzu kommen das anonyme Certamen Homeri et Hesiodi (als deutscher Titel hat sich »Über Homer und Hesiod, ihre Abkunft und ihren Wettstreit« eingebürgert) aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. und der Eintrag »Homeros« im Autorenlexikon Suda. Sie alle sind lange nach Homers Lebens- und Schaffenszeit entstanden, und auch zwischen ihnen sind erhebliche zeitliche Distanzen zu verzeichnen: Die Suda datiert aus dem 10. nachchristlichen Jahrhundert und ist damit rund 1700 Jahre jünger als Homer: eine kleine Ewigkeit. Wie bei Biographien üblich, wurde einiges Material mehrfach verwendet und vieles wiederholt; gleichwohl wurde im Laufe der Zeit an kleineren und größeren Stellschrauben gedreht.

Bei vergleichender Betrachtung kristallisieren sich sechs Themenkomplexe heraus, die zu den typischen Merkmalen antiker Biographie gehören: Zunächst werden Herkunft und Geburtsort dargelegt, wobei mitunter allgemeinere topo- oder geographische Informationen ausgebreitet werden. Die Namen werden gerne mit etymologischen Hintergründen angereichert (was oftmals spekulativ gerät: sogenannte Volksetymologie). Es folgt die Vorstellung des ausgeübten Berufs und der unternommenen Reisen; schließlich werden Tod und Todesumstände geschildert. Eine Werkaufzählung kommt meistens am Ende. Um die Glaubwürdigkeit zu verbürgen, werden die Informationen dezidiert als Referate kundiger Dritter präsentiert und mit – angeblichen – Originalzitaten abgesichert. Mehrheitlich haben wir in den Homer-Viten also Collagen vor uns; individueller ausgestaltet sind lediglich die Vita Herodotea und das Certamen. Dem Suda-Eintrag liegt offenbar eine Quelle aus Sammlungen de viris illustribus, »über berühmte Männer«, zugrunde. Widmen wir uns im Folgenden den Details, wobei wir uns weitgehend das Schema der antiken Viten zunutze machen.